Sklaverei in Afrika: Annäherung an eine Definition

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Sklaverei in Afrika: Annäherung an eine Definition
Sklaverei in Afrika: Annäherung an eine
Definition
Wolfgang Kaese
Wenn heute der Begriff "Sklaverei" umgangssprachlich erwähnt wird, dann ruft
dies gewöhnlich die Erinnerung an ihre hierzulande bekanntesten historischen Erscheinungsformen hervor. Bilder aus der Antike, vom Pyramidenbau in Ägypten,
dem Haushalt eines vornehmen Griechen oder der Arbeit auf römischem Großgrundbesitz - vielleicht auch vom "Sklavenaufstand" des Spartacus - kontrastieren
mit Impressionen der amerikanischen Südstaaten vor dem Bürgerkrieg, der Realität und Romantik mit Sklavenarbeit betriebener Baumwollplantagen zwischen
"Vom Winde verweht" und "Onkel Tom's Hütte".
So verschieden die geschichtlichen Kontexte dieser Formen von Sklaverei auch
sind, gemeinsam ist beiden, daß die Vorstellung von "Sklaverei" durch die Möglichkeit bestimmt ist, Eigentum an einem Menschen zu haben. Hieraus resultiert
die - falls nötig, mit Gewalt aufrechterhaltene - doppelte Reduktion des Sklaven,
seine ökonomische Rolle als beliebig verschleißbare Arbeitskraft, der sein Platz
am unteren Ende der sozialen Hierarchie entspricht.
In den folgenden Texten dieser Sammlung soll ein Überblick über Erscheinungsformen und Funktionen von Sklaverei vor einem in der Öffentlichkeit weniger bekannten Hintergrund, nämlich der Geschichte Afrikas, gegeben werden.
Auf den vom obigen populären Verständnis von Sklaverei ausgehenden Leser wird
die afrikanische Empirie überraschend und verwirrend wirken. Ohne detaillierter
Darstellung vorzugreifen, kann gesagt werden, daß einzelne Charakteristika von
afrikanischer Sklaverei ihm kaum entsprechen: Phänomene wie reiche, selbst
Sklaven besitzende Sklaven oder Sklaven an zentralen Entscheidungsstellen in
Verwaltung und Militär sind damit ebensowenig vereinbar wie gemeinsame und
gleiche Arbeit von Herr und Sklave auf demselben Acker. Zum Verständnis der
Spezifika der Institution Sklaverei im afrikanischen Zusammenhang erscheint es
daher sinnvoll, einige grundsätzliche theoretische Überlegungen zum Gegenstand
anzustellen. Hierbei soll über eine Analyse der Veränderungen der wissenschaftlichen Konzepte für ihre Untersuchung und Erkenntnis zu einer Definition von
Sklaverei gelangt werden, die auch den afrikanischen Gegebenheiten Rechnung
trägt.
Afrikanische Sklaverei in europäischer Darstellung: Mit Bildern wie diesem in ihren
Kampfschriften versuchte die Abolitionsbewegung in Europa Propaganda für die Abschaffung der Sklaverei in Afrika zu machen. Die auffällig europäischen Gesichtszüge
von Sklaven sowie Bewachern und die Abbildung von Kindern als Opfer der Sklaverei
zielten auf Identifikation und emotionale Reaktion beim europäischen Betrachter ab.
(Quelle: Mansell Collection, London; hier entnommen: RANSFORD, Oliver - The Slave
Trade. The Story of the Transatlantic Slavery. London 1971, S. 119)
Sklaverei und Freiheit
Die skizzierte populäre Vorstellung von Sklaverei entspringt einem wissenschaftlichen Konzept von Sklaverei, das sich bei der Erforschung der genannten Themenkreise durch die verschiedensten Disziplinen entwickelt hat: Eben einerseits
der antiken Sklaverei, deren Bedeutung seit dem Beginn moderner Altertumswissenschaften zu ihren umstrittenen Problemen gehört und andererseits der durch
die Abolitionsbewegung besonders in das Blickfeld der Politik- und Sozialwissen-
schaftler gerückten Sklavenhaltung auf den Zucker- bzw. Baumwollplantagen der
Karibik und der amerikanischen Südstaaten.
Unter einem Sklaven wird demnach in groben Zügen folgendes verstanden: Ein
Sklave ist "zuerst eine Ware, die gekauft, verkauft und vererbt werden kann. Er ist
eine bewegliche Habe, völlig im Besitz einer anderen Person, die ihn zu ihrem privaten Nutzen gebraucht. Er hat keine Kontrolle über seine persönlichen Geschicke; keine Wahl seiner Beschäftigung oder seines Arbeitgebers, kein Recht auf
Eigentum oder Heirat, auch keine Kontrolle über das Schicksal seiner Kinder.
Sein Aufenthaltsort ist fremdbestimmt, er kann ohne Rücksicht auf seine Vorstellungen und Gefühle vererbt oder verkauft werden; auch kann er ungestraft mißhandelt, in manchen Fällen sogar getötet werden. Zudem vererbt er seinen Sklavenstatus auf jede Nachkommenschaft.
Sklaven als Gruppe bilden eine besondere 'Klasse' am unteren Ende der
sozialen Leiter, obwohl sie tatsächlich in größerer Sicherheit und besser versorgt
als manche der Freien sind." In diesem Konzept bilden Sklaven somit "eine soziale
'Schicht', und Sklaverei wird, wie eine Klasse oder Kaste, als eine Form 'sozialer
Schichtung' angesehen." (MIERS/KOPYTOFF 1977, S. 3-4)
Betrachtet man diese Definition des Sklaven über ihre Aussagekraft gegenüber
der Empirie hinaus genauer, so wird sehr schnell deutlich, daß sie die direkte Gegenposition zu dem ist, was allgemein als "Freiheit" verstanden wird. Ein "freier
Mensch" ist kein Besitz oder Eigentum, kann nicht ge- oder verkauft und nicht
vererbt werden; schon gar nicht darf er von einem anderen Individuum körperlich
mißhandelt oder getötet werden. Zumindest theoretisch kann er seine Arbeit und
seinen Arbeitgeber frei wählen. Auch seinen Lebensstil bestimmt er selbst; er
kann Eigentum besitzen und darüber frei verfügen. Bei einer Entscheidung für
oder gegen eine Heirat ist er für seinen Teil unabhängig; die Kontrolle über seine
Kinder obliegt ihm auch selbst, freilich nur bis sie mit dem Erwachsenwerden seinen eigenen Status, den des freien Menschen, erreichen.
