lebenswege von auswanderern
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lebenswege von auswanderern
04 Interdisziplinäres Studienprojekt Migration ' !"#!$ Career Service und Historisches Seminar Eberhard-Karls-Universität Tübingen Seminar !"#$ % Editorial 1 3 &'"!( &' Einleitung 5 )*+% Wir über uns 7 ,)$" Auswanderung in Richtung Osten im 18. und 19. Jahrhundert Hintergrund 18 &*"&-./0. Über Tiflis und Kasachstan zurück zu den Wurzeln der Vorfahren Lebenswege 21 *..&1. 2 Donauabwärts in Richtung Osten – unterwegs im 19. Jahrhundert Zeitreise 24 ! "., & %"#3 Auswandern nach Übersee im 19. Jahrhundert barg viele Gefahren in sich Zeitreise 26 &3$!3!&##3! Die Geschichte der Brüder Otto und Erwin Küenzlen aus Besigheim Lebenswege 28 ,0) !,4!% Michael Lutz – ein Ofterdinger sucht sein Glück in Amerika Spurensuche in Archiven 32 * **&53. Kirchen- und Gemeindearchive bergen Schätze für die Personenrecherche Spurensuche in Archiven 36 &) &*&&!33*" Bremerhaven – Geschichte der Stadt ist eng mit der Auswanderung verbunden Hintergrund 39 Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -1- Seminar ) &6,&! Edith Fuhrmann erzählt Auswanderergeschichten aus ihrer Familie Lebenswege 1*.""3$*"7 !.".%2 Susi und Peter Buschbacher aus Syracuse, USA Lebenswege 1 *&.,3*3&83&8. 2 Susi and Peter Buschbacher , Syracuse, USA Interview im englischen Original 43 45 47 ''9!3" Deutsche Einwanderer in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert Hintergrund 51 *3&* &"* Ernesto Edele erzählt die Migrationsgeschichte seiner Mutter Lebenswege 54 .!3))"1&2 Mirian Stoll: Brasilien ist ihre Heimat, Deutsch ihre Muttersprache Lebenswege 58 1 )",!7.*%**)2 Svitlana Burmey: Die Ukrainerin arbeitet in Böblingen als Deutschlehrerin Lebenswege 61 1')* **&!.0*.*%!..2 Sultan Braun – ein Gespräch mit der Reutlinger Integrationsbeauftragten Lebenswege 63 "!"*7,.. Tübinger Passanten sagen, was Migration und Integration für sie bedeuten Umfrage 66 '"!(&* 7%!.#:"33%##*&3 Hintergrund 69 %*&* 72 .#*. 5#" 73 74 Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -2- Seminar Migration gestern und heute: Lebensgeschichten boten Halt im Datendschungel !"#$ % Das Seminar „Lebenswege von Auswanderern“ war ein Pilotprojekt. Das Ziel war, die historische Auswanderung aus Deutschland mit dem gewaltigen Themenfeld Migration weltweit zu verknüpfen und dabei die Brücke zum Thema Ein- und Auswanderung heute nicht aus dem Blick zu verlieren. Würde die Eingrenzung gelingen, der „rote Faden“ erkennbar bleiben? Verbindung zwischen den ganz persönlichen Lebensstationen veranschaulichten auf Anhieb, das auch für uns selbst galt, was Theresa Köckeritz und Wolfgang Baum in ihrem Vorwort im Anschluss an diesen Text formuliert haben: „Migration ist ganz normal. Das war unser Ausgangspunkt.“ Unsere Recherchereisen führten uns durch Wissenswelten, Faktenfluten, durch das Internet, verstaubte Kirchenregister und durch unsere eigene Phantasie. Am Wegesrand lag historisch Bedeutsames wie Banales, Allgemeingültiges wie zutiefst Persönliches. Auch ich bin beeindruckt, was die Autorinnen und Autoren hier für diese Seminarzeitung erarbeitet und in Worte und Bilder gefasst haben. Fülle und inhaltliche Vielfalt auf den folgenden Seiten geben zumindest ein Stück weit die Intensität wieder, die diesen Kurs geprägt hat. Vom Start weg hatten wir uns einen dicken Packen Recherchearbeit vorgenommen. Die Lebenswanderungen Einzelner standen im Mittelpunkt und boten Halt im Datendschungel: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des interdisziplinären Studienprojektes galt es, einzelnen Lebenswegen nachspüren, innerhalb und außerhalb unserer nur sechs Präsenztage Interviews zu führen, historischen Hintergrund zu erarbeiten und die Ergebnisse am Ende in Texten und Bildern in einer Seminarzeitung zu präsentieren. Und so ganz „nebenher“ noch ganz normal weiter zu studieren, Klausuren und Hausarbeiten zu schreiben. Mein Dank gilt daher zunächst vor allem den Studierenden selbst. Das dicke (Arbeits-) Ende dieses Seminars fiel zusammen mit dem Ende des Semesters. Zum Teil aufwändige Recherchen mussten abgeschlossen und in Texte umgesetzt werden, während gleichzeitig zwei oder gar drei Klausuren pro Woche in den jeweiligen Studienfächern Energie, Zeit und Aufmerksamkeit forderten. Das „Lebenswege“-Redaktionsteam hat sich gegenseitig den Rücken gestärkt und tolle Arbeit geleistet. Einige wenige sprangen ab. Alle anderen hielten bei der Stange - und gleich mehrere stellten in der Seminarkritikrunde beim letzten Treffen verblüfft fest: „Ich hätte am Anfang nie gedacht, dass wir soviel Material, so viele interessante Geschichten zusammentragen werden!“ Das galt für die Lebenswanderungen fremder, zum Teil längst gestorbener Personen, aber auch und gerade für die eigenen: Der Funke sprang schon bei der Kennenlern-Runde über: In wechselseitigen Interviews stellte sich rasch heraus, was für ein buntes Völkchen sich da in der ehrwürdigen Bibliothek des Historischen Seminars getroffen hatte. Eine Weltkarte, ein paar Nadeln und bunte Wollfäden als Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle allen Gästen, Interview- und Gesprächspartnern unseres Seminars: Dr. Ulrich Küenzlen und Hermann Griebel aus Mössingen und Belsen, Mirian und Hans Stoll sowie Dr. Gerhard Kittelberger aus Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -3- Seminar Pilotprojekt gelingen. Wir, die Studierenden und ich, finden, das ist der Fall. Ofterdingen, Sultan Braun bei der Stadt Reutlingen, Svitlana Burmey aus Böblingen, Edith Fuhrmann in Düring in der Nähe von Bremerhaven und Susi Buschbacher in Syracuse, New York. Sie alle und noch einige mehr, deren Namen hier in dieser Zeitung zu finden sind, haben uns zum Teil sehr persönliche Einblicke erlaubt in ihre Lebenswanderungen und Familiengeschichte(n). Nur mit dem Blick auf individuelle Geschichten lässt sich verstehen, dass Wanderungen zu uns Menschen gehören. Mit dieser Seminarzeitung wollen wir Sie als interessierten Leser oder Leserin ein Stück mitnehmen auf dem Weg, den wir gemeinsam gegangen sind. Vielleicht finden Sie in dem einen oder anderen Lebensweg sich selbst, oder in den Berichten zum historischen Hintergrund die Erlebnisse eines Ihrer Vorfahren wieder. Dann beginnen Sie mit der Spurensuche. Am besten sofort. So lange es noch Angehörige gibt, die sich an Einzelheiten erinnern. Und vielleicht Kisten und Kästen mit alten Fotos und Dokumenten auf dem Dachboden. Es lohnt sich. Auch ohne die Unterstützung und Organisation der Verantwortlichen und Mitarbeiter beim Career Service und beim Historischen Seminar der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen wäre dieses Studienprojekt nicht möglich gewesen. Nur mit der Offenheit und Bereitschaft aller an diesem Seminar Beteiligter konnte dieses Liane von Droste Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -4- Seminar Migration ist ganz normal - das war unser Ausgangspunkt &'"!( & ' Zentrales Thema unseres Seminars „Lebenswege von Auswanderern“ im Wintersemester 2008 / 2009 war es, Migration in ihrem historischen Kontext zu begreifen. Warum genau ist der historische Ansatz für das Verständnis von Migration spannend? Migration in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu sehen, hilft, sie heute besser zu verstehen. Oft wird angenommen, es handele sich dabei um eine neuartige Erscheinung. In Wahrheit sind Wanderungsbewegungen so alt wie die Menschheit selbst. Schon immer sind Menschen, Familien und ganze Volksgruppen von einem Ort zum anderen, von einem Land ins andere gezogen. Auslöser dafür waren meist die Suche nach einem besseren Leben, Hungersnöte, Kriege, Vertreibung aber auch Abenteuerlust und Neugier. Migration ist ganz normal. Das war unser Ausgangspunkt. Migration und ihr Verständnis. Die aufkommende Nationalstaatenideologie hatte zur Folge, dass ethnische Zugehörigkeiten neu definiert wurden. Vor der Entstehung von Nationalstaaten waren hingegen der soziale Stand, sowie lokale und regionale Zugehörigkeiten bei der Auswanderung entscheidender als die nationale Herkunft. Auch die Motive für die Auswanderung änderten sich. Wo früher Flucht vor religiöser Intoleranz eine wichtige Rolle bei der Auswanderung gespielt hatte, waren nach Entstehung der Nationalstaaten politische Gründe von größerer Bedeutung. Revolutionäre und Mitglieder der politischen Opposition wurden ins Exil geschickt oder flohen in andere Länder. Nicht nur der Wandel politischer Systeme, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen und technische Innovationen hatten Einfluss auf die Auswanderung im 19. Jahrhundert. Im Rahmen der Industrialisierung kam es zur Urbanisierung, das heißt viele Menschen verließen die ländlichen Gebiete, um in Städten nach Arbeit zu suchen. Seit 1830 verbesserte sich auch das Transportsystem, was die Auswanderung vereinfachte. Den stetigen technischen Neuerungen folgte eine größere Nachfrage nach Arbeitskräften und verstärkte innereuropäische und transatlantische Migration. All diese hier nur kurz umrissenen Änderungen brachten die verschiedensten Motive zur Auswanderung mit sich. Und sie sorgten dafür, dass in der Zeit von 1820 bis 1930 rund 55 Millionen Menschen Europa auf Dauer verließen. Interessant bei der historischen Betrachtung ist es zu erkennen, wie sich der Begriff und das Verständnis davon, was Migration ist, gewandelt haben. In den feudalen Gesellschaftssystemen des deutschen Mittelalters war es schwer auszuwandern, da beispielsweise Leibeigene an ihre Lehnsherren gebunden waren. Es gab zu dieser Zeit aber auch Gesellschaften wie etwa in Russland, wo Zarin Katharina die Zweite europaweit dazu aufrief, die Gebiete im Süden des Landes zu besiedeln. Die Entstehung von Nationalstaaten in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte einen entscheidenden Einfluss auf Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -5- Seminar *&)" &$)*0%+ Bei unserer Recherchen standen die Biographien im Mittelpunkt, also die Lebensgeschichten einzelner Auswanderer. Geschichtliche Darstellungen zeigen mit Zahlen und Fakten oft nur das Gerüst, den Hintergrund eines so einschneidenden Erlebnisses wie Aus- und Einwanderung. Migration aber ist neben historischen und statistischen vor allem von individuellen Faktoren geprägt: Den Lebenswegen und geschichten einzelner Männer, Frauen und Kinder. Fremdheit wird abhängig vom persönlichen Hintergrund immer anders erfahren. Alle Migranten sind jedoch davon betroffen, sich in bestimmten Lebensbereichen von der Gesellschaft in jeweiligen Einwanderungsland zu unterscheiden, sei es auch nur durch die Sprache. Die Konfrontation mit dem Ungewohnten ist sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einwanderer schwierig. Die Mehrheitsgesellschaft fordert Integration, dabei wird oft übersehen, dass keine Gesellschaft einheitlich ist. Identität ist persönlich und setzt sich aus zahlreichen Faktoren zusammen. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land ist nur einer davon. Die Cousinen Berta (rechts) und Rosine Preisendanz wanderten in den 1920er Jahren von Mössingen nach New York aus. Foto: privat Diese Erfahrungen können bedrückend oder bereichernd wirken, sind aber auf jeden Fall eine Herausforderung. Nur mit dem Blick auf die individuelle Geschichte können die Auswirkungen in ihrer Gesamtheit verstanden werden und nur dann kann Verständnis an die Stelle von Ausgrenzung treten. Der Lebenslauf jedes Menschen enthält Momente von Fremdheit, auch in der Herkunftsgesellschaft. Jeder stellt sich zu gewissen Zeiten im Leben die Frage nach der eigenen Identität, zum Beispiel in der Pubertät, beim Übergang von der Schule zur Ausbildung, beim Berufseintritt oder beim Umzug in eine andere Stadt. Theresa Köckeritz und Wolfgang Baum Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -6- Seminar ; ; Lebenswanderungen gehören auch zu uns – wir sind... )*+% Susan Azimi, 36 Jahre, studiert schon immer davon, das Abitur nachzuholen, um danach studieren zu können. Diesen Traum setzte sie um und begann 2005 ihr Magister-Studium in Tübingen. Susan bezeichnet sich humorvoll und selbstironisch als „iranische Preußin“. Ihre Wurzeln seien von großer Bedeutung für sie: „Mann muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man geht“. Diese Erkenntnis versucht sie in ihr Leben mit einzubeziehen – und das nicht nur bei ihrer Vorliebe für die iranische Küche. Geschichte, Politikwissenschaft und Psychologie an der Universität Tübingen. Sie ist verheiratet und hat einen zehnjährigen Sohn. Sie ist in Bremerhaven geboren. Aus persönlichen Gründen zog es sie nach BadenWürttemberg. Tugce Dizdar Wolfgang Baum ist 24 Jahre alt und studiert Neuere Geschichte und Islamkunde im 7. Semester an der Universität Tübingen. Er stammt aus Frickenhausen bei Nürtingen und ist für sein Studium nach Tübingen gezogen. Sein jüngerer Bruder heißt Manfred und ist 20 Jahre alt. Susans Wurzeln liegen nicht nur im Norden Deutschlands, sondern auch im Iran, dem Herkunftsland ihres Vaters. Er zog nach Deutschland, um eine Praxis zu eröffnen und als Arzt zu arbeiten. Hier lernte er seine Frau und Susans Mutter kennen, die Deutsche ist. Susan zog 1976 mit drei Jahren gemeinsam mit ihren Eltern und zwei weiteren Geschwistern in den Iran. Der Vater hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, in sein Heimatland zurückzukehren. Wegen des iranisch-irakischen Krieges entschied sich ihre Familie 1981, nach einem Sommerurlaub in Deutschland, nicht in den Iran zurück zu gehen. Susan ging in Bremerhaven zur Schule und zog 1993 nach Süddeutschland, um eine Modefachschule zu besuchen. Danach arbeitete sie im künstlerischen Bereich und in der Gastronomie. Trotz der vielfältigen Berufe, die Susan ausübte, träumte sie In seiner Freizeit reist Wolfgang gerne, spielt Volleyball, fotografiert und liest sehr viel. Die Familie von Wolfgangs Mutter kommt aus Altker, einem kleinen Ort in Nordserbien, der auf serbisch Zmajevo heißt. Ihre Vorfahren waren so genannte Donauschwaben. Nach dem Zweiten Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -7- Seminar ; Weltkrieg wurde die Familie seiner Mutter vertrieben und kehrte nach Deutschland zurück. Weder seine Mutter, die in Deutschland geboren wurde, noch Wolfgang sprechen serbisch. Auf die Frage, weshalb er an diesem Seminar teilnimmt und ihn das Thema Migration so sehr interessiere, antwortet Wolfgang: „Migration ist vielleicht die größte Chance der Menschheit, zusammen in Frieden zu leben und mehr Verständnis füreinander aufzubringen“. Sich selber bezeichnet Wolfgang als Kosmopoliten, als Weltbürger. Für ihn ist „Zuhause“ da, wo seine Freunde sind. In den letzten Jahren reiste er häufiger nach Ägypten. Dort hat er unter anderem ein Auslandssemester in Kairo absolviert. Ägypten sei für ihn schon eine Art zweite Heimat geworden: „ Ägypten spricht meine chaotische Seite an und ist wesentlich lebendiger als Deutschland. Das Chaotische ist meistens cool, nervt aber zwischendurch auch ganz schön. Ich mag die Offenheit und den Humor der Ägypter“, erzählt Wolfgang. mütterlicherseits gehört einer südkaukasischen Volksgruppe namens „Las“ an. Die Vorfahren ihres Großvaters stammen aus Abchasien, eine Region im Kaukasus. Auch die Eltern ihrer Mutter, die in der Türkei lebten, entschlossen sich nach Deutschland auszuwandern. Tugce ist geprägt von verschiedenen Kulturen und Traditionen und versucht diese auch so gut es ihr möglich ist zu pflegen. Auf die Frage, was sie mit anderen Ländern verbindet, antwortet Tugce, dass sie „durchgehend Fernweh“ hat. Wenn sie mal nicht reisen kann, gleicht sie ihr Fernweh damit aus, sich über andere Länder und deren Kulturen kundig zu machen. Es komme auch schon mal vor, sagt sie, dass sie Leute einfach anspreche, wenn diese „nicht deutsch aussehen“. Dann erkundige sie sich ohne Umschweife neugierig nach dem Herkunftsland. Auf die Frage, wie sie sich selbst kurz und knapp charakterisieren würde, antwortet sie mit erfrischendem Lächeln: „Direkt, selbstbewusst, bedingungslos.“ „Herzlich“ hätte sie noch hinzufügen können. Tugce Dizdar Tugce Dizdar ist 19 Jahre alt und studiert Allgemeine Rhetorik und Medienwissenschaft im ersten Semester. Wegen ihres Studiums lebt sie in Tübingen, stammt aber aus Tuttlingen, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Tugce ist die Mittlere von drei Kindern. Mit ihren Eltern, die beide in der Türkei geboren sind, reiht sie sich ein in die vielfältigen „Migrationshintergründe“ der Teilnehmer unseres „Lebenswege“Seminars. Nach der Herkunft ihrer Eltern befragt, winkt sie lachend ab und sagt, dass sei viel zu kompliziert. Tugces Vater hat Vorfahren, die von Bosnien in die Türkei eingewandert sind. Ihre Großeltern, die in der Türkei lebten, entschlossen sich, nach Deutschland auszuwandern, als ihr Vater acht Jahre alt war. Ihre Großmutter Sie legt großen Wert auf Sprache und deren Eigenheiten, gleichgültig ob deutsch oder türkisch. Sie möchte traditionelles und modernes Denken miteinander verbinden. Auch wenn sie sich sehr wohl in Deutschland fühlt, möchte sie niemals die Beziehung zu ihrem „Heimatland Türkei“ verlieren. Jeden Sommer zieht es sie für mehrere Wochen in die Türkei zu ihren Verwandten. Susan Azimi Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -8- Seminar ; Bayern um. Ihr Vater hatte dort eine Arbeitsstelle gefunden. Der nächste Umzug der Familie ging nach Baden-Württemberg, in die Nähe von Ostfildern. Der Umzug nach Westdeutschland brachte die Trennung von den Verwandten, aber zugleich wuchs die kleine Familie enger zusammen. Theresas „Migrationshintergrund“ ist eng mit der Geschichte Deutschlands und der DDR verbunden. Wegzugehen aus der Heimat in Sachsen-Anhalt war für ihre Familie ein großer Schritt, denn nicht nur der geschichtliche und politische Kontext in den ehemals zwei deutschen Staaten, sondern auch die jeweiligen Lebenssituationen waren sehr verschieden. Theresa Köckeritz ist 23 Jahre alt. Sie hat einen 29-jährigen Bruder. Ihre Eltern wohnen in Esslingen, sie selbst in Tübingen. Sie studiert Erziehungswissenschaften, Ethnologie und öffentliches Recht auf Magister. In ihrer Freizeit singt sie im Chor, treibt Sport, trifft Freunde und reist gerne. Oksana Nazarenus 2007 ging Theresa für ein Jahr nach Kalifornien und studierte zwei Semester an der California State University in San Diego.. Das Alltagsleben, der Campus und die Menschen in Kalifornien haben viele Eindrücke bei ihr hinterlassen. Theresa hat zahlreiche Freunde gefunden und viele Unterschiede zwischen Deutschland und Kalifornien festgestellt. Sie empfand die Menschen dort als offen und freundlich und ihr gefiel es sehr, dass viele Studenten der Universität von überall aus der Welt kamen. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland fand sie es viel schwerer, sich in ihre alte Umgebung wieder einzufinden, als es beim Einleben in Kalifornien der Fall war. Dort fühlte sie sich sofort wohl und integriert. Theresa könnte es sich gut vorstellen, in Kalifornien für eine längere Zeit zu leben, so gut hat es ihr dort gefallen. Andrea Rumpel ist 24 Jahre alt. Sie ist in Sigmaringen geboren und dort bei ihrer Mutter aufgewachsen, da ihre Eltern getrennt leben. Sie hat drei Geschwister und fünf Stiefgeschwister. Nach ihrem Abitur hat sie zuerst in Konstanz ein Semester lang Jura studiert, doch das Auswendiglernen des Lernstoffes und die Kommilitonen hätten ihr nicht zugesagt, sagt sie. Sie brach ihr Studium deshalb ab und machte einige Monate Pause, um sich Auch in Theresas Familie gab es einige Lebenswanderungen: Sie wurde in Sachsen-Anhalt geboren, in der DDR. Nach dem Mauerfall zog ihre Familie nach Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 -9- Seminar ; neu zu orientieren. Dann ging sie nach Tübingen und studiert dort heute Erziehungswissenschaften, Religionswissenschaften und Soziologie. Stuttgarter zog es schon viele Male in sein Vaterland, da der größte Teil seiner Familie immer noch in Kroatien lebt; mit 21 Jahren besuchte er eine Zeitlang die Kunstakademie in Zagreb. Andrea wohnt mit ihrem Freund zusammen in Nürtingen. Sie liest gern, trifft sich mit ihren Freunden, spielt Klavier und treibt gerne Sport. Sie geht vor allem gerne joggen, und sie ist sogar schon einen HalbMarathon gelaufen. Außerdem mag sie den Kontakt zu anderen Menschen, reist leidenschaftlich gern und hat großes Interesse an fremden Kulturen. Sie hat mit ihrem Vater die USA bereist und war mit ihrem Onkel, der Pilot ist und jedem ihrer Geschwister jeweils eine Reise geschenkt hat, im afrikanischen Namibia. Ihre Mutter kommt aus Bayern, ihr Vater ist Schwabe. Seine Vorfahren sind vor rund 200 Jahren von Österreich nach Süddeutschland eingewandert. Andrea teilt die Reiseleidenschaft ihres Vaters. Vielleicht wird Andrea in einigen Jahren mehr zu ihrer eigenen Migrationsgeschichte erzählen können, denn sie träumt davon, nach ihrem abgeschlossenen Studium mit ihrem Freund nach Kanada zu ziehen. Was ihn heutzutage noch mit Kroatien, dem Land seiner Kindheit und dem Heimatland seiner Eltern verbindet? Er habe eine innige Beziehung zu der kroatischen Kultur, zur Sprache sowie auch dem Essen, sagt er selbst. Fasziniert ist er von der Geschichte des Balkans, in der er auch sehr belesen ist. Als Migrant der zweiten Generation sieht Elvir es als seine Aufgabe an, die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft und deren verschiedene Gruppen mit ihrem jeweiligen Migrationshintergrund besser zu verstehen. Ernesto Edele Elvir Salcin, 26, wohnt in Tübingen und studiert im siebten Semester Soziologie und Slawistik. Seine Lebensgeschichte zeigt, weshalb die Wahl seiner Studienfächer kein Zufall ist, sondern auch mit seinem Alltagsleben viel zu tun hat. Elvir stammt aus einer Familie mit kroatischem Wurzeln, die heute in Stuttgart lebt. Schon als Kleinkind zog der spätere leidenschaftliche Zeichner nach Kroatien zu seinen Großeltern und verbrachte die ersten neun Jahre seines Lebens in der Heimat seiner Vorfahren. Zurück in Deutschland schaffte er den Aufschwung von der Hauptschule, über die Realschule bis zum Gymnasium. Den gebürtigen Tugce Dizdar Matthias Stange nimmt aus ganz persönlichen Gründen an Seminar zum Thema Migration teil: Die Mutter des gebürtigen Stuttgarters kam in Budapest als Tochter einer Donauschwäbin zur Welt. 1965 wanderte sie als 15-Jährige nach Deutschland aus und kehrte damit in das Land ihrer Vorfahren zurück. Auf der väterlichen Seite hat Matthias schlesische Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 10 - Seminar ; der erste Meilenstein für ihr Berufsleben gelegt. Ein Dozent sprach sie an, ob sie sich für Journalismus interessiere, da eine Lokalzeitung in der Region freie Mitarbeiter suche. Liane, die sich ihr Studium wegen des früh gestorbenen Vaters durch Nebenjobs verdiente, fand das nach eigenen Worten „spannend“, begann dort als freie Mitarbeiterin und hat so ihren Traumberuf gefunden. Statt des Referendariats für den Lehrerberuf absolvierte sie nach Abschluss ihres Studiums ein Volontariat beim Reutlinger General-Anzeiger. Dort arbeitete Liane mehrere Jahre als Lokalredakteurin. Anschließend war sie Redaktionsleiterin der Schwäbischen Zeitung in Markdorf am Bodensee. Im Jahr 2000 kündigte sie ihre Stelle und machte sich selbstständig. Seither arbeitet sie freiberuflich als Journalistin, Autorin und Dozentin. Vorfahren. Diese flüchteten während des Zweiten Weltkriegs aus Hirschberg bei Breslau nach Rheinland-Pfalz. Zu seinem Bedauern hat der 23-jährige Student jedoch weder die ungarische noch die polnische Sprache erlernt. Matthias studiert Geschichte und Rhetorik und wohnt in Tübingen. Als Sohn einer Musikerfamilie – der Vater ist Pianist, die Mutter Klavierlehrerin - hört er gerne Musik, spielt Klavier und Trompete und produziert Musik am Computer. Neben der Musik spielt Matthias mit großer Begeisterung Fußball. Doch auch das Lesen, Diskutieren, Philosophieren, sowie das Reisen, Planen und Organisieren zählt der Tübinger zu seinen liebsten Beschäftigungen. Im Rahmen des Seminars hat sich Matthias ausführlich mit den „Schwabenzügen“ beschäftigt und hofft, im Gespräch mit seiner Familie auf interessante Geschichten zu stoßen. Sie lebt mit ihrem Mann am Stadtrand von Berlin. Ihr Haus liegt genau im ehemaligen Grenzstreifen zwischen Bundesrepublik und DDR. In Nehren bei Tübingen hat sie noch eine Wohnung, da sie für ihre Arbeit oft in Baden-Württemberg ist. Lianes Hobbys sind Lesen, Schreiben, Radfahren und Reisen. Martina Wiederkehr Liane von Droste ist 49 Jahre alt und ist in Ofterdingen, Kreis Tübingen, geboren. Aufgewachsen ist sie mit zwei Brüdern. Ihr Abitur machte sie in Mössingen und studierte dann Anglistik und Germanistik in Tübingen. Während ihres Studiums wurde Liane bezeichnet sich selbst als „Arbeitsmigrantin“ zwischen Nehren und Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 11 - Seminar ; Berlin. Zu ihrem Migrationshintergrund zählt sie, dass ihr Vater in Ostpreußen geboren wurde. „Das hat damals noch zu Deutschland gehört. Aber die Flucht seiner Familie von dort ist ein tiefer Einschnitt gewesen, eine Lebenswanderung in eine andere Welt. Das ist Migration mit allem, was dazu gehört. Und sie geschah unter Zwang,“ sagt die 49-Jährige. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Familie ihres Vaters auseinander gerissen. Die Großmutter und einige Geschwister von Lianes Vater kamen als Flüchtlinge nach Ofterdingen, Kreis Tübingen. Michael Lutz und seiner Familie entdeckten wir im Rahmen unseres Seminars. Tugce Dizdar hat in dieser Seminarzeitung über diese Spurensuche geschrieben. So weiß Liane heute, dass ihr Urgroßonkel Michael und seine Frau Agnes in den USA noch ein weiteres Kind, Rosie, bekamen und dass Michael als Schlosser in New York den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdiente. Andrea Rumpel Liane hat noch einen anderen „Migrationshintergrund“: 2008 erschien ihr Buch „Lebenswege von Auswanderern“ im Attempto Verlag in Tübingen. Dafür hat sie Portraits von Menschen recherchiert, die in den vergangenen zweihundert Jahren nach Amerika und donauabwärts Richtung Osten ausgewandert sind. Ihre Arbeit an dem Buch und zum Thema historische Migration sei die Grundlage für unser Seminar „Lebenswege von Auswanderern“ gewesen, sagt sie: „Ich wollte weitergeben, wie spannend das Thema historische Auswanderung sein kann, wenn man es an den Schicksalen einzelner Menschen festmacht.“ Erst als das Buch schon veröffentlicht war, erfuhr sie, dass es auch in ihrer eigenen Familie im 19. Jahrhundert Auswanderer gab. Mehrere ihrer Urgroßonkel emigrierten in die Vereinigten Staaten von Amerika. Einer davon, Michael Lutz, ging 1889. Seine Frau Agnes folgte ihm mit den Kindern Albert, Konrad, Johannes, Karl und Marie ein Jahr später. Niemand in ihrer Familie wusste mehr, dass es Verwandte in Amerika gab. Martina Wiederkehr wurde am 1986 in Ensingen bei Nürtingen geboren und wuchs dort zusammen mit drei weiteren Geschwistern auf. Die Vorfahren ihrer Familie stammen ursprünglich aus dem Schweizer Raum. Martina hat herausgefunden, dass der Name Wiederkehr besonders häufig in der Region um Waldshut-Tiengen auftaucht. Ihre Großmutter stammt aus diesem Gebiet an der Schweizer Grenze. Andere Spuren ihrer Familie führen in den Badener Raum. Ein Familienforscher, mit dem sie zusammenarbeitet, fand Hinweise auf die Ausgewanderten im Ofterdinger Familienregister der Kirchengemeinde. Weitere Spuren von Lianes Urgroßonkel Martina verbrachte längere Zeit in Mexiko und in Irland und will diese und andere Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 12 - Seminar ; Länder auch künftig bereisen. Sie engagiert sich in der Jugendarbeit. Enger Kontakt zu ihrer Familie sowie der Kontakt untereinander sind ihr sehr wichtig. In ihrer Freizeit spielt sie Gitarre und treibt Sport. Sie lebt in Tübingen und studiert Politik und Geschichte. Matthias Stange Alte Fotos erzählen Geschichten: Ulrich Küenzlen (hinten rechts) hatte alte Fotos seiner beiden Großonkel Otto und Erwin mitgebracht, die zum Mittelpunkt eines Auswandererportraits für diese Seminarzeitung wurden (siehe Bericht „Leder fürs Sofa von der Trapperfront). Foto: Droste Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 13 - Seminar ; Oksana Nazarenus 1))..3$!"&,! &, <2 Oksana Nazarenus wurde 1985 in ArykBalyk in Kasachstan als erste von zwei Töchtern geboren. Sie besuchte dort die erste und zweite Klasse, bis sie mit ihrer Familie und einigen Verwandten im Oktober 1994 nach Deutschland übersiedelte. Die Familie lebte zunächst ein Jahr in Linsenhofen, Baden-Württemberg, in einem Heim für Spätaussiedler. 1996 fanden sie im drei Kilometer entfernten Beuren eine neue Heimat. Dort besuchte Oksana die dritte und vierte Klasse und parallel Während unseres Seminars „Lebenswege von Auswanderern“ fanden sich unter den Biographien der einzelnen Teilnehmer mehrere, die für ganze Generationen von Aus- und Einwanderern stehen. Zwei davon stellen wir daher ausführlicher als die anderen vor. Hier geht es um Oksana Nazarenus, die als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam. Oksana Nazarenus Foto: Köckeritz finden. Vor allem die Sprache, so betont Oksana, war am Anfang eine große Hürde. Auch wenn ihr einige Verwandte mit „ein paar Brocken“ Deutsch aushelfen konnten. Die Vorfahren ihrer Familie stammten ursprünglich aus Deutschland. Wie viele andere Deutsche vor allem aus Hessen, Baden-Württemberg und dem Rheinland schlossen sich Oksanas Ahnen zur Zeit der Zarin Katharina der Zweiten (1762-1796) den Auswandererwellen aus Deutschland in Richtung Russland an. Die Ansiedlungsgebiete, die die Zarin den Emigranten versprochen hatte, lagen in der Region um St. Petersburg, vor allem aber im Wolgagebiet um Saratow. verschiedene Sprachkurse. Nach einem Jahr auf der Hauptschule wechselte sie auf die Realschule. Nach ihrer Mittleren Reife 2004 legte sie in Nürtingen das Abitur ab. Seit 2007 studiert sie in Tübingen Slawistik und Kunstgeschichte. Die Siedler fühlten sich nicht akzeptiert von den anderen Volksgruppen in der Region. Viele zogen im Lauf des 19. Jahrhunderts weiter in andere Gebiete, manche bis ans Schwarze Meer oder aber nach Amerika. Wie viele andere ihrer Generation weiß Oksana, wie es sich anfühlt, ein neues Land zu betreten und wie schwierig es ist, sich dort einzuleben und sich zurecht zu Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 14 - Seminar ; 1914 besonders aber nach der russischen Revolution 1917 verschlechterte sich die Lage der Siedler erheblich. So waren sie Russifizierungsmaßnahmen, Verfolgung und Deportationen ausgesetzt. 1941 wurde die Mehrheit der deutschen Siedler in Westrussland aus Angst vor möglicher Kollaboration mit der anrückenden Wehrmacht auf Beschluss des obersten Sowjet nach Sibirien, in den Ural und - wie wahrscheinlich bei Oksanas Großeltern der Fall – nach Kasachstan deportiert. Eingewöhnung in der neuen Umgebung, in der nicht selten die Neuankömmlinge als „Russen“ betrachtetet wurden. Dabei fühlten sich Oksana und ihre Familie als deutsche Spätaussiedler, trotz der Sprachprobleme. Die unfreiwillige Außenseiterrolle führte aber zu einem starken Zusammenhalt innerhalb der Familie. Gemeinsam schafften es alle mit der Zeit sich einzuleben. Dabei konnte sich Oksana vor allem durch den Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen in der Schule schneller als ihre Eltern in die neuen Lebensverhältnisse einfinden. Ihr Lebenslauf zeigt, wie gut ihr das gelungen ist. Trotz der schwierigen Situation bewahrten sich viele der Siedler deutsche Traditionen und ihren deutschen Dialekt. So kam es, dass einige von Oksanas Verwandten, mit denen sie und ihre Eltern emigriert sind, noch einige Worte Deutsch sprechen. Als Grund für die Entscheidung, nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland zu emigrieren, sieht Oksana die verwandtschaftlichen Verbindungen, die nach Deutschland bestanden. Angehörige hatten zuvor schon die Auswanderung gewagt und ließen nicht nach zu betonen, wie schön es hier sei. Die wirtschaftliche und politische Lage in Kasachstan verschlechterte sich nach dessen Unabhängigkeit 1991 zudem immer mehr. Für alle, die selbst erfahren haben, wie es ist, ein Land zu verlassen und in ein neues zu ziehen, ist die Frage, wo sie sich heimisch fühlen, schwer zu beantworten. Für Oksana und, wie sie sagt, auch für ihre Eltern, hängt das Heimatgefühl stark von der Identifikation mit ihrem Umfeld ab. Der Kontakt zu Gleichaltrigen in der Schule machte es für Oksana und ihre Schwester leichter, sich zu Hause zu fühlen. Sich ganz zu lösen von der eigenen Wanderungsgeschichte hält Oksana für unmöglich: „Selbst wenn der Wunsch nach Rückkehr in die alte Heimat nicht besteht: Es bleibt immer ein Gefühl von „irgendwo dazwischen...“. Als Oksana dann nach Deutschland kam, musste sie nicht nur eine neue Sprache lernen. Besonders schwierig war auch die Matthias Stange Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 15 - Seminar ; Ernesto Edele 1.3$. &-.2 Ernesto Edele ist 28 Jahre alt und studiert in Tübingen. Er wurde in Curitiba in Brasilien geboren und kam mit acht Jahren nach Deutschland. Seine Eltern leben in Haigerloch-Owingen, wo er selbst Abitur und ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte. Danach ging er für zwei Monate nach Australien. Anschließend begann Ernesto zunächst Internationale Volkswirtschaft auf Diplom zu studieren. Nach dem vierten Semester verbrachte er ein Jahr in Argentinien und besuchte dort Während unseres Seminars „Lebenswege von Auswanderern“ fanden sich unter den Biographien der einzelnen Teilnehmer mehrere, die für ganze Generationen von Aus- und Einwanderern stehen. Zwei davon stellen wir daher ausführlicher als die anderen vor. Hier geht es um Ernesto Edele. Er ist in Brasilien geboren, als Sohn eines Österreichers, der ihn Deutschland aufwuchs, und einer Spanierin, die auf den Kanarischen Inseln geboren wurde. Ernesto Edele Foto: Köckeritz Studenten bei Bewerbungen für Auslandssemester in Lateinamerika hilft. Diese Arbeit kann er sich gut als späteren Beruf vorstellen. Er würde aber auch gern eine Sprachschule eröffnen. Er wurde zweisprachig erzogen. Zu Hause spricht er mit seinem Vater Deutsch und mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Portugiesisch. Als er als Kind nach Deutschland kam, hatte er zu Beginn Schwierigkeiten mit dem schwäbischen Dialekt, um den er jedoch in dem kleinen Ort Owingen nicht herumkam. Selbst in der Schule wurde Dialekt gesprochen. Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre. Zurück in Tübingen beschloss er, das Fach zu wechseln und studiert nun Spanisch im Hauptfach im neunten Semester und Volkswirtschaftlehre im Nebenfach (fünftes Semester) mit dem Ziel eines BachelorAbschlusses. In Tübingen wohnt er seit Kurzem mit seiner Freundin zusammen. Seinen Lebensunterhalt verdient Ernesto beim „Internationalen Austausch“ der Universität Tübingen, wo er anderen Ernesto hat zwei ältere Brüder: Alexander und Andreas. Alexander hat drei Kinder, lebt in Hirschau und hat den Kontakt zu Brasilien schon ein wenig verloren. Ernestos Vater stammt ursprünglich aus Österreich, ist jedoch in den 1940er Jahren nach Haigerloch gekommen. Von dort aus zog er aus beruflichen Gründen nach Brasilien, wo er Ernestos Mutter kennen Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 16 - Seminar ; lernte. Sie arbeitete als seine Sekretärin und stammt von der spanischen Insel Gran Canaria. 1961 war sie im Alter von elf Jahren mit ihren Eltern nach Brasilien ausgewandert. Mitgezogen waren damals die Großeltern und zwei Tanten und eigentlich war Venezuela das Ziel. Niemand in der Familie konnte jedoch den Arbeitsvertrag vorweisen, den die venezolanischen Behörden damals für eine Einwanderungsgenehmigung voraussetzten. So zogen sie zunächst nach Jundiai, wo der Großvater Arbeit fand und später nach Campinas, Brasilien. Aber all das ist eine andere Geschichte, die Ernesto selbst an anderer Stelle in dieser Seminarzeitung erzählt. Aufenthalt in Brasilien eingestellt. Heute lebt Ernestos brasilianische Verwandtschaft in der Nähe von Sao Paolo. Er versucht, den Kontakt zu ihr so gut es ihm möglich ist zu halten. Während seiner Schulzeit besuchte Ernesto seine Verwandten alle zwei Jahre. Die Kosten dafür hat damals seine Familie getragen. Seit dem Studium schafft er es aus finanziellen Gründen nur noch alle drei Jahre. Das letzte Mal ist er anlässlich der diamantenen Hochzeit seiner Großeltern 2008 dort gewesen. Erinnerungen an früher hat er außer an die Familie noch an das Haus und die Stadt, in der sie lebten und an seine Freunde, zu denen der Kontakt aber zu seinem Bedauern abgebrochen ist. Ernestos Eltern heirateten 1975 und zogen nach Curitiba im Süden Brasiliens. In Brasilien besuchte Ernesto die erste und zweite Klasse einer deutsch-portugiesischen Privatschule. Sein Vater hegte all die Jahre in Südamerika den Wunsch, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Er wollte seinen Kindern bessere Bildungschancen ermöglichen und der Familie das Leben in einem Land mit mehr Sicherheit. Die Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits haben sich gut mit der Situation zurecht gefunden. In Brasilien gilt eine Heirat mit einem Deutschen als gute Absicherung und ist angesehen, wenngleich es nach Ernestos Ansicht für die Beteiligten emotional schwierig war und ist. Den Eltern von Ernestos Mutter fiel der Wegzug ihrer Tochter, zunächst in den Süden des Landes und schließlich nach Deutschland, schwer. Ernesto ist über den Umzug nach Deutschland nicht ganz glücklich. Vor allem weil seine Mutter die Konsequenzen dieser Entscheidung erst danach richtig begreifen konnte, wie er sagt, und die Sprache bis heute nicht richtig beherrscht. Ernesto hat kein doppeltes Fernweh, Brasilien bleibt seine Heimat. Deshalb besitzt er auch heute noch die doppelte Staatsbürgerschaft, was für ihn einen symbolischen Charakter hat. Er findet, die Mentalität der Menschen, die Herangehensweise an bestimmte Dinge und vieles im privaten Alltagsleben der Menschen sei anders als in Brasilien. Deshalb hat er sehr lange gebraucht, sich hier zurecht zu finden. Seinem Vater sei die Umstellung leichter gefallen. Er hatte zuvor aus beruflichen Gründen schon mehrere Jahre in Indien gelebt und hatte sich von vorneherein auf einen auf einige Jahre begrenzten Ernesto kann sich gut vorstellen, später in Brasilien zu leben, was jedoch für seine Freundin beruflich schwierig werden könnte, da sie Biologin ist und in Brasilien für sie nach Ernestos Ansicht die Berufschancen nicht so gut seien. Zudem biete Deutschland eine stabilere Wirtschaft und mehr Sicherheit. Heimat ist für Ernesto ein schwer definierbarer Begriff und hat vielerlei Bedeutungen. Familie gehört für ihn dazu, die auch in Brasilien eine sehr wichtige Rolle spiele. Seine Verwandten väterlicherseits jedoch seien zerstritten. Auf sie trifft daher für ihn der Begriff Familie nicht mehr zu. In einer Familie stärke man sich gegenseitig und bekämpfe sich nicht. Andrea Rumpel Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 17 - Seminar Aus Schwaben nach Preussen und von dort weiter in Richtung Schwarzes Meer: Dieser Auszug aus einem Personalbuch der bessarabischen Gemeinde Paris ist im Besitz einer Mössinger Familie, deren Vorfahren Ende 18. und im 19. Jahrhundert im Rahmen der „Schwabenzüge“ aus dem Südwesten Deutschlands nach Osten auswanderten. Quelle: privat Auswanderung in Richtung Osten im 18. und 19. Jahrhundert 1 ,)$"2 großen Wanderungsperioden des 18. und 19. Jahrhunderts sind geprägt von der Migration ganzer Generationen deutscher Siedler nicht nur in Richtung Amerika, sondern auch in die östlichen Regionen Europas und darüber hinaus. Aus dem deutschen Sprachraum gab es neben der Emigration nach Russland beispielsweise Migration als Begriff ist in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion aktueller denn je, auch in Deutschland. Was hierzulande jedoch erst allmählich wieder ins Bewusstsein rückt: Der Begriff der Lebenswanderungen hat seit jeher auch die Geschichte deutschstämmiger Ein- und Auswanderer mit eingeschlossen. Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 18 - Seminar mehrere Auswanderungswellen in Richtung Ungarn, Siebenbürgen oder Slawonien. Die Auswanderung in Richtung Osten im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wird heute als die „Schwabenzüge“ bezeichnet. Verkehrsader und legten Teile des Weges auf großen Flusskähnen, den so genannten „Ulmer Schachteln“ zurück. Der Gebrauch der Bezeichnung „Donauschwaben“ entstand allerdings viel später, um 1920. Sie diente zur Unterscheidung zwischen den Schwaben im Bundesgebiet und den deutschsprachigen Einwanderergruppen aus dem Südosten Europas. Mit der Niederlage des osmanischen Reiches im Großen Türkenkrieg (1683 – 1699) und dem Frieden von Passarowitz 1718 fielen Ungarn, Siebenbürgen und Slawonien an Österreich. Der Habsburger Kaiser Karl VI. gab ab 1719 die durch die Kriege verwüsteten und menschenleeren Regionen zur Besiedlung frei. Kaiserliche Bevollmächtigte warben vor allem in Südwestdeutschland für die Umsiedlung nach Ost- und Südosteuropa. Eine Vielzahl von Faktoren machte dieses Angebot für die Menschen attraktiv: Die neue Heimat bot um ein Vielfaches größere Ackerflächen, als sie der durch die Realteilung im südwestdeutschen Raum zersplitterte und immer kleiner werdende Landbesitz vieler Familien bieten konnte. Armut und Unterdrückung im eigenen Land, aber auch für die neue Region nützliche berufliche Qualifikationen waren die Gründe für viele Menschen, ihr Bündel zu schnüren: Viele waren Bauern oder Handwerker. Viele deutsche Staaten, aber auch Kommunen und Städte unterstützten zudem die Abwanderung, indem sie die Reisekosten trugen oder bestehende Schulden erließen. Eines der Hauptsiedlungsgebiete, die Region Banat mit der Hauptstadt Temesvar (Timisoara), liegt heute, im 21. Jahrhundert, in Rumänien und Serbien. Die deutschen Siedler, die sich hier im 18. Jahrhundert niederließen, sollten das Land urbar machen, hatten allerdings auch militärische Aufgaben wie zum Beispiel die Sicherung der Grenzen zum benachbarten osmanischen Reich. Den immer wieder aufbrandenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Osmanen waren sie jedoch nicht gewachsen. Viele der Siedlungen wurden wieder verlassen oder zerstört. Weitere Kriege in der Region erschwerten den Zuzug neuer Siedler. Erst nach Ende des siebenjährigen Krieges 1763 schuf Kaiserin Maria Theresia wieder günstigere Bedingungen für niederlassungswillige deutsche Einwanderer in der Region. Im zweiten Schwabenzug in den Jahren 1763 bis 1772 fanden weitere 50.000 Siedler ihren Weg in die Donauregion. Trotz der immer noch unsicheren politischen Lage gründeten die Neuankömmlinge zahlreiche neue Gemeinden. Den Höhepunkt erreichte diese Auswanderungs- und Siedlungswelle in den Jahren 1768 bis 1771. Mit den neuen Bewohnern entwickelten sich Etwa 23.000 Deutsche folgten dem kaiserlichen Ruf und ließen sich zwischen 1722 und 1726 in der Region der Flüsse Donau und Theiß nieder. Diese Wanderungsbewegung ist heute als „erster Schwabenzug“ bekannt. Viele der Auswanderer nutzten dabei die Donau als Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 19 - Seminar Transportwege und die Bevölkerungszahl in der Region wuchs schnell. Unterbrochen von einem weiteren türkischösterreichischen Krieg brachte der dritte und letzte große Schwabenzug (1781 – 1787) noch mal einen Zuwachs von weiteren 45.000 Siedlern. Rund 450.000 Menschen lebten 1772 bereits in den Siedlungsgebieten, bis 1840 stieg diese Zahl noch mal um die Hälfte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in den Dörfern und Städten in Siebenbürgen und im Banat über eine Million deutschstämmige Siedler. Trotz der Vertreibung und der Rücksiedelung nach Deutschland in Folge der beiden Weltkriege (1914-1918 und 1939-1945) und dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 gibt es in den ehemaligen Einwanderungsgebieten deutscher Siedler in Ungarn, Rumänien und Serbien bis heute Nachfahren derer, die dorthin im 18. Jahrhundert ausgewandert sind. Wolfgang Baum und Matthias Stange Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 20 - Seminar Über Tiflis und Kasachstan zurück zu den Wurzeln der Vorfahren &*"&-./0. Fast 200 Jahre dauerte es, bis Familie Krämer den Heimatboden ihrer Vorfahren wieder betrat. Die Geschehnisse waren fast schon vergessen. Sergej Krämer, geboren 1932, fiel es schwer, sich an seine Familiengeschichte zu erinnern. In einem Interview für unser Seminar „Lebenswege von Auswanderern“, erzählte Sergej Krämer seiner Enkelin Oksana Nazarenus von den Lebenswanderungen der Familie. Die Vorfahren der beiden gehörten zu den Auswanderern aus Württemberg, die sich im Rahmen der so genannten Schwabenzüge Anfang des 19. Jahrhunderts in der Region Tiflis im Kaukasus niederließen. Mit einer Fotografie fing alles an. Sie wurde vermutlich 1913 oder 1914 in Tiflis im Kaukasus aufgenommen, wie eine Inschrift auf der unteren rechten Seite des Bildes verrät. Aber nicht nur das gibt der Schriftzug wieder: Unter Tiflis steht in kyrillischen Buchstaben Elenendorf oder Helenendorf, wie es auf Deutsch heißen würde. Das ist eine der Christina und Wilhelm Krämer mit ihren Töchtern Erna ersten Kolonien, die in Tiflis 1817 von (rechts) und Irma. Foto: privat deutschen Auswanderern aus Württemberg gegründet wurden. Parallel entstanden im Kaukasus Das Wachsen und Gedeihen der deutschen deutsche Kolonien wie Neu-Tiflis, Kolonien trug zu einem ökonomischen Katharinenfeld, Elisabethtal, Alexanderdorf, Aufschwung im Kaukasus bei. In jeder der Petersdorf und Annenfeld. Ansiedlungen gab es Schulen und in Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 21 - Seminar Diese alte Aufnahme zeigt die Angehörigen der Familie Krämer in Tiflis. Fotos: privat ist. Ihre Schwester Erna gründete später eine eigene Familie. Sie soll sechzehn Jahre alt gewesen sein, als sie den Armenier Karapet Karanjan kennen lernte. Die beiden waren nie gesetzlich verheiratet. Sie bekamen zwei Söhne. Helenendorf sogar ein Gymnasium. Auf dem beinahe einhundert Jahre alten Bild sind Christina ( 1883 – 1943) und ihr Mann Wilhelm Krämer abgebildet, mit den beiden Töchtern Erna, die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ein Baby war, und Irma. Auf dem Bild ist Christina etwa 30 Jahre alt. Da ihr Sterbedatum und das Geburtsdatum von Erna bekannt sind, lässt sich schnell ihr Alter rekonstruieren. Alle Familienmitglieder sind wahrscheinlich in Elenendorf geboren worden, da uns das nächste Foto die Familie im großen Kreis der Verwandtschaft zeigt. Das bedeutet, dass bereits davor Familienmitglieder ausgewandert sein müssen und wahrscheinlich auch einen Teil zu der Gründung der Kolonie beigetragen haben. Auf diesem Bild sind die Mädchen Erna und Irma schon etwas größer. Doch Irma bleibt nicht länger bei der Familie. Sie wird ungefähr 1926 bei einem Überfall der Gorzi verschleppt. So wurden die marodierende Banden genannt, die in den Bergen lebten und häufig deutsche Siedlungen überfielen. Die Familie sah das Mädchen nie wieder. Bis heute weiß niemand, welches Schicksal ihr widerfahren Erna Krämer und ihr Mann Karapet Karanjan Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 22 - Seminar hinterließ seine Frau und Kinder. Sergej heiratete Tamara Koþneva und hatte mit ihm vier Kinder. Das erste Kind war ein Junge, der auch den Namen Sergej erhielt, danach folgten die Mädchen Ludmila, Tatjana und Svetlana. Die Kinder wuchsen in Kasachstan heran und ahnten zunächst nichts von ihrer turbulenten Familiengeschichte. So zumindest erzählte es Sergej Krämer seiner Enkelin. Der ältere hieß Vladimir und der jüngere Sergej ( geb. 1932). Die beiden Jungen wurden in Aserbaidschan geboren, zu dem die letzten der deutschen Kolonien damals gehörten. Die Familie musste weitere Schicksalsschläge verkraften. Schon bald nach der Geburt von Sergej starb dessen Großvater Wilhelm Krämer. 1940, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs musste der Vater, Karapet Karanjan, in den Krieg ziehen und ist verschollen oder gefallen. Keiner vermag das genau zu sagen. Erna blieb mit den zwei kleinen Söhnen allein. Aber irgendwann schloss sich schließlich doch der Kreis. Sergejs Tochter, Tatjana Nazarenus, war die Erste, die es mit ihren Mann und den Kindern wagte, ihr Geburtsland Kasachstan gegen Deutschland einzutauschen. Erst dann folgten Tatjanas Geschwister, ihr Vater Sergej und ihre Sergej, seine Frau Tamara und ihr vier Kinder nehmen die Mutter Tamara. Großmutter Erna Krämer in ihre Mitte. Foto: privat Während der Kriegszeit wurden viele Männer aus den deutschen Kolonien zum Militärdienst und zum Einsatz an der Front gezwungen oder nach Sibirien ins Arbeitslager gebracht. 1941 wurde der noch verbliebene Rest der Familie Krämer nach Kasachstan deportiert. So musste Erna mit ihrer Mutter Christina und den beiden Jungen nach Kasachstan übersiedeln. Dort standen alle Familienmitglieder bis 1956 unter „Komendatur“, also unter Meldepflicht bei den Behörden. Erna gab den beiden Jungen ihren Mädchennamen und seitdem lebt der Familienname Krämer weiter. Tatjana Krämer heiratete 1984 Waldemar Nazarenus, der ebenfalls deutsche Vorfahren hatte, die im 18. Jahrhundert nach Russland ausgewandert waren. 1990 gingen die ersten Mitglieder der Familie Nazarenus nach Deutschland. Die große Wanderung zurück zu den Wurzeln der Vorfahren begann. 1994 folgte Tatjana, geborene Krämer, mit ihrem Mann. Jahre später folgten Tatjanas Eltern Sergej und Tamara und ihre Schwestern Ludmila und Svetlana samt Familien. Bis zu ihrem Tod 1990 behielt Erna einen starken deutschen, zum Teil einen schwäbischen Akzent bei. Ihre beiden Söhne wurden erwachsen und heirateten. Doch Vladimir ertrank beim Fischen und Ich selbst bin Tatjanas Tochter, geboren 1985, und heiße Oksana Nazarenus. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 23 - Seminar Donauabwärts in Richtung Osten – unterwegs im 19. Jahrhundert *..&1. 2 Wir befinden uns im Jahre 1846. Die Der Krämer um die Ecke hat schon ein Menschen in Tübingen und in den Fuhrwerk klargemacht. Tiefergelegte umgebenden Dörfern leiden unter den Doppelfelgen ohne Stoßdämpfer, zwei Pferdestärken davor gespannt. Insgesamt Folgen von Missernten und Hungersnöten. Die Studiengebühren werden wohl 25 Leute steigen ins mitkommen. Gepäck aufladen, sich von allen unermessliche, schlechtes Wetter, miese verabschieden. Könnte Wie war die Reise? Zwei Laune. Nichts also wie sein, dass man sie nie Arbeitsgruppen im Seminar weg hier! Wir haben wieder sieht. Innerlich „Lebenswege von Auswandekeinen Kreuzer in der wissen wir genau: Das ist rern“ fragten sich, auf welchen Tasche und bewerben ein Abschied für immer. Wegen und mit welchen uns für ein Reisegeld. Verkehrsmitteln die Auswanderer Langsam zuckeln wir aus Die Gemeinden zahlen im 19. Jahrhundert unterwegs freiwillig, um uns los zu Tübingen in Richtung waren. Um sich in deren Lage werden. Ansonsten Reutlingen und versetzen zu können, haben die bliebe uns nur das verabschieden uns von der Teilnehmer in der Phantasie ihr Armenhaus. wunderschönen Hab und Gut in Kisten und Koffer Neckargegend, in der wir gepackt und sind auf Zeitreise Das Reisegeld ist höchst unser ganzes Leben gegangen. Die einen zogen die verbracht haben. Urach, willkommen. Wir packen Donau abwärts in Richtung unser Hab und Gut in und dann endlich Ulm. Im Siebenbürgen. Die anderen Holzkisten. Auch Vergleich zu der ziemlich hofften, im Amerika des 19. holprigen Fahrt auf dem Proviant für die nächsten Jahrhunderts eine Zukunft zu zwei Wochen. Wer weiß, Pferdefuhrwerk wird die finden. Auf den folgenden Seiten ob’s im Ausland dunkles Schifffahrt hoffentlich haben sie ihre Reiseberichte erholsam. Wie viele andere Brot gibt. Wo wollen wir niedergeschrieben. eigentlich hin? Es hieß, besichtigen auch wir das in Siebenbürgen gebe es Ulmer Münster und sind angesichts seiner Größe mehr als genug Land und das auch noch billig. und Schönheit erst mal Also ab in den Osten, wo die Sonne früher „überfahren“. Unsere „Ulmer Schachtel“ wird gerade noch gebaut. So werden hier aufgeht als bei uns! So sieht unser Reiseplan aus: Die Donau flussabwärts, die Flusskähne bezeichnet. Mit einem von vorbei an Passau, Wien und von da in ihnen sollen wir tatsächlich bis nach Wien kommen. Nach schwedischem Modell wird Richtung Pest. Von dort aus mit dem Fuhrwerk in die weiten Ebenen des das Floß aus Brettern zusammengebastelt, Siebenbürger Landes. komplett ohne Bauanleitung und ImbusSchlüssel. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 24 - Seminar Da wir nicht sonderlich viel Ahnung von der Schifffahrt haben, bezahlen wir drei nette Zeitgenossen dafür, uns sicher die Donau flussabwärts zu geleiten. Die unangenehme Neuigkeit ist: Wir müssen rudern. Schön dagegen: Wir sammeln Auslandserfahrung in Bayern. So schippern wir weiter die Donau abwärts, immer im Wechsel an den Rudern. Die Frauen dagegen sorgen für unser leibliches Wohl: Wochenlang Kartoffelsuppe vom Feinsten – sie scheinen das noch gerne zu machen. gemeinsames Ziel bringt uns jedoch schnell wieder zusammen, sodass wir erschöpft von den anstrengenden Tagen und dem leisen Plätschern der Wellen schnell einschlafen. Beim Erwachen stellt jeder von uns mit ungläubigem Blick fest: Die Ulmer Schachtel ist nur das eigene Bett und im Bad nebenan duschen der Vater oder eins der Geschwister, die heute früh raus müssen. Allerdings irritiert der Geschmack von Kartoffelsuppe auf der Zunge. Offenbar eine Erinnerung an das letzte Abendessen. Am Ufer ziehen hin und wieder mal Ortschaften vorbei. Sobald es dunkel wird, legen wir am Ufer an. Zur Sicherheit verbleiben wir auf unserer Schachtel. Platz ist Mangelware, so sind Streitigkeiten gerade zu den Ruhezeiten die Regel. Unser Was war das nur für ein Traum? Wolfgang Baum, Oksana Nazarenus, Matthias Stange und Martina Wiederkehr Unternahmen eine Phantasiereise donauabwärts: Martina Wiederkehr, Matthias Stange, Oksana Nazarenus und Wolfgang Baum (von links) mit dem Modell einer „Ulmer Schachtel“, einfachen Holzbooten, mit denen Auswanderer im 19. Jahrhundert über Wien und Pest in Richtung Südosten zogen. Foto: Droste Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 25 - Seminar Ein Koffer mit ein paar Habseligkeiten war meist alles, was die Passagiere auf den Auswandererschiffen des 19. Jahrhunderts mitnehmen konnten. Foto: Droste Auswandern nach Übersee im 19. Jahrhundert barg viele Gefahren in sich ! "., & % "#3 strecken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangten immer mehr Auswanderer mit der Bahn zu ihrem Ausschiffungshafen. Zu Rotterdam, Le Havre oder den italienischen Mittelmeerhäfen kamen Bremerhaven und Hamburg als Orte, an denen die Auswanderer an Bord der Schiffe nach Übersee gingen. Die Auswanderung über Le Havre war vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebt, weil die Reisenden die Auswanderer aus dem Raum Tübingen sind auf verschiedenen Wegen nach Amerika gelangt. Aus den umliegenden Dörfern begann ihre Reise meist zu Fuß oder mit dem Pferdefuhrwerk. Von Tübingen aus ging es dann in Booten und Schiffen neckarabwärts in Richtung Heilbronn und Mannheim. Von dort zogen die Emigranten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist auf dem Rhein nach Rotterdam. Mit dem Bau der Eisenbahn- Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 26 - Seminar allzu häufig zu entrichtenden Grenzzölle innerhalb Deutschlands sparen wollten. In den Häfen angekommen, mussten die Auswanderer allerdings oft noch Wochen auf die eigentliche Ausreise warten. Es fehlten Unterkünfte für die Wartenden und eine ausreichende Versorgung war keineswegs sicher. Oft brachten die Auswanderer ihren Proviant selber mit, der durch das lange Warten oft schon bald zur Neige ging. Dazu gehörten Nahrungsmittel wie Getreide, Kartoffeln, Schinken, Pökelfleisch, Schmalz, Butter und Käse. Aber auch lebende Tiere wie Schweine, Hammel, Hühner und sogar Kühe waren auf engsten Raum mit dabei. Viele Reisende wurden krank oder starben, bevor sie überhaupt an Bord gehen konnten. Erst allmählich verbesserten sich die Reisebedingungen. viele Auswanderer dabei. Die Umstände an Bord waren extrem. Die Menschen waren auf engstem Raum zusammen-gepfercht. Es gab kaum Frischluft, von Waschmöglichkeiten gar nicht zu reden. Schon bald nach dem Ablegen der Schiffe faulte das Wasser, was für viele zu Krankheiten wie Typhus, Cholera und Mundfäule führte. Je länger die Reise dauerte, desto schlechter wurde die Stimmung und es kam zu Konflikten. Zwar wurden mit Einführung der Dampfschifffahrt um 1850 die Verhältnisse besser und die Reisezeit verkürzte sich. Aber für den größten Teil der Passagiere blieb es beschwerlich, in die neue Welt auszuwandern. Nur zwei oder drei Prozent der Passagiere konnten sich eine Reise in der zweiten oder ersten Klasse leisten. Der Rest fuhr in der dritten Klasse im Zwischendeck mit. Zielhäfen waren unter anderem New York, New Orleans, Philadelphia und Baltimore, aber auch südamerikanische Häfen waren beliebt. Hatte die Überquerung des Atlantiks auf den Frachtseglern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts je nach Wetter noch sechs bis zwölf Wochen gedauert, waren es mit den Dampfschiffen noch acht bis zwölf Tage. Nicht nur Krankheiten und Hunger machten den Reisenden zu schaffen, sondern auch die hohen Kosten, die mit der langen Reise verbunden waren. Die Schiffspassage von Bremerhaven nach New York oder andere Häfen in Übersee kostete die Auswanderer nicht selten ihr ganzes Vermögen. Wie haben die Leute das Geld zusammen bekommen? Viele Familien hatten in der Heimat ihr ganzes Hab und Gut verkauft. Allein reisende Männer konnten die Reise manchmal finanzieren, indem sie auf einem der Schiffe anheuerten. In einigen Fällen konnten die Auswanderer auch mitfahren, wenn sie sich auf Jahre hinaus verpflichteten, in Amerika ihre Schulden auf Farmen oder in anderen Diensten abzuarbeiten. Diese Arbeit wurde von den Kapitänen der Schiffe vermittelt. Endlich am Zielhafen angekommen, nach tage- oder wochenlanger Überfahrt, mussten die Auswanderer strenge Einreisekontrollen überstehen. Gefragt wurde nach dem physischen und psychischen Gesundheitszustand, aber auch die finanzielle Situation war für die Einreise von Bedeutung. Auf Ellis Island, einer Insel im Hudson River vor New York mussten die Einwanderer einen Bürgen in den USA und eine bestimmte Summe an US-Dollar in ihrem Besitz nachweisen. Die amerikanischen Behörden wollten sicher sein, dass die Einwanderer nicht der Staatskasse zur Last fallen würden. Ab 1817 war dies jedoch nicht mehr möglich und die Reisenden mussten die Schiffskarten vor der Abfahrt bezahlen. Viel Gepäck konnten die Reisenden nicht mit an Bord nehmen. Außer dem Notwendigsten zum Leben mussten sie ihre eigenen Decken mitbringen. Auch eine Bibel hatten Theresa Köckeritz, Susan Azimi, Ernesto Edele, Andrea Rumpel Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 27 - Seminar Otto und Erwin Küenzlen machten sich einige Zeit nach ihrer Ankunft in den USA selbständig mit einem Unzugsunternehmen. Das Bild wurde vermutlich kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert aufgenommen. Foto: privat Die Geschichte der Brüder Otto und Erwin Küenzlen aus Besigheim &3$!3!