Warum Rock `n` Roll?

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Warum Rock `n` Roll?
Ian F. S v e nonius
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S TRATEG I EN
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A us de m A me rik anis che n v on
Ut a Gor id is und Egb e r t H ör mann
WALDE + GRAF bei METROLIT
Ich danke all denen, die beim Channeln behilflich waren, besonders Diane, Lars, Katie, Jessie,
Alanah und Johnny.
I. F. S V EN ON IU S
WA RNUNG:
Dieses Buch enthält ausschließlich die Ansichten
des Autors. Sie werden von niemandem geteilt.
Sie stellen nicht die Meinungen irgendeiner
anderen Person dar – jedoch! Es könnte sein,
dass diese Ansichten einmal geteilt, verbreitet
und von anderen vertreten werden. Aber jetzt
noch nicht …
E r st er Tei l
WA H RE
GEH E I MNIS S E
A U FGEDECK T!
Wa r um R o c k ’n’ R o l l | 6 7
VII
WA RU M
R O CK ’N ’ R OLL?
D
anach sprach Jimi Hendrix zu uns, wofür wir
besonders dankbar waren. Da er in berühmten
R&B-Revuen gespielt hatte, bevor er seine Gruppe
Experience gründete, hatte er sicher einige interessante
Einsichten zur Bildung einer Band beizusteuern.
Zwar erschien er uns nur als leichte Brise in den
Vorhängen, aber er war sehr gesprächig.
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Warum Rock ’n’ Roll?
Jimi Hendrix: Manche Leute schauen sich Gemälde
an, manche lesen Gedichte, andere wiederum stellen
ihre Radierungen aus. Das alles ist zwar ein schöner
Zeitvertreib, aber absolut unamerikanisch. Ich würde
sogar behaupten, dass eine Wertschätzung der Schönen Künste bei Amerikanern meistens eine Affektiertheit von Leuten ist, die sich für ihren kolonialen
Provinzialismus schämen. Moderne oder abstrakte
Kunst oder der Konzeptualismus sind mittel- und
osteuropäische Erfindungen und entsprechen besonders der dortigen, quasi-orientalischen, mathematischen Sensibilität. Das Ölgemälde hat seine flämischen Meister, die klassische Musik ist teutonisch
und die Oper ist ein italienischer Import.
Der Rock ’n’ Roll ist dagegen eine amerikanische Kunst, ein Produkt der Industrialisierung und
Elektrifizierung und der ethnischen Vermischung
verschiedener ausgebeuteter und in Knechtschaft
gehaltener Kulturen. Der Rock ’n’ Roll ist sowohl
eine Feier als auch eine Verurteilung der Trash-Kultur,
des Klassenkampfes und der Herrschaftsprivilegien.
Aber warum sollte man eine Band gründen?
Die Frage ist allerdings berechtigt: Wozu noch eine
Rock-’n’-Roll-Gruppe? Der Rock ’n’ Roll mag im Augenblick wie eine ziemlich verachtenswerte Beschäf-
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tigung aussehen oder zumindest wie ein besonders
peinlicher Zeitvertreib. All die Anzüglichkeiten, die
Grimassenschneiderei, die Kunst- und Sinnlosigkeit,
der Stumpfsinn, das Überangebot an Gruppen, die
Vertragsbetrügereien, die offensichtliche Selbstherrlichkeit der Bands und dazu der Selbstekel, die reaktionären politischen Ansichten, die Objektivierung
des Performers durch den Zuschauer, die Augenwischerei, das Plagiieren und der Narzissmus sind
für jeden denkenden Betrachter Anlass genug, um
den Gedanken an die Gründung einer Band sofort
im Keim zu ersticken.
Tatsächlich ist die moderne Rockgruppe oft eine
vorhersehbare, seelenlose, alberne und ziemlich langweilige Vereinigung, die aus in Internaten erzogenen
Bankierssöhnchen besteht, die sich auf der Bühne
aufplustern und eine passable Nachahmung von
Scheiben spielen, die sich ein dementer Kritiker mit
auf die berühmte einsame Insel nehmen würde. Die
Gruppen werden von Jahr zu Jahr banaler.
Und die Kritiker sind oft ihre Wegbereiter und
haben keine oder wenig Ahnung von der Geschichte
und vom Sinn und Zweck der Musik. Sie behaupten
zwar, in ihrem Blog oder in einem Magazin über die
Bands zu schreiben, aber stattdessen labern sie nur
über ihren eigenen völlig zufälligen Musikgeschmack.
Sie sind das perfekte Spiegelbild dessen, was aus
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dieser besonderen Kunst geworden ist – eine sich
ewig selbst wiederholende und sinnfreie Übung, kastriert und debil.