Für den amerikanischen Soziologen David Brion Davis ist dieses Verhältnis von
"Sklaverei" und "Freiheit" kein Zufall. Die Definition von Sklaverei ist Davis zufolge nicht Ausdruck der vielfältigen Empirie verschiedener Formen von
Sklaverei, als deren gemeinsames Kennzeichen später "Unfreiheit" erkennbar
wird, vielmehr ist es die Idee der "Freiheit", wie sie die europäische Aufklärung
hervorbrachte, die den Rahmen absteckte, innerhalb dessen die Definition von
Sklaverei formuliert wurde, die sodann zur Einordnung des empirischen Materials
diente.
Bild nebenstehende Seite:
Afrikanische Sklaverei in europäischer Darstellung: Authentischere Bilder von Sklaverei als in den abolitionistischen Traktaten finden sich in den oft voluminösen Buchausgaben der Berichte europäischer Forschungsreisender. Deren Illustrationen wurden
gewöhnlich nach den Skizzen und Erinnerungen des Reisenden von berufsmäßigen Illustratoren angefertigt. Hier wird eine Sklavenjagd der Bagirmi gegen ihre Nachbarn, die
Kimre gezeigt, wie sie Gustav Nachtigall in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts
erlebte. Das Ausmaß von Gewalt bei der Versklavung und der verzweifelte Widerstand
der Betroffenen werden dieser Abbildung nach vorstellbar.
(Quelle: FlSHER, A.G.B, und FlSHER, HJ. - Slavery and Muslim Society in Africa: The
Institution in Saharan and Susanic Africa and the Trans-Saharan Trade. London 1970,
S. 21)
Für die abendländische Kultur sei Sklaverei stets ein moralisches Problem gewesen, da in ihrem Wertesystem die Kriterien von Sklaverei - der Sklave als Eigentum und als Person, als Angehöriger und gleichzeitiger Nicht-Angehöriger von Gesellschaft - immer widersprüchlich erschienen sind.
Aber erst die Entwicklung des Kapitalismus im neuzeitlichen Europa und die
Notwendigkeit, dieses neue ökonomische System zu verstehen und zu legitimieren,
erforderte eine eindeutige Positionsbestimmung. Mit der Umwandlung der aus
spezifischen Verschränkungen von Herrschafts-, Produktions- und Austauschverhältnissen erwachsenen vorkapitalistischen Strukturen in Privateigentum und
Marktbeziehungen ging die Entstehung eines neuen Menschenbildes einher.
Die von der politischen Ökonomie und Philosophie formulierte liberale Vorstellung des in seinem politischen und ökonomischen Handeln "freien Individuums",
deren Freiheitsbegriff zunächst politisches Kampfmittel gegen die feudale Ordnung war, vor der ökonomischen Realität ungleichen Besitzes an Produktionsmitteln wurde dann aber zur Ideologie neuer kapitalistischer Ausbeutung und
bürgerlicher Herrschaft.
In diesem Zusammenhang, d.h. gegenüber der Lohnarbeit, die als Ergebnis von
universellen und selbstregulierenden Marktgesetzen erscheint, erwies sich Sklaverei nun als ökonomisch rückständig und politisch-moralisch unhaltbar. Als politische Absichtserklärung trug diese von den Klasseninteressen des Bürgertums bestimmte Sichtweise entscheidend zur Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklavenhaltung in Amerika während des 19. Jahrhunderts bei.
Um zu dieser Aussage zu gelangen, bediente sich die politische Ökonomie ihrer
aus dem Kontext der bürgerlichen Gesellschaft entlehnten Kategorien. Entsprechend der Erkenntnis des im Freiheitsbegriff ausgedrückten radikal Neuen der
bürgerlichen Gesellschaft, der strikten Trennung von Politik und Ökonomie,
wurde Sklaverei umgekehrt als Institution einer Gesellschaftsform begriffen, die
diese Unterscheidung nicht kennt. Beibehalten wurde jedoch der Analyserahmen,
die Dualität von Politik und Ökonomie, so daß sich vor dem Hintergrund der von
der politischen Ökonomie postulierten Universalität ihrer zentralen politischen
und ökonomischen Kategorien "Freiheit" und "Markt" nun die Unzulänglichkeiten
von Sklaverei zeigen müssen:
Das Wesen und die Merkmale der Institution Sklaverei werden vor der Matrix ihrer politischen und ökonomischen Funktion in einer Gesellschaft durch die Gegensatzpaare frei/unfrei und effizient/ineffizient definiert. Als deren Ergebnis
kann Sklaverei nur als archaisches Instrument zur Ausbeutung und Unterdrückung
erscheinen, das die ihr unterworfenen Menschen notwendigerweise zur untersten
Schicht einer sich auf ihr gründenden ebenso obsoleten Gesellschaft macht. (DAVIS
1966, 1975)
Die afrikanische Erfahrung
Trotz ihrer inneren Logik mag es Zweifel an Davis' These vom Vorrang der Auswirkungen der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft über die Bedeutung der
Empirie bei der Definition von Sklaverei geben. Die bekannten Fakten über antike, karibische und amerikanische Sklaverei fügen sich der gewonnenen Bestimmung ohne Schwierigkeiten. Die Anwendung des obigen Konzepts im afrikanischen Kontext offenbart jedoch seine Unzulänglichkeiten in ganzer Deutlichkeit und bestätigt die Richtigkeit der Überlegungen von Davis.
