Willkürliche Haft und Misshandlung geistig

Transcrição

Willkürliche Haft und Misshandlung geistig
B U L G A R I E N
...aus den augen,
aus dem sinn?
willkürliche haft und
misshandlung
geistig behinderter menschen
IT´S UP TO YOU
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Impressum:
amnesty international, 10. Oktober 2002
Übersetzung des englischen Originalberichts
“Bulgaria: Arbitrary detention and ill-treatment of people with mental disabilities”
ai Index EUR 15/008/2002
Amnesty International, 1 Easton St.,
London WC1X ODW
http://www.amnesty.org
Verbindlich ist das englische Original
(siehe www.amnesty.org)
Detail-Informationen zum Thema finden Sie auch in der Langfassung des ai-Berichtes:
„Bulgaria: Far from the eyes of society – Systematic discrimination against people
with mental disabilities“
ai Index EUR 15/005/2002
(siehe www.amnesty.org)
Weitere Informationen bzw. Aktionsunterlagen zur bis April 2003 laufenden Bulgarienaktion
erhalten Sie bei:
amnesty international Österreich
Moeringgasse 10, A - 1150 Wien
Tel.: 01/78008/31
Fax: 01/78008/44
email: [email protected]
http://www.amnesty.at
Spendenkonto: PSK 1.030.000
Coverphoto: ein Kind im Fürsorgeheim Strazha © ai
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
BULGARIEN: ...aus den augen aus dem sinn ?
willkürliche haft und misshandlung von geistig
behinderten menschen
einleitung
„Dieser Ort ist für menschliche Lebewesen nicht geeignet. Er sollte geschlossen
werden. Die Menschen sterben hier.“
R.H., ein Bewohner des Männerheimes Dragash Voyvoda
„Es ist hier gängige Praxis, die Leute einfach nur unter Kontrolle und in Verwahrung
zu halten. Die HeiminsassInnen, die ganz offensichtlich von der Gesellschaft
verstoßen worden sind, müssen ohne jegliche Beschäftigung auskommen, es gibt
keinerlei Hoffnung für sie. Sie werden mit Ihresgleichen zusammengepfercht...
Nichts gibt ihrem Leben Sinn.
Dr. Mary Myers, Psychiaterin und Mitglied der ai-Delegation, die im Jahr
2002 zahlreiche bulgarische Heime besuchte
Geistig behinderte Menschen erleiden in Bulgarien aufgrund ihrer Behinderungen
schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und werden massiv diskriminiert. Die
Nachforschungen von amnesty international in bulgarischen Krankenhäusern und
Pflegeheimen deckten auf, dass Menschen mit geistigen Behinderungen oder
Entwicklungsstörungen dort willkürliche Haft, Misshandlung und andere grausame,
1
unmenschliche
und
erniedrigende
Behandlung
ertragen
müssen.
In psychiatrischen Krankenhäusern werden die PatientInnen willkürlich eingesperrt und
gegen ihren Willen zwangsbehandelt, ohne dass sie bei einer unabhängiger Stelle dagegen
protestieren oder Berufung einlegen könnten.
In Bulgarien gibt es ca. 35 000 geistig behinderte Kinder, die in Heimen bzw. psychiatrischen
Krankenhäusern untergebracht sind – die meisten von ihnen verbringen ihr gesamtes Leben
in Fürsorgeeinrichtungen und erhalten keinerlei Therapie oder Förderung. Immer wieder
werden auch sozial schwer benachteiligte oder verhaltensauffällige Kinder in Heime
eingewiesen – die einmal gestellte Diagnose einer geistigen Behinderung wird kaum je mehr
in Frage gestellt. Kinder mit wirklich schweren Behinderungen müssen meist den ganzen
Tag im Bett verbringen – ohne Spielsachen, ohne irgendeine Form der Stimulation.
Hohe Todesraten in den Heimen für Erwachsene zeugen davon, dass diese Anstalten oft
nicht genügend beheizt sind, dass ihre BewohnerInnen nicht genug zu essen und keine
ausreichende medizinische Versorgung erhalten. Überdimensional häufig und ohne jede
medizinische Begründung werden physische Restriktionsmethoden wie Zwangsjacken
eingesetzt oder werden die Behinderten in speziellen Absonderungsräumen und
Isolationszellen weggesperrt. Die vom Staat zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel
reichen bei weitem nicht aus. Die Heime liegen nicht nur weit entfernt von den
Bevölkerungszentren, sie sind auch buchstäblich „aus den Augen und aus dem Sinn“ jener
BeamtInnen und medizinischen Fachkräfte, die für den Schutz und die Betreuung der
HeimbewohnerInnen verantwortlich wären.
1
ai verwendet den Begriff „Behinderung“ in Übereinstimmung mit der von der UNO verwendeten Terminologie
– siehe „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities“, die von der UNO
Generalversammlung 1993 (A/RES/48/96) herausgegeben wurden. Im vorliegenden Bericht sind mit der
Bezeichnung „Behinderung“ auch Entwicklungsstörungen gemeint.
3
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Diese Krankenhäuser bzw. Heime für geistig behinderte Menschen besuchte die Delegation © BHK
Die Menschenrechtsverletzungen, die geistig behinderte Menschen in Bulgarien erleiden,
stellen einen Bruch internationaler Menschenrechtsvereinbarungen dar, zu deren Einhaltung
sich Bulgarien verpflichtet hat. Ihnen zu Folge sind alle Menschen gleichberechtigt und
dürfen in keinster Weise diskriminiert werden. Die Menschenrechtsverletzungen, die im
vorliegenden Bericht beschrieben werden, stellen jedoch systematische Diskriminierung von
Menschen mit geistiger Behinderung dar. Auch wenn nicht alle Menschen in dieser Welt
gesund sind, auch wenn nicht alle in der Lage sind, ihr Leben ohne körperliche oder geistige
Beeinträchtigung zu genießen – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt in
gleicher Weise für sie alle, ob mit oder ohne Behinderung. Keinem Menschen sollte seine
Würde und sein Wert als menschliches Wesen aberkannt werden. Regierungen haben die
Pflicht, die Menschenrechte zu schützen – das Recht auf Leben, auf Schutz durch das
Gesetz, auf einen adäquaten Lebensstandard und auf Erziehung. Unter allen Umständen
müssen sie Menschen davor bewahren, dass sie willkürlich ihrer Freiheit beraubt werden
oder grausame, unmenschliche und entwürdigende Behandlung oder Bestrafung erleiden
müssen.
Der vorliegende Bericht ist eine Zusammenfassung des Berichtes „Bulgaria: Far from the
eyes of society“ (ai Index: EUR 15/005/2002 – nachzulesen auf http://www.amnesty.org), in
dem amnesty international die Ergebnisse ihrer Recherche in Bulgarien darlegt und
Empfehlungen abgibt, wie psychiatrische Krankenhäuser und Heime für geistig Behinderte
reformiert und internationalen Menschenrechtsstandards angepasst werden könnten. Die
Recherche für diesen Bericht wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Bulgarischen
Helsinki Komitee (BHK) durchgeführt einer Menschenrechtsorganisation, die das
bulgarische Fürsorgesystem für geistig Behinderte gründlich untersucht hat. Insbesondere
wurden die Forschungsergebnisse des BHK über psychiatrische Krankenhäuser mit
einbezogen. 2
2
siehe „Inpatient psychiatric care in Bulgaria and human rights“, Bulgarisches Helsinki Komitee, Sofia,
Dezember 2001 (www.bghelsinki.org).
4
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Im Oktober 2001 und im Jänner 2002 fuhr eine Delegation aus VertreterInnen von amnesty
international, des Bulgarischen Helsinki Komitees, sowie von „Mental Disability Rights
International“ durch Bulgarien und untersuchte die gesetzlichen Bestimmungen bzw. die
Methoden, wie geistig behinderte Menschen zwangseingewiesen werden, wie sie in den
Spitälern und Heimen leben und wie sie behandelt werden. Unter den
DelegationsteilnehmerInnen waren u.a. eine Psychiaterin, eine Spezialistin für
Lernschwächen, RechtsanwältInnen, ein Psychologe, ein Pathologe und ein Spezialist für
die Verwaltung von psychiatrischen Institutionen und Systemreform. Die Delegierten
sprachen mit PatientInnen in drei staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern (Karlukovo,
Patalenitsa und Kardzali) und trafen in Sofia mit den DirektorInnen mehrerer anderer
staatlicher psychiatrischer Kliniken zusammen. Sie besuchten fünf Heime für geistig
behinderte Kinder (Borislav, Dzhurkovo, Strazha, Mogilino und Vidrare) sowie acht
Erwachsenenheime (Sanadinovo, Radovets, Razdol, Pastra, Podgumer, Dragash Voyvoda,
Samuil und Cherni Vrh).
VertreterInnen von amnesty international und des Bulgarischen Helsinki Komitees führten
2002 noch weitere Besuche in Heimen für geistig Behinderte durch: im April in Dragash
Voyvoda, im Juni in Oborishte, Gorni Chiflik, Fakia und Radovets, und im Juli in Kachulka,
Tri Kladentsi, Radovets und Mogilino.
Die Kooperation der Delegation mit den bulgarischen Behörden bzw. dem Personal der
besuchten Institutionen war ausgezeichnet – die Delegation erhielt in den meisten Fällen
Informationen über die einzelnen HeimbewohnerInnen und die Arbeit der Fürsorgeeinrichtungen. Die VertreterInnen von amnesty international trafen zahlreiche Leitungskräfte
und Angestellte, denen es ein großes Anliegen war, den HeimbewohnerInnen - im Rahmen
ihrer eigenen Fähigkeiten und der verfügbaren Ressourcen - die bestmögliche Betreuung
zukommen zu lassen.
Die bulgarische Regierung hat bereits angekündigt, dass das derzeitige Fürsorgesystem für
geistig Behinderte reformiert werden soll. Im Juni 2001 wurde ein 5-Jahres-Programm für
Mentale Gesundheit verabschiedet, das auch Pläne beinhaltet, mehrere psychiatrische
Institutionen zu schließen. Das Programm sieht weiters vor, dass die Versorgung psychisch
Kranker in normalen Krankenhäusern, in den Gemeinden und im Wohnbereich der
Betroffenen verbessert werden soll, dass psychiatrische Dienstleistungen und
Behandlungsmethoden modernisiert und die Menschenrechte der PatientInnen besser
respektiert werden sollten. Das Programm schließt jedoch keine Maßnahmen mit ein, wie die
Pflegeheime für geistig behinderte Menschen verbessert werden könnten – diese fallen in
die Verantwortung des Ministeriums für Arbeit und Soziales und nicht in die des
Gesundheitsministeriums.