Aber es geht auch anders. Wenn man an die verschiedenen Subkulturen denkt, die Beatniks, Hippies,
urbanen Cowboys, B-Boys, Rastas, Grufties, Mods,
die Rollschuhläufer oder die tausend anderen Sekten,
dann fällt uns dazu sofort der von den Mitgliedern
des jeweiligen Kults erwählte Soundtrack ein.
Jede dieser postindustriellen Identitätsformen hat
ihre eigene Musik und ihren eigenen musikalischen
Stil. Das war aber nicht von Anfang an so. Oft begann jede Sekte mit einigen zerstreuten Parias, die
lediglich ihre abseitige Ästhetik und Ideologie hatten.
Musik konnte, musste aber nicht dazugehören.
Die Surfer waren zum Beispiel ein Haufen
existenzialistischer Slacker, denen Intellektualismus,
Konsumdenken und normative Vorstellungen von
Hierarchie und Erfolg zutiefst zuwider waren. Diese
Verachtung zeigten sie mit dem Surfen, eine Aktivität,
die zuerst von Hawaiianern ausgeübt wurde und eine
besonders spirituelle Qualität hat. Der Surfer kommunizierte mit Gott in der temporären Form der
Welle. Typisch für die Surfer war zwar ein ausgeprägter Widerwillen gegen gesellschaftliche Zwänge, ein
sinnlicher Antiintellektualismus und draufgängerische
Waghalsigkeit, aber trotz dieser gemeinsamen Werte
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betrachteten sie sich nicht primär als „Surfer“, genauso wenig wie Leute, die Autos fahren, sich als
„Autofahrer“ oder Leute, die essen, sich als „Esser“
betrachten würden.
Die Surfer wussten also nicht, dass sie Surfer
waren?
In diesem Augenblick meldete sich der Geist von
Jim Morrison, der Frontmann der Doors, der selbst
einmal in Südkalifornien gelebt hatte, zu Wort. Jims
Aneignung von Elementen des Avantgardetheaters,
die den Doors ihre besondere Prägung verliehen hatte,
zeigte sich auch in der Wahl seiner Kommunikation.
Er sprach, indem er Buchstaben mit dem Dampf bildete, der aus der Teekanne kam, die auf dem Tisch
stand.
Jim Morrison: Erst als energiegeladene Instrumentalgruppen
wie die Bel Airs, die Chantays
und die Del-Tones in Südkalifornien vor einem größeren, begeisterten Publikum auftraten,
erkannte diese Ansammlung von
Herumtreibern und Nonkonformisten ihre Gemeinsamkeiten
und sah, dass ihnen eine ganze
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Kultur des Surfens mit eigenen Gewohnheiten, eigenem Bekleidungsstil, eigenen Sitten und einer eigenen Weltanschauung zu eigen war. Der Erfolg der
Surfmusik fiel also mit dem Zeitpunkt zusammen, in
dem die Surfer sich selbst als Subkultur erkannten.
Die Surfmusik, die am Anfang eine frenetische,
gitarrendominierte Tanz- und später adrette Postwopmusik à la Beach Boys und Jan & Dean war, schweißte
diese hochgradig individualistischen Nichtsnutze zusammen, indem sie ein bestimmtes Bild von ihnen
entwarf und ihre Wunschträume, Ängste und ihr
Gedankengut romantisch verklärte.
Die Surfer selbst waren an der Kodierung und
Kommodifizierung ihres Lebensstils fast gar nicht
beteiligt. Tatsächlich war es so, dass die Surfgruppen
die richtigen Surfer ausbeuteten und sie als Fetischpuppen instrumentalisierten, um den orientierungsund hoffnungslosen postindustriellen Teenyboppern
Südkaliforniens – und damit einer ganzen Generation
von Teenagern – eine Identität zu verleihen. Bald
danach entstanden Surfbands in Minnesota (die Trashmen), Indiana (die Rivieras), in Colorado (die Astronauts) und in anderen Staaten.
Na ja, eine Kultur braucht eben ihre Musik …
Plötzlich steuerte auch ein Gespenst, das sich als Willie
Mae Thornton zu erkennen gab, seine Meinung bei.
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Willie Mae, auch als „Big Mama“ Thornton bekannt,
ist vor allem als Interpretin von „Hound Dog“ und
als Komponistin von „Ball’n’Chain“ hervorgetreten,
aber sie war zu ihrer Zeit auch eine versierte Musikerin, die mit vielen berühmten schwarzen Revuen
unterwegs war.
Sie teilte sich uns über das leise Klirren des Bestecks mit, das mit etwas manueller Nachhilfe Wörter
bildete, indem es auf die Buchstaben auf den Umschlägen von im Raum herumliegenden Büchern und
Zeitschriften deutete.