Nach dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels und der Abschaffung
der Sklavenhaltung in der Karibik und den Südstaaten war es in den 70er Jahren
der Beginn der kolonialen Besetzung Afrikas, der die Europäer erneut mit der
Institution Sklaverei konfrontierte. Ihre nachweisliche Existenz in Afrika diente
jetzt als eine Legitimation der von ökonomischen und machtpolitischen Interessen
bestimmten direkten Intervention der europäischen Mächte im schwarzen Kontinent, machte doch angeblich das Festhalten der Afrikaner an barbarischen Sitten
und Gebräuchen die zivilisatorische Präsenz der Europäer erst erforderlich.
Im Gegensatz zur Sichtweise solcher bis weit in dieses Jahrhundert
propagierten Apologetik, die notwendigerweise Sklaverei mit den bekannten
Merkmalen verknüpfte, standen die vielfach dokumentierten konkreten
Erfahrungen von Kolonialbeamten, Reisenden und ihnen nachfolgenden
Wissenschaftlern: Das bisherige Konzept von Sklaverei erwies sich mit den von
ihnen über afrikanische Gesellschaften gewonnenen empirischen Erkenntnissen
als unvereinbar.
Afrikanische Sklaverei in afrikanischer Darstellung: Diese Bronzefigur aus Benin, entstanden zum Ende des 16. Jahrhunderts, gibt die Ambivalenz der afrikanischen Institution Sklaverei in ganzer Deutlichkeit wieder.
Gezeigt wird ein Königsbote, der bei der Inthronisierung eines neuen "Oba" eine wichtige Rolle spielte: Wichtig genug, um ihn in dieser Form darstellen zu lassen. Andererseits aber machen die sogenannten "Katzenschnurrhaar"-Schmucknarben den Boten sogleich als Sklaven erkennbar.
(Quelle: Schätze aus Alt-Nigeria, Erbe von 2000 Jahren. Sonderausstellung der staatlichen Museen zu Berlin, April bis Mai 1985, Berlin (O) 1985, S. 141)
Tatsächlich gab es in den afrikanischen Gesellschaften Menschen, die gekauft oder
geraubt worden waren und deshalb anders eingegliedert wurden als solche, die ihnen von Geburt angehörten. Muß es sich obigem Konzept nach hierbei um Sklaven handeln, so ist diese Bestimmung anderen Merkmalen ihres Daseins nach aber
nicht mehr so sicher. Viele dieser Sklaven lebten und arbeiteten genauso wie ihre
Herrn, so daß ihre Unterscheidung für Europäer - oft auch Afrikaner - unmöglich
war. Manche dieser Sklaven waren auch nicht verkäuflich; es bestand also im engeren Sinn auch kein Eigentumsrecht an ihnen. In anderen Gesellschaften konnten
dagegen "freie" Menschen verkauft werden, Sklaven jedoch nicht. Es gab Sklaven,
die reich und mächtig wurden und schließlich eigene Sklaven für sich erwarben.
Wieder andere Sklaven mußten für ihre Herren beachtliche Leistungen in Form
von Diensten und Abgaben erbringen, ja sogar auf deren Besitz arbeiten, ohne
aber deshalb eine besondere Schicht oder Klasse zu bilden. Viele dieser Sklaven
schienen mit ihrem Schicksal gar nicht unzufrieden zu sein und lehnten Möglichkeiten zur Flucht oder Freigabe ab. (MIERS/KOPYTOFF 1977, S. 5)
Trotz der hiermit sichtbar werdenden Mängel des Sklavereikonzepts kam es
zunächst noch nicht zu seiner Aufgabe und Neuformulierung. Die allgemeine Reaktion bestand darin, afrikanische Sklaverei wenig aussagekräftig als "milde" oder
"gütige" Form der bekannten Institution zu klassifizieren. Die Erklärung für diesen
Schritt, der aus heutiger Sicht unverständlich erscheint, liegt in der kolonialen Situation begründet, genauer gesagt, dem Verhältnis von europäischer Herrschaft,
afrikanischer Gesellschaftsstruktur und wissenschaftlicher, vor allem ethnologischer Analyse.
Zur gleichen Zeit, als die europäische Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf die zivilisatorische Mission von der Notwendigkeit imperialer Expansion überzeugt werden sollte, waren die Kolonialverwaltungen vor Ort zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft auf die Kooperation der traditionellen afrikanischen Machthaber angewiesen. Die sich parallel dazu entwickelnden Kenntnisse
der afrikanischen Gesellschaften zeigten auf, daß gewöhnlich eben diese Eliten die
größten Sklavenbesitzer waren: Das Dilemma der Kolonialbeamten und -Offiziere
bestand somit darin, daß aus der Heimat auf Abschaffung, zumindest aber Veränderung der Institution Sklaverei gedrängt wurde, in Afrika jedoch Tolerierung und
Kompromißbereitschaft ihr Handeln bestimmen mußte. Die Folge war, daß Sklaverei in den Studien von Beamten, Militärs und Ethnologen oftmals bewußt ignoriert wurde. Wirkungsvoller noch war das Herunterspielen ihrer Bedeutung. Hier
lag der Wert des bisherigen Begriffs von Sklaverei: Eine "wissenschaftliche" Analyse der Fakten zur afrikanischen Sklaverei anhand der bekannten Kriterien und
ihr vorhersehbares Ergebnis, nämlich die Charakterisierung als "gütig" und "milde",
nahm möglichen Kritikern der kolonialen Herrschaftspraxis schon im Vorfeld den
Wind aus den Segeln. (KLEIN 1978, S. 599)
Im Hinblick auf die These Davis' erscheint diese Unterordnung wissenschaftlicher
Analyse, genauer gesagt, analytischer Konzeptualisierung wider vorhandenes besseres empirisches Wissen unter die legitimatorischen Erfordernisse der aktuellen
Politik als Fortsetzung und Bestätigung: Entgegen eigenem "wissenschaftlichen"
Selbstverständnis bestimmte wiederum nicht das Interesse am Gegenstand "Sklaverei", sondern die Möglichkeit einer ideologischen Funktionalisierung des wissenschaftlichen Ergebnisses ihre empirische Erforschung und analytische Erfassung.