Nachdem amnesty international und andere Menschenrechtsorganisationen in einer Aktion
gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen und Misshandlungen im Pflegeheim für
geistig behinderte Frauen Sanadinovo protestierten, wurde dieses Heim im Juni 2002
geschlossen. 3 In einem Treffen mit einem ai-Vertreter im gleichen Monat sagte die
stellvertretende Ministerin für Arbeit und Soziales Christina Christova, dass die Regierung
den „klaren politischen Willen habe, sich mit der ernsten Situation in den Pflegeheimen
auseinanderzusetzen“. Dazu im Gegensatz steht allerdings die Tatsache, dass es keinerlei
Antwort seitens des bulgarischen Generalstaatsanwaltes gab, als ai im April 2002 gegenüber
den Behörden Bedenken bzgl. der hohen Todesrate im Männerheim Dragash Voyvoda
äußerte – die Männer waren Angaben zufolge an Lungenentzündung und Unterernährung
gestorben. 4 Am 8. August 2002 verkündete das Ministerium für Arbeit und Soziales, dass
3
Siehe ai-Presseaussendung „Bulgaria: Disabled women condemned to „slow death“ ,10. Oktober 2001 (ai
Index EUR 15/002/2001) bzw. Bericht „Bulgaria: Sanadinovo: „This is truly a ghastly place“, April 2002 (ai
Index EUR 15/002/2002).
4
Siehe ai-Presseaussendung „Bulgaria. Residents of Dragasi Voivoda are dying as a result of gross neglect”, 15.
April 2002 (ai Index EUR 15/004/2002).
5
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
dieses Heim noch vor Jahresende geschlossen und seine Bewohner an einem geeigneteren
Ort untergebracht werden sollten.
Seit vielen Jahren kämpft amnesty international gegen Haftbedingungen, die der Folter oder
grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung oder Bestrafung
gleichkommen. In diesem Bericht geht es um Verletzungen der bürgerlichen und politischen
Rechte von geistig behinderten Menschen: um zutiefst unmenschliche Lebensbedingungen,
das
Fehlen
von
medizinischer
Versorgung
und
von
Therapiebzw.
Rehabilitationsmaßnahmen, die missbräuchliche Verwendung von Restriktions- und
Isolationsmethoden und die fehlende Möglichkeit, bei Misshandlungen Beschwerde
einzulegen. Die Verletzung der bürgerlichen und politischen Rechte ist aber auch eng damit
verbunden, ob ein Mensch
seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Rechte
wahrnehmen kann – wie z.B. das Recht auf einen adäquaten Lebensstandard, auf Erziehung
oder die Teilnahme am kulturellen Leben. Wenn jemand, dem seine Freiheit entzogen
wurde, auch noch die für ihn nötige medizinische Versorgung vorenthalten wird, liegt z.B. ein
Verstoß gegen den Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte
vor, der das Recht auf den höchsten erreichbaren Standard physischer und mentaler
Gesundheit festschreibt. In diesem Fall liegt gleichzeitig ein Verstoß gegen das Recht auf
Freiheit vor Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender
Behandlung vor.
Die Recherche-Ergebnisse von amnesty international unterstreichen die dringende
Notwendigkeit einer umfassenden Reform des bulgarischen Fürsorgewesens für geistig
behinderte Menschen, die schon lange überfällig ist. Diese Reform muss unbedingt auch
Pflegeheime für geistig Behinderte sowie psychiatrische Krankenhäuser mit einschließen.
Der Empfehlungen des ai-Berichtes an die bulgarischen Behörden sollten unverzüglich
umgesetzt werden.
Es ist wirklich höchst an der Zeit, die unmenschlichen und gefährlichen Lebensbedingungen
in den Erwachsenenheimen zu verbessern - und wenn für Tausende behinderte Kinder nicht
so schnell wie möglich Therapie- und Rehabilitationsprogramme gestartet werden, werden
sie nie mehr gut zu machende schwere Schäden davontragen! Sobald Bulgarien ein
umfassendes Reformkonzept für das Fürsorgesystem für geistig behinderte Menschen
erstellt hat, sollte die internationale Gemeinschaft bei der konkreten Umsetzung der Reform
Hilfe leisten.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
psychiatrische krankenhäuser
Die staatlichen psychiatrischen Krankenhäuser in Bulgarien entsprechen nicht den
internationalen Menschenrechtsstandards betreffend Unterbringung und Behandlung in
psychiatrischen Institutionen. Häufig werden die PatientInnen in ihnen zwangsbehandelt,
ohne dass sie in den davor liegenden Verfahren die Chance gehabt hätten, Berufung
einzulegen. Die PatientInnen beschwerten sich über Tätlichkeiten seitens der Polizei oder
des nicht-medizinischen Personals. Die Lebensbedingungen sind generell armselig und
unhygienisch. Es gibt so gut wie keine therapeutischen Aktivitäten oder
Rehabilitationsprogramme. Die PatientInnen werden nach wie vor in vollkommen
unangemessener Weise mit Elektroschocks behandelt. Niedrige Gehälter, schlechte
Arbeitsbedingungen und die abgelegene Lage vieler Spitäler machen die Anstellung von
qualifiziertem Personal sehr schwierig. Zahlreiche schon entlassene PatientInnen werden
bald wieder aufgenommen, weil es in ihrer Gemeinde zu wenig Unterstützung und Hilfe für
sie gibt.
Von den mehr als 34.000 Personen, die im Jahr 2000 in den psychiatrischen Institutionen
Bulgariens aufgenommen wurden, wurden über 1.500 in staatliche psychiatrische
Krankenhäuser eingewiesen, um dort „zwangsweise“ oder „unfreiwillig“ behandelt zu werden.
Den PatientInnen, die als unzurechnungsfähig eingestuft werden, verabreicht man die
„Zwangsbehandlung“ unter Berufung auf das Strafrecht. Der vorliegende Bericht konzentriert
sich auf PatientInnen, die unter Berufung auf das Zivilrecht zwangsbehandelt werden.
Es gibt allerdings Fälle, in denen Menschen ohne jegliche Symptome einer geistigen
Erkrankung, die eine Behandlung erforderlich gemacht hätte, eher aus sozialen als aus
medizinischen Gründen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden, während
PatientInnen, deren akute mentale Erkrankung dringend ärztlich behandelt hätte werden
müssen, in Pflegeheimen aufgefunden wurden.
lebensbedingungen und behandlung
Die Gebäude der psychiatrischen Krankenhäuser, die ai besuchte, waren
renovierungsbedürftig. In keinem von ihnen war heißes Wasser jederzeit verfügbar. Die
Schlafsäle waren häufig riesig und überfüllt, die Wände vollkommen schmucklos. Nur wenige
PatientInnen hatten Schließräume, in denen sie ihren persönlichen Besitz aufbewahren
konnten. Als „Tagesräume“ dienten häufig Teile des Ganges, die mit einem Fernsehapparat,
einem Tisch und ein paar Stühlen oder Bänken ausgestattet waren.
Internationale Menschenrechtsstandards
Das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder entwürdigender
Behandlung oder Bestrafung (CPT) erarbeitete 1998 Standards für die Unterbringung und
Behandlung in psychiatrischen Institutionen, denen zufolge Folgendes zur Verfügung gestellt
werden muss:
• Die grundlegenden Lebensbedürfnisse müssen gestillt werden, darunter fallen
ausreichende Nahrung, Heizung, Kleidung und die nötigen Medikamente
• Jede/r PatientIn muss in einer für seine/ihre Genesung förderlichen Umgebung leben; so
sollte es visuelle Stimulation geben. Jede/r PatientIn sollte über einen absperrbaren
Bereich verfügen.
• Die materielle Ausstattung sollte der Behandlung und dem Wohlergehen der PatientInnen
dienen, darunter fällt die Erhaltung von Gebäuden bzw. die Einhaltung von
Hygienevorschriften.
• Die psychiatrische Behandlung sollte Rehabilitations- und Therapie-Aktivitäten beinhalten
Die PatientInnen sollten Zugang zu genügend ausgestatteten Erholungsräumen und
Bewegung in frischer Luft haben.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Das Krankenhaus in Karlukovo
hatte
zu
wenig
Budget
für
Medikamente, Nahrungsmittel und
die allgemeine Instandhaltung. Die
Spitalsleitung schätzte, dass das
Spital nur ungefähr 50% des
Budgets, das es eigentlich bräuchte,
erhält – der neueste Budgetierungsplan des Gesundheitsministeriums
aus dem Jahr 1998 beinhaltete
jedoch keine Empfehlungen, dem
Krankenhaus mehr Mittel zuzuweisen. Die Klinik würde ohne die
Unterstützung
humanitärer
Organisationen gar nicht arbeiten
können.
Patienten in einer „geschlossenen Abteilung“ des Krankenhauses
Karlukovo im Oktober 2001. Die einzige Zerstreuung für die Patienten,
die die Abteilung nicht verlassen dürfen, ist ein Fernsehgerät. © MDAC
Das in einer bergigen Gegend gelegene psychiatrische Krankenhaus von Patalenitsa hatte
im Jänner 2002 keine ausreichende Beheizung. Es war nicht genug Geld vorhanden, um die
Installierung einer Zentralheizung fertig zu stellen; die Krankenzimmer wurden mit
elektrischen Heizgeräten gewärmt, die Temperatur erreichte aber nicht einmal 14 oder 15
Grad Celsius. Eine Polizeiakademie hatte Mäntel für die PatientInnen gespendet.
PatientInnen von psychiatrischen Krankenhäusern in Bulgarien haben nur wenige
Möglichkeiten was Rehabilitationsmaßnahmen und Beschäftigungstherapie betrifft. In einer
Klinik wurde der Turnsaal seit langem nicht mehr benutzt; die Beschäftigungstherapie war
eingestellt worden. In einer anderen Klinik war ein Aerobic-Training im Korridor der
Krankenstation die einzige Form von körperlichen Übungen für zwangsbehandelte
PatientInnen, die die Abteilung im Allgemeinen nicht verlassen durften. Auch hier bot das
Fernsehen die einzige Abwechslung.
Das Wohlergehen von PatientInnen, die sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen
müssen, hängt sehr davon ab, ob sie ihrer Behandlung freiwillig zustimmen bzw. über sie
informiert werden. Die Mittel und Wege, die man findet, um die PatientInnen dazu zu
bringen, ihre Zustimmung für eine freiwillige Behandlung zu geben, sind jedoch äußerst
fragwürdig. In vielen Fällen haben Verwandte, die nicht die legale Vormundschaft über die
PatientInnen innehatten, der Behandlung – u.a. mit Elektroschocks – von PatientInnen
zugestimmt, die selbst rechtlich gar nicht entmündigt worden waren.
Elektroschock-Therapie (ECT)
Bei dieser Art von Therapie, mit der insbesondere schwere depressive Störungen behandelt
werden, wird ein kontrollierter elektrischer Stromstoß durch das Gehirn geleitet. Die
„Modifizierte Elektroschock-Therapie“ sollte nur unter Beaufsichtigung eines Anästhesisten
angewandt werden und solllte immer von der Gabe eines allgemeinen anästhesistischen
Mittels sowie eines Muskel-Entspannungsmittels begleitet sein.