&##3! bereits während des amerikanischen Bürgerkriegs Ende des 18. Jahrhunderts in die USA ausgewandert war. Wilhelm war 1829 geboren worden und hatte in Tübingen Medizin studiert. Er muss zu Hause das schwarze Schaf der Familie gewesen sein. Nach einem Vorfall, der wohl so schändlich war, dass keiner in der Familie je wieder darüber sprechen wollte und der deshalb hier nicht näher beleuchtet werden kann, hatte Haagen heimlich seine Sachen gepackt, um in die Staaten auszuwandern. Als im Frühjahr 1893 am Horizont die Küste der Neuen Welt endlich sichtbar wurde, hatte der gerade mal 17-jährige Otto Küenzlen aus Besigheim in Württemberg eine mehrwöchige Reise hinter sich. Nachdem er die Einwanderungsbehörden auf Ellis Island, New York erfolgreich passiert hatte, war es offiziell: Er war in seiner neuen Heimat angekommen. Sein vier Jahre älterer Bruder Erwin war schon 1888 in die Staaten gekommen. Die beiden Brüder kamen zu Beginn bei ihrem Onkel Wilhelm Christian Haagen unter, der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 28 - Seminar Amerikafahrer, Ulrich Küenzlen, ist passionierter Hobbygenealoge und war in unserem Seminar zu Gast. Der pensionierte Gymnasiallehrer für Geschichte hat viel über seine Familie und Vorfahren nachgeforscht und wusste uns viele interessante Details zu berichten. Mit Anekdoten, Bildern und Briefen hauchte er einer klassischen, südwestdeutschen Auswanderergeschichte des 19. Jahrhunderts Leben ein. In diesen einhundert Jahren verließen rund 5,3 Millionen Deutsche ihre Heimat in Richtung In den USA machte Haagen mit der Arbeit auf Zucker- und Tabakfarmen im Süden gutes Geld und ließ sich später als Arzt in New York nieder. Als er 1880 in Stuttgart zu Besuch war, hinterließ er einen starken Eindruck bei seinen Neffen Otto und Erwin, die anschließend beschlossen, ebenfalls in die USA auszuwandern. Zusammen eröffneten die Brüder einige Zeit nach Ottos Ankunft ein Umzugsunternehmen unter dem Namen „Otto Kuenzlen moving vans“. 16. März 1893: In der Original-Passagierliste ist Otto Küenzlens Reise von Amsterdam nach New York festgehalten. Als Beruf hat der 17-Jährige Farmer angegeben. Quelle: ancestry.de USA. Gründe dafür waren beispielsweise schlechte Lebensbedingungen für Bauern und Handwerker durch anhaltende wirtschaftliche Not und die Industrialisierung. Dazu kam, dass es in den meisten Familien schon zuvor Auswanderer gegeben hatte, die in Briefen die vielversprechenden Möglichkeiten in den Vereinigten Staaten beschrieben. Immer wieder folgten Verwandte und Bekannte dann ihrem Beispiel. In vielen Familien gab es im 19. Jahrhundert im Südwesten Deutschlands wie auch in vielen anderen Regionen in jeder Generation einen oder mehrere Auswanderer. Dies bezeichnet man als Kettenmigration. Augenscheinlich war der Name des älteren Bruders im Englischen zu sperrig, da er auf offiziellen Dokumenten aus dieser Zeit seinen Zweitnamen Wilhelm, im Englischen William, verwendete. Im Jahre 1899 erhielt Otto vom District Court von New York City die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dies ist ersichtlich aus einem Dokument, das auf einer Datenbank im Internet unter www.ancestry.de zu finden ist. Dort sind viele Informationen über Auswanderer der vergangenen Jahrhunderte gespeichert. Hier findet sich auch Anträge, mit denen Otto Küenzlen alle paar Jahre einen amerikanischen Pass beantragte. Diese benötigte er, um in den Jahren 1904, 1911 und 1924 auf Besuch zu seiner Verwandtschaft in Deutschland zu fahren. Er war auch der Patenonkel eines seiner Neffen in Deutschland und hielt Briefkontakt. Obwohl die Geschehnisse um Otto und seinen Bruder Erwin so lange her sind, gelang es uns, der Spur der Brüder Küenzlen durch die Jahrzehnte ihres Lebens in Amerika zu folgen. Unter ancestry.de fanden wir besonders viele Dokumente aus dem Ort Boise, Idaho, wo die Brüder lange gelebt haben. Aus einem Wie sind wir auf diese Geschichte gestoßen? Der Großneffe der beiden Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 29 - Seminar Otto Küenzlen wurde, wie die meisten Amerikaner, für den ersten Weltkrieg gemustert. Unter ancestry.de findet sich auch sein Musterungsbescheid im Original. Adressbucheintrag aus dem Jahre 1927 wird deutlich, dass Otto geheiratet hat: Seine Frau Rebecca wird mit ihm aufgeführt. das Ledersofa und die ledernen Schultaschen aus seiner Jugendzeit. In einem ihrer Briefe forderten die Onkel in Amerika ihren Neffen Otto Eugen in Deutschland auf, das Theologiestudium bleiben zu lassen und lieber Spanisch und Englisch zu lernen, um so wie sie in die USA auszuwandern. Warum sind die Küenzlens nach Westen gezogen? Nach Aussage von Ulrich Küenzlen handelten Otto und Erwin an der so genannten „Trapperfront“ mit Tierhäuten und Pelzen und zogen mit den Pionieren, Abenteurer und Siedler dieser Jahre westwärts. Immer wieder, so erzählt Ulrich Küenzlen, fanden sich in den „CarePaketen“, die sie zwischen 1945 und 1947 nach Deutschland an ihren Neffen Otto Eugen Küenzlen, Ulrichs Vater, schickten, neben Süßigkeiten und Gebrauchsgegenständen auch Leder und Felle. Ulrich Küenzlen erinnert sich gut an Erwin starb schon 1926 im Alter von 44 Jahren an den Folgen einer Herzkrankheit. Die Brüder hätten Zeit ihres Lebens Sehnsucht nach ihrer alten Heimat gehabt, erzählte uns Ulrich Küenzlen. Ihren letzten Wunsch habe die Familie daher erfüllt: Beide wurden auf dem Friedhof in Besigheim begraben. Ernesto Edele und Wolfgang Baum Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 30 - Seminar Ulrich Küenzlen zog seine Zuhörer zwei Stunden lang in den Bann seiner Erzählungen: Der pensionierte Gymnasiallehrer hatte Bilder, Dokumente und Anekdoten mitgebracht über die beiden Amerikafahrer Otto und Erwin Küenzlen - sie waren die beiden Großonkel des passionierten Hobbygenealogen. Fotos: Droste Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 31 - Seminar 5 In dieser Abschrift aus dem Familienregister ist Michael Lutz als eines von zehn Kindern des Bäckers Johann Lutz und seiner ersten Frau Margarethe verzeichnet. Quelle: Aufzeichnungen Hermann Griebel 5 Michael Lutz – ein Ofterdinger sucht sein Glück in Amerika ,0) !,4!% Michael Lutz, Sohn des Bäckers Johannes Lutz und dessen Frau Maria Margaretha Lutz, geb. Gulde, soll uns als eines der typischen Auswanderer-Beispiele des 19. Jahrhun-derts dienen. Die Lebensgeschichte des in Ofterdingen geborenen Schlossers spiegelt eine Zeit wider, in der gerade im Südwesten Deutschlands viele ihre Habseligkeiten zusammen packten. Ein Mann und seine Familie auf dem Weg zu einem neuen Leben im fernen Amerika. Doch was steckt hinter der Lebensgeschichte der Familie Lutz? Nicht viel mehr als Michaels Namen kennend, begaben wir uns in Archiven und Datenbanken auf seine Spur. Wir sind fündig geworden. Die Ergebnisse unserer Recherche haben wir hier zusammen getragen. Die Bedeutung der Kirchen- und Gemeindearchive lernten die Seminarteilnehmer bei einer Exkursion ins Ofterdinger Pfarramt kennen. Dabei gaben der Familienforscher Hermann Griebel aus Belsen bei Mössingen und der Ofterdinger Gemeindearchivar Dr. Gerhard Kittelberger einen Einblick in die Personenrecherche in Ortsund Kirchenarchiven, unter anderem am Beispiel des 1889 ausgewanderten Michael Lutz. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 32 - Seminar 5 Michael wurde am 27. Februar 1855 als viertes von zehn Kindern geboren. Nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater Johannes Lutz seine zweite Frau Anna, geborene Hausch, die ihm weitere vier Kinder schenkte. Michael hatte also vier Halbgeschwister. 1878 heiratete Michael selbst seine Frau Agnes, geborene Weidle. Für den Ehebeginn standen dem jungen Paar 1300 Mark als Wert des gesamten Hab und Guts zur Verfügung. Eine genaue Auflistung der in die Ehe eingebrachten Besitztümer, des so genannten „Beibringens“, findet sich im Ofterdinger Gemeindearchiv in Dokumenten mit dem Titel „Inventur und Teilungen“. Johannes, geboren. Innerhalb weniger Jahre folgten die weiteren sieben Kinder Anna, Jakob, Albert, Konrad, Karl, Marie und Anna. Drei von ihnen starben bereits im Kindesalter, wie wir aus Einträgen im Familienregister der Evangelischen Kirchengemeinde Ofterdingen erfuhren. Für das Jahr 1889 ist in Dokumenten des Gemeindearchivs der Konkurs von Michaels Handwerksbetrieb verzeichnet. Noch im selben Jahr ergriff der Schlosser die Chance, auszuwandern nach Amerika. Michael nahm dafür in Kauf, auf seine Bürgerrechte im württembergischen Dorf Ofterdingen ganz zu verzichten. Er gab damit unter anderem sein politisches Mitspracherecht auf und verzichtete auf die so genannte Allmende, also das Recht, Gemeindeland und – Michael, der nach gut wie zum Beispiel dem Tod der Weiher oder Bäche zu „Hier ist der Heiratseintrag von Michael Lutz und Mutter ein Siebtel nutzen. Ein Bürge seiner Frau!“ Tugce Dizdar freut sich, eine Spur zum Lebensweg des 1889 ausgewanderten ihres Nachlasses musste für ihn Michael Lutz entdeckt zu haben. Foto: Droste erbte, ging die Ehe bezeugen, dass er mit einem sehr keine Schulden bescheidenen Besitz ein. Als „Beibringen“ hinterließ, die dann andere für ihn hätten ist in den Inventur- und Teilungsakten sein bezahlen müssen. Vermutlich hoffte er, in Vermögen im Wert von 776 Mark genannt, Amerika in seinem Beruf als Schlosser welches aus „einem Gesangsbuch, arbeiten zu können. Kleidern und Leibweißzeugs, einer Bettlade und Leinwand, landwirtschaftlichem Aus einer Hamburger Passagierliste aus Hausrat, und Handwerkszeug“ bestand. dem Jahr 1890 geht hervor, dass ein Jahr Das Beibringen seiner Frau bestand aus später seine Frau Agnes sowie auch die „einem Gesangsbuch, Kleidern, Bettzeug, gemeinsamen Kinder Albert, Konrad, einer Laterne, einer Bettlade sowie auch Johannes, Karl und Marie ihm folgten. Die versprochenem Heiratsgut“ und hatte einen Mutter bestieg mit ihren Kindern am Wert von insgesamt 540 Mark. Im Jahre 9. November 1890 das Schiff „Gellert“ in 1878 wurde der erste Sohn der Familie, Hamburg, um dem Mann und Vater nach Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 33 - Seminar 5 Amerika zu folgen. Die Passagierliste haben wir in den Datenbanken im Internet entdeckt, die sich unter www.ancestry.de durchforsten lassen – eine Homepage, die sich für unsere Seminarrecherche als Fundgrube für die Spurensuche nach Auswanderern entpuppte. Vier Jahre nach der Ankunft der Familie in den USA wurde eine weitere Tochter, Rosie, geboren. In Zensuslisten aus den in den Vereinigten Staaten damals alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählungen findet sich die Familie Lutz im Jahr 1900 unter der New Yorker Adresse Brooklyn Ward 18 im Stadtteil Kings. Alle acht Familienmitglieder sind penibel mit Vor- und Nachnamen und Alter aufgelistet. diesen Volkszählungen ist, dass die Familienmitglieder der deutschen Familie englische Namen erhielten – ein Anpassungsprozess an die amerikanische Gesellschaft. So ist Johannes Lutz in den Volkszählungen nur noch als John Lutz Michael Lutz und seine Frau Agnes ließen sich im Staat New York nieder. Die Zensusliste aus dem Jahr 1900 belegt, dass sie in USA noch eine weitere Tochter bekamen: Rosi ist hier fünf Jahre alt. Die anderen, in Deutschland geboren, haben nun „amerikanisierte“ Vornamen: John, 21, Albert, 20, Conrad, 19, Charles, 15, Mary, 12. Quelle: ancestry.de Die nächste Lebensspur finden wir in den Nachlassakten des Gemeindearchivs Ofterdingen. Als im Jahre 1901 Michaels Vater in Ofterdingen starb, sollte der Sohn – wie die anderen in der Heimat gebliebenen Geschwister auch - 334 Mark erben. Michael lehnte dieses Erbe ab. Das Geld wurde wohl unter seinen Geschwistern verteilt. Warum er sein Erbteil ausschlug, darüber geben die alten Dokumente keine Auskunft. auffindbar und sein Bruder Karl ist als Charles verzeichnet. Was innerhalb der nächsten zehn Jahre passierte, ist nicht überliefert. Für das Jahr 1920 allerdings gibt uns die New Yorker Volkszählung wieder Auskunft. Die Familie ist umgezogen. Michael, seine Frau Agnes und ihre Tochter Rosie wohnen nun in der Brooklyn Assembly District 19, Kings, New York. Rosie, nun 25 Jahre alt, wurde unter dem Namen Rose geführt. Aus den Zensuslisten der New Yorker Volkszählung im Jahr 1910 ist zu entnehmen, dass die Kinder Johannes, Albert und Karl inzwischen aus dem Hause Lutz ausgezogen sind. Interessant an Konrad und Maria scheinen inzwischen ebenfalls aus dem Haushalt ihrer Eltern ausgezogen zu sein. Wann Michael Lutz Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 34 - Seminar 5 gestorben ist, wissen wir nicht. Aber mit ihm war die Auswanderungsgeschichte in seiner Familie keineswegs zu Ende. Seine Halbschwester Anna Maria beschloss zwei Jahre nach ihm, Ofterdingen zu verlassen und nach Amerika zu ziehen. Vermutlich folgte sie ihrem Bruder nach New York, um dort ein besseres Leben zu führen. Sie verließ Deutschland über den Hamburger Hafen im Juni 1891. Eine Reportage zu der Exkursion in die Ofterdinger Archive lesen Sie im Pressespiegel im Anhang zu dieser Seminarzeitung. Sie ist am 15. Februar 2009 erschienen „Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg“, Ausgabe 7/2009. Anna-Maria Lutz war bei ihrer Abreise 18 Jahre alt, wie die Passagierlisten des Schiffes „Fürst Bismarck“ verraten. Diese Daten passen auch ungefähr zu den Geburtsdaten in den Kirchenbüchern: Anna Maria war am 11. Dezember 1872 in Ofterdingen auf die Welt gekommen. Tugce Dizdar Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 35 - Seminar 5 Gemeinsame Spurensuche: Hermann Griebel (vorne, sitzend) und Dr. Gerhard Kittelberger (zweiter von rechts) zeigten den Teilnehmern der Seminarexkursion, wie sich in alten Kirchenbüchern Lebensspuren früherer Bewohner des Dorfes finden lassen. Foto: Droste 5 Kirchen- und Gemeindearchive bergen Schätze für die Personenrecherche * **&53. und in Datenbanken eingespeist, die sich per Mausklick durchsuchen lassen. Wer sich auf die Spurensuche nach den Lebenswegen und Biographien seiner Vorfahren im Allgemeinen oder aber der Auswanderer im Besonderen begibt, kann dazu verschiedene Quellen nutzen. Dabei spielt zum einen das Internet eine wichtige Rolle, wo sich beispielsweise die Einwandererakten in Ellis Island, New York, online durchsuchen lassen unter www.ellisisland.org . Eine Fundgrube sind außerdem genealogische Webportale wie zum Beispiel www.ancestry.de . Millionenfach wurden in den vergangenen Jahren Volkszählungslisten, Militärakten, Sterberegister, Kirchenbücher oder andere Dokumente gescannt, abgetippt, digitalisiert Aber neben dem Internet spielen natürlich auch die klassischen Recherchequellen wie zum Beispiel Kirchenbücher, Familienregister und Dokumente in Ortsarchiven eine wichtige Rolle. Bei einer Exkursion in Ofterdingen haben wir viel darüber gelernt, wie sich Kirchen- und Gemeindearchive bei der Recherche nach einer bestimmten Person nutzen lassen. Rede und Antwort standen uns dabei als Experten Hermann Griebel und Dr. Gerhard Kittelberger (siehe Kasten bei vorhergehendem Beitrag). Als Beispiel für Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 36 - Seminar 5 unsere Recherche diente uns der Ofterdinger und New Yorker Schlosser Michael Lutz, der 1855 geboren wurde und 1889 nach USA auswanderte. Kittelberger erläuterte uns, dass es zu unserem Thema der historischen Auswanderung nur sehr wenig spezielle Dokumente und -quellen gibt. Namen, Zahl und Daten der Auswanderer früherer Jahrhunderte wurden in der Regel auch im Archiv der bürgerlichen Gemeinden nicht zentral festgehalten. Eine Ausnahme dabei sind die so genannten Bürgerrechtsverzichtsurkunden. In diesen mussten Auswanderungswillige unterzeichnen, dass sie bereit waren, ihre Bürgerrechte unwiederbringlich abzugeben und mussten versichern, dass sie keinerlei Schulden hinterließen. Dazu mussten sie unter anderem auch eigens einen Bürgen beibringen, der dies bezeugte. In Bezug auf Michael Lutz´ Biographie lassen sich in diesen Archive wichtige Hintergrund-Daten und Ereignisse finden, aus denen mögliche Gründe für seine Auswanderung erkennbar werden. Doch wie kann man Kirchen- und Gemeindearchive als biographische Recherchequellen verwenden? Um diese Frage zu klären, ist es wichtig, die Hauptaufgaben dieser Archive zu kennen. Seit 1875 werden über die Standesämter der Städte und Gemeinden unter anderem Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der Bürger erfasst. Auch die Abstammungsdaten finden sich hier, also Namen und Geburtsdaten der Eltern einer Person. Vor 1875 finden sich diese Daten zusammen mit Tauf-, Konfirmations- oder Kommunionsdaten meist in den Familienregistern und Kirchenbüchern der jeweiligen Kirchengemeinden – in vielen Fällen noch zurück bis ins 16. Jahrhundert. Da Michael Lutz 1855 geboren wurde, bot sich für uns also die Suche beim Pfarramt der Evangelischen Kirchengemeinde Ofterdingen an. Häufig geschah dieser Bürgerrechtsverzicht erst, wenn die Auswanderer in der neuen Heimat Fuß gefasst hatten. So kommt es, dass im Gemeindearchiv beispielsweise Urkunden abgelegt sind, die in New York oder Chicago von Notaren abgefasst wurden und per Post aus Übersee nach Ofterdingen geschickt wurden. Ja, ganze Schriftwechsel finden sich hier, bei denen beispielsweise Erbschaften quer über den Atlantik geregelt wurden. Aber auch wenn ihre Lebens- und Auswanderungsdaten ansonsten nicht gezielt gesammelt und festgehalten wurden, lassen sich Informationen über Auswanderer in den Archiven finden. Schriftliche Dokumente, so erläuterte Kittelberger, wurden in früheren Jahrhunderten in der Regel aus rechtlichen und finanziellen Gründen abgefasst, wenn beispielsweise das Vermögen