Neue Konzepte
Eine durchgreifende Veränderung der Forschungssituation setzte erst in den 60er
Jahren dieses Jahrhunderts ein. Jetzt, nach dem Ende der Kolonialherrschaft und
der politischen Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten veränderte sich auch der
politische Kontext der historischen und sozialwissenschaftlichen Analyse der "traditionellen" afrikanischen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Nachdem sich die
Ethnologie von ihrer explizit kolonialen Aufgabenstellung gelöst und sich die Geschichtswissenschaft zum Thema Afrika über die reine Sicherung von Chronologien und Tatbeständen hinaus etabliert hatte, rückte neben anderen Themen
auch das alte Problem der afrikanischen Sklaverei erneut in das Blickfeld wissenschaftlicher Reflexion. An die Stelle des Mißverhältnisses von Konzept und Fakten
trat nun das gezielte Bestreben, neue, der Empirie adäquate Definitionen zu entwickeln.
Die methodische Ausgangsposition dieser Überlegungen bildete die Aufgabe der
aus der politischen Ökonomie entlehnten Parallelität von Ökonomie und Politik
als Raster zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Position des Sklaven. Die antike
wie auch die karibische und amerikanische Sklaverei wurde durch das Zusammenfallen von ökonomischer Rolle und politischem Status des Sklaven charakterisiert,
das in diesen Fällen die zweifelsfreie Lokalisierung der Sklaven als Schicht bzw.
Klasse ermöglicht hatte. Gegenüber den empirischen Befunden aus afrikanischen
Gesellschaften aber hatte sich die Erhebung dieses Charakteristikums zur Grundannahme einer allgemein gültigen Definition von Sklaverei als entscheidender
theoretischer Fehler erwiesen. Als Konsequenz dieser Einsicht entwickelten sich
zunächst zwei Konzepte, die jeweils eines der beiden bisher miteinander verknüpften Momente in den Vordergrund stellten.
Das politische Moment findet sich - wenn auch stark modifiziert - im zur Zeit wohl
einflußreichsten Ansatz zur Bestimmung von afrikanischer Sklaverei wieder: Die
Ethnologen Suzanne Miers und Igor Kopytoff lehnen vor dem Hintergrund der
afrikanischen Fakten sowohl die Kategorie "Besitz" als auch "Freiheit" als sinnvolles Grundelement einer Definition von Sklaverei ab. Stattdessen orientieren sie
sich am funktionalistischen Gesellschaftsmodell der traditionellen Ethnologie, das
Gesellschaft als Struktur funktional aufeinander bezogener Beziehungen von Individuen und Gruppen begreift. Dabei wird die Position eines Individuums in der
Gesellschaft durch die über seine soziale Rolle vermittelten verschiedenen sozialen Beziehungen bestimmt; gesellschaftliche Hierarchie stellt sich durch die Abstufung von - nicht unbedingt juristisch kodifizierten - unterscheidbaren "Rechten"
über und an Personen innerhalb dieser Beziehungen her. Zur Definition von Sklaverei ersetzen Miers und Kopytoff die politische Kategorie "Freiheit" durch diese
"Rechte über Personen", so daß die Institution Sklaverei als eine spezifische Form
solcher Ansprüche erscheint, die im Zusammenhang einer gesellschaftlichen Gesamtstruktur differenzierbar wird.
Sklaverei im Kontext der traditionellen Gesellschaft, wo die erweiterte Familie
bzw. Verwandtschaftsgruppe die entscheidende Instanz der Rollenzuweisung und
damit das grundsätzliche Ordnungsprinzip der Sozialbeziehungen bildet, ist daher
als eine Institution neben anderen zu sehen, die sich aus der Perspektive der Betroffenen allesamt durch eine Einschränkung ihrer Rechte zugunsten des Familienoberhaupts auszeichnen. Sklaverei steht so in einer Linie mit anderen Abhängigkeitsverhältnissen wie Klientelbeziehungen und Schuldknechtschaft, aber auch
dem Verhältnis des Vaters zu seinen Töchtern und Söhnen. In der durch Verwandtschaftsgruppen strukturierten afrikanischen Gesellschaft ist die Stellung des
Sklaven entsprechend durch ihre - verglichen mit den Angehörigen bzw. anderen
Abhängigen der Familie - Marginalität gekennzeichnet. Andererseits bedeutet die
Nähe zu den verschiedenen Formen von Abhängigkeit, daß bei einem Sklaven
eine Statusänderung möglich ist. Über einen längeren Zeitraum ist eine sukzessive
Integration des Sklaven bis zur vollständigen Assimilation in die Verwandtschaftsgruppe des Herrn - und damit in die Gesellschaft - sogar die Regel.
Diese aus dem Verhältnis zur Gesamtstruktur von Gesellschaft erklärbare Assimilationskapazität der afrikanischen Institution Sklaverei macht Miers und Kopytoff zufolge ihr besonderes Charakteristikum aus, das sie deutlich von der karibischen und amerikanischen Sklaverei unterscheidet. Ausgehend von den dortigen
Erscheinungsformen mit ökonomischer Ausbeutung und strikter Separierung von
Sklaven, in denen sich offensichtlich eine ganz andere Beziehung zwischen gesell10
schaftlicher Institution und Gesamtstruktur ausdrückt, stellt sich schließlich die
Frage - so Miers und Kopytoff - ob es überhaupt sinnvoll ist, im afrikanischen Kontext von Sklaverei zu sprechen. (MIERS/KOPYTOFF 1977)
Zu ganz anderen Ergebnissen gelangt der Ansatz, der das ökonomische Moment
von Sklaverei akzentuiert: Im Gegensatz zur substantivistischen Schule Karl
Polanyis in der Wirtschaftsethnologie, die für nichtkapitalistische Gesellschaften
von der Existenz einer anderen, nicht marktwirtschaftlichen ökonomischen Rationalität ausgeht, sieht es der englische Wirtschaftshistoriker Anthony Hopkins als
erwiesen an, daß auch die ökonomischen Strukturen der afrikanischen, genauer
westafrikanischen Gesellschaften schon in vorkolonialer Zeit durch die Gesetze
des Marktes geprägt wurden.
Die bekannten Fakten belegen Hopkins zufolge auch die Wirksamkeit marktwirtschaftlicher Prinzipien bei der Herausbildung von Form und Dynamik afrikanischer Sklaverei.
Auch in Westafrika förderte die Entwicklung interner Handelsbeziehungen die
Entstehung besonderer Plätze zu ihrer Abwicklung. An solchen Orten und umliegenden Gebieten bedingte die Durchführung des Austausches gleichzeitig die Entstehung vielfältiger neuer Beschäftigungsmöglichkeiten im Produktions- und
Dienstleistungsbereich. Aus dem lokal verfügbaren Arbeitskräftereservoir konnte
dieser Bedarf nicht gedeckt werden. Gelöst wurde das entstehende Nachfrageproblem durch die Verwendung von Sklaven.
Die empirisch bekannte Konzentration von Sklaven in den großen Städten bzw.
daraus entstandenen Staaten hatte ihre Ursache darin, daß diese nicht nur den
größten Bedarf an Arbeitskräften hatten, sondern - da sie die größten Gewinne
aus dem Handel zogen - auch über die Mittel verfugten, Sklaven entweder zu
kaufen oder zu fangen. Hier fanden sich Sklaven dann in Militär und Bürokratie
genauso wie in Handwerk oder privaten Haushalten; wie die Reiseberichte
dokumentieren, waren sie bis auf wenige Ausnahmen, die zur Erledigung schwerer
und unangenehmer Arbeiten herangezogen wurden, den ökonomischen
Erfordernissen entsprechend hochqualifizierte Arbeitskräfte.
Folgt man Hopkins Interpretation, so stellt sich spätestens hier die Frage, warum
der Arbeitskräftebedarf in Westafrika ausgerechnet durch Sklaven gedeckt wurde.
Nach Hopkins liegt die Antwort im Entwicklungsniveau der Ökonomie und den
ökologischen Verhältnissen begründet: Den Arbeitskräftemangel - wie in industrialisierten Gesellschaften - durch den Einsatz von Maschinen auszugleichen,
war mit der vorhandenen Technologie nicht möglich; in vorwissenschaftlichen
Gesellschaften wie den westafrikanischen bewirkte er auch keine Entwicklung
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entsprechender Technologie. Eine Alternative zur Sklaverei aber bestand doch:
um Arbeitskräfte anzuziehen, hätten Arbeitslöhne gezahlt werden können. Hierzu
kam es jedoch nicht, so Hopkins, weil sich die afrikanischen Unternehmer bewußt
und planmäßig gegen diese Option entschieden. In Westafrika war im dominierenden agrarwirtschaftlichen Produktionsprozeß aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte seit jeher "Arbeitskraft" und nicht "Land" - wie beispielsweise in Europa - der kritische Faktor. Bei den vorherrschenden Tendenzen zu weitläufiger
Besiedlung und extensiver Landwirtschaft bestand die optimale Konstellation der
Produktionsfaktoren in der Kontrolle über möglichst viele Arbeitskräfte, die sodann auf dem in nahezu beliebiger Menge zur Verfügung stehenden Grund und
Boden eingesetzt werden konnten. Unter solchen Bedingungen aber waren die
Kosten für Lohnarbeit extrem hoch, da aufgrund des niedrigen technologischen
Niveaus bei gleichzeitiger allgemeiner Verfügbarkeit von Land für potentielle
Lohnarbeiter jederzeit die Möglichkeit bestand, die gleiche Produktion auch selbständig aufzunehmen. Somit wurde in dieser Situation die Sklaverei vorgezogen,
weil die Kosten für Beschaffung, Kontrolle und Unterhalt von Sklaven in jedem
Fall geringer blieben als die Aufwendungen für Lohnarbeiter. Die Einführung von
Sklaverei muß daher, so Hopkins, dem elementaren Charakter der KostenNutzen-Abwägung nach als bewußte marktgerechte Lösung des Arbeitskräfteproblems verstanden werden.
Diese Funktion im ökonomischen Bereich bestimmte auch die Auswirkungen von
Sklaverei auf die Gesellschaft. Im westafrikanischen Kontext werden hierbei zwei
Tendenzen sichtbar. Einerseits wird seit ältesten Zeiten von Rebellionen unzufriedener Sklaven berichtet: Da die Betroffenen in jedem Fall durch Gewalt zu Sklaven gemacht wurden, bestand auch stets die "Gefahr" des Widerstands gegen diesen Zustand. Andererseits läßt sich für viele Gebiete eine gesellschaftliche Integration von Sklaven belegen: Gegen den Verzicht auf Widerstand und eine gleichzeitige Loyalitätserklärung wurden Sklaven bestimmte Rechte zugestanden. Beide
Tendenzen spiegeln Versuche wider, die aus der ökonomischen Funktion von
Sklaverei ableitbare Beziehung zwischen Herrn und Sklaven zum jeweiligen
Nutzen der einen oder anderen Seite zu verändern: Während das hierdurch konstituierte Ausbeutungsverhältnis durch die Rebellion aufgehoben werden soll, zielt
die Assimilation auf die dauerhafte Absicherung desselben.
Hopkins resümiert daher, daß Sklaverei neben der ökonomischen Wirksamkeit
der Markgesetze über die Grenzen der industriellen Gesellschaften hinaus auch
die vielfach bestrittene Existenz sozialer Ungleichheit und politischer Gegensätze
in vorindustriellen Gesellschaften zeigt. (HOPKINS 1973, S. 23-27)
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Vergleicht man diese Einschätzung Hopkins' mit den Ergebnissen von Miers und
Kopytoff, so kann der Gegensatz kaum schärfer sein. Obwohl beide Ansätze von
denselben afrikanischen Fakten ausgehen, hat deren notwendigerweise theoriegeleitete Durchdringung zwei völlig verschiedene Konzepte von Sklaverei hervorgebracht: Die daraus hergeleiteten gegensätzlichen Bewertungen so zentraler
Aspekte wie gesellschaftlicher Integration und ökonomischer Funktion erwecken
eher den Eindruck, zwei völlig verschiedene Gegenstandsbereiche seien bearbeitet
worden. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Trotz ihrer nicht zu bestreitenden Bedeutung für die wissenschaftliche
Diskussion wurden die Mängel beider Ansätze schnell ausgemacht: Der
amerikanische Historiker Frederick Cooper stellte lapidar fest, daß Hopkins'
Ansatz innerhalb der Ökonomie ebenso konventionell sei wie Miers' und
Kopytoffs innerhalb der Ethnologie. Mit der Akzentuierung des "Marktes" bzw.