1995 empfahl das Bulgarische Helsinki Komitee (CPT), dass die Elektroschocktherapie
überhaupt nur in ihrer modifizierten Form angewandt werden sollte. Es befand, dass die
„unmodifizierte“ Verabreichung von Elektroschocks mit einer modernen psychiatrischen
Behandlung unvereinbar ist – es kann zu Knochenfrakturen führen und ist sowohl für die
behandelten PatientInnen wie auch für das mit der Durchführung betraute Personal
entwürdigend.
Dennoch wenden nach wie vor acht psychiatrische Institutionen in Bulgarien nicht
modifizierte Elektroschocks an. Im Jänner 2002 verabsäumten es VertreterInnen der
Bulgarischen Psychiatrischen Vereinigung und des Gesundheitsministeriums bei einem
gemeinsamen Treffen, das psychiatrischer Behandlung und Menschenrechten gewidmet
war, den Einsatz der nicht modifizierten Elektroschocktherapie explizit zu verurteilen.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
misshandlung und exzessive gewaltanwendung
Es existieren keine Vorkehrungen, die es Patientinnen im Fall von auftretenden Missbrauch
ermöglichen würden, dagegen Beschwerde einzulegen. Manche Krankenhäuser erhalten
niemals Besuch vom lokal zuständigen Staatsanwalt, der gesetzlich dazu verpflichtet wäre,
die Lebensbedingungen bzw. die Behandlung von Menschen, die in diese Anstalten
zwangseingewiesen wurden, zu überprüfen.
Viele PatientInnen berichteten amnesty international von rauer und manchmal gewaltsamer
Behandlung durch Polizeibeamte. Ein 22-jähriger Mann war am 15. Juli 2001 von Polizisten
in die Klinik von Karlukovo gebracht worden, weil er angeblich in einen Kampf verwickelt
gewesen war. Nachdem sie ihm Handschellen angelegt hatten, gaben ihm die Polizisten
angeblich am ganzen Körper Fußtritte und schlugen ihn auf den Kopf. Er erzählte, dass er
sich darüber beklagt habe, dass seine Verletzungen weder aufgezeichnet, noch richtig
untersucht worden wären.
Der Direktor eines Krankenhauses berichtete, dass Polizisten manchmal PatientInnen mit
Verbrennungen und anderen Verletzungen zu ihnen brachten, die möglicherweise das
Resultat von Gewaltanwendung waren. Er lieferte keine Berichte über solche Fälle ab, da er
es für unwahrscheinlich hielt, dass Aussagen von PatientInnen über ungerechtfertigte
Angriffe Glauben geschenkt würde, wenn dagegen die Erklärung eines Polizeibeamten
stünde, der zufolge die Anwendung von Gewalt unumgänglich gewesen sei, um einen
gewalttätigen Patienten ruhig zu stellen.
Einige PatientInnen klagten darüber, dass WärterInnen exzessiv Gewalt anwenden, um
PatientInnen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Solcherlei Fehlverhalten tritt
offensichtlich auf, weil es nicht genügend qualifiziertes Personal gibt bzw. das vorhandene
Personal nicht genügend geschult ist, um mit „gewalttätigem“ Verhalten bzw. einem
Verhalten, das in irgendeiner Form als störend empfunden wird, umgegangen werden sollte.
ruhig stellen und wegsperren
Internationale Menschenrechtsstandards
Die UNO-Prinzipien zum Schutz von Personen mit geistiger Erkrankung und für die
Verbesserung des Fürsorgesystems für psychisch Kranke (Prinzip 11) fordern, dass
Methoden körperlicher Einschränkung oder Isolation nur angewandt werden dürfen, um zu
verhindern, das der/die PatientIn sich selbst oder anderen Schaden zufügt; die Anwendung
dieser Zwangsmittel darf nur so lang wie unbedingt nötig erfolgen und sollte in der
Patientenkartei vermerkt werden. Die Einschränkung bzw. Isolation des/der PatientIn muss
unter menschlichen Bedingungen erfolgen, er/sie muss dabei gut betreut und überwacht
werden.
In den von amnesty international besuchten Krankenhäusern gab es weder Protokolle
darüber, wie Ruhigstellungs- bzw. Isolationsmethoden gehandhabt werden sollten, noch
Aufzeichnungen über ihre tatsächliche Anwendung. In der Klinik in Karzali hatten drei
Männer, die in einem mit Vorhängeschloss versehenen Raum eingeschlossen waren (einer
von ihnen schon seit 10 Tagen) nur einen Kübel als „Toilette“. Einer von ihnen, Feris M.,
erzählte der ai-Delegation, dass er hier eingesperrt worden sei, weil er zu fliehen versucht
hatte. Obwohl die Krankenschwester, die für die Abteilung zuständig war, behauptete, dass
Aufzeichnungen geführt würden, machte die präsentierte Namensliste eher den Eindruck, als
sei sie hastig hingekritzelt worden. Der Direktor der Anstalt sagte, dass Isolation nur auf
Verschreibung von ÄrztInnen erfolgen würde, es wurden aber keine derartigen
Aufzeichnungen in den Patientenkarteien gefunden und es gab auch keine eigene Kartei.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
In einer versperrten Abteilung für akute Frauenfälle in Kardzali fanden die ai-Delegierten in
einem Isolationsraum ein Metallbett, das auf einem Zementfußboden fixiert war. Darauf lag
eine nasse, zerrissene, Fäkalien-verschmutzte Matratze.
Auf die Frage hin, ob das Personal demonstrieren könne, wie sie eine Patientin auf einem
Bett ruhig stellen würden, fragte ein Mitglied des Personals: „Soll ich die Gürtel holen
gehen?“ Eine Kollegin meinte, sie würden keine Fesselungsgürtel verwenden – äußerst
ungeschickte Versuche, einen Freiwilligen zu Demonstrationszwecken mit Leintüchern zu
fixieren, zeigten jedoch nur allzu deutlich, dass das Personal wenig Erfahrung damit hatte,
PatientInnen nur mit Hilfe von Leintüchern ruhig zu stellen.
Mit Isolationshaft werden PatientInnenoffenbar offenbar für „Ausbruchsversuche“ bestraft –
sogar dann, wenn es sich um PatientInnen handelt, die freiwillig in der Anstalt sind. In der
versperrten, unter Bewachung stehenden Männer-Akut-Abteilung des KarzaliKrankenhauses gab es vier Patienten, die sich offenbar einer freiwilligen Behandlung
unterzogen, als die ai-Delegation das Spital besuchte. Einer der Männer – Suleiman O. –
hatte das Formular für die freiwillige Einlieferung nicht selbst unterschrieben, sondern war
angeblich von Verwandten ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem er von zu Hause
weggelaufen war. Der Direktor des Krankenhauses sagte, dass diese vier Männer
eingeschlossen worden wären, weil „wir sicher sein wollen, dass sie bei ihrer Entlassung
nach Hause gehen und dort sicher sind“. Sie hätten die Möglichkeit, das Krankenhaus zu
verlassen, das sei aber „gegen ärztlichen Rat“.
zwangseinweisung
Internationale Menschenrechtsstandards
Die UNO Prinzipien für den Schutz von Personen mit geistiger Erkankung und für die
Verbesserung des Fürsorgesystems für psychisch Kranke setzen fest: „Jede/r PatientIn soll
das Recht haben, in einer Umgebung behandelt zu werden, die so wenig einschränkend wie
möglich ist. Auch die Behandlung selbst sollte so wenig einschränkend und belastend für
den/die PatientIn sein, wobei sein/ihr gesundheitlicher Zustand sowie der Schutz der
physischen Sicherheit anderer berücksichtigt werden muss“ (Prinzip 9)
Das Antifolter-Komitee des Europarates (CPT) empfiehlt, dass über Einweisungen für
psychiatrische Zwangsbehandlungen von einer richterlichen Stelle entschieden werden sollte
oder die Einweisung von ihr bestätigt werden sollte. Jede Person, die gegen ihren Willen von
einer anderen Stelle in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird, muss das Recht
haben, die Rechtmäßigkeit dieses Freiheitsentzugs unverzüglich vor einem Gericht
überprüfen zu lassen.
Zwangseinweisungen in Bulgarien erfüllen diese internationalen Kriterien nicht. Die
Verfahrensregeln für Zwangseinweisung sind außerdem diskriminierend wenn man sie mit
jenen vergleicht, die bei „unfreiwilligem“ Freiheitsentzug nach dem Strafrecht angewandt
werden. Diese schreiben eine rechtliche Vertretung vor bzw. muss der Staatsanwalt ein
medizinisches Gutachten einholen und Nachforschungen anstellen, ob eine Person eine
Gefahr für die Gesellschaft darstellt oder nicht.
Das bulgarische Gesundheitsgesetz sieht Zwangsbehandlung für PatientInnen vor, von
denen man annimmt, dass sie eine „ernsthafte Gefahr“ für sich selbst und andere darstellen.
Der zuständige Bezirksstaatsanwalt stellt dann Nachforschungen an bzw. beauftragt
psychiatrische Gutachten, die normalerweise in geschlossenen psychiatrischen Abteilungen
angefertigt werden. Diese Untersuchungen sollten innerhalb von 30 Tagen abgeschlossen
sein – wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, können sie auch bis zu drei Monaten
dauern. Wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, muss ein Bezirksgericht darüber
entscheiden, ob eine Einweisung zur Zwangsbehandlung erfolgen soll. Alle sechs Monate
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
sollte es über allfällig vorgeschlagene Verlängerungen der Zwangsbehandlung befinden.
Eine rechtliche Beratung der PatientInnen ist erlaubt, aber nicht vorgeschrieben.
Die Gerichte interpretieren den Begriff „ernste Gefahr“ unterschiedlich. Dieser rechtliche
Terminus ist so breit gefasst, dass er einer willkürlichen Interpretation Tür und Tor öffnet. In
psychiatrischen Attesten und Gerichtsentscheiden wurde das Verhalten, das für „ernsthaft
gefährlich“ gehalten wurde, nicht immer genau angegeben bzw. wurden auch Handlungen
wie das Anstechen von Autoreifen oder das Spielen lauter Musik als Gefahr eingestuft.
Man legte außerdem viel zu viel Gewicht auf Faktoren wie vorhergegangene
Krankenhausaufenthalte der PatientInnen oder die Wünsche der Verwandten nach einer
Zwangseinweisung. Manchmal ernannten die Gerichte erst wenige Minuten vor den
Einweisungsverhandlungen RechtsanwältInnen zur rechtlichen Vertretung der PatientInnen.
Diese AnwältInnen akzeptierten in vielen Fällen die Empfehlungen der Staatsanwaltschaft
bzw. der medizinischen ExpertInnen, ohne auch nur Fragen zu stellen.
Eine ernsthafte Gefahr?