zweier Eheleute bei der Heirat festgehalten wurde oder ein Erbe zu verteilen war. Wir hatten Glück und genossen es, dass es für uns eine Ausnahme gab: Da das Blättern vieler fremder Hände den in der Regel handgeschriebenen und gebundenen Bänden massiv zusetzt, wurden viele Kirchenbücher inzwischen auf Mikrofilm archiviert und lassen sich in den jeweiligen landeskirchlichen Archiven am Bildschirm durchsuchen. Hermann Griebel und Dr. Hermann Kittelberger zeigten uns jedoch am Beispiel einiger alter Bände und Dokumente, wie faszinierend eine solche Recherche in den Originaldokumenten sein kann. Mit der Hilfe von Hermann Griebel wurden wir auf der Suche nach Michael Lutz fündig im Familienregister der Kirchengemeinde Ofterdingen. In diesem sind seine Eheschließung sowie auch die wichtigsten Lebensdaten seiner Eltern Johannes und Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 37 - Seminar 5 Maria Margaretha Lutz, geb. Gulde, eingetragen. Hier findet sich auch der Eintrag zu seiner zweiten Heirat: Nach dem Tod seiner ersten Frau Maria am Silvestertag 1864 heiratete der Bäcker Johannes Lutz schon wenige Monate später, am 20. April 1865 Anna Hausch. Vermutlich wollte Johannes Lutz so die Versorgung seiner zahlreichen Kinder sicherstellen: Maria Lutz hatte ihm in 16 Jahren Ehe zehn Kinder geboren, von denen vier im Kindesalter starben. Drei von ihnen starben innerhalb von drei Monaten zwischen Februar und Mai 1858: Sie waren nur vier Wochen, vier und neun Jahre alt geworden. kurz vor der Auswanderung nach Amerika schon gestorben waren. Die Namen sowie auch Geburtstage der anderen, überlebenden Kinder in dem Kirchenbuch stimmen mit den Namen der Passagierliste des Schiffes „Gellert“ aus dem Jahr 1890 überein, die wir im Internet entdeckt hatten. Mit der „Gellert“ war Agnes Lutz mit ihren Kindern Albert, Konrad, Johannes, Karl und Marie ein Jahr nach Michaels Aufbruch über den Atlantik gereist. Es ist uns also gelungen, mit unserer Recherche der Familienbiographie der Lutz’ ein weiteres Puzzlestück hinzuzufügen: Im Ofterdinger Familienregister fehlt Rosi, das sechste Kind von Michael und Agnes Lutz: Sie wurde 1894 oder 1895 in New York geboren und ist daher im Ofterdinger Kirchenbuch natürlich nicht erwähnt. Aus dem Familienregister wissen wir, dass Michael als viertes von 16 Kindern von Johannes Lutz geboren wurde und seine Mutter Maria Margaretha Lutz war. Alle seine Geschwister und Halbgeschwister sind im Familienregister mit Namen, und Geburtsdatum, die meisten auch mit Heirats- und Todesdatum verzeichnet. Auch in den so genannten Inventur- und Teilungslisten aus dem Archiv der bürgerlichen Gemeinde werden wir fündig. Hier finden sich Informationen zu den finanziellen Verhältnissen der Bürger. Penibel werden hier in Listen die Besitztümer von Brautleuten oder die von Verstorbenen bei Erbfällen aufgeführt. Immer wieder lassen sich Hinweise auf ausgewanderte Ofterdinger Bürger entdecken. Ab und zu, so verrät Hermann Griebel, sei hier auch das Hab und Gut verzeichnet, mit dem Auswanderer die Gemeinde verließen – bis hin zu Säcken mit getrockneten Äpfeln und Birnen. Haltbarer Proviant für die lange Reise. Interessant an den Funden zu Michael Lutz an dieser Stelle sind einige rot eingetragene, handschriftliche Kommentare, deren Autor unbekannt ist. Diese Einträge gaben Informationen zu seiner Auswanderung. In Fußnoten gaben die Verfasser dieser Kirchenbücher Querverweise zu anderen Archivbänden an, in denen die Eheschließung von Michael und seiner Frau Agnes registriert wurde. Für uns sind das wertvolle Recherchehinweise. So findet man mit Hilfe der Fußnote „Band III S. 173“ auf der bezeichneten Seite die Eheschließung von Michael Lutz und seiner Frau Agnes, geb. Weidle. Ebenfalls entnimmt man diesem Kirchenbuch alle Geburtsdaten der in Ofterdingen geborenen fünf Kinder. Der letzte Eintrag, den wir mit der Hilfe von Gerhard Kittelberger bei unserem Besuch in Ofterdingen über Michael Lutz entdecken, findet sich in Nachlassakten im Gemeindearchiv aus dem Jahr 1901: In diesem Jahr stirbt Michaels Vater Johannes Lutz im Alter von 76 Jahren. Der Sohn, der hier als „Schlosser in New York“ bezeichnet wird, lehnt sein Erbteil ab. Im Familienregistereintrag zur Familie von Michael Lutz steht außerdem – wir haben Glück! - das Jahr der Auswanderung sowie auch die Todesdaten der drei Kinder die Tugce Dizdar Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 38 - Seminar Bremerhaven entdeckt seine maritime Geschichte neu – auch die Bedeutung der Auswanderer für die Entwicklung der Stadt: Als „Bremer Hafen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet, gingen hier Millionen von Emigranten an Bord von Schiffen. Foto: Azimi Bremerhaven – Geschichte der Stadt ist eng mit der Auswanderung verbunden Menschen eine Einheit bilden, ist in den letzten Jahren viel geschehen. Auf dem Weg zur Identitätsfindung und zu den Wurzeln entstehen nicht nur TourismusAttraktionen, sondern es entsteht auch ein neues Gefühl für die Region und die Menschen. Bremerhaven: Was ursprünglich als „Bremer Hafen“, also als eine Erweiterung der Stadt Bremen gedacht war, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer eigenständigen Stadt und zu einem der bedeutendsten Auswandererhäfen Europas. Große Zerstörungen nach Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg, der Niedergang der Personenschifffahrt, das Werftensterben und der Niedergang vieler Reedereien – Bremerhaven und seine Menschen haben Höhen und Tiefen erlebt. Heute, im 21. Jahrhundert, ist wieder frischer Wind spürbar. Dort wo ich aufgewachsen bin, wo Wasser, Land und Der Bremer Hafen Als 1827 die Bauarbeiten für die Hafenbecken der Stadt Bremen begannen, war es noch nicht abzusehen, dass sich das vom Bremer Senat erworbene Gebiet an der Wesermündung in kürzester Zeit zu Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 39 - Seminar einer eigenständigen Stadt entwickeln sollte. Die ersten Auswanderungswellen in Richtung Übersee in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen zum rasanten Wachstum der Stadt und ihrer Bedeutung als Umschlagplatz für Waren und Menschen bei. schlecht. Gleichzeitig gab es viele, die an der Notlage der Ausreisewilligen verdienen wollten, ob Händler, Gastwirte, Kapitäne oder die Reedereibesitzer. Wer es auf eines der Segelschiffe geschafft hatte, dem erging es oft nicht besser. Die drangvolle Enge in den Zwischendecks der Frachtsegler, mangelnde Hygiene, unzureichende und schlechte Ernährung machten die Fahrt nach Übersee zur Tortur. Wenn die See stürmisch war, kamen die Passagiere der dritten Klasse, in der mehr als 95 Prozent der Reisenden unterwegs waren, kaum an die frische Luft an Deck. Die Menschen verbrachten je nach Jahreszeit und Wetter sechs bis zwölf Wochen dicht gedrängt unter Deck. Zwei mal zwei Meter Fläche auf übereinander liegenden Holzpritschen mussten für fünf Erwachsene und oft mehrere Kinder reichen. Allein schon der immense Platzmangel an Bord begünstigte eine schnelle Ausbreitung von Krankheiten. Viele überlebten die Schiffsreise nicht. Um der Ausbeutung der Emigranten entgegenzuwirken und die miserablen Reisebedingungen zu verbessern, erließ der Bremer Senat 1832 die „Verordnung wegen der Auswanderer mit hiesigen und fremden Schiffen“, die den Passagieren einen Mindestschutz gewährleisten sollte. Damit war der Senat im Vergleich zu anderen europäischen Auswandererhäfen nicht nur seiner Zeit voraus, sondern förderte die Entwicklung der Stadt als Ganzes. Immer mehr Auswanderer entschieden sich für Bremerhaven als Abreiseort, weil sie sich durch dieses Gesetz geschützter fühlten als beispielsweise in Le Havre, Rotterdam oder Genua. Mit einem letzten Blick auf den SimonLoschen-Leuchtturm in Bremerhaven nahmen Hunderttausende von Auswanderern Abschied von der alten Heimat. Foto: Azimi Auswanderer reisten vor 1850 unter den schwierigsten Bedingungen. Allein schon die Anreise zum Hafen aus den verschiedenen Regionen Deutschlands und Europas war beschwerlich. Eisenbahnen gab es noch nicht und die meisten waren Wochen auf dem Landweg und auf den Flüssen unterwegs, bis sie in der Hafenstadt ankamen. Dort mussten die Auswanderer nicht selten noch mehrere Wochen auf ihre Ausreise warten. Die vorhandenen Unterkünfte reichten für die große Zahl der Menschen bald nicht mehr aus. Die hygienischen Zustände und die Versorgung mit Lebensmitteln waren Eine bedeutende Rolle für die Auswanderung fiel der 1857 gegründeten Norddeutschen Lloyd zu, einer Reederei, die sich auf Auswanderung spezialisierte, diese kommerzialisierte und die Dank der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 40 - Seminar Auswanderungswellen des 19. Jahrhundert zu einem weltweit agierendem Unternehmen wurde. Schon bald begann die Norddeutsche Lloyd im ganzen deutschsprachigen Raum und darüber hinaus Anwerber auszusenden, die den Leuten von fernen Ländern berichteten und ihnen in den buntesten Farben die Möglichkeiten schilderten, die ihnen dort geboten würden. Mit der stetig wachsenden Anzahl von Auswanderungswilligen wurde auch die Infrastruktur vor Ort ausgebaut. Der Hafen, der schon bald einer so großen Menge an Das Deutsche Auswandererhaus erhielt 2007 für sein Menschen nicht gewachsen war, außergewöhnliches Ausstellungskonzept die Auszeichnung wurde Zug um Zug ausgebaut. „European Museum of the Year“. Foto: Azimi Ein Auswandererhaus zur Unterbringung der Reisenden wurde errichtet und die im 21. Jahrhundert, ist Bremerhaven einer Anbindung an die in der zweiten Hälfte des der größten Containerhäfen der Welt, in 19. Jahrhunderts entstandenen dem jährlich mehr als 50 Millionen Tonnen überregionalen Eisenbahnlinien verbessert. an Waren umgeschlagen werden. Die Menschen auf den riesigen Schon seit den 1850er Jahren hatten nach Kreuzfahrtschiffen, die hier anlegen, sind und nach Dampfschiffe die Segelschiffe als Touristen. Reisende auf Zeit. Transportmittel für die Auswanderer abgelöst. Die Norddeutsche Lloyd entwickelte den ersten Vierschornsteindampfer und nahm ihn in Dienst. Der Dampfantrieb verkürzte die Dauer der Überfahrt erheblich. New York etwa war nun in acht bis zehn Tagen und sehr viel komfortabler erreichbar als zuvor. Maritime Stadtgeschichte neu entdeckt Seit einigen Jahren wird der Geschichte und der Bedeutung Bremerhavens als Auswandererhafen wieder mehr Beachtung geschenkt. Viele Einrichtungen sind entstanden, die das maritime Bremerhaven stärker hervorheben. Die Stadt an der Wesermündung ist dadurch längst viel mehr geworden als das Deutsche Schifffahrtsmuseum und der Zoo am Meer. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Entwicklung Bremerhavens durch die Auswanderung geprägt, auch wenn sich das Gesicht der Stadt durch alliierte Bombenangriffe 1944 und den Wiederaufbau in den 1950er Jahren stark verändert hatte. 1974 legte das letzte Schiff mit Auswanderern ab an einer der Kajen, den Anlegestellen Bremerhavens. Heute, Attraktiv für Besucher sind Projekte wie das in seiner Art einzigartige „Klimahaus“, ein Erlebnismuseum, das 2009 eröffnet werden Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 41 - Seminar soll und die verschiedenen Klimazonen rund um den Erdball erlebbar macht. Das „Schaufenster Fischereihafen“, eine Gastronomie- und Kulturmeile mit dem daneben liegendem Meerwasseraquarium „Atlanticum“ und dem Veranstaltungszentrum „Forum Fischbahnhof“ laden zum Besuch ein. Passend zur Geschichte der Stadt öffnete 2005 das Deutsche Auswandererhaus (DAH) seine Pforten, ein Erlebnismuseum der besonderen Art, das seine Besucher mitnimmt auf Zeitreise, gemeinsam mit Auswanderern der vergangenen zwei Jahrhunderte. Nachfahren beispielsweise aus den USA oder Südamerika an. Sie kommen, um ihrer ganz persönlichen Geschichte nachzuspüren oder die ihrer Vorfahren zu erforschen. Edith Fuhrmann, geborene Lemke, ist eine von ihnen. In den ersten Januartagen des Jahres 2009 war sie zu Besuch im DAH und an einem Nachmittag danach erzählte sie mir ihre Auswanderungsgeschichte. !" Ich fand es sehr interessant dieses Thema zu recherchieren und möchte mich beim Team des Deutschen Auswandererhauses, besonders bei Sabine Wacker, Aislinn Merz und Diab Bransi bedanken. Sie gaben mir Gelegenheit, mich umzusehen, Gespräche zu führen und haben mir eine Menge Fragen beantwortet. Auch möchte ich Edith Fuhrmann danken, dass sie mir ihre Familiengeschichte erzählt hat und mir dadurch die Möglichkeit gegeben hat, sie und ihre Familie ein Stück weit kennen zu lernen und so Einblick in eine sehr persönliche Migrationsgeschichte zu gewinnen. Ihr Bericht machte für mich Geschichte lebendig und greifbar. Und er zeigt, wie wichtig in und für unsere Geschichte die scheinbar theoretischen Begriffe Migration und Integration sind. Susan Azimi Das DAH entstand in der Nähe des historischen Auswandererhauses, das als Unterkunft und Aufenthaltsort für die Auswanderer gebaut worden war. Gleich gegenüber liegt der Simon-LoschenLeuchtturm, das Gebäude, auf das Hunderttausende Auswanderer noch einen letzten Blick warfen, bevor die große Fahrt begann. Im DAH können die Besucher die Reise einer Auswandererperson nacherleben. Wer möchte, kann im so genannten Forum Migration an Bildschirmen und über Datenbanken selbst nach ausgewanderten Vorfahren forschen. In Sonderausstellungen, Vorträgen und Veranstaltungen werden verschiedene aktuelle und historische Aspekte des Themas Migration aufgegriffen und einem breiteren Publikum näher gebracht. Für dieses Konzept wurde das DAH 2007 mit der Auszeichnung „European Museum of the Year“ ausgezeichnet, einem der bedeutendsten Preise der europäischen Museumslandschaft. Neben Besuchern aus ganz Deutschland zieht das DAH auch ehemalige Auswanderer oder deren Angehörige und Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 42 - Seminar Edith Fuhrmann erzählt Auswanderergeschichten aus ihrer Familie #$%# wuchs der sehnliche Wunsch, seiner Mutter in die USA zu folgen. 1936, mit elf Jahren, machte er seinen Traum wahr und verließ seine Familie in Deutschland. Der Abschied war ein so einschneidendes Erlebnis für alle Familienmitglieder, dass die Trauer darüber noch Jahrzehnte später in der Stimme von Edith Fuhrmann mitschwingt, wenn sie erzählt, was sie von ihrer Mutter weiß. Nur mit seinem Schulranzen ausgestattet sei der kleine Henry mit elf Jahren am 18. Mai 1936, an Bord des Schiffes „Europa“ gegangen und abgefahren. Edith Fuhrmann lebt in einem kleinen Dorf bei Bremerhaven, das zwischen Bremen und Bremerhaven liegt. Dort betreibt sie, mehr als Hobby, mit ihrem Mann in der ehemaligen Dorfschmiede eine kleine Fahrrad-Werkstatt. Ihr Mann arbeitet hauptberuflich als Schiffsbauer in Bremen. Edith Fuhrmanns Großtanten Bertha und Alma Hartkopf wanderten über Bremerhaven in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Bertha, die älteste von drei Schwestern, emigrierte 1912 im Alter von 16 Jahren in die Vereinigten Staaten und Alma folgte ihr 1925 mit 18 Jahren. Johanne Hartkopf, die Schwester der beiden, blieb im heimatlichen Dorf Düring in der Nähe von Bremerhaven zurück. Johanne war Edith Fuhrmanns Großmutter. Mit der Geschichte ihrer Familie, die sie aus den Erzählungen ihrer Mutter erfuhr, beschäftigt sie sich noch heute und diese lassen sie bis heute nicht los. Die Kaje im Neuen Hafen, der für ganze Auswanderergenerationen den Ort des Abschieds darstellte, nimmt auch in der Geschichte von Henry und Emilie einen besonderen Platz ein. Später wird Emilie ihrer Tochter Edith noch viele Male von dem Moment des Abschieds berichten, der sie nie wieder los ließ. Während Bertha nach New Jersey auswanderte und sich dort eine Zukunft aufbaute, hatte Alma ihren unehelichen, erst wenige Monate alten Sohn Henry in der Heimat zurückgelassen, um in der Ferne ihr Glück zu finden. Die Welt, in die sie kam, war so ganz anders als das niedersächsische Dorfleben, das sie kannte. Edith Fuhrmann erzählt, dass ihre Großtante Alma in New York die Annehmlichkeiten einer Großstadt entdeckte und ein ausschweifendes, intensives Leben genoss. Ihr kleiner Sohn Henry hingegen wuchs bei Almas Schwester Johanne auf. Diese hatte inzwischen geheiratet, hieß mit Nachnamen Neif und hatte eine kleine Tochter mit dem Namen Emilie. In New York angekommen, gelang es Henry nicht sich einzuleben. Er fand sich nicht zurecht und seine Mutter Alma unterstützte ihn weder, noch kümmerte sie sich sonderlich um ihn. Voller Heimweh nach der Familie und wohl auch nach der Heimat Deutschland, hielt er sich immer häufiger am Hafen auf, wo er versuchte, sich das Geld für die Rückreise zu beschaffen. Er schrieb nach Hause, schaffte es aber nicht, das Geld für die Überfahrt aufzutreiben. Endlich gelang es ihm, auf einem Schiff als Schiffsjunge anzuheuern, aber kurz vor Ablegen des Schiffes ereignete sich ein Unfall, bei dem er schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die Monate vergingen, bis er sich wieder erholte. Erst als Henry zehn Jahre alt war, erfuhr er, dass Emilie nicht seine Schwester, sondern Er kehrte erst als junger Mann zurück. seine Cousine war und dass seine Mutter Wieder in Deutschland, lernte er Wilma Alma in Amerika lebe. In dem Jungen Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 43 - Seminar Hartkopf und seiner Familie für seine Angehörigen in Deutschland. Suhrhof aus Loxstedt kennen. Beide heirateten und bekamen drei Kinder. Henry stand aber fortan zwischen zwei Welten und konnte sich nicht mehr richtig in Deutschland einfinden. Deshalb wanderte er mit seiner Frau und den drei Mädchen Annemarie, 5, Berta, 3, und der zweijährigen Johanna 1951 abermals in die USA aus – diesmal sollte es für immer sein. Die Schwestern Bertha und auch Alma kehrten einige Male zu Besuch nach Deutschland zurück, ihr Lebensmittelpunkt aber blieb die USA. Den Kontakt hielten die Familienmitglieder über Briefe aufrecht. Aber da die Kinder beider Seiten wenig Kenntnisse der jeweils anderen Sprache besaßen, riss die Verbindung nach dem Tod Emilies ab. Dort arbeitete Henry Hartkopf zeitweilig in den unterschiedlichsten Berufen, um seine Familie zu ernähren. Das letzte was Edith Fuhrmann von ihrem Großonkel erfuhr, ist dass er als Küster in einer Kirchengemeinde in New York arbeitete. Dort verliert sich die Spur von Henry Susan Azimi Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 44 - Seminar Susi und Peter Buschbacher aus Syracuse, USA &'( )## *'( '##' (+', Susi Buschbacher wurde in Polen geboren und ihr Mann Peter in Jugoslawien. Auf der Flucht kamen sie im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland und wohnten zuletzt in Heidenheim. Ihre Eltern und sie hatten während des Krieges alles verloren und so war Susis und Peters größter Traum, eines Tages ein eigenes kleines Haus zu besitzen. Susi und Peter Buschbacher haben nie bereut, Amerikaner geworden zu sein. Ihre Biographien Hier strahlen die beiden mit ihren beiden Enkeln um die Wette. Foto: und mangelnde privat berufliche Perspektiven ließen Nachbarn knüpften sie durch ihre Kinder dies jedoch in Deutschland einen schnell Kontakt und so gelang es ihnen Zukunftstraum bleiben. Also beschlossen auch ihr Englisch zu verbessern. Peters sie, ein neues Leben in den USA zu neuer Job brachte sie nach einer Weile nach beginnen. Peter bekam einen Job in einer Pennsylvania, wo sie sich tief im deutschen Firma, in der seine berufliche „Amishland“ eine Farm kauften. Die „Amish Qualifikation sehr gefragt war. Außerdem people“ verbindet ihr tiefer Glaube und eine hatte er einen Bruder in Michigan, der den Weltanschauung, zu dem ein Leben gehört, beiden Auswanderern beim Start in der das sie wie vor 200 Jahren ohne Strom, Neuen Heimat seine Hilfe anbot. Telefon oder Auto führen. Sie fahren in Pferdekutschen und bestellen ihre Felder mit von Mulis gezogenen Pflügen. Im Jahr 1966 kamen sie mit ihren zwei kleinen Kindern in Boston Massachusetts an. Von da aus brachte sie Peters neuer Chef nach New Hampshire, wo sie bereits am ersten Tag ihren großen Traum wahr machten und ein Haus kauften. Mit den Dort wohnen viele Deutsche, auch jene die schon Generationen zuvor in die USA ausgewandert waren. Die Buschbachers Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 45 - Seminar Bundesstaat New York und fühlen sich dort sehr wohl. Vor allem auch, weil ihre Tochter mit Mann und Kind dort lebt. Obwohl bei ihnen zu Hause noch viel Deutsch gesprochen wird und deutsche Traditionen wie Nikolaustag oder typische Gerichte beim Essen weiter gepflegt werden, können sich die Buschbachers nicht vorstellen, je wieder nach Deutschland zurückzuziehen. haben oft mit ihren Nachbarn und Freunden zusammengesessen und deutsch geredet. Sogar die Natur in Pennsylvania war der in Süddeutschland sehr ähnlich. Rückblickend betrachtet hätten sie sich dort am wohlsten gefühlt, sagt Susi Buschbacher. Als die Firma, in der Peter zu dieser Zeit arbeitete, Pleite ging, mussten die Buschbachers nach Missouri und später Virginia umziehen. Seit zwanzig Jahren leben sie nun im Theresa Köckeritz Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 46 - Seminar Susi and Peter Buschbacher, Syracuse, USA & '(%'###-.'