der "Assimilation" konkretisieren beide nur aus anderen Kontexten bekannte
Interpretationsansätze. Mit seinem Vorwurf, keines der beiden Konzepte liefere
einen angemessenen Rahmen, um entscheidende Unterschiede bei der Kontrolle
von Arbeitskräften und der Aneignung gesellschaftlichen Mehrprodukts zu
analysieren oder die Auswirkungen der Fähigkeit einer besonderen Gruppe,
Sklaven zu kontrollieren und zu benutzen auf die gesellschaftliche Organisation,
auf Kultur und Ideologie zu verstehen, wies Cooper auf die eigentlichen
Schwächen hin. Indem sich bestimmte Fragen ihrem analytischen Zugriff
entziehen, zeigt sich, daß beide Konzepte auf Theorieansätze rekurrieren, denen
bei der Erklärung des Gegenstandes "Sklaverei" im Kontext der afrikanischen
Geschichte nur partikulare Bedeutung zukommt. So wichtig gesellschaftliche
Strukturen und ökonomische Mechanismen als Konstitutionselemente einer
adäquaten Vorstellung historischen Prozesses sind, so wenig können sie einzeln
dessen Totalität erschließen, innerhalb derer die Definition einer vielschichtigen
Institution wie Sklaverei zu leisten wäre. Die Widersprüchlichkeit der Interpretationen von Hopkins sowie Miers/Kopytoff erklärt sich somit aus der jeweils
falschen Verabsolutierung eines wesentlichen, aber allein nicht ausreichenden
Moments einer solchen Definition.
Mit seinen Fragestellungen deutet Cooper die notwendige Perspektive an. Zu
ihrer Beantwortung bedarf es einer Definition von Sklaverei, die auf eine Theorie
gesamtgesellschaftlichen Prozesses Bezug nimmt. (COOPER 1979, S. 103-105)
Sklaverei und Konflikttheorie
Eingang in die Untersuchung vorkolonialer afrikanischer Gesellschaften fand eine
solche Theorie in Form der "Konflikttheorie". Ende der 60er Jahre benutzte der
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englische Ethnologe Peter Lloyd die Vorstellung gesellschaftlichen Konflikts als
Grundlage seiner Darstellung und Erklärung der Geschichte westafrikanischer
Königreiche.
Diese läßt sich Lloyd zufolge modellhaft als ein Entwicklungsprozeß vom "Stammeskönigtum" zur "zentralisierten Monarchie" beschreiben. Im "Stammeskönigreich" hatte die politische Macht und Entscheidungsgewalt ein Rat der Familienältesten inne. Ein aus ihrer Mitte bestimmter, oft als heilig geltender König spielte
bei den Regierungsgeschäften eine hervorgehobene Rolle, wurde aber mehr als
Schiedsrichter zwischen den Ältesten denn als autokratischer Herrscher betrachtet. In der "zentralisierten Monarchie" lag dagegen die politische Macht bei einem
König, der oft als Despot bezeichnet wurde, da er für seine Entscheidungen weitgehend allein verantwortlich war. Seine Machtbefugnisse waren aber auch hier
nicht absolut; traditionelle soziale Normen und divergierende Interessen in der
Gesellschaft steckten ihre Grenzen ab.
Der Unterschied zwischen beiden Formen liegt also in einer Verschiebung der
Machtbalance: Auf Kosten der Ältesten vergrößerten sich die Befugnisse des Königs. Den Entwicklungsprozeß von der einen zur anderen Form charakterisiert
Lloyd zufolge daher ein anhaltender Konflikt zwischen König und Ältesten. Da
politische Macht im vorkolonialen Afrika auf der Kontrolle von Reichtum und
persönlicher Gefolgschaft beruhte - wobei Reichtum letztlich nötig war, um Gefolgschaft sicherzustellen -, drehte sich dieser Konflikt um Möglichkeiten, sich beides anzueignen. Während das Interesse der Ältesten dabei stets eine gleichberechtigte Verteilung war, versuchte der König eine privilegierte Aneignung sicherzustellen. Als solche Ressourcen, deren Vorhandensein von ökologischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen abhängig war, benennt Lloyd Handel,
Kriegsführung sowie die Verwaltung sowohl eigener als auch eroberter Gebiete.
Vor dem Hintergrund dieses Prozeßmodells, seiner Vorstellung gesellschaftlichen
Konflikts und daraus resultierenden Wandels wurde es Lloyd möglich, die Geschichte der einzelnen Königreiche zu differenzieren und zu bewerten. (LLOYD
1968, S. 1971)
Zur Grundlage einer Analyse von Sklaverei wurde die Konflikttheorie erstmals
bei dem französischen Ethnologen Claude Meillassoux. Während die Idee des
Konflikts bei Lloyd vom Denken Max Webers inspiriert ist, orientiert sich Meillassoux an der Theorie Karl Marx'. Die Grundlage ihrer Anwendung bildet bei
Meillassoux die spätstrukturalistische französische Marxinterpretation der frühen
70er Jahre. Die Benutzung des orthodoxen Kanons vorgegebener "Produktionsweisen" wird abgelehnt, stattdessen erfolgt eine Definition des Begriffes ausgehend
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vom jeweiligen Gegenstand einer spezifischen Gesellschaftsformation. Im Vordergrund steht dabei weniger die Produktionsorganisation als solche, sondern die Art
und Weise der Aneignung eines gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine
herrschende Klasse. Mit dieser Akzentverschiebung gegenüber anderen Marxinterpretationen wird "Produktionsweise" im afrikanischen Kontext zum wirkungsvollen Analyseinstrument: Es kann so neben der Ausbeutung in der eigenen Gesellschaft auch die in Afrika für die Herausbildung interner Klassengegensätze oft
entscheidende Bedeutung externer Aneignung von Mehrprodukt durch Handel
und insbesondere Raub erfaßt werden. Die bei Lloyd herausgearbeitete Vorstellung von gesellschaftlichem Prozeß wird damit präzisiert und erweitert. Nicht nur
der Konflikt zwischen König und Ältesten um "Ressourcen", marxistisch
ausgedrückt: die Konkurrenz innerhalb der herrschenden Klasse um Anteile am
angeeigneten Mehrprodukt, sondern auch der Gegensatz zwischen den
Herrschenden und den ausgebeuteten Produzenten des Mehrprodukts als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung wird mit in die Analyse einbezogen.