„Ich hatte ein paar Drinks. Um ungefähr 4 Uhr morgens klopfte ich an der Tür meiner
Nachbarn, ich wollte sie um eine Zigarette bitten. Da riefen sie die Polizei... Zwei
Polizisten...schoben und zerrten mich in ihr Auto. Auf der Polizeistation wurde ich 72
Stunden lang festgehalten... Ein Arzt kam und sagte den Beamten, dass er einen Brief
vom Staatsanwalt bräuchte, damit er mich untersuchen dürfe. Daraufhin wurde ich
freigelassen. Fünf Tage später war ich in einem Kaffeehaus, als einer der Polizisten zu
mir kam... .Er brachte mich auf die örtliche Unfalls- und Notfallsstation, wo ein
diensthabender Arzt eine psychiatrische Diagnose schrieb. Daraufhin wurde ich 24
Stunden auf der Polizeistation und weitere zwei Tage auf einer psychiatrischen
Krankenstation festgehalten, wo man mir Injektionen geben wollte, wogegen ich mich
wehrte. Sie riefen die Polizei und zwei Polizeibeamte ... hielten mich fest, während eine
Krankenschwester mir die Injektion gab. Dann wurde ich mit Gürteln gefesselt (an den
Füßen, Händen und um die Taille). Am nächsten Tag konnte ich in mein Dorf fliehen. Als
ich fünf Tage später zur Krankenstation ging, um meine Sachen abzuholen, schickten sie
mich zur Polizeistation. Die Polizei brachte mich hierher.
Vor 10 Jahren bin ich schon einmal in Behandlung gewesen. Der Aufenthalt hier macht
mich krank. Niemand hat mit mir gesprochen oder mir erklärt, warum ich
zwangsbehandelt werden muss. Ich fragte, ob ich auf eigene Kosten einen Telefonanruf
machen kann – aber das wurde nicht gestattet.“
Yordan S., ein Patient in der Abteilung für akute Fälle im Krankenhaus Karlukovo
Die 30-Tage Frist, die für die psychiatrische Untersuchung der PatientInnen vorgesehen ist,
wird in fast allen Fällen überschritten, weil nicht rechtzeitig ein Gerichtstermin gefunden
werden kann. Richterliche Entscheidungen über Empfehlungen, die PatientInnen aus der
Zwangsbehandlung zu entlassen, werden ebenso häufig mit Verspätung getroffen. Ein
Patient im Krankenhaus Karlukovo sagte amnesty international, dass er fünf Monate lang in
der geschlossenen Abteilung bleiben musste, während er auf seinen Gerichtstermin wartete,
auch, nachdem sich sein Zustand gebessert hatte und seine Entlassung empfohlen worden
war.
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pflegeheime für geistig behinderte kinder
Bis vor kurzem waren die Lebensbedingungen in vielen Kinderheimen so schrecklich, dass
sie als grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung gelten mussten. Im
Februar 1997 äußerte amnesty international gegenüber der bulgarischen Regierung große
Besorgnis bezüglich der Todesfälle von sechs Kindern und einer 18-Jährigen, die in einem
Heim in Dzhurkovo an Unterkühlung und Unterernährung gestorben waren. In diesem Heim
mussten mehr als 80 Kinder mehrere Wochen lang ohne ausreichende Nahrung und
Beheizung leben. Das Bulgarische Helsinki Komitee fand im Kinderheim Fakia in der Region
Burgas lebensbedrohliche Verhältnisse vor – dort waren im Jänner 2000 zwei Jungen
gestorben, weil sie Berichten zufolge ungenügend medizinisch versorgt worden waren. Im
August 2000 starben im Kinderheim Medven drei Kinder an Austrocknung. Alle diese
Einrichtungen hatten nicht genug staatliche Mittel, um eine ausreichende Ernährung der
Kinder gewährleisten zu können.
Eine Untersuchung der Todesfälle in Dzhurkovo wurde zwar eingeleitet, es ist aber nicht
bekannt, ob sie bereits abgeschlossen wurde. Bezüglich der Todesfälle in anderen
Kinderheimen wurden keine Nachforschungen angestellt, obwohl sie möglicherweise auf
eine strafbare Vernachlässigung der Kinder zurückzuführen sind.
Mittlerweile haben sich die materiellen Ressourcen von Heimen wie Dzhurkovo und Fakia
gebessert. Es gibt aber nach wie vor zahlreiche Missstände.
Die meisten Kinder werden einfach nur „verwahrt“ – niemand spielt
mit ihnen, niemand kümmert sich um die professionelle Förderung
ihrer Fähigkeiten. © ai
So werden Kinder weiterhin auf der
Basis unzureichender Diagnosen in
solche Pflegeheime eingewiesen, wo
sie so gut wie keine Aussicht auf eine
neuerliche Untersuchung und Diagnose
haben. Da es keine Möglichkeiten
spezieller
Therapien
und
keine
Trainingsprogramme gibt, machen sie
in ihrer Entwicklung keine Fortschritte.
Somit wird ihnen die Chance für ein
besseres Leben genommen, in dem
sie das in ihnen angelegte Potential
verwirklichen könnten. Wenn nicht bald
eine geeignete Behandlung dieser
Kinder einsetzt, werden sie lebenslange
Schäden davontragen und dazu
verdammt sein, den Rest ihres Lebens
in Fürsorgeheimen zu verbringen.
fehlende therapie- und rehabilitationsmöglichkeiten
Weil die Kinder nicht bereits von frühem Alter an regelmäßig untersucht werden und keine
Therapie bzw. Rehabilitation durch TherapeutInnen, PsychologInnen und ÄrztInnen erhalten,
wird ihre Entwicklung schwerwiegend beeinträchtigt und sie werden ihres fundamentalen
Menschenrechtes auf ein Leben in Würde und Achtung beraubt. Dabei werden internationale
Menschenrechtsstandards verletzt.
Die meisten Kinder, die in Fürsorgeinstitutionen landen, werden im Alter von 3 Jahren
untersucht. Diejenige, bei denen eine/n PsychaterIn eine „moderate, ernste oder
schwerwiegende Entwicklungsstörung“ diagnostiziert, werden ohne dass ihnen eine
medizinische oder entwicklungsfördernde Therapie verschrieben wird, in Fürsorgeheime
12
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
überwiesen. Es gibt auch Kinder, die aus „sozialen Gründen“ in den Heimen landen - weil
sie z.B. von ihren Familien weggegeben oder grob vernachlässigt wurden. Die medizinischen
Karteien der Kinder enthalten keine Hinweise auf die Anwendung diagnostischer Methoden
wie der biochemischen Analyse oder spezieller Gehirn-Untersuchungen. Wenn die Kinder
16 Jahre alt sind und somit in den Genuss von Sonderzahlungen für Behinderte kommen
können, werden sie erneut untersucht. Berichten zufolge wird bei dieser Gelegenheit häufig
eine viel ernstere Diagnose über ihre Behinderung erstellt als es den Tatsachen entspricht,
damit die höchstmögliche staatliche Unterstützung kassiert werden kann. Im Alter von 18
Jahren werden jene, die unter schwereren Behinderungen leiden, in Erwachsenenheime
überstellt.
Internationale Menschenrechtsstandards
Entsprechend der UNO-Kinderkonvention ist Bulgarien - einer ihrer Vertragsstaaten – zu
Folgendem verpflichtet (Artikel 23)
• Ein geistig oder körperlich behindertes Kind soll ein erfülltes und
menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen, welche die Würde des
Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am
Leben der Gemeinschaft erleichtern.
• Die gewährte Unterstützung... soll so gestalt sein, dass sichergestellt ist, das
Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung
auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind
tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen
sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner
kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.
Nur wenige Kinder werden von ihren Eltern im Heim besucht und auch Kontakte mit
Menschen, die in der Umgebung des Heimes leben, sind selten. Im Kinderheim Strazha
erzählte das Personal jedoch, dass sich die Einstellung im Dorf allmählich ändere und dass
einige der Kinder zu besonderen Gelegenheiten in Privathäuser eingeladen werden.
Kein einziges der Heime, die amnesty international besuchte, stellte Kindern mit
Entwicklungsstörungen Rehabilitationsprogamme zur Verfügung, bei denen sich
TherapeutInnen, LehrerInnen oder PsychologInnen um sie gekümmert hätten.
Wenn überhaupt wurden „Sonderaktivitäten“ von „ErzieherInnen“ organisiert, die nur über
eine allgemeine Lehrbefähigung verfügten.
Einzig im Kinderheim Strazha gab es
„ErzieherInnen“, die eine gewisse Ausbildung im Umgang mit entwicklungsgestörten Kindern
verfügten.
Dzhurkovo
Im diesem Heim wurden einige Verbesserungen durchgeführt – u.a. gibt es einen Spielraum
mit einem neuen
Heizungssystem, einen gut ausgestatteten Raum für
physiotherapeutisches Training und einen „sensorischen Raum“, in dem die Kinder Musik
hören und Lichteffekte, die auf die Wand projiziert werden, bewundern können. Die Kinder
leiden aber weiterhin an Vernachlässigung ,werden nicht hinreichend behandelt und es gibt
nicht genug organisierte Aktivitäten. Vernachlässigung schon im frühen Kindesalter hat bei
vielen emotionelle Instabilität, Zurückgezogenheit sowie Verkümmerungen und
Missbildungen von Gliedmaßen ausgelöst. Viele Kinder im Spielraum zeigten zwangsartiges
Verhalten wie mit dem Kopf wiegen, andere Kinder stoßen oder immer wieder gleiche
Fingerbewegungen.
Im Oktober 2001 lagen die 12 am schwersten behinderten Kinder auf Betten, die nur
Leintücher aus Plastik hatten. Manche waren nass und hätten dringend gewechselt werden
müssen. Fliegen umschwärmten einen Jungen, der jedes Mal wenn sich eine näherte, voller
13
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Verzweiflung reagierte. In den Betten der Kinder gab es keine Spielsachen. Das am
schwersten erkrankte Kind war die 13-jährige Vera D., die an einer tödlichen Leberkrankheit
litt und stark abgemagert war. Sie hielt die Hand der BesucherInnen und machte einen sehr
ruhigen Eindruck; die Aufmerksamkeit, die sie plötzlich erhielt schien ihr zu gefallen. Laut der
auf ihrer Kartei aufscheinenden Diagnose litt sie an Zerebrallähmung, aber nicht an
Lernschwierigkeiten – das heißt, möglicherweise verstand sie voll und ganz wie es um sie
stand, konnte ihre Gedanken und Gefühle aber nicht in Worten fassen.
In einem großen Schlafraum lagen 12 Kinder mit Down-Syndrom in ihren Betten. Obwohl sie
den Angaben zufolge fünf und sechs Jahre alt waren, waren sie körperlich auf dem
Entwicklungsstand von ein-Jährigen stehen geblieben. Kein einziges von ihnen konnte ohne
Hilfe stehen, was bedeutet, dass sie massiv vernachlässigt wurden. Es gab keine Anzeichen
dafür, dass es zwischen diesen Kindern und dem sie betreuenden Personal irgendwelche
Interaktionen gab. Eine Wärterin hatte offensichtlich nicht einmal bemerkt, dass ein Mädchen
aus Mangel an Aufmerksamkeit und anderen Beschäftigungsmöglichkeiten den hölzernen
Rahmen ihres Bettes durchgebissen hatte.