. (', When and on which way did you move to the USA? / Weil wir das Interview, das Theresa Köckeritz per E-Mail mit Susi Buschbacher in Syracuse führte, so spannend finden, drucken wir es auf den folgenden Seiten in voller Länge ab. Theresa hat es in Englisch geführt – zwei Deutsche, die sich in der Sprache ihrer Wahlheimat austauschen, denn auch Theresa könnte sich nach einem Jahr Studienaufenthalt in Kalifornien gut vorstellen, dort länger zu leben.... In June 1966, we arrived in the United States of America by plane with two small children in tow, one and three years old. We landed in Boston, Massachussetts. My husband’s new employer picked us up at the airport and drove us to New Hampshire where he had rented a lake cabin for us for a week at one of the many lakes in this region. Immediately, we were shown around the area, looking for a suitable house for us. And believe it or not, the first day in America, we purchased our first house. The speed had our heads spin but we trusted his boss to steer us in the right direction and he did. We never regretted this. corrections where necessary. It was a great start. While on business travel, my husband received numerous job offers. German education and technical know how is valued everywhere. We decided on Pennsylvania. The landscape is similar to the southern part of Germany we came from. Some people there still speak some German like it was spoken a long time ago. You might have heard of the religious groups of the Mennonite and Amish. The Amish live their lives like they did over two hundred years ago with no electricity, telephone, car, etc. They get around in horse drawn buggies and use mules to work their fields. We enjoyed meeting these people and talked with them in German. My husband travelled on a weekly basis on business throughout the big country. I stayed with the children at our house, got a dog and cat and enjoyed life to its fullest. With small children, one gets to know the neighbors quickly. The result, I often had ten or more children at our house, playing with our children. After a couple of weeks I asked one of the girls how they even communicate, since our children of course did not speak English. I found out that they had learned the second language in no time by just being around their American friends. The American children also helped me with my English. They brought books for me to read to them aloud and they would make We were immediately trustworthy. We bought a farm in the middle of the Amish Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 47 - Seminar country and we loved it very much. Whenever we would gather with our neighbors, we communicated mostly in German. We considered our farm our ‘Heimat’. Having to leave it was heart breaking for all of us. But my husband’s company went bankrupt and we had to leave the area. There was no other company in his line of business anywhere around and we had no choice but to pack up and move somewhere else. We lived in different states such as Missouri and Virginia but we never felt that much at home there as we did in Schon gleich nach ihrer Ankunft in USA ging der Traum der Pennsylvania. Now we live in Buschbachers in Erfüllung: Das erste eigene Haus. Upstate New York for over twenty years. We will stay here, especially since our daughter married / and settled here as well. Wild horses could House purchase and sale in USA is totally not move us away from our precious different than in Germany. Here, people grandsons. are on the move a lot. All you need to do here is call a realtor, he will price the house and if you agree to it, he puts a sign in the front of the house or lawn. Anyone driving by that house looking for a new house in that area due to a change of job or other reasons, can call the number on the sign and will be given a tour, if interested. The newspaper, and of course the Internet also list these properties. We had more than once seen a “For sale” sign placed in front of a house in the morning, by evening the “Sold” sign was already added to the sign. But of course, usually it takes longer. Three months is probably a good average to sell a house On what places did you already live for a longer time? New Hampshire, Pennsylvania, Missouri, Virginia, New York What languages do you speak? We both spoke school English before we came here and we could make ourselves nicely understood. However, the understanding part was a bit trickier. It took getting used to hearing and separating words before we could understand them. Our American friends really helped a lot by speaking slow at first. Susi Buschbacher My husband also speaks some Russian, Croatian, and Serbian. However, he has no Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 48 - Seminar opportunity talking these languages except when travelling overseas. eight months until we got the go ahead by the American Embassy in Munich. My husband was hired by the Representative of a German company and had the necessary unique technical background. It also helped that my husband had a brother living in Michigan who agreed to help us if need be. What where your reasons for moving to the USA? Both of us are refugees of the World War II. My husband comes from the former Yugoslavia and I come from what is now Poland. Our families had lost everything in the war. Our dream was to own a small house. We knew that with our background and no great job possibilities in Germany for us at that time, we would never be able to accomplish our dream. America sounded like a good place to start our life together, so we gave it a try. I remember that we told ourselves that we might encounter the worst scenario possible. Our big dream was How did you experience getting along in a different country and a new culture? What was difficult and what helped you? It helped a lot that my husband’s employer was Austrian, his wife was Swiss, they had a three year old German speaking daughter, a nanny from Austria who herself had a three year old little girl. They had a nice circle of friends. Most of them were German. We were introduced into this circle and befriended some of the Germans ourselves. Therefore, we had a great support group right away. Food was a big thing to adjust to. Nothing tasted as it did at home. Especially the bread was not what we liked. It was way too soft. For our taste it was suitable for toast only. We learned of a bakery in Boston that had good bread to order from by mail and found a butcher to order cold cuts and sausages from. Other than that, I cooked whatever my family liked. Besides the German friendships we started, we also befriended Americans that my husband worked with. They were very instrumental in teaching us the American customs, including when to buy children clothes at the beginning of school, what educational television programs to watch, etc. I remember the children cloth stories very well. I was told that if I did not buy them at a certain time, then I was out of luck finding them again until next year. Since everyone did this, this was true. Die Kinder der Buschbachers fanden in der neuen Heimat schnell Freunde und Spielgefährten. fulfilled the very first full day in America. We are aware that we were extremely lucky. In order to immigrate, we had to have written proof that we had a secure job and that no American job would be taken away by us. This gave us some sort of priority. But we still had to stand in line and wait for app. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 49 - Seminar Having small children helped a lot. They were both very outgoing and well behaved. The first stroll we took to the lake, people came out of their houses, greeting and welcoming us. They heard that a young German family moved into the neighborhood and they wanted to be the first ones to get to know us and introduce themselves. On our way back from the lake they came out again, this time with tricycle, scooter, books, record player, records etc. It was amazing. We had all arms full by the time we got home. That was awesome. changed so drastically since the 1960’s. We still enjoy a visit but we always come home to America. What connects you to Germany? Relatives, Customs or visits in Germany? We hardly have any relatives left in Germany but we still have old dear friends we keep in touch with. Whenever we are on vacation in Europe, we always try to squeeze in a little visit to one or the other. Telephone calls and e-mail correspondence is used a lot to stay in close touch and up to date on things. To this day, we are still in contact with some of our first American and German friends. Of course, it also helped a lot that we both really wanted to come to America to start a new life. And, we always kept an open mind. How would you define the term “integration”? Adjust to the American way of life, accept English as the official language, be a good citizen, obey the law and love the country. We became real true American citizens after 9/11. What does “Heimat” mean for you? Over the years, America has become our home. We only talk German at home. My cooking and baking recipes are taken from the Dr. Oetker books. We celebrate Christmas as we did at home, including Nikolaustag. I am always pleased to see that our children keep our traditions. Our Children and all six grandsons also talk German, so does our daughter in law. She is American but was very much interested in learning a second language. The only one within our family not talking German is our son in law. He understands at least 80 to 90 percent of our conversations but does not speak himself. But at least he does not mind that we talk German with his children. Could you see yourself moving back to Germany? No. We have strong roots in this country, which has been so good to us from the start. In summary, we have been extremely lucky. Of course, there have been ups and downs along the way like it would have been anywhere else in the world. We are grateful for the opportunities we were given by this country and we rolled up our sleeves and took them. We always kept an open mind and adjusted when it was necessary to adjust. Overall, it was a good choice for us to come to America. For us, Heimat is a far away place. We really do not feel at home in Germany any more. Most likely it is because everything has Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 50 - Seminar Deutsche Einwanderer in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert 001' '##' Die Auswanderungsfreude der Deutschen war bekanntlich schon immer sehr groß. Auch in Brasilien gab es zahlreiche Wellen, in denen deutsche Einwanderer ins Land kamen. Es wird geschätzt, dass heute 18 Millionen Deutschstämmige in Brasilien leben, was zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden des Landes ist es sogar jeder Dritte, der deutsche Wurzeln hat. Ziel, dauerhaft sesshaft zu werden, nach Brasilien reisten, kamen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der erste Schritt ist der schwerste Im Jahre 1817 in Rio de Janeiro kamen erste deutschsprachige Künstler, Architekten, Handwerker und Wissenschaftler in das Land. In ihrer Rolle als Kronprinzessin hatte Leopoldine stets großen Einfluss auf ihren Ehemann, der vielleicht deshalb große Anstrengungen machte, möglichst viele Menschen aus Europa und vor allem aus dem deutschsprachigen Raum in Brasilien anzusiedeln. So kamen im Jahr 1818 genau 261 Familien, zu denen 1.682 Männer, Frauen und Kinder gehörten, aus der Schweiz in den heutigen Bundesstaat Rio de Janeiro. Sie gründeten dort die Stadt Novo Friburgo (Neu-Freiburg). Es war die erste Stadt, die nicht von Portugiesen Die ersten deutschsprachigen Kolonisten, die nach Brasilien kamen, kamen aus Österreich. Durch die Heirat der Erzherzogin Leopoldine vom Wiener Hof mit dem portugiesischen Kronprinzen Dom Pedro I. Der erste Deutsche, der das südamerikanische Land unter seinen Füßen spürte, war Johannes Varnhagen, auch Meister Johann genannt, der bei der Entdeckung des Landes im Jahre 1500 unter Pedro Álvarez Cabral als Steuermann diente. Ihn begleiteten 35 deutsche Söldner. Hans Staden aus Homberg kämpfte im 16. Jahrhundert für die portugiesische Krone in Brasilien und schrieb das erste Buch auf Deutsch, das sich mit dem Land befasste. Dies waren jedoch nur vereinzelte Abenteurer, die die lange Reise auf sich nahmen. Die ersten tatsächlichen Einwanderer, die mit dem Deutsche Einwanderer in Brasilien (1824-1969) Zeitraum Anzahl 182447 8.176 184872 187379 188089 189099 1900-09 191019 1920-29 193039 194049 1950-59 196069 19.523 14.325 18.901 17.084 13.848 25.902 75.801 27.497 6.807 16.643 5.659 Quelle: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 51 - Seminar gegründet wurde. Im selben Jahr begaben sich Siedler aus dieser Gemeinde in die heutigen Bundesstaaten Bahia und Minas Gerais im Norden Brasiliens, um dort Agrarkolonien zu gründen. Die Siedler ließen sich hauptsächlich am Fluss Rio dos Sinos nieder. Schon nach wenigen Jahren gab es in den Flussniederungen mehrere deutsche Orte. Die Region entwickelte sich mit der Ankunft der zahlreichen Siedler sehr rasch, es entstanden Städte wie Novo Hamburgo, Germania und Elsenau. Doch auch in den südlichen Bundesstaaten Santa Catarina und Paraná kam es zu dieser Zeit zu immer größeren Einwanderungswellen aus Deutschland. So wurden dort deutsche Kolonien mit entsprechenden Namen wie Blumenau oder Pomerode gegründet. Es waren in erster Linie Bauern, die in dieser Phase nach Brasilien auswanderten, doch es kamen auch viele Handwerker und Händler. Das dortige Königreich wollte durch ihre Ansiedlung einerseits seine Souveränität schützen, indem das Land an die Neuankömmlinge verschenkt wurde und diese dadurch einen Rechtsanspruch auf die Ländereien hatten. Andererseits wollte Kaiser Dom Pedro I. erreichen, dass sich eine bäuerliche Mittelschicht entwickelte, damit die Binnennachfrage nach Nahrungsmitteln gedeckt werden konnte. Die Kolonisten erhielten deshalb nicht nur kostenlos ihr Land, sondern auch Arbeitsgerät, Saatgut, Vieh. In den meisten Fällen wurden sogar die Kosten für die Überfahrt aus Europa von der brasilianischen Krone übernommen. Den Einwanderern wurden weitgehende Freiheiten in Bezug auf die Ausübung ihrer Sprache, ihrer Religion und ihrer Traditionen gewährt. Durch ihre Abgeschiedenheit von bevölkerungsreichen Gegenden waren die deutschen Siedlungen jedoch oft isoliert, auch bei den versprochenen Lieferungen von Hilfsgütern und der Erschließung des Landes hielt der König meist seine Versprechen nicht. Das Die Gründung der deutschen Kolonien im Süden Brasiliens Am 3. Mai 1824 kam die erste kleine Einwanderungswelle aus Deutschland. 332 Immigranten siedelten sich in Novo Friburgo an. In der Zwischenzeit hatte sich jedoch einiges geändert: 1822 war Brasilien von Portugal unabhängig und dadurch ein selbstständiges Land geworden. Brasilien bildete mit Hilfe seiner Einwanderer Freiwilligenkorps, um seine Grenzen und dadurch seine Souveränität zu schützen. Dazu musste Kaiser Dom Pedro I. jedoch vor allem die Gebiete im Süden Brasiliens besiedeln, in denen zu jener Zeit kaum Menschen lebten. So kam es, dass am 25. Juli 1824 die Siedlung São Leopold zu Ehren von Leopoldine im Bundesstaat Rio Grande do Sul von 39 Deutschen gegründet wurde. Sie war inzwischen Kaiserin von Brasilien geworden. Diese Siedlung diente fortan als erste Station für weitere deutsche Einwanderer im Süden des Landes. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 52 - Seminar Leben der Kolonisten war deshalb nicht selten ein Überlebenskampf. Gründe für eine abenteuerliche Entscheidung Doch warum verließen die Deutschen ihre Heimat überhaupt, um sich in ein solches Wagnis zu stürzen? Anfang des 19. Jahrhunderts setzte in ganz Europa die Industrialisierung ein. Durch den Einsatz von Maschinen in der Industrie und der Landwirtschaft standen viele Menschen plötzlich ohne Arbeit da. Zudem kam auch, dass immer mehr Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten, was die Bevölkerung schneller wachsen ließ. Dies und die wegen der Industrialisierung einsetzende Landflucht vieler arbeitsloser Bauern brachten viele Städte zum Überquellen. So ermutigte das deutsche Kaiserreich seine Untertanen zur Auswanderung, was nicht nur die Überbevölkerung eindämmen, sondern auch noch zusätzliche Absatzmärkte für deutsche Produkte schaffen sollte. Die Menschen, die Deutschland verließen, kamen aus allen Regionen des Landes, überwiegend aber aus Sachsen, Pommern und dem Rheinland. aus den Großstädten Deutschlands, die aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Situation ihr Glück in der Ferne suchten. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren unter anderem hohe Arbeitslosigkeit und extrem hohe Geldentwertung, die viele Familien in kurzer Zeit um ihre Ersparnisse brachte. Die deutschen Auswanderer siedelten sich meist in brasilianischen Großstädten wie São Paolo, Curitiba und Porto Alegre an. Eben dort, wo die Industrie stark vertreten war und sie Arbeit finden konnten. Die Auswanderer im 20. Jahrhundert Eine wesentlich größere Zahl von deutschen Auswanderern als je zuvor kam dann im 20. Jahrhundert nach Brasilien, vor allem in den 1920ern, den Jahren der Weltwirtschaftskrise. So waren es zwischen 1920 und 1929 über 75.000 Menschen, die aus Deutschland nach Brasilien kamen, dreimal soviel wie im Jahrzehnt davor. Dieses Mal hatten die Ankömmlinge andere Hintergründe: Es waren vor allem Arbeiter Ernesto Edele Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 53 - Seminar Ernesto Edele erzählt die Migrationsgeschichte seiner Mutter ' 2# Die Geschichte beginnt am 2. Juli 1961. Meine Mutter Carmen Elias Santana, ihre zwei jüngeren Schwestern Ermelita und Eveli und ihre Eltern Ermela Santana Pérez und Enrique Elías de la Cruz treten ihre Reise mit dem Schiff von Spanien nach Brasilien an. Eigentlich soll es nur ein beherrschten Land sind alles andere als rosig, und mit drei Kindern sehen sie keine Zukunft für die Familie. Mein Großvater verdient als Radiofunker im Militärflughafen Gando auf Gran Canaria nicht gerade viel. Der Zusatzverdienst, den meine Großmutter durch gelegentliche Näharbeiten nach Hause bringt, kann ihre Situation auch nicht wirklich verbessern. Eines steht fest: Ihre drei Töchter werden in Spanien keine richtige Ausbildung genießen können. Einige InselBewohner sind schon in den vergangenen Jahren von den Kanaren nach Südamerika ausgewandert, vor allem nach Venezuela. So auch einige Geschwister meines Großvaters, die ihm immer wieder schreiben, wie gut die Mein Großvater Enrique als Radiofunker Foto: privat Berufsaussichten dort seien und dass er dort bestimmt auch einen gut bezahlten Job Zwischenstopp sein, bevor sie nach finden könne. Zu ihrem Bedauern sind so Venezuela reisen, wo die wirtschaftliche viele Menschen in den letzten Jahren in das Lage gut ist und wohin schon einige Land eingereist, dass neue Einwanderer Verwandte ausgewandert sind. Doch wie so eine feste Stelle bei einer venezolanischen oft im Leben kommt nicht alles so, wie man Firma mit einem unterschriebenen es sich vorstellt. Arbeitsvertrag vorweisen müssen – eine fast unüberwindbare Barriere für meine Die Zukunft der Kinder ist das Wichtigste Großeltern. Meinen Großeltern, geht es in den 1950er Jahren auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der Westküste Afrikas nicht gerade gut. Die wirtschaftlichen Aussichten in dem von Diktator Franco Doch wie der Zufall es will, lernt mein Großvater Enrique im Unterricht - er bringt jungen Männern das Radiofunken bei einen Landsmann kennen, der schon längere Zeit in Brasilien wohnt und kürzlich Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 54 - Seminar Die Ausreisepapiere der Familie aus dem Jahr 1961: Ermela, meine Großmutter, ist 28, mein Großvater Enrique 38, meine Mutter Carmen 11 und meine Tanten Eveli und Ermelita sind gerade mal 9 und 6 Jahre alt. Quelle: privat die seine rapid wachsende Industrie. Und so fällt die Entscheidung meiner Großeltern, ihre kleine Wohnung mitsamt den Möbeln zu verkaufen und den abenteuerlichen Schritt ins Ungewisse zu wagen. nach Spanien zurückgekehrt ist, um zu heiraten. Als dieser von den Auswanderungs-Plänen meines Großvaters hört, bietet er an, ihm und seiner Familie den ersten Schritt nach Venezuela zu ermöglichen, indem er ihnen hilft, nach Brasilien zu kommen. Von dort ist die Reise in das gewünschte Land nicht mehr so schwierig, da Brasilien an Venezuela grenzt. Irgendwie, so hoffen meine Großeltern, müsste man von Brasilien ja auch ohne Arbeitsvertrag über die Grenze nach Venezuela kommen. Die Überfahrt - ein kleines Abenteuer Der Abschied von der Verwandtschaft fällt kurz aus, die letzten Stunden verbringen sie im Haus der Mutter des Funker-Schülers meines Großvaters. Dieser wird sie alle bei ihrer Ankunft in Brasilien empfangen und bei sich aufnehmen. Mit einer Nähmaschine, einer elektrischen Waschmaschine und ein paar Koffern stehen sie nun am Hafen von Las Palmas, der Hauptstadt der Insel Gran Canaria, meine Großeltern, meine Mutter und meine zwei Tanten. Viel Geld haben sie nicht, um sich die Schiffsreise für die fünfköpfige Familie zu leisten. Als Geschenk des Himmels erscheint ihnen daher, dass die katholische Kirche Spaniens mit Unterstützung der brasilianischen Regierung die Überfahrt für Auswanderer bezahlt. Zu dieser Zeit braucht das südamerikanische Land Arbeitskräfte für Allen ist klar, dass es eine Reise ohne Wiederkehr ist: Meine Großeltern haben Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 55 - Seminar nicht vor, eines Tages wieder nach Spanien zurückzukommen. Die Kinder verstehen ein Wort Portugiesisch zu können, stehen sie hilflos an den Anlagedocks. Schon bei zwar noch nicht ganz, was das für sie bedeutet, doch sie haben keine Angst, denn ihre Eltern sind bei ihnen. In ihnen regt sich sogar Abenteuerlust - für sie ist es eher eine Entdeckungsreise. Was sie an ihrem Reiseziel erwartet, weiß keiner von ihnen so genau, nicht mal meine Großeltern. der Zollkontrolle muss mein Großvater für die Waschmaschine Steuern zahlen, da sie elektrisch ist. Zusätzlich gibt es das Problem, dass das Gerät nicht im Bus mitgenommen werden kann. So machen sich mein Großvater und sein ehemaliger Schüler, der inzwischen ein Freund geworden ist, mit dem Bus auf den Weg in das 200 Kilometer entfernte Itupeva, wo sein Freund sein Haus und ebenfalls einen LKW hat. Meine Großmutter und die Kinder müssen am Hafen beim Hab und Gut der Familie warten, bis beide diese riesige Strecke zurückgelegt haben. Die Kinder bekommen zum ersten Mal Angst, denn meine Großmutter ist mit den Nerven am Ende und weint. Dieses Bild werden sie wohl nie vergessen. Doch glücklicherweise schaffen die beiden Männer es wieder zurück, und bei Dunkelheit treten alle gemeinsam die Reise im LKW nach Itupeva an. Am nächsten Morgen wachen alle bei strahlendem Sonnenschein und Kaffeegeruch auf, und als sie aus dem Fenster schauen, sehen sie, dass sie auf einer Fazenda, einem großen Landgut, sind. Der Ausblick auf die Natur ist atemberaubend. In der Küche finden sie ein blondes 15-jähriges Mädchen vor, die das Frühstück vorbereitet. Sie wird in einigen Jahren meine Mutter bei einer Firma vorstellen, wo sie meinen Vater treffen wird. Meine Mutter Carmen mit ihrer Schwester Eveli. Quelle: privat Sie haben von vielen in Gran Canarias gehört, in Brasilien gäbe es nur arme Menschen, doch das wollen sie einfach nicht glauben. Die Schiffsreise jedenfalls ist mehr, als sie sich vorgestellt haben: Es gibt Unmengen an Essen, für das schon bezahlt wurde, die Kajüten sind komfortabel. Es werden sogar kleine Feste auf dem Deck gefeiert. Letztendlich kommt es ihnen vor, als sei die elftägige Überfahrt eine Kreuzfahrt für Touristen. Der Zwischenstopp wird zur Heimat Der erste Schritt ist also getan. Meine Großeltern ziehen bald mit den Kindern in das nahegelegene Jundiaí, der größten Stadt in der näheren Umgebung, um dort eine eigene Unterkunft und vor allem eine Arbeit zu finden. Sie ziehen für die ersten drei Monate in ein Haus mit einem großen Garten. Die Ankunft in Santos, der Hafenstadt vor der Metropole São Paolo, beendet das kurze Eintauchen in eine andere Welt: Ohne Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 56 - Seminar Mein Großvater arbeitet zunächst als Elektriker bei einer Firma, doch bald ändert er sein Metier: Er fängt an, mit Süßigkeiten zu handeln. Meine Großmutter hat bei ihrer Mutter in Las Palmas oft im Tante-EmmaLaden mitgeholfen und so ein Gespür für kaufmännische Tätigkeiten bekommen. Auf ihre Idee hin fährt er regelmäßig in das 60 Kilometer entfernte São Paolo, wo er Süßigkeiten aller Art beim Großhändler kauft, um sie in Jundiaí in den kleinen Bars weiterzuverkaufen. Die Kinder helfen von Anfang an mit und müssen manchmal nachts aus dem Bett, um ihren Eltern beim Umladen zu helfen. Das Geschäft läuft sehr gut, denn es gab zuvor nur einen einzigen Süßigkeiten-Händler in der Stadt, sodass mein Großvater zu seinem ersten Konkurrenten wird. Sprache in Berührung kommen. Da sich das Spanische und Portugiesische sehr ähneln, lernen sie relativ schnell. Als das Schuljahr schließlich beginnt, nehmen meine Mutter und ihre mittlere Schwester Eveli neben dem Besuch der normalen Schule auch Privatunterricht, um in Fächern wie Portugiesisch, Geschichte oder Erdkunde den Anschluss an ihre brasilianischen Mitschüler zu kriegen. Für diese Privatstunden wollen meine Großeltern den besten Lehrer der Stadt anheuern, doch dieser verlangt zu viel Geld für seine Dienste. Nach einem Gespräch mit dem Lehrer begreift dieser, wie wenig Geld die Familie zur Verfügung hat. Wegen des guten Eindrucks, den meine Mutter und ihre Schwester Eveli bei ihm hinterlassen, ist der gute Mann damit einverstanden, die zwei Schülerinnen zu einem Sonderpreis zu unterrichten. Meine Mutter fängt nach kurzer Zeit an, Aufsätze jüngerer Schüler zu korrigieren, wodurch sie zusätzlich viel lernt. Bald schon fangen meine Großeltern an, die Leckereien selber daheim herzustellen, lassen irgendwann eigens für ihre Kreationen Blechformen herstellen. Auch hier sind meine Mutter und meine Tanten mit vollem Elan dabei, wenn die Küche zu einer kleinen Schokoladenfabrik wird. Sie erfinden sogar eine Eigenkreation: eine Art Im Großen und Ganzen verläuft die Anpassung an die neue Heimat sehr gut. Meine Großeltern arbeiten und haben dadurch freundschaftlichen Kontakt zur brasilianischen Bevölkerung. Sie sind zwar im Spanien-Club der Gemeinde, doch ist der Austausch mit anderen Landsleuten eher gering, was die Eingewöhnung zwar schwieriger, dafür aber umso erfolgreicher macht. Die drei Kinder sind in der Schule, lernen Portugiesisch und finden Freunde. Insgesamt wird es fünf Jahre dauern, bis sich die Familie meiner Mutter an das Leben in Brasilien gewöhnt hat und dieses Land als ihr neues Zuhause ansehen. Kinderüberraschung, bei der Bonbons und kleines Spielzeug in einer Waffel versteckt werden. Sie verkaufen Tausende dieser Leckereien in ganz Jundiaí. Das Geschäft floriert. Die Familie kann sich über Wasser halten. Noch mehr: Es geht ihnen sogar so gut, dass sie die Pläne, nach Venezuela zu ziehen, völlig über Bord werfen. Die Sprache ist für sie inzwischen keine Barriere mehr. Meine Großeltern lernen das Portugiesische so gut sie können, mein Großvater spricht heute noch eine Mischung aus Spanisch und Portugiesisch. Doch das ist ihm für seine Kinder nicht genug. Da das Schuljahr in Brasilien erst im Februar anfängt, kauft er ihnen für die Überbrückungszeit zahllose Komikhefte, damit sie schon einmal mit der neuen Ernesto Edele Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 57 - Seminar Mirian Stoll hat eine große Brasilien-Karte mitgebracht, um zu zeigen, wo sie geboren wurde und mit ihren Eltern gelebt hat. Foto : Droste Mirian Stoll: Brasilien ist ihre Heimat, Deutsch ihre Muttersprache (##' &'#', das für das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands bekannt ist. Die Familie von Mirian Stoll, gebürtige Goller, lebte in einer ländlichen Gegend, wo sie mit anderen Familien eine deutsche Kolonie bildeten. Der Kontakt untereinander war eng, und durch den Zusammenhalt wurden viele deutsche Traditionen beibehalten. Es gab einen Kegelclub und auch in der kleinen Gemeinde wurde das Oktoberfest gefeiert. In der Gegend gab es ringsum nur Fazendas, also große Landbesitze, auf denen meist Viehzucht betrieben wurde. Dementsprechend war die Infrastruktur dort in den 1960ern nicht sehr Eine sehr bewegte Familiengeschichte hat Mirian Stoll an ihren heutigen Wohnort Ofterdingen im Süden von Tübingen geführt. Sowohl ihre Großeltern mütterlicherseits als auch ihre Urgroßeltern väterlicherseits wanderten über Hamburg nach Brasilien aus, wo sich später ihre Eltern kennen lernen sollten. In Brasilien ließen sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Auswanderer aus Deutschland im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul nieder. So entstanden dort Städte wie Novo Hamburgo (Neu-Hamburg) oder Blumenau, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 58 - Seminar Worten am Anfang der technische Entwicklungsstand in Deutschland. Hier gab es Strom, gute Straßen und jeder hatte einen Fernseher. weit entwickelt: Es gab keinen Strom, kein Fernsehen und kaum befestigte Straßen. Mirians Vater Armindo Goller hatte in der Gemeinde ein kleines Lebensmittelgeschäft mit einer Metzgerei. Außerdem arbeitete er als Viehtreiber, oder wie es auf Brasilianisch heißt, als „Gaucho“. Durch die Abgeschiedenheit war der Kontakt zu Brasilianern eher spärlich. Es war zudem auch üblich, dass nur die Männer in benachbarte Städte reisten, um größere Besorgungen zu machen. Trotz ihrer acht Jahre kam sie in die erste Klasse, da ihre Eltern wollten, dass sie mit ihren Schulkameraden aufschließen kann. Eine Zeit lang behielt die Familie beide Staatsbürgerschaften. Doch der bürokratische Aufwand wurde für ihre Eltern irgendwann zu groß, denn Passverlängerungen waren nur auf dem Konsulat in München möglich. Deshalb verzichteten sie auf die brasilianische Staatsbürgerschaft. In ihrer Familie und mit den meisten Bekannten sprach Mirian Stoll, die damals noch Goller hieß, immer Deutsch. So sah sie diese Sprache immer als ihre Muttersprache, obwohl sie die ersten acht Jahre ihres Lebens in Brasilien gelebt hat. Sie lernte durch den eher sporadischen Kontakt zu der brasilianischen Bevölkerung nur wenig Portugiesisch. In der gemeindeeigenen Schule waren alle Klassen zusammengefasst, und es wurde auf Deutsch unterrichtet. Heute lebt Mirian Stoll mit ihrem Mann Hans Stoll und ihren beiden Kindern Linda und Kai in Ofterdingen in der Nähe von Tübingen. Sie war nach ihrer Auswanderung nach Deutschland 1973 noch vier Mal in Brasilien, auch mit ihrem Mann und den Kindern. Ihre emotionale Verbindung zu Brasilien bezeichnet sie als „nicht sehr stark“. Trotzdem betrachtet sie das Land als ihre Heimat. In ihrer Familie wird heute kein Portugiesisch mehr gesprochen. Aber sie kocht oft brasilianische Gerichte und das Interesse an ihrem Geburtsland ist bei ihrem Mann und auch bei ihren Kindern sehr groß. Die Auswanderung ihrer Familie „zurück“ nach Deutschland im Jahre 1973 sollte ursprünglich nicht endgültig sein. Ihr Vater Armindo Goller wollte seine deutschen Wurzeln entdecken, außerdem lebte ein Teil seiner Verwandtschaft hier. „Der Mensch denkt und Gott lenkt“ habe ihre Mutter Julita Goller damals gesagt, erinnert sich die Tochter. Die Gollers blieben in dem Dorf St. Johann auf der Schwäbischen Alb. Besonders Hans Stoll hat Brasilien bei seinen Besuchen ins Herz geschlossen und begeistert sich für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, eines Tages in Brasilien zu leben, antworteten beiden mit Ja: Einige Jahre in dem südamerikanischen Land zu verbringen, könnten sie sich vorstellen. Wegen ihrer Kinder sei dies momentan jedoch nicht möglich. Sie wollen Linda und Kai eine Entwurzelung ersparen, wie Mirian Stoll sie selbst erfahren hat. Die Auswanderung nach Deutschland war für die Familie schwer: Der Vater, so sagt Mirian Stoll, konnte sich nie ganz an das Leben hier gewöhnen. Auch sie selbst hatte mit Vorurteilen zu kämpfen, denn die Dorfbewohner sagten oft: „Da kommen die Brasilianer“. So kam es, dass sie ihre brasilianische Herkunft eher verdeckt hielt, um sich besser an das neue Leben anzupassen. Ein Schock für sie war nach ihren eigenen Ernesto Edele und Wolfgang Baum Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 59 - Seminar Eine alte Postkarte, Fotos von Familienfesten, einige Erinnerungsstücke wie zum Beispiel Trinkgefäße (links unten): Für Mirian Stoll ist ihre Kindheit in Brasilien Vergangenheit, die zu ihrem Leben gehört, nah und doch weit weg. Fotos / Repros: privat (5), Liane von Droste (1) Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 60 - Seminar Svitlana Burmey zu Besuch bei ihrer Großmutter in der Ukraine. Foto: privat Svitlana Burmey: Die Ukrainerin arbeitet in Böblingen als Deutschlehrerin & %*(#+#2#, Svitlana Burmey bereut den Schritt keineswegs, der ihr Leben umkrempelte: Mit einundzwanzig Jahren reiste die gebürtige Ukrainerin nach Deutschland, um ein Praktikum in München zu machen. Danach studierte sie in Braunschweig und Tübingen und arbeitet heute in einer Schule in Böblingen als Deutschlehrerin. und dem Westen der Ukraine bestehen. Bevor Svitlana Burmey sich selbst nach Deutschland aufmachte, um dort ihr Leben als Einwandererin aufzubauen, konnte sie schon in ihrer Heimat multi-nationale Erfahrungen sammeln. Ihre Heimat ist Tschernowitz, gelegen an der Grenze zu Rumänien und nicht weit entfernt von Ungarn und Polen. Bis 1814 war dieses Gebiet Teil des österreichisch-ungarischen Reiches und je nach dem jeweiligen Herrscher seien in den Dörfern die unterschiedlichen Sprachen von oben durchgesetzt worden. Die Berufsschule, an der sie arbeitet, besuchen viele Jugendliche mit Migrationshintergrund. Svitlana Burmey ist überzeugt davon, dass immer mehrere Seiten zur Integration gehören: Der Staat, die Gesellschaft und die Migranten selbst müssten dazu beitragen. Burmey wurde im westlichen Teil der Ukraine geboren. Sie betont, dass große sprachliche und kulturelle Unterschiede zwischen dem Osten Ihn ihrer Heimatregion sei es häufig vorgekommen, sagt Burmey dass in einem Dorf Rumänisch, im nächsten Ungarisch und dem Dorf daneben wiederum Polnisch Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 61 - Seminar gesprochen wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg seien die Russen gekommen und es durfte nur begrenzt Ukrainisch gesprochen werden. „Ich bin es gewohnt, multikulti zu leben“, meint Svitlana Burmey im Hinblick auf diese Erinnerungen, die in ihrer Familie weitererzählt werden. In Deutschland, Ukraine und Italien zu Hause Mutter und Schwester der nebenberuflichen Russischlehrerin leben inzwischen in Italien. Die Schwester hatte dort einen Job gefunden und ihre Mutter ist nachgereist. Auch seien die Italiener etwas offener gegenüber Fremden, lächelt Svitlana. Auf die Frage, wo sie sich denn zu Hause fühle, weiß die junge Frau mehrere Antworten: Deutschland, Ukraine und Italien. Wobei sie sich eigentlich heimatlos fühle und momentan eher Deutschland ihr Zuhause sei, da sie hier wohne. Auch in der Ukraine habe sie sich oft „ausländermäßig“, anders gefühlt. Das liege daran, dass ihr Großvater ein sehr reicher Mann gewesen war. Svitlanas Vater lebt noch in der Ukraine. Mut, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen braucht man, um dauerhaft ins Ausland zu gehen, zieht Svitlana Burmey ihr Fazit. Man müsse sich sicher sein, dass man den Schritt ins Unbekannte wagen will, den sonst halte man den Ortswechsel samt Mentalitäts- und Kulturunterschieden nicht aus. Martina Wiederkehr Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 62 - Seminar Sultan Braun – ein Gespräch mit der Reutlinger Integrationsbeauftragten &0''#('#3 ('2+((, Wachsen der Bedeutung und der Handlungsfähigkeit des Referats für Migrationsfragen zeigt. Als „interkulturelle Öffnung der Verwaltung“ beschreibt Sultan Braun in einem Interview für unser Seminar „Lebenswege von Auswanderern“ ihren Aufgabenbereich. Konkret bedeute das, dass jedes Amt in seinem Bereich einen Beitrag zur Integration leisten müsse. Dies natürlich mit Beteiligung der Migranten. Bundesweit gibt es seit etwa 20 Jahren Integrationsbeauftragte. Eine von ihnen ist Sultan Braun in Reutlingen. Als eine der ersten Städte BadenWürttembergs schufen Verwaltung und Stadtrat 1984, vor 25 Jahren, die Stelle einer „Ausländerbeauftragten“. Sie war damals im Sozialamt angesiedelt und Sultan Braun diente als Foto: pr Anlaufstelle für Ausländer bei Fragen und Problemen. Seit 2001 liegt ihr Aufgabenbereich nicht mehr in der Beratung, sondern in einer übergreifenden Öffnung der Verwaltung im Bezug auf die Belange verschiedener Kulturen. Die Städte sind nicht verpflichtet, diese Stelle zu schaffen. Dementsprechend gibt es von Stadt zu Stadt strukturelle Unterschiede. In Tübingen beispielsweise ist die Schaffung einer solchen Anlaufstelle für Migranten geplant, aber noch nicht umgesetzt. Die interkulturelle Öffnung in der Altenhilfe sei als positives Beispiel der Integrationshilfe zu nennen. Es hat Braun 4 „Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik Deutschland wurden Arbeitskräfte knapp. Das erste Abkommen zur Arbeitskräfteanwerbung wurde 1955 mit Italien geschlossen, es folgten Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1964 Portugal, 1965 Tunesien und Marokko und schließlich 1968 Jugoslawien. Während der Rezession 1966/67 kehrten ca. 46 Prozent der angeworbenen Arbeiter und Arbeiterinnen zurück in ihre Herkunftsländer.