Aus der Bewertung der bekannten Fakten vor dem Hintergrund dieser Vorstellung
von gesellschaftlichem Prozeß in afrikanischen Gesellschaften gelangt Meillassoux
zu seiner Bestimmung allgemeiner Merkmale von Sklaverei in Afrika: Zunächst
hebt er - wie schon Hopkins - die für jede Form von Sklaverei konstitutive Bedeutung von Gewalt hervor. Unabhängig von weiteren besonderen gesellschaftlichen
Bedingungen stehen am Beginn eines Daseins als Sklave Formen der Gewalt; neben ihrer physischen Anwendung bedeutet dies vor allem die Zerstörung der bisherigen sozialen Identität der Opfer. Mit Ausnahme der Geburt in die Sklaverei
hinein, wo beide Formen von Gewalt bei der sukzessiven Einübung in den Status
wirksam werden, bedingt jede Form der Versklavung die planmäßige Aufhebung
der im afrikanischen Kontext soziale Identität stiftenden Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen.
Mit der Durchsetzung dieser beiden Momente, also Gewaltunterworfenheit und
Verwandtschaftslosigkeit, sind die Voraussetzungen der beliebigen, im Ermessen
ihrer Herrn liegenden Verwendung von Sklaven geschaffen. Zu unterscheiden sind
durch Ausbeutung, zumindest aber Unterwerfung und Abhängigkeit bestimmte,
von der Entwicklung der Klassenverhältnisse abhängige Funktionen im Bereich
von Produktion, Reproduktion und politischem System.
Im Vordergrund steht zunächst - wie bei Hopkins - die ökonomische Rolle des
Sklaven. Für den Einsatz von Sklaven als Arbeitskraft gibt es drei Möglichkeiten:
Dieser kann im Arbeitsprozeß sowohl der Kleinfamilie bzw. ihres Haushalts als
auch des erweiterten Verwandtschaftverbandes erfolgen. Während diese beiden
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Einsatzweisen von den spezifischen Klassenverhältnissen und ihrer Entwicklung
relativ unabhängig sind, setzt die Verwendung von Sklaven durch und in größeren
kommunalen Organisationsformen einen bestimmten Entwicklungsstand voraus:
Nur staatliche Instanzen konnten eine ökonomische Ausbeutung auch sicherstellen, wenn Sklaven in Arbeitsgruppen massenhaft auf Plantagen eingesetzt oder in
besonderen, mit hohen Abgaben belegten Sklavendörfern separiert wurden.
Für die beiden erstgenannten ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse spielt die
Verwandtschaftsgruppe eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu Miers und Kopytoff,
die deren Bedeutung ja ebenfalls betonen, sieht Meillassoux die Position des Sklaven in der Verwandtschaftsgruppe aber nicht durch Integration, sondern anhaltende Rechtlosigkeit charakterisiert. Bis auf wenige Ausnahmen blieben selbst im
Lauf der Zeit "assimilierte" Sklaven faktisch immer benachteiligt, obwohl ihre
rechtliche Stellung sicher eine andere war, als die bewußt separiert gehaltener
Plantagensklaven.Die Verwandschaftsgruppe bildet auch den Rahmen der Ausbeutung der Reproduktionskapazität von Sklaven. Der Erwerb von weiblichen
Sklaven diente in den polygamen afrikanischen Gesellschaften nicht zuletzt der
Nutzung ihrer Gebärfähigkeit. Während sich mit der parallelen Herausbildung von
Klassengegensätzen und Staatlichkeit die ökonomische Nutzung von Sklaven verstärkte und gleichzeitig über den Rahmen der Verwandschaftsgruppe hinausentwickelte, blieb auch unter den veränderten Bedingungen die erweiterte Familie
der Rahmen der "Produktion" von Menschen: Da politische Macht auf Reichtum
und Gefolgschaft basierte, erklärt sich hieraus die von Verwandschaftsstrukturen
geprägte Form der afrikanischen Staaten in vorkolonialer Zeit.
Erst in diesen durch Klassengegensätze gekennzeichneten Gesellschaften gab es
Verwendungsmöglichkeiten für Sklaven im politischen System. Obwohl der militärische Einsatz von Sklaven auf Raubzügen einen ökonomischen Aspekt hat - die
Kriegsbeute vergrößert ja das gesellschaftliche Mehrprodukt, um das König und
Älteste konkurrieren - steht hierbei etwas anderes im Vordergrund: Die Bedeutung des Einsatzes von Sklaven in Militär und Verwaltung lag darin, daß sie keine
Verwandtschaftsbeziehungen hatten und ihre Herrn daher bei Einsetzung in staatliche Ämter - die gewöhnlich mit hohem gesellschaftlichen Status und beachtlichem Einkommen verbunden waren - von ihnen absolute Treue und Gefolgschaft
erwarten konnten. Hierin unterschieden sie sich von allen freien Angehörigen einer Gesellschaft, deren Herkunft auch sogleich ihre Loyalität in der Konkurrenz
zwischen König und Ältesten festlegte. Beide Parteien nutzten diese Eigenschaft
von Sklaven in ihrem Konflikt; insbesondere die Könige versuchten immer wieder
durch die Aufstellung von parallelen Verwaltungsinstitutionen und Militäreinhei-
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ten aus Sklaven die aus ihren traditionellen Funktionen in Beamtenschaft und
Armee resultierende Machtbasis der Ältesten zu schwächen. (MEILLASSOUX 1975)
Es zeigt sich also, daß Meillassoux' Bestimmung von Sklaverei analytisch eine neue
Qualität hat: Mit Hilfe der Vorstellung einer durch Konflikt charakterisierten Gesellschaft und ihres immanenten Wandels wird es Meillassoux möglich, die in den
Interpretationen von Hopkins sowie Miers/Kopytoff auseinanderstrebenden politischen und ökonomischen Momente von Sklaverei erneut aufeinander zu beziehen
und so eine größere Annäherung an ihre empirisch belegte Vielfalt in Afrika zu
erreichen.