Mogilino
Im Kinderheim Mogilino traten immer
wieder Todesfälle auf, die für Kinder mit
schweren Entwicklungsstörungen, die
nicht genügend Betreuung erhalten,
typisch sind: So starb ein neun-jähriger
Bub
im
November
2001
an
Lungenentzündung – er hatte an
Zerebrallähmung gelitten, wodurch er
nur schwer schlucken konnte. Im Juli
2002 wurden schwerstbehinderte Kinder
in nach hinten gelehnter Position
gefüttert, was ein vergrößertes Risiko
mit sich bringt, dass Nahrung in die
Speiseröhre
dringt
und
Lungenentzündung ausgelöst wird.
Ein Schlafraum in Mogolino, Jänner 2002, © ai
Im Winter treten häufig Strom- und Heizungsausfälle auf. Die Wände der Schlafsäle sind
schadhaft und ohne jede Dekoration – es gibt keinerlei visuelle Stimulation. Die meisten
behinderten Kinder verbringen ihr gesamtes Leben im Bett. Das Personal füttert und säubert
sie – das ist der einzige ”menschliche” Kontakt, den sie haben.
medizinische versorgung
Nur wenige Kinderheime verfügen über eigene ÄrztInnen. In Mogilino gab es 17 km vom
Heim entfernt einen praktischen Arzt; ein Kinderarzt und ein Psychiater lebten 30 km weit
entfernt. Untersuchungen und Behandlungen durch FachärztInnen, darunter auch
PsychiaterInnen, kommen nur selten vor. Nur wenige Heime waren einer Order des
Gesundheitsministeriums nachgekommen, der zufolge alle unter 16 Jahre alten behinderten
Kinder bis Ende 2001 untersucht hätten werden müssen.
Als amnesty international das Kinderheim Strazha im Jänner 2001 besuchte, lag der jüngste
Besuch eines Psychiaters fast 2 Jahre zurück – er hatte im März 2000 stattgefunden. Die
medizinischen Karteien der Kinder beinhalteten ganz offensichtlich falsche Diagnosen, so litt
z.B. ein 17-jähriger Bub laut seiner Akte an Down-Syndrom, was ganz offensichtlich nicht
den Tatsachen entsprach.
14
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
pflegeheime für erwachsene
Die meisten Heim-Kinder werden schließlich in Heime für Erwachsene verlegt. Andere
InsassInnen der Erwachsenenheime sind dort gelandet, weil diejenigen, die vom Gesetz her
für sie zuständig wären bzw. ihre Familien ihnen die notwendige Pflege nicht geben konnten
oder wollten. Die materiellen Bedingungen in diesen Heimen sind oft erschreckend;
Rehabilitationsmaßnahmen sind praktisch nicht existent. Viele BewohnerInnen dieser
Institutionen könnten außerhalb der Heime ein selbständiges Leben führen, wenn sie in den
Heimen, wo sie als Kinder lebten, richtig behandelt und trainiert worden wären und wenn sie
von ihrer Umgebung Unterstützung bekämen.
Die meisten Heime waren überfüllt und heruntergekommen. Durch extreme
Vernachlässigung und mangelnde medizinische Betreuung dürfte es zum Tod einiger
Patienten gekommen sein. Körperliche Einschränkungen und Isolation werden übertrieben
oft und unangebracht benutzt, und psychiatrische und medizinische Versorgung sind im
Allgemeinen unzureichend. Es gibt zu wenig und nicht genügend ausgebildetes Personal.
viele heimbewohnerInnen sterben
Es waren nur wenige Aufzeichnungen über die Sterberaten der Patienten zugänglich, die
Informationen aus den Heimen in Radovets und Dragash Voyvoda deuten aber darauf hin,
dass sie ziemlich hoch sind. Obduktionen werden nur selten durchgeführt und die Polizei
oder andere Behörden untersuchen die Todesfälle in der Regel nicht.
Internationale Menschenrechtsstandards
Die UNO-Prinzipien für den Schutz aller Personen in Haft oder Gefangenschaft setzen fest:
“Wann immer eine festgehaltene Person während ihrer Haft stirbt, …..muss eine
Untersuchung der Todesursache durch die Justiz oder eine andere Behörde eingeleitet
werden… Die Ergebnisse einer derartigen Untersuchung…müssen auf Verlangen
zugänglich sein…”
Im Heim in Razdol gab es keine Daten über die Todesfälle von 2001. Im Heim von
Radovets starben 2001 14 der 91 männlichen Insassen (!). Ein praktischer Arzt sagte, er
habe die Todesursachen nach den klinischen Daten und den Angaben des diensthabenden
Personals festgestellt. In sieben Jahren hatte er kein einziges Mal eine Autopsie verlangt, er
wusste offenbar nicht einmal, dass er das Recht dazu gehabt hätte.
Der Tod des Konstantin K.
Konstantin K. war 37 Jahre alt, als er im Pflegeheim Radovets am 5. Jänner 2001 starb.
Als Todesursache wurde „Sepsis auf Grund der Bürgerschen Krankheit“ angegeben. Sein
Krankenblatt enthält aber keinen Hinweis auf dieses Leiden, und erst am 3. oder 4. Jänner
2001 wurde festgestellt, dass sich sein Zustand verschlechtert hatte und er an einer
Herzkrankheit litt.
Eine ärztliche Untersuchung im Dezember 2000, nachdem er aus Terter, einem
Pflegeheim, in dem ebenfalls äußerst schlechte Zustände herschen, nach Radovets verlegt
worden war, hatte keinen akuten Befund ergeben, auch wenn der Direktor sagte, er habe
krank gewirkt und habe wohl Erfrierungen an den Beinen gehabt. Ein anderer Insasse
meinte: „Seine Schmerzen wurden allmählich schlimmer und er bat um ärztliche Hilfe.
Seine Beine und Füße waren von den Waden an ganz geschwollen... .Es war in Terter
sehr kalt gewesen, hier aber auch, als er ankam. Wir wurden bei unserem Eintreffen nicht
gleich untersucht... Er wurde einfach in einen Schlafsaal gebracht.“
Im Pflegeheim für Männer in Dragash Voyvoda starben von 140 Insassen mindestens 22 in
den kältesten Monaten von 2001. Die meisten dieser Todesfälle scheinen die Folge
15
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
unzureichender medizinischer Betreuung, eines Mangels an Essen und an Wärme zu sein.
Das Personal sagt, in strengeren Wintern sei die Zahl der Toten noch höher. Die
Todesursache wird meistens mit „akuter Herz- und Atmungs-Insuffizienz“ angegeben,
Obduktionen in fünf Fällen im Februar und März 2002 zeigten aber, dass die Todesfälle auf
Lungenentzündung und Unterernährung zurückzuführen waren. Zu den hohen Sterberaten
gibt es anscheinend keinerlei Untersuchungen. Im April 2002 bekamen 16 Patienten mit
Bronchialleiden die verschriebenen Antibiotika nicht, weil die Mittel dafür fehlten.
lebensbedingungen
Die meisten der von amnesty international besuchten
Pflegeheime waren für die Pflege von Menschen mit
besonderen Bedürfnissen ungeeignet und manche
waren überhaupt menschenunwürdig.
Die Lage allein macht manche Heime für einen
längeren Aufenthalt untauglich. In einer Höhe von
1.100 m ist das Heim Razdol im Winter oft
unerreichbar. Im Jänner 2002 waren die Gebäude
ohne Wartung, schmutzig und gefährlich - es gab keine
Zentralheizung. Ein Schlafsaal von 100 m2 Größe
enthielt 33 Betten. Der Pfleger erklärte, nur zwei Betten
hätten Bettwäsche, denn „die Frauen seien krank und
würden die Leintücher nur schmutzig machen“. Einige
der Matratzen waren stark verschmutzt und zerrissen.
Ein kleiner Holzofen war den größten Teil des Tages
nicht in Betrieb und die Heimbewohnerinnen - einige
von ihnen barfuß - gingen auf vereisten Wegen
zwischen den Gebäuden umher.
Der Weg nach Razdol, Jänner 2002, © ai
Im Pflegeheim Pastra waren 107 Männer in drei abgezäunten Blöcken untergebracht. In
einem Block gab es einen Schlafraum voller Rauch, der aus einem Ofen qualmte, in dem
Zweige und Blätter verbrannt wurden, weil die Zentralheizung nicht ausreichte. Zwei
Schlafräume hatten keine funktionierende Beleuchtung. Alte Metallbetten mit dünnen,
abgenutzten Matratzen waren das
einzige Mobiliar. Die Toilette war in einem
Nebengebäude 30 m entfernt und nur
über einen schneebedeckten Weg zu
erreichen. Fäkalien verstopften das Loch
im Boden und bedeckten den Schnee
rund um das Haus. In einem anderen
Block hatten einige Betten überhaupt
keine Matratzen. An dem Abend, als
amnesty international zu Besuch kam,
hatten nur zwei Pfleger und eine
Krankenschwester in den drei Blocks
„Statt einer Matratze wird ein Mantel auf das Bett gelegt“, erklärte
Dienst.
ein Pfleger im Heim in Pastra. © ai
In einem schmutzigen Schlafraum für die am schwersten behinderten Patienten in Radovets
hatte ein blinder Mann, der offenbar an schweren Behinderungen seiner Gliedmaßen litt,
einen vollen Toiletteneimer unter seinem beschmutzten Bett. Am nächsten Tag war der
Fußboden abgespritzt worden und die Matratze verschwunden. Zwei Insassen trugen den
Mann, jetzt in sauberen Kleidern, die Treppe hinauf in das Zimmer des Friseurs.
16
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Patienten im Pflegeheim von Samuil waren in einem aus im Hof befindlichen Haus mit zwei
Zimmern untergebracht. In dem einen schäbigen Raum, den sechs Männer bewohnten,
hatten die Fenster kein Glas und waren fast ganz mit Brettern zugenagelt. Im zweiten unbeleuchteten – Raum teilten sich vier Männer drei Betten. Eine Isolationszelle, in der es
einen Käfig gab, wurde angeblich nicht benutzt.
Im Pflegeheim von Podgumer gab es für 21 Insassen
keine klare Trennung zwischen dem „normalen
Lebensbereich“ und Isolationsräumen. Sie lebten in
einem engen zweistöckigen Gebäude, der „AkutStation“. Im Schlafsaal gab es sieben Betten für 12
Männer. Die Insassen nahmen ihre Mahlzeiten in
einem engen Korridor ein. Im eiskalten Erdgeschoss
befanden sich zwei Zellen und ein Zimmer mit sechs
Betten, es gab kein Fensterglas und keine Heizung.