“ Jedes Amt muss Beitrag zur Integration leisten Aus dem Bericht der Ausländerbeauftragten 2001-2003 Reutlingen zur Anwerbung der ersten Gastarbeiter in den 1950ern Seit 2004 ist die Abteilung in Reutlingen direkt beim Verwaltungsbürgermeister angesiedelt, was gleichermaßen das Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 63 - Seminar sehr gefreut zu sehen, wie sich die Mitarbeiter im Bezug auf Integration schulten. Bestimmte Mitarbeiter bildeten sich für die Arbeit mit griechischen und türkischen Senioren, wieder andere für die Arbeit mit pflegebedürftigen Spätaussiedlern fort. Auf diese Weise, so Sultan Braun, habe sich die Altenhilfe für Bürger mit Migrationshintergrund weiter geöffnet. Der prozentuale Anteil von Bürgern mit Migrationshintergrund ist mit 34 Prozent in Reutlingen im Vergleich zu anderen Städten sehr hoch. für den Heimatwechsel seien: Ist der Migrant ein Flüchtling, sind Arbeit oder Armut der Grund, ist der Auswanderer eine Professorin, eine Studentin oder ein Spätaussiedler? Zweitens müsse die Situation im Aufnahmeland berücksichtigt werden: Wie sind dort die rechtlichen, die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen, welche Begegnungen vor Ort finden statt, ist das Aufnahmeland gut vorbereitet? Für Braun ist Migration etwas sehr Individuelles und situationsbedingt für jeden Für die Integration in Reutlingen sind seit Menschen einzigartig. Für sie stehen eher knapp 25 Jahren vor allem Ausländerrat und die Menschen im Mittelpunkt als das die Migrationsbeauftragte Phänomen Migration. zuständig. Davor, und auch Von großer Bedeutung noch heute, waren kirchliche sei es, ob man die / Einrichtungen in der „Menschen gleich in der Auf der Internetseite der Integrationsunterstützung ersten Stunde an die Stadt Reutlingen gibt es aktiv: Die Caritas für Hand nehmen kann“. Die eine Rubrik „Reutlinger Migranten und Migrantinnen Einwanderer bräuchten Einwanderer erzählen“. Hier aus katholischen Ländern, Anschluss und werden Lebensgeschichten die Diakonie für Einwanderer Normalität, um von 14 Einwanderern und mit evangelischem Hinteranzukommen und sich Einwandererinnen grund und die Arbeiterwohlintegrieren zu können, vorgestellt, die seit rund 40 fahrt (AWO) für Migranten sagt Sultan Braun: „Es Jahren in Reutlingen leben. aus Ländern mit anderen gibt bestimmte Glaubensrichtungen. Eine Anlaufstellen, die ich als www.reutlingen.de direkte Beratung und Mensch benötige.“ Dazu Anlaufstelle von Seiten der gehören für sie zum Kommunen gab es Beispiel Kindergarten beispielsweise in den 1950er und Schule. Jahren nicht, als die ersten Gastarbeiter aus dem Süden Europas nach Deutschland Spannende persönliche Geschichte geholt wurden. Für Sultan Braun jedoch ist Integration Aufgabe der gesamten Spannend ist die persönliche Geschichte Gesellschaft. der Reutlinger Integrationsbeauftragten. Sultan Braun, geborene Saricoban: Ihr Vorname Sultan ist ein türkischer Migration differenziert betrachten Frauenname, den es als Männername nicht gibt. Mit neun Jahren kam Sultan Saricoban nach Deutschland und verbrachte ihre Die Integrationsbeauftragte stimmt zwar zu, Jugend in Reutlingen. Trotz ihres dass Migration etwas Normales sei und es Hauptschulabschlusses konnte sie keine diese schon immer gegeben habe. weiterführende Schule besuchen, da sie in Allerdings seien die Rahmenbedingungen der Hauptschule nicht am Englischunterricht sehr verschieden. So müsse man erstens teilnehmen durfte. Die Lehrer in der Schule unterscheiden, welches die Beweggründe Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 64 - Seminar In der Presse und in Gesprächen wird sie jedoch immer wieder mit ihrer Herkunft konfrontiert und muss sich fragen, wo sie steht. Migration und auch ihr Migrationshintergrund werde immer wieder zum Thema. Generell, schließt Sultan Braun, sei man als Migrant dann hatten beschlossen, sie solle erst einmal richtig Deutsch lernen. Für die Institutionen, aber auch für die Menschen in Reutlingen und die Gastarbeiter selbst sei es damals klar gewesen, dass der Aufenthalt nur für kurze Zeit sei. Für Bildung und Ausbildung der Kinder in Migrantenfamilien habe sich deshalb keiner verantwortlich gefühlt. Die junge Sultan Saricoban selbst kehrte Deutschland den Rücken und ging zurück in die Türkei, um dort das Gymnasium zu besuchen. Danach studierte sie vier Jahre Germanistik in Ankara. In den Semesterferien besuchte sie regelmäßig ihre Eltern in Deutschland und arbeitete in diesen Wochen in Reutlingen in verschiedenen Ferienjobs. 4 „Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ist ein Prozess der wechselseitigen Annäherung von ZuwanderInnen und Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft. Sie ist abhängig von der Unterstützung durch Politik, staatliche Stellen, gesellschaftliche Gruppen und Verbände sowie der Medien.“ Nachdem sie einen Deutschen geheiratet hatte, kehrte Sultan Braun zurück nach Deutschland und zog nach Tübingen. Dort begann sie ein Studium der Erziehungswissenschaften an der EberhardKarls-Universität, das die Tübingerin 1995 erfolgreich beendete. Ihre eigene Erfahrung als „Wandererin“, als Migrantin, habe durchaus Einfluss auf ihren Beruf und ihr Einfühlungsvermögen. Es spiele eine wichtige Rolle, ob man bestimmte Situationen selbst erlebt habe oder nicht. Wenn Sultan Braun in Tübingen und Reutlingen unterwegs sei, komme es ihr nicht in den Sinn, dass sie eine Migrantin sei. Die Tübingerin hat ihre Freunde und ihre drei Kinder hier, in Deutschland: Ihr Leben findet die engagierte Frau stimmig. Aus dem Bericht der Ausländerbeauftragten 20012003, Stadt Reutlingen angekommen, wenn man stabile Beziehungen und keine Angst um seinen rechtlichen Status habe. Erst dann sei das Leben in der neuen Heimat „stimmig“. Martina Wiederkehr Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 65 - Seminar 0/ 0/ Tübinger Passanten sagen, was Migration und Integration für sie bedeuten ' *%'##((' Tübingen zeichnet sich nicht nur durch seine interessante Geschichte, seine malerische Altstadt und durch seine Universität aus. Hier leben auch viele Bürger aus vielen Nationen der Welt. Tugce Dizdar und Andrea Rumpel wollten sich einen Einblick verschaffen, wie die Menschen aus verschiedenen Kulturen hier zusammenleben. In den Straßen der Tübinger Altstadt haben sie Passanten befragt und wollten wissen, was diese mit den Begriffen „Migration“ und „Integration“ verbinden. Nachdem die zu Beginn vorhandene Befangenheit abgeklungen war, fanden sich mehrere Interviewpartner, die gerne Auskunft gaben. Die beiden Interviewerinnen haben ihre Antworten im folgenden zusammengefasst. es schwer, zwischen zwei Ländern zu leben, da er Vergleiche ziehen müsste. Jeder stelle sich doch die Frage, zu welchem Land er gehöre, findet Doru. Die Antwort auf diese Frage lautet für ihn: „Man gehört dorthin, wo man sich wohl fühlt.“ Kathi, 24, Krankenschwester Kati sagt: „Migration ist Einwanderung von Menschen in ein neues Land.“ Für problematisch hält sie die Migrationspolitik in Deutschland, da diese nicht gut durchdacht sei. Integration sei „die soziokulturelle Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“. Doru, 29, Doktorand aus Rumänien Migration ist für Doru „das erzwungene Verlassen seines Heimatlandes, um in einem anderen Land überleben zu können“. Zwar verlasse niemand freiwillig sein Heimatland. Doch bei vielen sei der Wunsch groß, in einem anderen Land ein besseres Leben zu führen. Integration sei erst dann möglich, wenn man sich in der neuen Heimat zu Hause, aber trotzdem der alten Heimat verbunden fühle. Für einen Migranten sei Für Birgit, 46, und Rose, 46, beide Verkäuferin Für die beiden Frauen ist Migration: „Wenn jemand hierher kommt.“ Integration erfolge dann, wenn jemand Kompromisse schließen und sich anpassen könne. Integriert sei außerdem, wer einen Beruf habe und arbeite. Integration sei auch wichtig für das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Die Gesellschaft müsse Menschen mit Handicaps akzeptieren. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 66 - Seminar 0/ Unterschied.“ Viele seien hier in Deutschland politisch und kulturell nicht integriert. Die kulturellen Kenntnisse der Deutschen über Ausländer im Gegensatz zu ihren Erwartungen seien viel zu niedrig. Deutsche würden zu viel erwarten von den „zu Integrierenden“. Stephen Burrows, 22, Student aus USA Für Stephen hat das Wort Migration zwei Bedeutungen: „Erstens, wenn Vögel von Süden nach Norden ziehen oder andersrum; zweitens wenn Menschen von einem in das andere Land gehen.“ Integration gehe nicht nur von den Menschen aus, die einwandern in ein Land, da man sich nicht selbst integrieren könne. Die Anderen müssten die Einwanderer als Einwohner anerkennen. Integration geschehe also gegenseitig. Erfolgreich sei sie dann, wenn man sich als Einwohner sehe und von anderen auch als solcher betrachtet wird. Britta Berger, 23, Studentin Deutsch, Englisch, Musik, und Matthias Berger, 26, Student der Informatik Migration bedeutet für die Geschwister Britta und Matthias, die aus Berlin kommen und in Tübingen und Bremen studieren, in ein anderes Land aus- oder einzuwandern. Integration gehe von der Person selbst aus, sei „Kopfsache“ und funktioniere nur durch Eigeninitiative. Umgesetzt sei sie, wenn die Kultur angenommen und die Sprache beherrscht würde. Zudem erlebe ein Integrierter „das Miteinander“ mit Einheimischen. Martin, 52, Heilpraktiker Migration ist für Martin die Aufnahme von Bürgern aus anderen Ländern. Integriert seien ausländische Bürger, wenn sie sich gut einleben und die Kultur mittragen. Tim, 14 Jahre, und Florian, 13 Jahre, Schüler Die beiden Schüler denken beim Begriff Migration an Menschen, „die viel Schlimmes in der Vergangenheit und schwere Schicksalsschläge erlebt haben“. Denn dann müsse man oft in ein anderes Land ziehen. Doch auch die Liebe und Sehnsucht nach dem Partner kann, das wissen die beiden, Daniel , Mediziner aus Eritrea Für Daniel gilt: „Migration ist gleich Integration. Zwischen beiden gibt es keinen Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 67 - Seminar 0/ Heimatland seien sie Fremde, da die Freunde und Nachbarn von früher nicht mehr da seien. Früher sei, so Mahsuni, der Religionsunterschied noch als wesentliches Merkmal im Zusammenhang mit Integration angesehen worden, und die Frage, woher ein Mensch komme. Inzwischen spiele dies keine Rolle mehr. Er selbst lebt seit 17 Jahren in Deutschland. ausschlaggebend dafür sein, wegzuziehen. Integriert sei man, wenn man sich in die Gesellschaft einfüge, aber eigene Bräuche nicht vergesse. Mahsuni, 34, Schuhmacher Migration ist für Mahsuni etwas, „das früher geschehen ist“. Als Gastarbeiter zum Arbeiten nach Deutschland kamen und eigentlich wieder zurück in ihr Heimatland wollten. Mittlerweile seien diese hier integriert, das bedeute, sie haben deutsche Freunde und in ihrem alten Monika, 26, aus Rumänien Für Monika bedeutet Migration Einwanderung. Integration heißt für sie, „die Kultur eines Landes akzeptieren und sich zu eigen machen, ohne dabei die eigene Kultur aufgeben.“ Die Fotos dieser Umfrage haben die Autorinnen Andrea Rumpel und Tugce Dizdar gemacht. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 68 - Seminar /// 0 56*! 078 //!774/ Definition laut Wörterbuch „Unter Migration versteht man die Wanderung von Individuen oder Gruppen im geographischen Raum (horizontale, geographische Mobilität), wobei der Ortswechsel vorübergehend oder dauernd 1 sein kann.“ Der Begriff wird in verschiedenen Disziplinen, zum Beispiel in der Soziologie oder Biologie verwendet und kann unterschiedlich modifiziert, also 2 abgewandelt eingesetzt werden . Wird die Zahl der Migranten weltweit statistisch erfasst, liegt als Definition des Begriffs meist der Vollzug eines dauerhaften Wohnortwechsel zugrunde. Die Bedeutung des Begriffes „dauerhaft“ ist 1960 mit mindestens fünf Jahren festgelegt worden (von 1950-1960 wurden alle Wanderer ab einem Jahr in die Statistik aufgenommen). In Deutschland hingegen genügt ein tatsächlich stattgefundener Wohnsitz-wechsel (unbeachtet bleibt hier die Frage der Freiwilligkeit / Unfreiwilligkeit). Aufschluss gibt hier der Migrationsbericht 2007 der Bundesregierung. Er steht im Internet unter www.bmi.bund.de zum Herunterladen zur Verfügung. Migration im Allgemeinen Der Begriff Migration bedeutet übersetzt „Wanderung“ und stammt von dem lateinischen Verb „migrare“, wandern ab. Es gibt freiwillige und unfreiwillige Migration. Unterschieden wird auch zwischen Einund Auswanderung, Emigration und Immigration. Zu den „typischen Einwanderungsländern“ zählen Migrationsforscher unter anderem Kanada, 3 Australien, Neuseeland und USA . Von Migration wird dann gesprochen, wenn der Lebensmittelpunkt verlegt wird. Internationale Migration findet statt, wenn die Wanderung über eine Staatsgrenze 4 hinweg geschieht . Einige Gründe für Migration Armut Kriegsdienst und Militärdienst Hoffnung auf ein besseres Leben Glaubensfragen Politische Verfolgung Fernweh Liebe ... Einige Formen von Migration Kettenmigration, Familiennach-zug Massenwanderung Arbeitsmigration Fluchtmigration Postkoloniale Migration Heiratsmigration ... Durch die englische Übersetzung „Migration“ des lateinischen Wortes „migrare“ ist das Wort immer mehr in die deutsche Alltagssprache und in die Sozialwissenschaften integriert worden. 1 Stimmer: Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit, S. 435 2 Vgl. Stimmer: Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit, S. 435 3 Vgl. http://www.zebra.or.at/lexikon/m.html (Zugriff: 31.01.2009) 4 Vgl. S.12, Migrationsbericht 2007, www.bmi.bund.de Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 69 - bzw. Seminar /// unter anderem deutlich, dass die „Abwanderung“ (sowohl von Deutschen, als auch von Ausländern) in der Politik und Öffentlichkeit eine immer größere Bedeutung bekommt. Nachfolgend werden einige Zahlen im Überblick dargestellt. Wichtige Begriffe 1. Binnenmigration: Verlegung des ständigen Wohnsitzes innerhalb nationaler Grenzen 2. Internationale Migration Verlegung des ständigen Wohnsitzes zwischen verschiedenen Nationalstaaten 3. Kettenmigration Findet dann statt, wenn Pioniermigranten ihren Familienangehörigen / Bekannten eine nachfolgende Migration ermöglichen und sie dazu motivieren. 4. „Push-Faktoren“ Druckfaktoren im Herkunftsland, die zur Auswanderung zwingen 5. „Pull-Faktoren“ Sogfaktoren im Einwanderungsland, die zur Einwanderung motivieren rund 15,8 Millionen Zuzüge aus dem Ausland im Zeitraum 19912007 rund 11,6 Millionen Fortzüge in das Ausland im selben Zeitraum Vergleicht man beide Zahlen, ergibt sich ein so genannter Wanderungsüberschuss von 4,2 Millionen (Vgl. S. 15, Migrationsbericht 2007, www.bmi.bund.de) Literatur: Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Migrationsbericht 2007. Han, Petrus: Soziologie der Migration. Stuttgart 2005. Das Migrationsgeschehen am Beispiel Deutschland Stimmer, Prof. Dr. Franz (Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit. München, 2000. In regelmäßigen Abständen werden Migrationsberichte im Auftrag der Bundesregierung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt. Es folgt nun ein kleiner Auszug aus dem Migrationsbericht 2007. In diesem wird http://www.zebra.or.at/lexikon/m.html 31.01.2009) Andrea Rumpel Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 70 - (Zugriff: Seminar /// Zu- und Fortzüge nach und aus Deutschland im Jahr 2007: Europa ohne EU: 114.980 Fortzüge 103.823 Zuzüge Afrika: 19.896 Fortzüge 25.056 Zuzüge Europäische Union (EU-12): 192.804 Fortzüge 265.927 Zuzüge D Europäische Union (EU-14): 151.151 Fortzüge 131.663 Zuzüge Amerika, Australien und Ozeanien: 60.842 Fortzüge 57.986 Zuzüge Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 71 - Seminar ! ! Historische Migration Migration – Hintergrund und Nachschlagewerke www.ancestry.de www.ancestry.com www.familysearch.org www.ellisisland.org www.ahnenforschung.net www.genealogy.net www.russlanddeutschegeschichte.de Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München, C.H. Beck Verlag 2002. Klaus J, Bade, Leo Lucassen, Pieter C. Emmer und Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2. Aufl. Okt. 2008 Auswanderung Baden-Württemberg Datenbank Staatsarchiv Stuttgart www.auswanderer-bw.de Stumpp, Karl: Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862. 1978 Migration allgemein Dossier Migration Bundeszentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/themen/8T2L6Z,0,0,Migra tion.html Auswanderung aus dem Südwesten Deutschlands (Auswahl) Moltmann, Günter: Aufbruch nach Amerika. Friedrich List und die Auswanderung aus Baden und Württemberg 1816/17. Dokumentation einer sozialen Bewegung. Tübingen 1979 Netzwerk Migration in Europa www.network-migration.org www.migration-info.de Moltmann, Günter (Hrsg): Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von 1816/17. J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1989 Internationale Organisation für Migration www.iom.int Bundesamt für Migration und Flüchtlinge www.bamf.de von Droste, Liane: Lebenswege von Auswanderern. Aus dem Steinlachtal in die Welt – Portraits aus zwei Jahrhunderten. Tübingen, Attempto Verlag, 2008. ISBN 978-3-89308-403-6 Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven www.dah-bremerhaven.de Auswanderermuseum Ballinstadt Hamburg www.ballinstadt.de Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 72 - Seminar 070 070 ''# Dr. Thomas von Schell Career Service der Eberhard-Karls Universität Tübingen Rümelinstraße 27 72070 Tübingen Telefon (Leitung) 07071-2977138 Fax 07071–295182 E-Mail [email protected] www.career-service.uni-tuebingen.de Fakultät für Philosophie und Geschichte Historisches Seminar Eberhard-Karls-Universität Tübingen Sigwartstraße 17 72076 Tübingen Telefon 07071-29 72568 Fax 07071-252897 www.geschichte.uni-tuebingen.de ('+29 Liane von Droste Liane von Droste Medienservice Koebisstraße 20 16548 Glienicke Telefon 033056-437929 Fax 033056-437929 Mail [email protected] www.lvd-medienservice.de ('2 '+'. Liane von Droste /:%'' ; Theresa Köckeritz Liane von Droste Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09 - 173- -