Dieses Ergebnis darf jedoch nicht davon abhalten, auf die Schwächen auch dieser
Definition hinzuweisen. Das oben gezeigte Problem aller abendländischen Betrachtung von Sklaverei, nämlich ihre Zentrierung um Werte der eigenen Gesellschaft und ihrer Kultur unter dem Leitbegriff der "Freiheit", kann auch Meillassoux nicht zufriedenstellend lösen. Zwar ist die Idee des gesellschaftlichen Konflikts kein Produkt der europäischen Neuzeit, trotzdem implizieren aber alle auf
ihr basierenden gesellschaftswissenschaftlichen Konzepte im Sinne rationaler Moderne als politisches Ziel den geregelten Austrag und damit eine Lösung (Weber)
bzw. die Aufhebung des Konfliktes selbst (Marx). Beide Varianten sind unter den
heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten nur als Radikalisierung der explizit
bürgerlichen Werte 'Gleichheit' und 'Freiheit' zu denken, so daß in der Anwendung der Konflikttheorie auf nichtkapitalistische Gesellschaften notwendigerweise auch diese Werte als wissenschaftliche Erkenntnisraster mittransportiert
werden. Folgt man dieser Überlegung, so wird klar, daß die Verwendung z.B. der
Unterscheidung frei/unfrei im Zusammenhang der Verwandtschaftsgruppe bei
Meillassoux nicht unbedingt eine Unscharfe in seinem individuellen Konzept ist,
sondern sich vielmehr in der Problematik Freiheit/Sklaverei die Grenzen gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis des "Fremden" überhaupt widerspiegeln.
Mag dieser Einwand mit dem Hinweis auf die Relativität aller Erkenntnis als zu
theoretisch abgetan werden, so hat die Kritik an der "Unhandlichkeit" von Meillassoux' Bestimmung sehr praktische Bedeutung. Die Einführung verschiedener Variablen, die ermöglichen, verschiedenste Phänomene einzuordnen und zu bewerten, wird nicht nur als positiv angesehen. Das weite Auffächern der Definition
durch die Bestimmung des Sklaven über die konkreten Aspekte Gewaltunterworfenheit und Verwandtschaftslosigkeit hinaus durch relativ vage Abstufungen und
Kombinationen von Ausbeutung und Unfreiheit bzw. Unterordnung in der Gesellschaft - so der Vorwurf - hat auch zur Folge, daß ein aus ihrer Präzision hervorgehender Erklärungswert der Definition verlorengeht und sie ihren eigentlichen
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Zweck in der Analyse nicht mehr erfüllen kann. Dieser Einwand, daß somit seine
Definition von Sklaverei im gesellschaftlichen Prozeß aufgrund ihrer vielfältigen
Variablen mitunter mehr beschreibe als erkläre, scheint der Preis zu sein, den
Meillassoux dafür zahlen muß, mit der Breite seiner Definition diese empirischer
Widerlegung weitgehend entzogen zu haben.
Abschließend jedoch bleibt festzustellen, daß Meillassoux' Verknüpfung von Sklaverei und Konflikttheorie wohl doch einen wesentlichen Fortschritt darstellt. So
schwer die methodischen Zweifel auch wiegen mögen, mit seinem Konzept einen
akzeptablen Erklärungsansatz für die Formenvielfalt der afrikanischen Sklaverei
entwickelt zu haben, muß als Verdienst Meillassoux' angesehen werden: Von den
ökologischen und technologischen Gegebenheiten ausgehend macht Meillassoux'
Ansatz sie als Funktion eines durch Gegensätze bestimmten gesellschaftlichen
Prozesses erkennbar. Trotz aller Vorbehalte erscheint aufgrund dieser analytischen Fähigkeit die Interpretation Meillassoux' als Ganzes momentan dem Gegenstand der afrikanischen Sklaverei am angemessensten.
Gleichzeitig macht dieser Erfolg der Anwendung eines gesellschaftstheoretischen
Ansatzes noch etwas anderes deutlich: Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen
liegt angesichts des aktuellen Kenntnisstandes zum Thema, der doch so viele Fragen offen läßt, die Möglichkeit zukünftiger Wissensfortschritte nicht nur bei weiteren empirischen Forschungen, sondern insbesondere im Bereich neuer theoretischer Konzepte.
Literatur
Cooper, Frederick - The Problem of Slavery in African Studies; in: Journal of Africa
History, xx, l (1979), 103-125.
Davis, David Brion - The Problem of Slavery in Western Culture; Ithaca, N.Y. 1966.
ders. -
The Problem of Slavery in the Age of Revolution, 1770-1823; Ithaca, N.Y.
1975.
Hopkins, Anthony G. - An Economic History of West Africa; London 1973.
Klein, Martin A. - The Study of Slavery in Africa; in: Journal of African History, xix, 4
(1978), 599-609.
Kopytoff, Igor /Miers, Suzanne - Introduction: African 'Slavery" as an Institution of
Marginality; in: S. Miers/I. Kopytoff (Eds.), Slavery in Africa - Historical
and Anthropological Perspectives; Madison, Wis. 1977.
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Lloyd, Peter C. - Conflict Theory and Yoruba Kingdoms; in: I.M. Lewis (Ed.), History
and Social Anthropology; London 1968.
ders. -
The Political Development of Yoruba Kingdoms in the Eighteenth and
Nineteenth Centuries; London 1971.
Meillassoux, Claude - Introduction; in: C. Meillassoux (Ed.), L'Esclavage en Afrique
précoloniale; Paris 1975.
Woolfson, Freda - Pageant of Ghana. London 1958
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