Ein Insasse, Ilian, war um 5 Uhr früh von einem
Mitglied des Personals und einem Wärter, der mit
einem Schlagstock bewaffnet war, in dieses
Erdgeschoss gebracht worden - angeblich weil er
versucht hatte, ein Fenster einzuschlagen. Er lag,
vollgepumpt mit schweren Beruhigungsmitteln und
zugedeckt mit dicken Decken, auf einem Bett. Ein
anderer Insasse der „Akut-Station“ sagte: „Sie schicken
uns rauf und runter.... Und wieder hinauf und wieder
herunter... .“ Obwohl in diesem Heim die
Aufzeichnungen sorgfältiger geführt wurden als
anderswo, gab es keine Aufzeichnungen über die
Insassen der „Akut-Station“.
Ein Insasse der „Akut-Station“ des
Pflegeheimes Podgumer, Jänner 2002 © ai
essen, kleidung, heizung
In praktisch allen Heimen beklagten die InsassInnen die schlechte Qualität des Essens und
die unzureichenden Mengen. Kein Heim führte Gewichts- oder Größenlisten in den
medizinischen Karteien. Nur ein Heim servierte die Mahlzeiten auf Tischen mit Tischtüchern.
Im Heim in Razdol wurde eine Mahlzeit aus Bohnensuppe, Brot und Halva auf zehn nackten
Tischen serviert - die Frauen aßen im Stehen. Das Personal sagte, die Stühle seien entfernt
worden, weil die InsassInnen damit aufeinander einschlügen. Den bettlägrigen Frauen wurde
das Essen in Eimern gebracht.
In allen Heimen trugen die BewohnerInnen zerrissene Kleider oder alte Armeeuniformen.
Fast niemand hatte eigene Kleider. In Radovets beklagten sich einige Männer darüber, dass
ihnen die Haare so kurz wie Sträflingen oder Rekruten geschnitten würden. In Dragash
Voyvoda blutete ein ältlicher Mann, nachdem er rasiert worden war. Der Friseur, der alle
144 Insassen rasierte, gab an, er benutze die selbe Rasierklinge für sechs bis sieben
Männer.
In Heimen ohne Zentralheizung oder mit einem nicht ausreichenden Heizungssystem
werden alte Öfen eingesetzt, die eine ständige Brandgefahr darstellen. Die Beschaffung von
Heizmaterial ist eine ständige Sorge in den Pflegeheimen.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
sanitäre anlagen
In vielen Heimen gab es nur ganz
einfache
und
oft
nicht
einmal
funktionierende Bademöglichkeiten, die
in
einiger
Entfernung
von
den
Schlafräumen in separaten Gebäuden
untergebracht
waren.
Die
HeimBewohnerInnen durften sie ein Mal pro
Woche benutzen. 110 Frauen in Razdol
hatten nur einen Teil der Waschküche
als Bad zur Verfügung. Eine Frau
beklagte sich, im Winter sei es schwierig
zu baden, weil sie durch den Schnee
zurück zu den Schlafräumen gehen
müssten.
Eine „Toilettenanlage“ von Samuil bestand aus 6 Löchern
im Boden. Jänner 2002, © ai
Im Jänner 2002 gab es im Heim von Samuil seit Mai 2001 kein fließendes Wasser. Es gab
nur eine verschmutzte Toilette in einem Gebäude für über hundert Frauen sowie ein kleines
Toilettenhäuschen, das 150 m entfernt lag. Der Weg dorthin war vereist. In dem Häuschen
gab es 6 Löcher im Boden - es war unmöglich, nicht tief in die Exkremente zu steigen, die bis
auf den Weg draußen reichten. Das Personal sagte, sie könnten das nur einmal pro Tag
wegspritzen.
berichte über misshandlungen
Es gibt keine wirksamen Schutzmaßnahmen für die geistig behinderte Menschen in
bulgarischen Fürsorgeheimen, die sie vor Schikanen oder Misshandlungen bewahren
könnten. Sie haben keinerlei Möglichkeit, sich zu beschweren oder Entschädigungen für
erlittene Misshandlung zu erhalten.
Obwohl viele Angst hatten, über solche Vorfälle zu sprechen, beklagten sich die
BewohnerInnen der meisten Heime über Misshandlungen durch das Pflegepersonal. Eine
56-jährige Frau in Razdol erzählte den VertreterInnen von amnesty international, einige der
PflegerInnen würden die Frauen schlagen und einsperren; sie war aber zu verschreckt, um
zu zeigen, wo sie eingesperrt worden waren. Ein Insasse von Radovets beschrieb, wie die
Pfleger Heimbewohner mit einem Stück Gummischlauch oder mit einem von Bandagen
umhüllten Stock schlagen.
Die Insassen von Dragash Voyvoda sagten, die Pfleger würden sie manchmal mit Stöcken
schlagen. Ein Mann, der das Heim unerlaubt verlasen hatte, wurde am 1. April 2002 gegen
18 Uhr mit einer Schwellung am rechten Backenknochen und einem blauen Auge
zurückgebracht. Er konnte nicht erklären, wie er zu diesen Verletzungen gekommen war,
vielleicht, weil zwei Pfleger bei der Befragung anwesend waren.
18
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
absonderung und beschränkung der bewegungsfreiheit
Internationale Menschenrechtsstandards
Die Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Bestrafung, der Bulgarien beigetreten ist, verlangt, dass die Staaten
Folter und Misshandlung durch BeamtInnen verhindern. Die Behörden sind verpflichtet,
das Beschwerderecht zu garantieren und es wird verlangt, dass „Schritte unternommen
werden, die sicherstellen, dass der oder die BeschwerdeführerIn und die ZeugInnen vor
jeder Misshandlung oder Einschüchterung als Folge der Beschwerde oder der
Zeugenaussage geschützt werden“.
Die Methoden, die angewandt werden, um HeimbewohnerInnen in ihrer Bewegungsfreiheit
einzuschränken bzw. in Isolationsräumen gefangen zu halten, sind als grausame,
unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu betrachten und stellen eine Verletzung von
internationalen Menschenrechtsstandards dar.
Es gibt keine Berichte darüber, wann solche Methoden zur Anwendung kamen - sie werden
anscheinend vom Krankenpersonal bzw. von den PflegerInnen angeordnet. Selbst im
Pflegeheim in Cherni Vrh, wo das Personal um die Pfleglinge besorgt und engagiert wirkte,
wurden solche inakzeptablen Methoden der Isolation und Einschränkung angewendet, was
beweist, dass der Großteil des Personals keine Schulung darin erhalten hatte, wie man
menschliches Verhalten anders als durch Drogen, Gewalt oder Isolation beeinflussen kann.
Im Heim von Radovets sagte eine Pflegerin : „Wir
haben „Gefängnisszellen“, aber wir benutzen sie nicht
oft“. Wenn, dann würden sie bei aggressivem
Verhalten der Patienten untereinander eingesetzt. In
einem Gebäude zeigten die Insassen der Delegation
einen abgesonderten Verschlag unter der Treppe, etwa
1.5m tief und 1.6m hoch an der höchsten Stelle. Ein
Erwachsener kann dort nicht aufrecht stehen. Die
Insassen gaben an, sie hätten dort strafweise mehrere
Tage verbringen müssen. Im Juni 2002 sahen die
VertreterInnen von amnesty international dort eine
abgenutzte Matratze, eine Suppenschüssel und ein
halbgegessenes Stück Brot. Der Insasse Petko K.
sagte, er wäre unter der Treppe zwei Wochen lang
festgehalten worden und hätte danach noch weitere 10
Tage in einem Isolationsraum verbringen müssen. Im
Juni 2002 hatte von den zwei Zimmern, die zur
Absonderung benutzt wurden, eines praktisch kein
Tageslicht und war mit einem Mann belegt, das andere
hatte drei Betten und vier Männer waren dort
untergebracht, die sagten, sie würden für einen
Fluchtversuch bestraft.
Isolations-Verschlag in Radovets,
Oktober 2001 © ai
In Dragash Voyvoda war die Ecke eines Isolationsraumes mit Draht abgezäunt. Die
Insassen erzählten, dass man jedes Mal eine Bank in diesen Käfig stellte, wenn jemand dort
zur Strafe hingebracht wurde.
In Cherni Vrh fand amnesty international ein ganzes Isolations-Haus vor, das vor Kurzem
renoviert worden war. Ein Raum war in drei Zellen mit verriegelten Türen unterteilt, jeder Teil
kaum größer als ein Einzelbett. In einer Zelle war eine 38-Jährige schon einen ganzen Monat
untergebracht. Sie sagte, ein Kübel in der Zelle diene ihr als Toilette. Die Pflegerin meinte,
diese Frau hätte weggesperrt werden müssen, weil sie mit den andern InsassInnen gekämpft
19
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Eine Pflegerin in Cherni Vrh demonstriert, wie sie R.G. täglich die
Zwangsjacke umlegt – diese weint verzweifelt. © ai
hätte und sie dürfe erst wieder
heraus, wenn sie sich ordentlich
benähme. M.D., eine 50-jährige Frau,
war auf Verlangen ihres Bruders und
mit Zustimmung eines Psychiaters
mehr als ein Jahr in einer
Absonderungszelle,
weil
sie
mehrfach
versucht
hatte
auszubrechen. An Aufzeichnungen
gab es nur ein Notizheft, das die
Namen der InsassInnen, die in
Isolation gehalten wurden und einige
wenige kurze Kommentare enthielt,
nichts aber darüber, wann und von
wem die Isolation angeordnet worden
war. Das Personal erklärte, diese
Entscheidung träfe man in der Regel
nach einem Telefonat mit dem
Psychiater.
In einem anderen Raum wurde im Jänner 2002 R.G., eine junge Frau, bei der eine „mäßige
Zurückgebliebenheit“ diagnostiziert worden war, jeden Abend und manchmal auch tagsüber
mit einer Zwangsjacke gefesselt. Das geschah offensichtlich deswegen, weil sie im Juli 2001
einen Faden so fest um einen Finger gewickelt hatte, dass der Finger schließlich amputiert
werden musste. Im dritten Zimmer lag die 28-jährige J.S. auf ihrem Bett. Ihr Fußgelenk war
an die Wand gekettet – schon seit einem Jahr, „weil sie aus dem Institut geflohen war“...
die qualifikation des personals
Die bulgarischen Pflegeheime leiden in der Regel unter schwerem Personalmangel. Sowohl
im medizinischen wie auch im nicht-medizinischen Bereich fehlt es dem vorhandenen
Personal an angemessener Ausbildung für die Arbeit mit Menschen mit geistigen
Behinderungen. Das Einkommen ist gering. Die Heime sind weit weg von den
Bevölkerungszentren und es ist schwierig, entsprechend ausgebildetes Personal zu finden.
In einigen Heimen kam jeden Monat einmal ein/e PsychiaterIn oder die InsassInnen wurden
in die lokale psychiatrische Klinik gebracht. In anderen Heimen gab es gar keinen
regelmäßigen Kontakt. Die psychiatrische Behandlung schien oft aus der Verschreibung von
Medikamenten zu bestehen und zwar auf Grund der Informationen, die das Heimpersonal
gab. Im Heim in Radovets sagte ein Krankenpfleger, dass bei der letzten Visite der
Psychiater 30 Patienten in 4 oder 5 Stunden untersucht und dabei neue Rezepte für sie
ausgestellt hätte.
Die DirektorInnen der Heime brauchen keine besonderen Qualifikationen zu haben. Jedes
Heim hat ein Team von rund sechs Krankenschwestern oder ausgebildeten Pflegern, die von
einer/einem Oberschwester bzw. einem Oberpfleger überwacht werden und von denen
einige eine gewisse psychiatrische Schulung genossen haben. Die Hilfskräfte werden in der
Regel von der lokalen Gemeinde gestellt und haben, wenn überhaupt, nur eine geringfügige
Ausbildung.
Mit den unzureichenden Mitteln und der mangelhaften Ausbildung des Personals können
nicht einmal die grundlegendsten Bedürfnisse der InsassInnen, und schon gar nicht ihre
Bedürfnisse nach sozialem und emotionalem Kontakt oder nach einer gewissen
Selbstachtung nicht befriedigt werden. Das Personal befasst sich mit Problemen des
Verhaltens ohne jegliches Verständnis dafür, wie man Verhalten lenken kann. Das Verhalten
20
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
des Personals selbst ging von
spontanem Bemühen, gute Pflege zu
leisten,
bis
zu
exzessiver
Bevormundung.
Der Personalmangel nahm in manchen
Fällen gefährliche Ausmaße an: In
Dragash Voyvoda, einer Anstalt mit
über
140
männlichen
Insassen,
machten nur drei Pfleger Nachtdienst,
als amnesty international im Jänner
2002 zu Besuch kam. Im April waren es
zwei
Pfleger
und
eine
Krankenschwester.
Im Frauenheim Razdol, Jänner 2002, © ai
medizinische versorgung und unangemessene medikation
Es gibt Verträge mit den praktischen ÄrztInnen in der Umgebung, die die Heime meist ein
Mal pro Woche oder noch seltener besuchen. Im Heim von Radovets schienen die Befunde
eines pensionierten Kinderarztes, der zwei Mal pro Woche für etwa 2½ Stunden zur Visite
kam, im Voraus ausgefüllt worden zu sein und sie dokumentierten nicht die Behandlung, die
die Heimbewohner bekommen hatten.
Auch in anderen Heimen wurden nur spärliche Berichte über die medizinische Behandlung
bzw. über Verletzungen der InsassInnen vorgefunden. Bei dem Heim in Razdol wurden
Vorfälle, bei denen Heimbewohnerinnen Verletzungen erlitten, in einem Buch mit
Tagesberichten festgehalten, aber nicht an irgend eine Behörde nach außen gemeldet oder
sonst irgendwie untersucht. Eine Patientin konnte nicht erklären, warum sie unter den Augen
blaue Flecken hatte. Ein Pfleger sagte, sie sei gestürzt und hätte sich eine Woche vorher
den Kopf angeschlagen, aber dieser Vorfall fand sich nicht in den Tagesberichten.
Fachärztliche oder zahnmedizinische Betreuung waren selten. In Dragash Voyvoda
beklagte sich ein Insasse, dass er sich seit mehr als einem Jahr vergeblich um eine
Augenuntersuchung bemühe. Ein Insasse in Radovets hatte einen großen Abszess an
seinem rechten Kiefer, der ein paar Tage lang mit Aspirin behandelt wurde.
Internationale Menschenrechtsstandards
Die UNO Prinzipien für den Schutz von Personen mit geistiger Erkankung und für die
Verbesserung des Fürsorgesystems für psychisch Kranke setzen fest:
•
•
•
Die medikamentöse Behandlung soll den Gesundheitsbedürfnissen des Patienten/der
Patientin am besten entsprechen und soll dem Patienten/der Patientin ausschließlich zu
therapeutischen oder diagnostischen Zwecken, aber nie als Bestrafung oder um der
Bequemlichkeit anderer willen zukommen..... Das medizinische Personal soll nur
Medikamente mit bekannter und bewiesener Wirkung einsetzen. (Prinzip 10)
Jedes Medikament soll von einem/einer Mediziner verschrieben werden, der vom Gesetz
her dazu berechtigt ist , und muss in den Daten des Patienten registriert werden (Prinzip
10).
Ein Patient/eine Patientin darf keiner Behandlung gegen seinen /ihren Willen unterzogen
werden.... .Eine Behandlung darf an einem Patienten/einer Patientin nur dann ohne
seine/ihre Information und Einwilligung durchgeführt werden, wenn eine unabhängige
Behörde im Besitz aller relevanten Information...zustimmt, dass der Patient/die Patientin
nicht in der Lage ist, nach Informationen seine/ihre Einwilligung zu geben (Prinzip 11)
21
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
Psychopharmaka wurden großzügig und unangemessen zur Disziplinierung eingesetzt, auch
wenn ein Verhalten nicht psychotisch, sondern nur Ausdruck von Kummer oder Ärger war.
Die VertreterInnen von amnesty international waren überrascht, dass bei keinem der 700
PatientInnen, die sie bei ihren Besuchen trafen, Depressionen diagnostiziert worden waren
und daher mit Antidepressiva behandelt wurde. Sie hatten viel höhere Ausmaße an
Depressionen in solchen Gemeinschaften erwartet.
In vielen Heimen hängt die Wahl des Medikaments davon ab, was erhältlich ist und wie viel
es kostet. Im Heim in Podgumer erfuhren die VertreterInnen von amnesty international, dass
zehn InsassInnen mit Entwicklungsstörungen mit dem billigsten Sedativ, das erreichbar war,
behandelt wurden. Diese Medikation wurde offensichtlich nicht zur Behandlung, sondern
zum Ruhig Stellen verwendet.
Im Heim von Samuil hatte es seit Mai 2001 keine Visite eines Psychiaters gegeben –
damals lief ein Vertrag aus. Ein praktischer Arzt, der allerdings keine Psychopharmaka
verschreiben durfte, verlängerte die Rezepte. Bei der Visite von amnesty international
bekamen einige InsassInnen potentiell gefährliche anticholinerge Mittel, aber keine
antipsychotischen Medikamente.
Das Recht der HeimbewohnerInnen auf freies und mündiges Einverständnis zu einer
Medikation wird nicht beachtet. Diazepam (Valium) lag frei herum, obwohl es nur als Kurzzeit
–Therapeutikum von Nutzen ist und schnell zu Abhängigkeit führen kann.
Psychopharmaka
Medikamente, die in der Psychiatrie verwendet werden, werden als psychotrop bezeichnet,
weil sie hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die psychischen Symptome
wirken. Bis vor etwa 40 Jahren wurden Medikamente, darunter die Barbiturate, zur
Sedierung des ganzen Nervensystems benutzt, wenn Patienten an Manien oder schwerer
Schizophrenie litten. Seit etwa 1960 beruhigen zielgerichtetere Tranquillizer
(neuroleptische oder antipsychotische Medikamente) ohne das Bewusstsein zu trüben.
Überdosen der alten Tranquillizer, Chlorpromazine (Largactil) und Haloperidol, und auch
neuerer antipsychotischer Medikamente mit weniger Nebenwirkungen können einen
Patienten wie einen „Zombie“ wirken lassen.
Das therapeutische Ziel der Medikamente besteht darin, die Menschen von belastenden
Erfahrungen zu befreien und nicht darin, sie zu lähmen. Diese Medikamente und die
Medikamente gegen die Nebenwirkungen (anticholinerge Medikamente) können jedoch auf
lange Sicht zu neurologische Störungen führen.
Beschäftigungstherapeutische Programme und Workshops, die in der Vergangenheit
organisiert worden waren, wurden wegen der beschränkten Mittel wieder eingestellt. In den
meisten Heimen bestand die einzige „Beschäftigungstherapie“ für die InsassInnen darin,
dass die saubermachten, Wäsche wuschen oder fernsahen. In Samuil konnten die
bettlägrigen HeimbewohnerInnen überhaupt nichts tun.
22
bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
einweisung und bewachung
Das Recht der meisten geistig Behinderten auf einen ordentlichen Prozess und die
Sicherheit vor willkürlicher Gefangenschaft wird bei ihrer Einweisung in die Pflegeheime und
durch die Verfahren, in denen ihre Angelegenheiten in die Hände eines rechtlichen
Vormunds gelegt werden, verletzt.
Internationale Menschenrechtsstandards
Die UN Hochkommissarin für Menschenrechte sagte in einem Bericht an den Wirtschaftsund Sozialrat 2001: „Menschen mit geistigen Behinderungen sind besonders anfällig für
Übergriffe, wozu auch ihre unberechtigte Einlieferung in psychiatrische Anstalten gehört.
Das internationale Abkommen (über bürgerliche und politische Rechte) bezieht sich auf
das ‚Recht auf Freiheit und persönliche Sicherheit (Artikel 9) und auf ordentliche
Prozessordnungen, darunter das Recht auf Verteidigung und das Recht, über die Gründe
der Festnahme informiert zu werden (Artikel 14).Diese Vorkehrungen sind von
beträchtlicher Bedeutung zum Schutz von Personen mit psychischen Störungen,
besonders in Hinblick auf ihr Recht, nicht willkürlich und unnötig festgehalten zu werden.“
Die Verordnung Nr. 4 vom 16. März 1999 des bulgarischen Ministeriums für Arbeit und
Sozialpolitik bezieht sich auf die Unterbringung in Pflegeheimen durch die lokalen Behörden,
meist auf Verlangen der Familien oder der Personen, die die Vormundschaft innehaben. Die
Verordnung enthält keine Vorkehrung für eine Rechtsvertretung oder für eine juristische
Überprüfung zum Zeitpunkt der ersten Einweisung. Sie stellt nur fest, dass die Unterbringung
in einem Heim auf Verlangen der betroffenen Person beendet werden kann – wenn sie nicht
für unmündig erklärt wurde – oder auch auf Verlangen des Vormunds bzw. wenn „ihr
psychologischer und/oder körperlicher Zustand nicht mehr dem Charakter des Heims
entsprechen“. Es gibt keine Vorkehrung für eine periodische Beurteilung oder Überprüfung
der Unterbringung. Selbst bei den wenigen ursprünglich „freiwilligen“ InsassInnen, die nicht
unter Vormundschaft gestellt wurden oder die auf eigenes Verlangen aufgenommen wurden,
kann es zu Schwierigkeiten kommen, wenn sie ihr Recht wahrnehmen wollen, das Heim zu
verlassen.
Die Personen, die die Vormundschaft über die Behinderten übernommen haben,
kontrollieren auch ihr Eigentum bzw. die Verwendung der staatlichen Behindertenrente. Die
Familie, ein/e Staatsanwalt/Staatsanwältin oder irgendeine Person mit einem legalen
Interesse kann einen Entmündigungsantrag stellen. Die bulgarischen Behörden sollen die
Heime sogar dazu angehalten haben, ihre Einkommen dadurch zu maximieren, dass sie
InsassInnen entmündigen lassen, die keinen Vormund haben. Dabei ist nicht
vorgeschrieben, dass die Person, um die es geht, eine rechtliche Vertretung hat. Nach der
Anweisung der Regierung leitete das Heim in Podgumer ein Entmündigungsverfahren für
die Pfleglinge des Hauses ein. In 25 Gerichtsverhandlungen, die in dem Heim an drei Tagen
im Juni und Juli 2001 abgehalten wurden, war nicht ein/e einzige/r HeimbewohnerIn durch
anwaltlich vertreten. Die meisten Einvernahmen dauerten 10 bis 15 Minuten, manche noch
kürzer, wenn der Pflegling nicht sprechen konnte. Obwohl das Familiengesetz verbietet,
dass „eine Person zum Vormund ernannt wird, die in einen Interessenkonflikt mit dem
Betreuten geraten könnte“(Artikel 116), wurde diese Vorkehrung nicht auf das Personal des
Pflegeheims angewendet. Es gibt keine gesetzliche Möglichkeit, den Status der
Entmündigung neu zu beurteilen.
Dieses Vorgehen widerspricht internationalen Menschenrechtsstandards. Eine Zahl von
Pfleglingen beklagte sich bei den VertreterInnen von amnesty international, dass ihre
Verwandten das Entmündigungsverfahren dazu missbraucht hätten, um an ihr Vermögen zu
kommen. Einmal im Pflegeheim untergebracht, fanden sie es unmöglich, mit
(staats)anwaltlicher Hilfe eine Neubeurteilung ihres Status zu erreichen.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
kontrolle durch staatliche behörden
Die Kontrolle der Pflegeheime liegt in der Verantwortung der lokal zuständigen
Sozialhilfedienste. Andere Körperschaften mit Inspektionsmöglichkeiten sind diejenigen, die
für die Hygiene und Krankheitsprävention zuständig sind oder die Feuerschutzbehörde. Die
Umsetzung ihrer Empfehlungen hängt von den verfügbaren Mitteln ab.
Der Nationale Sozialhilfedienst, der zum Ministerium für Arbeit und Soziales gehört,
genehmigt die Eröffnung oder Schließung von Pflegeheimen und erlässt Richtlinien und
Mindeststandards für deren Führung. Keinem der Heime, die amnesty international
besuchte, hatte er einen Inspektionsbesuch abgestattet. Die medizinischen Dienste in
Pflegeheimen unterliegen überhaupt keinen Regulierungen oder Inspektionen.
In den Berichten der Aufsichtsbehörden aus 2000 und 2001 über das Pflegeheim in Cherni
Vrh fand sich keine Bemerkung über die dort praktizierten Methoden der Isolationshaft von
HeiminsassInnen und über die Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit.
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empfehlungen von amnesty international
amnesty international verlangt von der bulgarischen Regierung, dass sie folgende
Maßnahmen ergreift, damit die Verletzungen der Menschenrechte geistig behinderter
Menschen ein Ende haben, damit diese Rechte beachtet und Übergriffe in Zukunft
verhindert werden:
•
Die Regierung soll öffentlich zugeben, dass die Behandlung und Pflege geistig
behinderter Menschen bisher unzureichend war. Sie soll ihre Absicht erklären, das
Fürsorgesystem für geistig Behinderte umfassend zu reformieren und die
Diskriminierung dieser Personengruppe zu bekämpfen. Programme zur
Bewusstseinsbildung für die Öffentlichkeit sollen unterstreichen, dass Menschen mit
psychischen Behinderungen dieselben Menschenrechte haben wie alle anderen.
•
Pflegeheime für geistig behinderte Menschen sollten unbedingt in den geplanten
Reformen des Gesundheitswesens miterfasst werden. Alle Reformen müssen
internationalen professionellen bzw. Menschenrechts-Standards entsprechen.
•
Es sollen Standards für die Lebensbedingungen, die Behandlung und Pflege der
PatientInnen, die psychiatrisch zwangsbehandelt werden, und für Insassen von
Pflegeheimen für Geisteskranke aufgestellt werden. Diese Standards müssen den
internationalen Normen entsprechen. Eine unabhängige Instanz sollte geschaffen
werden, welche vom Gesetz her eine Kontrolle der psychiatrischen Kliniken und
Pflegeheime durch die Behörden gewährleistet. Diese Instanz sollte unangemeldet
die Heime besichtigen, Beschwerden nachgehen, Empfehlungen aussprechen und
sich an das Gericht wenden können.
•
Die Isolation von und gewaltsame Einschränkung von PatientInnen in psychiatrischen
Krankenhäusern bzw. HeimbewohnerInnen sollte nur auf ärztliche Anordnung und
Bewilligung erfolgen können, sie muss registriert, vom medizinischen Personal
überwacht und zeitlich eng begrenzt werden, so wie es die internationalen Standards
verlangen. Es muss eine besondere Schulung dafür geben, wie solche Isolationsund Restriktionsmethoden angewendet und registriert werden müssen.
psychiatrische krankenhäuser
•
Eine zwangsweise psychiatrische Behandlung darf ausschließlich bei unmittelbarer
Gefahr für Gesundheit und Sicherheit des Patienten/ der Patientin oder für andere
Personen ins Auge gefasst werden. Alle betroffenen PatientInnen müssen das Recht
haben, eine zweite Fachmeinung einzuholen und ihren Fall gründlich und zügig von
einer Behörde auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Jede/r, bei dem sich
herausstellt, dass er/sie zu Unrecht festgehalten wird, muss freigelassen werden und
muss ein einklagbares Recht auf Entschädigung haben.
•
Elektroschocks sollten nur in ihrer „modifizierten“ Form eingesetzt werden, wie es den
internationalen Standards für die beste Praxis entspricht, sodass es weder für die
PatientInnen noch für das medizinische Personal zu erniedrigenden Situationen
kommt.
•
PatientInnen, die zwangsweise einer Spitalsbehandlung unterzogen werden, müssen
bei der Einweisung medizinisch untersucht werden. Alle Beschwerden über
Misshandlung durch die Polizei und alle Verletzungen, die beobachtet werden, sind
der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.
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bulgarien: ... aus den augen aus dem sinn?
pflegeheime für kinder
•
Jedes Kind mit Entwicklungsstörungen sollte allerdringendst eine seinen
Bedürfnissen entsprechende aktive Behandlung erhalten, bei der von SpezialistInnen
individuell zusammengestellte Anordnungen umgesetzt werden.
•
Die Unterbringung in einem Pflegeheim sollte auf professionellen Attesten über die
tatsächliche Beeinträchtigung und Hilfsbedürftigkeit des Kindes beruhen. Solche
Atteste sollten regelmäßig von ExpertInnen auf ihre Gültigkeit überprüft werden.
•
Es müssen genügend Mittel zur Verfügung stehen, damit die Lebensbedingungen der
Kinder in den Heimen den internationalen Menschenrechtsstandards entsprechen.
•
Der Kontakt der Heimkinder mit ihren Familien bzw. generell der Außenwelt sollte
erleichtert und gefördert werden.
•
Die medizinische Versorgung muss den internationalen Menschenrechtsstandards
entsprechen. Das sollte regelmäßig durch FachärztInnen überprüft und kontrolliert
werden.
pflegeheime für erwachsene
•
Alle psychiatrischen Diagnosen und Einweisungen von geistig behinderten Menschen
in Pflegeheime sollten einer Neuüberprüfung unterzogen werden, damit sichergestellt
wird, dass ihr Recht auf einen ordnungsgemäßen Prozess und ihr Recht auf Freiheit
vor willkürlicher Haft nicht verletzt wurde. Die InsassInnen sollten regelmäßig von
einem/einer PsychiaterIn betreut werden und leicht Zugang zu ihm/ihr haben. Das
Gesundheitsministerium sollte für die Überwachung der medizinischen Dienste in
Pflegeheimen verantwortlich sein und durch entsprechende Maßnahmen
sicherstellen, dass es nicht zu Medikamentenmissbrauch kommt. Die
HeiminsassInnen sind vor der Verabreichung über eine Medikation aufzuklären und
ihr Einverständnis soll gesucht werden.
•
Die Lebensbedingungen in den Heimen, die grausamer, unmenschlicher und
erniedrigender Behandlung entsprechen, sind dringend zu verbessern, sodass sie
internationalen Menschenrechtsstandards entsprechen; insbesondere muss die
Instandhaltung und Heizung der Gebäude und die Versorgung mit angemessenem
Essen, mit Kleidung und sanitären Einrichtungen gewährleistet sein.
•
Beschäftigungstherapie und Aktivitäten zur Erholung sollten organisiert werden und
dazu Materialien zur Verfügung gestellt werden: Schreibmaterial, Bücher, Zeitungen,
Spiele.
•
Die Behörden müssen das Personal anhalten, die Rechte der HeiminsassInnen zu
respektieren und klarmachen, dass physische oder psychische Misshandlung der
HeimbewohnerInnen nicht geduldet wird. Das Personal sollte für die Arbeit in
Pflegeheimen besonders geschult werden, und qualifiziertes Personal aus dem
medizinischen Sektor sollte das nicht-medizinische Personal kontrollieren.
•
Alle Heime sollten eine angemessene Zahl von genügend ausgebildetem
medizinischem und nicht-medizinischem Personal haben.
•
Die InsassInnen müssen bei der Einweisung vollständig medizinisch untersucht
werden. Ihre medizinischen Karteien sollten eine genaue Diagnose enthalten, eine
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fortlaufende Beschreibung ihres Gesundheitszustands, der Behandlung und aller
Verletzungen. Alle Anzeichen, die auf eine Misshandlung oder einen tätlichen Angriff
schließen lassen, müssen den Untersuchungsbehörden gemeldet werden.
•
Der Tod von HeimbewohnerInnen muss registriert und von den staatlichen Behörden
überprüft werden. Gründliche und unparteiische Untersuchungen, darunter auch eine
Obduktion, sind bei allen Todesfällen anzustellen. Die Ergebnisse sind zu
veröffentlichen. Die Todesfälle von Heim-InsassInnen, die in diesem Bericht
beschrieben wurden, sollten untersucht werden in Hinblick darauf, dass jede/r,
der/die sich eines kriminellen Vergehens schuldig gemacht hat, vor Gericht gestellt
werden muss.
•
Das Familiengesetz (Family Law Act) und das Zivilverfahrensgesetz (Civil Procedure
Act) müssen überarbeitet werden, damit sichergestellt wird, dass bei
Entmündigungsprozessen die Interessen und Rechte der betroffenen Personen
beachtet und gesichert werden. Eine Rechtsvertretung der betroffenen Person und
eine periodische juristische Überprüfung sollten verpflichtend sein.
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