Willie Mae Thornton: So wie die Sprache für das
abstrakte Denken unabdingbar ist (wodurch Menschen sich gegenüber den meisten Tieren klar im
Vorteil befinden), so verleiht auch Musik – als eine
Art gemeinschaftlicher Sprache – den gefühlsmäßigen,
irrationalen Gesten des entfremdeten Außenseiters
bei seinem verzweifelten Versuch, sich angesichts
der herrschenden Kultur zu definieren, eine Artikulationsmöglichkeit. Sie erklärt diese Gesten nicht nur
der Außenwelt, sondern auch dem Außenseiter selbst.
Da Musik irrational, unerforschlich und deshalb
stark mit dem Ritual, der Zeremonie und dem Mysterium verbunden ist, ist sie eine unverzichtbare Komponente bei der Bildung einer sogenannten Subkultur.
Der Urmensch benutzte vor dem gesprochenen Wort
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den Gesang, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch
bei Ritualen und der Kommunikation zwischen den
Stämmen eingesetzt wurde.
Können Sie als Beispiel neben den Surfern noch
eine andere Subkultur nennen?
Die Punks. Der Punk veränderte sich natürlich mit
der Zeit. Am Anfang bestand vor allem das Publikum
schriller Mitternachtsfilmvorführungen, das die TrashKultur und das Vulgäre feierten und dem Futurismus
der modernistischen Kunst und des Designs nachtrauerten, aus Punks. Bevor die Punkgruppen ihre
Ästhetik zum Ausdruck brachten, hatten sie aber
keinen Namen – obwohl diese garstige Sensibilität
schon seit Jahren in den Herzen der Menschen herumgeisterte.
Wenn sich die Bands nicht gebildet hätten, wäre
über die Weltanschauung jenes disparaten und hochgradig abgesonderten Teils der Bevölkerung vielleicht
nie berichtet worden und sie läge heute im stummen
Grab der Ewigkeit. Wir würden von den siebziger
Jahren nur jene offiziellen und/oder subkulturellen
Gruppen kennen, die lautstarke Verfechter für ihre
jeweiligen Ideologien hatten.
In einem Land wie den USA, dem die Solidarität
wesensfremd ist und in dem eine individualistische,
kapitalistische Ideologie einen geradezu soziopathi-
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schen Egoismus und Habgier unterstützt, ist das subkulturelle Bonding ein radikaler Akt. Ohne den Rock
’n’ Roll ist dieser so gut wie unmöglich.
Die Frage lautet also nicht „Warum?“, sondern
vielmehr „Wie?“, wie in „Wie und wo fängt man an?“
N
ach diesem emphatischen Ruf zu den Waffen
erklärte die luftige Entität, die von sich behauptet hatte, der große Jimi Hendrix zu sein, dass es
letztendlich müßig sei, wenn ein Haufen Geister über
die besten Richtlinien und Strategien einer Bandgründung debattierten. Stattdessen sollte man vielleicht gemeinsam eine lehrreiche Erklärung verfassen,
eine Art Richtlinie der Rock-’n’-Roll-Komintern der
Verstorbenen und Berühmten.
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Wir waren etwas verschreckt, als wir das hörten,
weil wir uns alle an die endlosen Plena von Hausprojekten oder Foodcoops erinnerten und nur zu gut
wussten, dass es eine Weile dauern kann, bis es zu
einem Konsens kommt. Und was war „eine Weile“
in der Welt der Geister? Wir stimmten diesem Vorschlag eigentlich nur zu, weil wir keine andere Wahl
zu haben schienen – und stellten uns auf eine lange
Wartezeit ein. Aber bevor wir uns versahen, nahm
das erste Kapitel Gestalt an.
Der Text ging nacheinander auf alle Situationen
ein, mit denen sich eine Band in der Anfangszeit
konfrontiert sieht. Er wurde von unserem spiritistischen Medium übermittelt, das in einem Zustand der
Trance die Wörter mit Zauberstaub buchstabierte oder
mit einem Glas auf dem Fußboden ihre Konturen zog.
Während wir das Geschriebene transkribierten,
machten wir schichtweise jede Menge Kaffee und
Tee und stärkten uns mit Toasts. Bereits kurze Zeit
später hatten wir es geschafft. Wir verzichteten auf
jeden redaktionellen Eingriff, um die Autorschaft einer so hoch verehrten Gruppe nicht zu verfälschen
und damit auch nicht die geringste Bedeutungsnuance
verloren ginge.
Hier also ist nun das Buch, von dem die Geister
wollten, dass Sie es lesen. Wir entschlossen uns zu
folgendem Titel: