Endstation - Leseprobe

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Endstation - Leseprobe
Ulrike und Michael Wanner
ENDSTATION
Ammertal Krimis
LESEPROBE
© 2013 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Lustgewinn
„Ich kann nicht mehr!“
Erschöpft, aber glücklich wälzte sich Thea Schnell auf ihre Seite des Bettes, das in einer kleinen,
aber geschmackvoll eingerichteten Zweizimmerwohnung im Baugebiet Ziegelfeld stand. Von dort
aus erreichte sie ihre Arbeitsstelle als Physiotherapeutin im Herrenberger Krankenhaus innerhalb
weniger M inuten zu Fuß.
Thea schob mit dem linken Bein die Peitsche vom Laken auf den Boden.
M it ihr hatte sie vor etwa zwanzig M inuten den Rücken von Heinz Rebmann bearbeitet. Erst als er
stöhnte, es sei jetzt genug, legte sie die Peitsche beiseite, um zum zärtlicheren und schließlich zum
ekstatischen Teil ihres Liebesspiels überzugehen. Dabei geriet Thea unter ihrem Latexkostüm ordentlich ins Schwitzen.
Jetzt setzte sie sich auf und blickte Heinz herausfordernd an.
„Na? Hast du so eine ... Behandlung zuhause auch schon einmal bekommen?“
Heinz seufzte, sagte aber nichts.
„Dabei könntest du das jeden Tag haben. Wenn du dich nur endlich scheiden lassen würdest!“
Heinz seufzte erneut. Dieses M al noch eine Tonlage tiefer.
„Wie oft haben wir das schon besprochen? Wenn ich mich scheiden lasse, bin ich in dem M oment,
in dem meine Frau und ich den Saal des Familiengerichts in Böblingen verlassen, arm wie eine Kirchenmaus. Die Fabrik mit allem ...“
„... Drum und Dran gehört Elfriede. Und sie würde dich hochkant hinauswerfen aus deiner gut bezahlten Geschäftsführerposition“, vollendete Thea die Sätze, die sie schon unzählige M ale gehört
hatte. „Und so wird sich nie etwas ändern. Es sei denn ...“
„Es sei denn, was?“
„Es sei denn, deine Frau kommt durch einen tragischen Unglücksfall ums Leben.“
„Das wäre - zumindest für uns - sehr erfreulich. Aber leider ereignen sich tragische Unglücksfälle
nur zu Zeitpunkten, zu denen man sie überhaupt nicht brauchen kann.“
„Das käme darauf an.“
„Wie? Worauf?“
„Hast du nicht erst neulich erzählt, dass man in letzter Zeit im Alzental mehrfach eingebrochen
hat?“
„Ja schon, aber ...“
„Und wenn jetzt bei euch eingebrochen würde? Und wenn deine Frau den Einbrecher überraschte.
Und wenn er dann durchdrehte und sie erschießen würde? Was wäre dann?“
„Dann würde ich die ganze Klitsche erben und wir beide hätten für den Rest unserer Tage ausgesorgt! Wir könnten uns irgendwo, wo es warm ist, eine Villa bauen und den lieben langen Tag“, er
deutete auf die Peitsche, „spielen.“
„Du sagst es!“
***
„Wo ist Papa?“
Verena Rebmann war zu ihrer M utter gekommen, um die letzten Einzelheiten ihrer gemeinsamen
Urlaubsreise nach Thailand zu besprechen.
„Wo wird er schon sein? Bei seinem Flittchen im Ziegelfeld natürlich. Wie immer, wenn er nicht
missmutig und unansprechbar auf dem Sofa sitzt und vor sich hin grummelt!“
„Was dir durchaus recht ist! Gib’s zu! Holger und du, ihr seid doch froh, wenn ihr hier im Haus
tun und lassen könnt, was ihr wollt. Besonders im Schlafzimmer!“
„Sag mal, wie redest du eigentlich mit deiner M utter?!“
„Stimmt es denn etwa nicht?“
„Na ja. So ganz unrecht hast du nicht.“
„Na also, dann ist ja alles in bester Ord ...“
„Eben nicht. Im Gegenteil. Ich muss höllisch aufpassen ...“
„Wieso das denn?“
Elfriede zögerte. Dann entschloss sie sich zu reden.
„M an hat mir zugetragen, dass dein Vater unter der Hand mit einem meiner Konkurrenzunternehmen in Sindelfingen verhandelt. Es heißt, er sucht einen Käufer für meine Firma.“
„Wer sagt das?“
„Ich habe meine Leute überall sitzen ...“
„Also nichts als Gerüchte, die irgendwelche Wichtigtuer in die Welt setzen, um dir und deinem
Unternehmen zu schaden. Und überhaupt: Das ist doch kompletter Unfug. Er kann doch gar nichts
verkaufen. Es ist schließlich deine Firma!“
„Wenn ich tot bin, gehört sie größtenteils ihm.“
„M ama!“
Elfriede ließ sich nicht beirren.
„Ich habe außerdem gehört, dass er sich nach Grundstücken auf La Palma erkundigt. Grundstücke,
auf denen man Villen bauen kann.“
„Von wem?“
„Na ja, deine Tante kennt jemand ...
„M ama! Tante Elsa konnte Papa noch nie leiden. Sie hat ihm bis heute nicht verziehen, das er damals dich heiratete und nicht sie! Die erfindet das Blaue vom Himmel herunter, wenn sie Papa damit eins auswischen kann!“
***
Heinz hatte darauf bestanden, dass sie ihre Unterhaltung im Freien führten. Niemand sollte ihnen
zuhören können. So stiegen Thea und er durch die Altstadt und an der Stiftskirche vorbei den
Schlossberg hinauf, um von dort in Richtung Alter Rain weiter zu marschieren. Thea blieb stehen.
„Okay. Wir gehen noch einmal alles Schritt für Schritt durch“, sagte sie.
„In etwas mehr als drei Wochen kommen meine Frau und meine Tochter aus Thailand zurück.
Zwei Tage später, am Freitag, spielen M üllers wie immer auswärts Bridge, Herr Läpple verbringt
den Freitagabend seit Jahren mit seinem Vater, und Burkhardts sind dann schon im Urlaub.“
„Das heißt, dass keiner deiner Nachbarn etwas sehen oder hören wird.“
„Ich werde offiziell bei dir im Bett liegen. Wenn überhaupt jemand ein Alibi von mir haben will.
Zuerst werde ich mich zieren. Aber dann lasse ich mir doch mühsam aus der Nase ziehen, dass ich
den ganzen Abend lang mit dir ... beschäftigt war. Was du nach anfänglichem Leugnen unter Tränen zugeben wirst.“
„Deine Frau locken wir telefonisch aus dem Haus. Du erzählst ihr, dass dein Auto zwischen Altingen und Reusten mit einer Panne liegen geblieben ist.“
„Sie wird zwar nicht begeistert sein. Aber sie fährt los, um mich abzuholen.“
„Du bist selbstverständlich nicht an der angegebenen Stelle. Sie regt sich bestimmt maßlos auf.
Aber es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zähneknirschend nachhause zurückzufahren.“
„Während sie weg ist, schleichen wir beide ins Haus. Aber nicht durch die Vordertür. Wir hebeln
die Terrassentür auf. Dann holen wir den Schmuck meiner Frau von oben aus dem Schlafzimmer.“
„Und warten, bis sie zurückkommt.“
„Ich stelle mich in die M itte der Treppe ... und sobald sie weit genug von der Tür weg ist, ziehe ich
die Pistole aus der Tasche und drücke ab.“
“Wir verschwinden und lassen die Haustür offen.“
„Wie es jemand tun würde, der in panischer Angst das Haus verlässt, in dem er gerade einen M enschen erschossen hat.“
„Gegen vier oder fünf am nächsten M orgen kommst du zurück nachhause und findest deine Frau.
Natürlich rufst du sofort zutiefst erschüttert die Polizei an.“
„Und die sucht dann nach dem Einbrecher, der vom Schlafzimmer herunter kam, von der Dame
des Hauses überrascht wurde und die Nerven verlor.“
***
„Hast du schon was für Papa?“, fragte Verena.
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich jemandem, der möglicherweise darüber nachdenkt, wie
er mich am besten umbringen kann, auch noch etwas zum Geburtstag schenke?“
„Du machst dich lächerlich! Lässt dir von irgendwelchen angeblichen Informanten und von deiner
Schwester Flöhe ins Ohr setzen!“
„Und du? Weißt du schon, was du ihm schenkst?“
„Keine Ahnung. Aber ich habe ja noch ein paar Tage zum Überlegen.“
***
Heinz Rebmann strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als er das Geburtstagsgeschenk seiner Tochter
ausgepackte. Seine Frau dagegen war fassungslos.
„Das ist ja wohl das Allerletzte! Wie konntest du nur?“, zischte sie ihrer Tochter zu.
„Jetzt sei doch nicht so prüde!“, erwiderte Verena. „Erzähl mir nicht, dass euer Eheleben nach so
vielen Jahren nicht ein klein wenig ... Aufmunterung gebrauchen könnte.“
„Das ist noch lange kein Grund, halb Beate Uhse aufzukaufen!“, wetterte Elfriede.
Heinz konnte sich zwar kaum vorstellen, dass er die Geschenke seiner Tochter tatsächlich einmal
zusammen mit seiner Frau ausprobieren würde. Aber das eine oder andere der Spielsachen in Kombination mit einer gut aufgelegten Thea: Das gab schon Anlass zu den angenehmsten Fantasien. M it
Elfriede dagegen hielt sich sein Spaß am Sex schon immer in relativ engen Grenzen. Sie war überhaupt nicht experimentierfreudig. Ganz früher, ja, da war es gar nicht schlecht gewesen. Aber als
sie immer seltener miteinander ins Bett gingen und er deshalb bei gelegentlichen Kontakten zu
Prostituierten entdeckte, dass ihn - angemessen dosierter - Schmerz stark erregte, war es ganz aus.
Zuerst glaubte er, Elfriede überzeugen können. Als sie auf einer Geschäftsreise war, ließ er das
Schlafzimmer vorsorglich schon einmal gegen Schall isolieren. Die Nachbarn brauchten ja wirklich
nicht zu wissen, dass er Praktiken bevorzugte, bei denen gelegentlich Schmerzensschreie zu hören
waren. Aber Elfriede war stur geblieben. M it ihr konnte er seine Träume nicht verwirklichen. Und
ab da war Heinz darauf angewiesen, sich seine Partnerinnen endgültig außer Hauses zu suchen. Er
wurde regelmäßig Gast in Swinger-Etablissements, die, wenn man sich auskannte, durchaus auch in
Herrenberg zu finden waren. Dort lernte er schließlich Thea Schnell kennen. Und seit diesem Tag
war sein Sexualleben aufregender, als er sich das jemals erträumt hatte.
„Verena, du schaffst diesen M üll aus dem Haus! Au-gen-blick-lich!“
Heinz kannte diesen Tonfall. Und er kannte die Halsstarrigkeit seiner Tochter. Es war abzusehen,
dass eine ebenso lautstark wie erbittert geführte M utter-Tochter-Auseinandersetzung unausweichlich war. Er holte sich seine Jacke und überlegte, welche Ausrede er für das Verschwinden an seinem Geburtstag gebrauchen sollte. Aber dann entschied er, dass Ausreden jetzt, gut drei Wochen
vor Elfriedes Tod, eigentlich nicht mehr erforderlich waren, und verließ wortlos das Haus.
***
Auch wenn Verena die Befürchtungen ihrer M utter anfangs scheinbar sorglos abgetan hatte, war
sie nicht untätig geblieben. Sie engagierte einen Detektiv. Und die Ergebnisse, die der schon nach
wenigen Tagen lieferte, waren alles andere als beruhigend. Er schaute Heinz quasi über die Schulter, als der sich in Stuttgart illegal eine Schusswaffe besorgte. Er erfuhr bei einem M akler für Auslandsimmobilien, dass Heinz schon verbindlich für ein mehrere Hektar großes Anwesen auf La
Palma vorgemerkt war und bereits in Kontakt zu einem spanischen Architekten stand. Und der Detektiv brachte einen von Elfriedes geschäftlichen Konkurrenten dazu einzuräumen, dass er mit
Heinz schon ernsthaft über den Kauf von Elfriedes Firma verhandelt hatte.
Natürlich war das in allererster Linie furchtbar für Elfriede. Aber es war nicht nur die Sorge um
das Wohlergehen ihrer M utter. Auch Verena selbst konnte keinesfalls zulassen, dass der Plan ihres
Vaters Wirklichkeit würde. Wenn die Firma in fremde Hände geriete, wäre ihr berufliches Schicksal besiegelt. Nach ihrem wirtschaftswissenschaftlichen Studium schlug sie Angebote namhafter
Unternehmen im In- und Ausland aus. Stattdessen entschied sie sich dafür, nach Herrenberg zurückzukehren, in die Firma ihrer M utter einzutreten und zumindest in den ersten Jahren ihren Vater
als Geschäftsführer und Alphatier über sich zu akzeptieren. Es war schwer. Aber die Aussicht darauf, später einmal selbst als Inhaberin des Unternehmens nach Belieben schalten und walten zu
können, hielt sie bei der Stange. Wenn die Firma aber jetzt verkauft würde, wäre alles umsonst gewesen. Die neue Leitung würde ihr eigenes M anagement installieren und Verena könnte irgendwo
anders wieder ganz von vorne anfangen. Wenn sie überhaupt noch eine Chance dazu bekäme. In
ihrem Alter.
***
Elfriede kam ins Wohnzimmer und erkannte mit einem Blick, dass ihr Gatte gebannt ein Spiel der
Champions-League verfolgte.
„Heinz, was machst du gerade?“
„Du siehst doch, was ich mache.“
Heinz wunderte sich. Seit wann interessierte sich seine Frau dafür, was er tat?
„Ich finde, wir könnten die Zeit viel besser nutzen.“
Heinz glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. War da nicht ein Versuch dieses Tonfalls? Der, den er
- zumindest von seiner Frau - schon seit Jahren nicht mehr gehört hatte?
Elfriede setzte sich auf die Lehne des Fernsehsessels und begann Heinz über das volle, schwarze
Haar zu streicheln.
„Lass das! Ich verpasse sonst noch das entscheidende Tor.“
Elfriede gab nicht auf. Sie richtete es so ein, dass die Spitzen ihrer langen Haare mehrfach wie zufällig seinen rechten Arm streiften. Seine Aufmerksamkeit für das Spiel begann zu bröckeln.
„Es lief ja nicht so gut in letzter Zeit. Aber das ist noch lange kein Grund, nicht wenigstens ab und
zu ein wenig Spaß miteinander zu haben.“
Heinz begann sich zu fragen, ob es möglich sei, dass Seelen von fremden Körpern Besitz ergriffen.
„Was meinst du? Wir gehen hoch, und du zeigst mir, was man mit den Sachen, die du von Verena
geschenkt bekommen hast, zu zweit so alles anstellen kann?“
Heinz war sich jetzt sicher, dass es Seelenwanderung geben musste.
***
Verena stellte die schwere Reisetasche ihrer M utter vor die Schlafzimmertür. Dann trottete sie mit
kurzen Schritten im Flur auf und ab. Der vereinbarte Ruf ihrer M utter wollte und wollte nicht
kommen. Aber dann war es so weit. Ein lang gezogenes „Jeeeetzt!!“, drang durch die geschlossene
Tür.
Verena drückte die Klinke hinunter und ging vier Schritte auf das Ehebett ihrer Eltern zu. Was sie
sah, erfüllte sie mit aufrichtiger Genugtuung. Elfriede saß auf dem Bett. Heinz lag neben ihr auf
dem Rücken. Er hatte alle Viere von sich gestreckt. Erst auf den zweiten Blick war zu erkennen,
dass beide Fuß- und Handgelenke mittels solider Stahlhandschellen am Bettgestell fixiert waren.
„Tja, Heinz, jetzt ist Schluss mit lustig!“
Elfriede stand auf und begann, sich anzuziehen.
„Wir sind in drei Wochen zurück aus Thailand. Aber das wirst du ja leider nicht mehr erleben.“
Heinz glaubte einen Augenblick lang, dass alles nur ein Scherz sei. Aber dann sah er den Hass. In
den Augen seiner Frau. Und in denen seiner Tochter.
„Seid ihr wahnsinnig? Das könnt ihr nicht machen! Ihr könnt mich doch hier nicht verrecken lassen wie ... wie ...!“
Er brüllte, was seine Lungen hergaben.
Nach dem Tonfall zu urteilen, schien Elfriede mit ihrem M ann plaudern zu wollen: „Gib dir keine
M ühe. Du selbst hast dafür gesorgt, dass niemand hören kann, was in unserem Schlafzimmer passiert.“ Nach einer kleinen Pause fuhr Elfriede fort: „Verena und ich werden jetzt erst einmal drei
wunderschöne Wochen in Asien verbringen.“
„Wenn wir zurückkommen“, sagte Verena voraus, „suchen wir ein schönes Plätzchen für dich im
Garten. Willst du lieber unter dem Apfel- oder unter dem Birnbaum liegen?“
„Und dann werden wir zur Polizei gehen. Abteilung ‚Vermisstenanzeigen’ “, versprach Elfriede.
“Aber es wird sinnlos sein. Sie werden dich nicht finden. Niemand wird dich finden!“
Elfriede war inzwischen vollständig angezogen. Sie warf einen letzten Blick auf Heinz und wandte
sich im Hinausgehen ihrer Tochter zu.
„Wir dürfen nachher auf gar keinen Fall die Tickets vergessen!“
Die Leiche im S chulteich
„Bist du eigentlich noch zu retten?“
M artin Götze keuchte. Er war seinem Freund Sebastian Wolf aufgebracht bis zur Hintertür der Garage nachgerannt und stellte sich ihm in den Weg, damit Sebastian mit seinem Fahrrad nicht durchkam.
„Das darf ja wohl nicht wahr sein! In zehn M inuten ist es soweit. M itternacht. Und du willst die
Fliege machen?“
M artin und die anderen Kumpel vom Fußballverein hatten sich alle M ühe gegeben, eine Geburtstagsüberraschung für Sebastian zu organisieren. Sie verfassten ein kleines, lustiges Theaterstück, in
dem sie Sebastians schulische Leistungen ebenso auf die Schippe nahmen wie die Tatsache, dass er
bislang bei Frauen wenig Glück gehabt hatte. Und jetzt drohte die Premiere ihres Werkes zu scheitern, weil das Läuten der Wanduhr um M itternacht eine entscheidende Rolle im Stück spielte.
„Feiert ruhig ohne mich weiter. Spätestens in einer Stunde bin ich wieder da. Ich muss nur noch
kurz etwas erledigen.“
„Erledigen? Was zum Henker musst du jetzt erledigen?“
„Vor etwa zwanzig M inuten ist eine SM S angekommen. Von Valérie.“
Valérie M ouillerat war vor knapp einer Woche aus der französischen Partnerstadt Tarare nach
Herrenberg gekommen. Es dauerte keine fünf M inuten, bis Sebastians Herz in Flammen stand.
Seither ließ er keine M öglichkeit ungenutzt, dort zu sein, wo Valérie war. So hatte die gehasste Vokabelpaukerei im Leistungskurs Französisch doch noch ihr Gutes! Aber obwohl es Anzeichen dafür
zu geben schien, dass Valérie ihn ebenfalls gut leiden konnte, war es bisher noch nicht einmal zum
Händchenhalten gekommen.
„Aha, daher weht der Wind! M ademoiselle Valérie macht Piep, und wir sind nur noch Luft für
dich! Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Vergiss es! Bei der wirst du nicht landen. Dazu
spielst du in der falschen Liga!“
"Ach, hör doch auf! Du bist seit einem halben Jahr mit Steffi zusammen. Aber ich! M it M ädchen
ist bei mir schon ewig nichts mehr gelaufen.“
"Das ist kein Grund, abzuhauen und uns hier sitzen zu lassen."
Statt einer Antwort fingerte Sebastian sein Handy aus der Tasche, tippte darauf herum, bis Valéries SM S auf dem Bildschirm erschien, und hielt es M artin vor die Nase.
„Lies!“, forderte er ihn auf.
ich habe
j’ai peur!
zwölf uhr see von schule
V.
„Sie behauptet, dass sie Angst hat. Na und? Bei M ädchen kann das alles M ögliche heißen. Wahrscheinlich sitzt sie nur bei Steffi zuhause friedlich vor dem Fernseher und schaut sich einen Horrorfilm an.“
Sebastian, der sich auf keine weitere Diskussion einlassen wollte, schwang sich auf sein Fahrrad
und brauste davon. Die Strecke von Gültstein zum Längenholz war für ihn als Sportler kein Problem, so dass er nur eine M inute nach M itternacht am Schulteich des Schickhardt-Gymnasiums eintraf. Valérie schien noch nicht da zu sein. Sebastian setzte sich auf das M äuerchen am Seeufer,
packte einen Kaugummi aus, ging zwischen der Tür zum Schulgebäude und der Ufermauer hin und
her, setzte sich wieder für einige M inuten und nahm seine Wanderungen dann wieder auf. Als Valérie nach drei Wiederholungen dieses Ablaufs immer noch nicht erschienen war, wurde er langsam
ungeduldig. Seine Armbanduhr zeigte inzwischen fast halb eins. Sebastian inspizierte noch einmal
das ganze Gelände um den See. Von Valérie war keine Spur zu sehen. Er verbarg seine Enttäuschung hinter Zorn. „So eine blöde Kuh!“, schimpfte er vor sich hin, bestieg missmutig sein Fahrrad und radelte zurück nach Gültstein. Die Party war noch in vollem Gange. Das Geburtstagsgeschenk seiner Freunde wurde auch ohne Glockenschlag erfolgreich aufgeführt, und Sebastian vergaß zumindest vorübergehend seine Probleme mit Valérie.
***
Obwohl er, sah man von einem Glas Sekt ab, keinen Alkohol getrunken hatte, fühlte sich Sebastian nach dem Aufwachen am nächsten M orgen nicht besonders wohl. Er stand auf und tat, was er
immer tat, wenn sich Kopfschmerzen bemerkbar machten: Er streifte die Radlerhosen über und
strampelte los. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schlug er den Weg in Richtung Längenholz ein.
Als er auf der letzten Kuppe des geteerten Feldwegs angekommen war, traute er seinen Augen
kaum. Polizeiautos und Krankenwagen standen mit rotierendem Blaulicht dort, wo die Gymnasiasten normalerweise ihr Pausenbrot verspeisten. Sebastian erhöhte sein Tempo und erreichte so
schnell das rot-weiße Absperrband, vor dem trotz der relativ frühen Stunde bereits einige Schaulustige standen.
„Was ist denn da los?“, fragte Sebastian eine ältere Dame, die offensichtlich dabei gewesen war,
mit ihrem schwarzen Pudel Gassi zu gehen.
„Ich bin selbst gerade eben erst gekommen. Aber ein M ann sagte, sie haben jemand aus dem Teich
gefischt. Bestimmt einen von den Pennern, der in seinem Suff zu spät merkte, dass er ins Wasser
gefallen ist. Zum Ertrinken ist es wohl Gott sei Dank zu flach dort.“
„Nein“, widersprach eine junge Frau, die ihre Bekleidung als Joggerin auswies. „Das glaube ich
nicht. Was sollten in diesem Fall die Leute von der Spurensicherung hier? Ich hab’s genau gesehen.
Wie sie ausstiegen. Aus dem beigen Passat da drüben. Und ihre weißen Schutzanzüge überstreiften.
Nein, da ist was Schlimmeres passiert. Vielleicht ein M ord. Bestimmt sogar. Sonst würden die nie
so einen Aufwand treiben.“
Sebastian stellte sich auf die Zehenspitzen, aber er konnte trotzdem nicht erkennen, was am Ufer
des Sees vor sich ging. Ein grauenvoller Verdacht stieg in ihm auf. Er musste Gewissheit haben.
Deshalb duckte er sich unter dem Absperrband durch und erregte so prompt die Aufmerksamkeit
eines Polizeibeamten in Zivil, der sofort auf Sebastian zulief. „Verlassen Sie sofort den abgesperrten Bereich!“, befahl er.
„Ja, gleich. Ich muss nur wissen, wen Sie da im Wasser gefunden haben. War es eine Siebzehnjährige mit kurzen, blonden Haaren?“
Statt Sebastians Frage zu beantworten, forderte der Polizist ihn auf mitzukommen. Er musste in
einen VW-Bus steigen. Dort wurde er gefragt, wie er ausgerechnet auf eine Siebzehnjährige mit
kurzen, blonden Haaren komme. Sebastian, der an den Gesichtern der Beamten bereits erkennen
konnte, dass seine Befürchtung zutraf, war vollkommen schockiert. Erst als er sich wieder etwas
gefasst hatte, erzählte er von seiner gestrigen Verabredung mit Valérie und von ihrer SM S. Nachdem er auch alle weiteren Fragen der Polizei zu Valérie so weit wie möglich beantwortet hatte, bekam er die Erlaubnis, den Fundort der Leiche zu verlassen. Er taumelte zu seinem Fahrrad zurück,
stieg auf, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, und radelte los. Tausend Gedanken schossen
ihm durch den Kopf. Er steigerte sein Tempo mehr und mehr, weil er merkte, dass es ihm gut tat,
sich körperlich zu verausgaben.
***
Als Sebastian fast vier Stunden später erschöpft, aber wenigstens etwas ruhiger wieder zuhause
ankam, empfing ihn seine M utter schon unter der Haustür.
„Du sollst unbedingt sofort den M artin anrufen! Er sagte, es sei ganz dringend! So aufgeregt hab‘
ich den überhaupt noch nie erlebt.“
Sebastian verschwand sofort in seinem Zimmer, legte sich verschwitzt, wie er war, aufs Bett und
berührte mit dem Finger M artins Bild, das unter 'Fotokontakte' auf seinem Handy gespeichert war.
Schon nach dem ersten Klingeln hörte Sebastian M artins Stimme.
"Basti, bist du's?"
"Klar bin ich's.“
„Valérie ist ermordet worden. Die Bullen waren bei Steffi. Und haben sie ausgequetscht wie eine
Zitrone“, sprudelte es aus M artin heraus.
„Ich … ich weiß", stammelte Sebastian.
***
Nur etwa dreißig M inuten später saßen Sebastian und M artin in Steffi Heinemanns Zimmer bei
Tee und Kuchen, den ihre M utter gebacken hatte.
„Das war alles. M ehr konnte ich denen auch nicht sagen“, beendete Steffi die Wiedergabe ihrer
Aussage gegenüber den beiden Beamtinnen, die sie ausgiebig befragt hatten.
"Wie sind die eigentlich so schnell auf dich gekommen, Steffi?", fragte M artin.
„Weil ich ihnen gesagt habe, bei wem Valérie zurzeit wohnt. Gewohnt hat“, korrigierte Sebastian
sich selbst.
„Und was ...“
M artin konnte seine Frage nicht zu Ende bringen, weil es an der Tür klopfte und Steffis Vater das
Zimmer betrat, ohne ein „Herein“ seiner Tochter abzuwarten. Thomas Heinemann war Informatiker. Für Förmlichkeiten hatte er nicht das Geringste übrig. Dass er überhaupt klopfte, bevor er das
Zimmer seiner Tochter betrat, war das Ergebnis eines jahrelangen Kampfes zwischen Steffi und
ihm.
Er war einer derjenigen, die sich über Jahre stark für die Partnerschaft zwischen Tarare und Herrenberg engagiert hatten. Und er war es auch gewesen, der eine zunächst nur wenig begeisterte Steffi ständig ermunterte, am Schüleraustauschprogramm teilzunehmen. So wohnte Steffi schließlich
im vorigen Jahr drei Wochen lang in Valéries Familie. Und obwohl die beiden M ädchen nie so richtig warm miteinander wurden, stand außer Frage, dass Valérie während ihres Gegenbesuchs in Steffis Familie wohnen würde.
„Lasst euch von mir nicht stören“, forderte Steffis Vater die Jugendlichen auf. Deine M utter hat
mir gesagt, was passiert ist.“
Steffi verdrehte die Augen. Wenn sie etwas an ihrem Vater nicht leiden konnte, dann war es seine
unsägliche Neugier.
"Basti, du bist gestern kurz vor zwölf losgefahren. Wann kam die SM S genau?“, wollte M artin
wissen.
Sebastian kontrollierte seine M eldungen.
„Dreiundzwanzig Uhr achtunddreißig.“
"Dann gibt es zwei M öglichkeiten“, stellte sein Freund fest. „Entweder warf der Täter Valérie erst
in den Teich, nachdem du wieder weg warst. Oder ...“ M artin verstummte.
"Oder sie lag schon tot im Wasser, während du auf sie gewartet hast", vollendete Steffi M artins
Satz. Ein betretenes Schweigen folgte. Erst nach mehreren M inuten, in denen die drei ihren jeweiligen Gedanken nachhingen, platzte es aus Steffi heraus: "Sie hat doch niemandem etwas getan!"
"Das einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass sie zuerst vergewaltigt und dann zum Schweigen gebracht worden ist. Sonst hat doch wirklich niemand einen Grund, Valérie zu töten."
Sebastian stimmte M artin nickend zu. Dann wandte er sich an Steffi. "Oder kannst du dir irgendein
halbwegs plausibles M otiv vorstellen? Ich meine, hat sie zu dir irgendetwas gesagt?"
Steffi überlegte lange. "Nicht, dass ich wüsste", sagte sie dann. Wieder versanken die drei in
dumpfem Brüten.
„Ich kann mir das Hirn zermartern, solange ich will“, brach Sebastian die Stille, während der er
über Valéries SM S nachgedacht hatte. „Ich hab' keinen Plan, warum sie Angst hatte. Oder wovor.“
„Vielleicht sollten wir uns nicht fragen wovor, sondern vor wem“, schlug Steffi vor.
„Und? Hast du irgendeine Idee?“, fragte M artin. Steffi zuckte nur mit den Schultern. Wieder
schwiegen alle drei, bis Sebastian seinen Freund fragte: "Wie hast du das eigentlich gestern gemeint?"
"Was?"
"Ich würde in der falschen Liga spielen."
"Naja, ich könnte mir ... vielleicht ... vorstellen, dass Martin den Schneider gemeint hat.“
Sebastian blickte Steffi verständnislos an. "Wie? Den Schneider?", fragte er dann. "Was soll das
heißen?"
"Der Schneider soll sich an Valérie rangemacht haben.“
Steffi war anzusehen, dass sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlte. „Beim Schulfest. Hat mir zumindest Nico erzählt. Er hat die beiden gesehen. Beim Tanzen. Ziemlich eng umschlungen.“
„Und? Glaubst du ihm das?“, wollte Sebastian sofort wissen.
„Eher nicht“, antwortete Steffi. „Valérie hat einen Freund. In Tarare. Ich habe sie mit ihm gesehen! Und außerdem: Der Nico hört doch ständig das Gras wachsen, völlig egal, ob etwas dran ist
oder nicht.“
Eberhard Schneider war Lateinlehrer am Schickhardt-Gymnasium. Obwohl er von modernen Erziehungsmethoden nichts hielt, sondern mit schulbekannter Strenge darauf achtete, dass sein Unterricht von Werten wie Disziplin und Leistungsbereitschaft bestimmt war, stand er in der Beliebtheitsskala der meisten Schüler ganz weit oben, weil er seinen Kurs konsequent verfolgte und dabei
immer peinlich genau darauf achtete, dass sich alle Schüler gerecht behandelt fühlten. Dass er
gleichzeitig der Vorsitzende des CDU-Ortsverbandes Herrenberg war, störte zwar manche Schüler,
die sich für 'links' hielten. Aber auf den Unterricht übten seine politischen Grundeinstellungen keinen belegbaren Einfluss aus.
"Nie und nimmer. Das würde der Schneider auf keinen Fall riskieren“, stimmte Sebastian Steffi
zu, und auch M artin nickte.
"M eine Güte!", wandte er sich unmittelbar danach an seine Freundin. "Du warst doch annähernd
Tag und Nacht mit ihr zusammen. Dir muss doch irgendetwas aufgefallen sein! Hat sie was gesagt?
M ensch, überleg' doch!"
Steffi wollte zu einer Erwiderung ansetzen, überlegte es sich dann aber anders. Sie stand auf und
ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich erhellten sich ihre Gesichtszüge.
"Da war tatsächlich was. Vorgestern. Sie bekam einen Anruf. Aus Frankreich. Und hinterher war
sie ganz komisch. Wir hatten rumgealbert. Vor dem Anruf. Und dann war sie auf einmal ... irgendwie überhaupt nicht mehr gut drauf.“
"Hast du eine Ahnung, mit wem sie telefonierte?“, bohrte M artin ungeduldig weiter.
"Vielleicht mit einer ihrer zahlreichen Cousinen. Am Anfang sagte sie 'Salut Françoise'. Und ich
glaube, sie erwähnte einmal, dass sie eine Cousine hat, die so heißt.“
M artin stieß Sebastian sanft in die Rippen. "Du hast doch in letzter Zeit ständig französisch parliert. Ruf' diese Françoise an! Vielleicht kann die uns weiterhelfen.“
"Hast du vielleicht ihre Nummer gerade zur Hand?", wehrte sich Sebastian mit deutlich ironischem Unterton. Steffi verdrehte die Augen. "Stell dich doch nicht so an! Zuerst rufst du natürlich
bei Valéries M utter an. Deren Nummer habe ich. Die wird dir dann schon sagen, wie du Françoise
erreichen kannst.“
Sebastian gab klein bei. "In Ordnung. Aber das mache ich von zuhause aus. Vom Festnetz. Das
kommt deutlich billiger."
***
Der Aufmacher im Gäuboten war nicht zu übersehen. Auf Seite eins des Lokalteils prangte neben
der Überschrift ‘Leiche im Schulteich gefunden' ein Bild, das den Pausenhof des SchickhardtGymnasiums zeigte. Der Artikel selbst war von Rat- und Fassungslosigkeit gekennzeichnet. Der
Redakteur berichtete, dass die Polizei bislang völlig im Dunkeln tappe. Das Einzige, was man bisher mit Sicherheit sagen könne, sei, dass der M ord in der Zeit zwischen dreiundzwanzig Uhr
achtunddreißig und sechs morgens verübt worden sein musste. Darüber hinaus war dem Artikel nur
noch zu entnehmen, wer die Tote war, und warum sie sich in Herrenberg aufgehalten hatte.
Auf dem Pausenhof war der Artikel Thema Nummer eins. Die Schüler standen in kleinen Gruppen
zusammen und diskutierten das Gelesene. Auch Steffi und Sebastian standen beieinander.
"Und? Hast du etwas rausgekriegt?", erkundigte sich Steffi.
"Jede M enge. Ich hätte nicht gedacht, dass das so gut funktioniert."
Steffi wurde ungeduldig. Sie trommelte demonstrativ mit den Fingern ihrer rechten Hand auf ihrem linken Handrücken. Wenn sie eines nicht leiden konnte, dann war es umständliches Drumherumgerede.
"Ja doch! Ich erzähl' ja schon alles. Also: Valérie hat tatsächlich mit ihrer Cousine telefoniert und
so erfahren, dass eine Nachbarin von Valérie bei einem Autounfall ums Leben kam. Das war bestimmt der Grund dafür, dass Valérie hinterher so schlecht drauf war. Sie mochte nämlich die
Nachbarin ziemlich gern."
"Und was hat das alles damit zu tun, dass Valérie hier in Herrenberg ermordet worden ist?", fragte
Steffi.
"Ich habe nicht behauptet, dass es irgendetwas damit zu tun hat", blaffte Sebastian zurück.
"Hat Valéries Cousine sonst noch was gesagt, das uns weiterhelfen könnte?" Steffi bemühte sich,
eine M issstimmung erst gar nicht aufkommen zu lassen.
"Nein. Ich glaube, sie hat mich nicht so besonders gut verstanden. Ich war dann auch ganz froh, als
das Telefonat zu Ende war."
Der Schulgong, der das Ende der Pause ankündigte, und ein Klassenkamerad von Sebastian, der
ihn bat, die M athematikhausaufgaben von ihm abschreiben zu dürfen, beendeten das Gespräch, bevor Steffi weitere Fragen an Sebastian stellen konnte.
***
Am späteren Nachmittag holte Sebastian M artin von dessen Arbeitsplatz beim Autohaus Kunzmann ab. Er konnte es kaum erwarten, seinem Freund zu erzählen, was er über seinen Lateinlehrer
erfahren hatte.
Eigentlich war es wirklich nicht Sebastians Art, Gespräche anderer Leute zu belauschen. Aber als
er nach der vierten Stunde auf dem Weg zur Toilette an der Besenkammer vorbei kam, hörte er
schon von weitem den dröhnenden Bass von Herrn Rau, dem allseits beliebten Hausmeister der
Schule. Sebastian wäre ohne Zögern weitergegangen, wenn nicht Sekunden später Frau Novak, die
Rektoratssekretärin, gesagt hätte: “Der Schneider? Nein. Doch nicht der Schneider! Andererseits
...“
Sebastian blieb wie angewurzelt stehen und hörte der Unterhaltung weiter zu. So erfuhr er, dass
sein Lateinlehrer bereits vor zwei Jahren eine Affäre mit einer Referendarin hatte. Zwar gelang es
ihm, das Verhältnis vor den meisten seiner Kollegen und den Schülern geheim zu halten, aber sowohl seine Ehefrau als auch seine Parteifreunde erfuhren auf geheimnisvollen Wegen von seinem
Seitensprung. Ein Skandal, dessen Auswirkungen in einer Kleinstadt wie Herrenberg nicht zu unterschätzen waren, konnte nur vermieden werden, indem der 'Sünder' hoch und heilig versprach,
dass so etwas 'nie, nie, nie' wieder vorkommen werde. Ob Herr Schneider rückfällig geworden war
und etwas mit der französischen Austauschschülerin angefangen hatte, konnte Frau Novak allerdings nicht sagen. Dafür berichtete sie ausführlich darüber, dass Herr Schneider wohl nicht mehr
lange am Schickhardt-Gymnasium bleiben werde. Er wechsle sehr wahrscheinlich zu Beginn des
neuen Schuljahres zum Kultusministerium, um dort den Posten eines Abteilungsleiters einzunehmen. Dabei war die wesentlich bessere Bezahlung der kleinere Vorteil. Schwerer wog, dass die
Stelle allgemein als Sprungbrett für die weitere Karriere innerhalb des M inisteriums angesehen
wurde.
M artin verfolgte Sebastians Bericht, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Dann stellte er lakonisch fest, dass der Lateinlehrer durchaus ein handfestes M otiv für den Mord an Valérie gehabt
haben könnte, wenn Nico doch recht gehabt haben sollte. Und da er bekanntermaßen eine Klatsch-
base war, konnte man ohne Weiteres davon auszugehen, dass Steffi nicht die Einzige war, mit der
er geredet hatte. Früher oder später wäre es von einem hinter vorgehaltener Hand verbreiteten Gerücht zum Stadtgespräch geworden. Und wenn Valérie dann alles bestätigt hätte und allgemein bekannt geworden wäre, dass Schneider ein Verhältnis mit einer M inderjährigen angefangen hatte,
wäre Schneiders Versetzung ins M inisterium geplatzt und damit seine weitere berufliche Entwicklung zu Ende gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Sebastian stimmte den Überlegungen seines Freundes zu. Sie waren inzwischen vor dem Eiscafé
in der Bronngasse angekommen, in dem sich die Fußballer regelmäßig trafen. Sie traten ein und
wurden mit großem Hallo begrüßt. Kaum hatten sie sich hingesetzt, als der M annschaftskapitän
M artin anpflaumte: "Schön, den Herrn Götze auch mal wieder zu sehen!“
M artin reagierte nicht auf die Stichelei. Deshalb machte der Kapitän weiter. „Beim Hallenturnier
in Ludwigsburg vor zwei Wochen hast du uns ja ganz schön hängen lassen."
"Ich konnte nicht kommen. Ich musste arbeiten", antwortete M artin knapp. Er hatte keine Lust,
dieses Gespräch fortzusetzen. Aber sein Gegenüber ließ nicht locker.
"Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du am Samstagmorgen um halb acht arbeiten musst. "
"Normalerweise nicht. Klar. Aber an dem Tag schon. M ein Chef hat mich um kurz nach fünf aus
dem Bett telefoniert. Was sollte ich machen?“
„Und was musstest du machen? M orgens um fünf?“
Es war deutlich zu hören, dass der Kapitän M artin nicht glaubte.
„Die linke Frontpartie von einem A 8 austauschen. Die war ziemlich geschrottet.“
„Und das musste unbedingt am Samstag sein? Um fünf?“
„Was weiß ich! Frag' das meinen Chef! Du nervst!“
„Konnte der das nicht selber machen?“ Der Kapitän wollte keine Ruhe geben.
„Da musst du zu zweit sein. Eine gesamte Frontpartie, das schafft einer nicht alleine. Und jetzt lass
mich endlich in Frieden!“
„Ja, hört auf, ihr beiden!“, forderte Sebastian die Streithähne auf.
„Was sagst du denn zu der Leiche im Schulteich? Die hat doch bei Steffi gewohnt, oder?“, versuchte der Torwart, auf ein anderes Thema überzuleiten. M artin überlegte, ob er den anderen davon
erzählen sollte, was er gerade von Sebastian erfahren hatte. Aber er entschied sich dagegen, weil er
das Gefühl hatte, dass das etwas war, das nur Sebastian, Steffi und ihn etwas anging. Deshalb beteiligte er sich auch nicht an den Spekulationen der anderen, wer Valérie warum umgebracht haben
könnte. Er trank seine Cola aus und machte sich früher, als er eigentlich vorgehabt hatte, auf den
Heimweg.
***
"Das mit dem Schneider, das könnt ihr total vergessen, Jungs!"
Sebastian und M artin waren von Steffis Empfang regelrecht überrumpelt worden, sodass sie ihre
brandheißen Neuigkeiten gar nicht an die Frau bringen konnten. Das Einzige, was Sebastian
schließlich herausbrachte, war ein verblüfftes „Wieso das denn?“
"Ich weiß …" Steffi wand sich. "Eigentlich tut man so etwas nicht. Aber ich konnte einfach nicht
widerstehen. Ich habe in Valéries Tagebuch geblättert."
„Und?“, platzte es aus M artin und Sebastian fast zeitgleich heraus.
"Sie hat über die Party geschrieben, auf der Nico sie wahrscheinlich gesehen hat. Sie selbst war es,
die ausprobieren wollte, ob sie den Schneider beim Tanzen rumkriegen kann. Als die M usik zu Ende war, machte er ihr mit wenigen Worten mehr als deutlich klar, dass sie ihn gefälligst in Ruhe lassen soll."
"M ist! Damit ist unser schönes M otiv beim Teufel", stöhnte Sebastian.
"Das heißt, wir sind genauso weit wie am Anfang", stimmte M artin seinen Freund verärgert zu.
"Nicht ganz", widersprach Steffi. "In dem Tagebuch steht auch, dass sie sich nach meiner Abreise
aus Frankreich von ihrem Freund getrennt hat."
„So was soll vorkommen. Aber was hat das damit zu tun, dass
sie ...“
Steffi ließ M artin nicht ausreden. "Der hat das nicht weggesteckt. Jeden Tag rief er Valérie an. Als
sie nicht mehr ran ging, lauerte er ihr vor der Schule auf. Sie schreibt, sie fürchtete sich schließlich
sogar richtig davor, dass er ihr etwas antun könnte.“
M artin sah Sebastian fragend an. "Sie hat dir doch geschrieben, dass sie Angst hat.“
"Du meinst ...?“
"... dass sie damit ihren Ex gemeint haben könnte", beendete Steffi M artins Satz.
"Kann ich mir nicht vorstellen. Der ist doch weit weg in Frankreich. "
"Und wenn er Valérie nachgereist ist?“, fragte Steffi. „Nur mal so als Hypothese: Er kommt nach
Herrenberg. Sie treffen sich am Schulteich. In meinem Zimmer geht es ja nicht. M ein Vater. Der ist
total altmodisch bei solchen Sachen. Also: Die beiden treffen sich. Es kommt zum Streit. Ihr Freund
verliert die Beherrschung und schlägt zu. Valérie stürzt unglücklich, schlägt mit dem Kopf auf einen Stein Tot. Und ihr Ex verliert die Nerven. Wirft sie in den See.“
Das Schweigen der beiden Jungs zeigte, dass sie angestrengt über Steffis Theorie nachdachten.
Schließlich meinte Sebastian: "Da könnte was dran sein. Ich rufe noch einmal bei der Cousine an.
Vielleicht kann sie mir sagen, ob Valéries Ex in den letzten Tagen in Tarare war oder nicht."
"Hier!" Steffi gab Sebastian Ihr Handy. "Ich habe eine Flatrate, die auch fürs Ausland gilt."
Sebastian wählte die Nummer, die Steffi inzwischen eingespeichert hatte. Nach wenigen Sätzen
beendete er das Gespräch. "Sie ruft bei einer Arbeitskollegin von ihm an und meldet sich nachher
wieder bei mir."
Als Steffis Telefon nach fast einer Stunde endlich klingelte, war Sebastian so aufgeregt, dass er es
beinahe fallen ließ. Da er dann lediglich ‚oui‘ und ‚non‘ sagte, konnten die beiden anderen dem Gesprächsverlauf nicht folgen. Deshalb blickten sie Sebastian herausfordernd an, als er die Verbindung unterbrochen hatte.
„Volltreffer! Der Typ war die ganze letzte Woche nicht bei der Arbeit. Und telefonisch erreichte
seine Kollegin ihn auch nicht. Außerdem überraschte sie ihn an seinem letzten Tag bei der Arbeit in
der M ittagspause, als er sich gerade einen Routenplaner auf den Bildschirm geholt hatte.“
„Du bist die Einzige, die ihn schon einmal gesehen hat, als du in Tarare warst“, wandte sich M artin an Steffi. "Wir können nicht viel mehr tun, als dass du die Augen offen hältst. Vielleicht ist er ja
noch in der Stadt."
"Und wenn? Was soll ich dann machen? Soll ich mich vor ihn hinstellen und fragen, ob er vielleicht seine Ex-Freundin ermordet hat", fragte Steffi schnippisch.
"Nein. Natürlich nicht. Aber wenn er wirklich hier ist, können wir ihn ja der Bullerei auf dem Silbertablett servieren", schlug M artin vor.
***
Am nächsten Tag konnte M artin das Arbeitsende kaum erwarten. Kurz nach vier war ein A 8 zur
Inspektion gebracht worden, den er an den teuren Ledersitzen sofort wiedererkannte. Es war der
Wagen, wegen dessen er neulich samstags zu nachtschlafender Zeit aus den Federn gerissen worden
war. M artin wollte schon mit den Routinetätigkeiten beginnen, als ihn ein Blick auf den Auftragszettel elektrisierte. Er arbeitete zwar bis zum Feierabend mechanisch weiter, war aber mit seinen
Gedanken nicht mehr bei der Sache. Einmal legte er sogar den Schraubenschlüssel aus der Hand
und ging nach hinten, wo die Abfallteile bis zur Abholung durch den Schrotthändler aufbewahrt
wurden. Die verbeulte Frontpartie des
A 8 war verschwunden, obwohl der Schrotthändler in der Zwischenzeit nicht vorbeigekommen
war. M artin ging zurück in die Werkstatt und arbeitete weiter, bis er um 17 Uhr 30 endlich zum Duschen gehen konnte. Noch auf dem Weg zu den Kabinen im Keller des Autohauses rief er Sebastian
und Steffi an, um sich mit ihnen zu verabreden. Es spukte eine Idee in seinem Kopf herum, und er
wollte wissen, was die beiden anderen davon hielten.
***
„M al angenommen: Du baust einen Unfall, bei dem das Auto ziemlich demoliert wird, und von
dem niemand etwas wissen darf. Zum Beispiel, weil du hinterher einfach abgehauen bist. Was würdest du tun?“
"Bitte?"
Weder Sebastian noch Steffi konnten etwas mit M artins Frage anfangen.
„Nur mal so angenommen: Was würdest du tun?“, wiederholte M artin. Auch wenn Sebastian keine Ahnung hatte, worauf M artin hinaus wollte, sagte er: "Ich würde auf jeden Fall zusehen, dass ich
die Karre so schnell wie möglich repariert bekomme.“
"Zum Beispiel am Samstagmorgen um fünf. Na, fällt der Groschen?"
„Ich verstehe nicht ein einziges Wort!“ Steffi war ratlos. M artin erzählte ihr von seinem frühsamstäglichen Arbeitseinsatz.
„Na schön“, gab sie zu. „Du hast an dem Tag in aller Herrgottsfrühe das Auto eines Fahrers repariert, der möglicherweise - ich betone möglicherweise - Unfallflucht begangen hat. So what?“
„Wie heißt euer Lateinlehrer eigentlich mit Vornamen?“, wollte M artin statt einer Erklärung wissen.
„Sonst hast du keine Sorgen, oder?“ Steffi begann langsam, ärgerlich zu werden. Sebastian versuchte, die zunehmende Schärfe aus der Unterhaltung zu nehmen. „Emmanuel. Warum?“
„Weil das Auto, an dem ich an dem Samstag herumgeschraubt habe, niemand anderem als einem
Herrn Emmanuel Schneider gehört!“
Es dauerte einige Sekunden, bis Steffi und Sebastian diese Neuigkeit verdaut hatten.
„Das könnte passen. Sie sind Parteifreunde. Dein Chef und der Schneider, glaube ich. Da konnte
er davon ausgehen, dass nichts an die Öffentlichkeit gelangt“, murmelte Sebastian vor sich hin.
„Na ja“, setzte M artin hinzu, “und da ist mir plötzlich durch den Kopf geschossen, ich meine, was
wäre, wenn ...“ Er brach ab.
„Was wäre, wenn was?“
M artin ging nicht auf Steffis Frage ein. Stattdessen blickte er Sebastian an. „Tu mir einen Gefallen
und ruf diese Françoise noch mal an!“
Sebastian verdrehte die Augen.
„Nur noch einmal. Frag sie, was sie Valérie über den Unfall mit der Nachbarin erzählt hat. So genau wie möglich. Ich will alles wissen, was Valérie wusste!“
Auch wenn Sebastian den Sinn dieses Auftrags beim besten Willen nicht erkennen konnte, brachte
ihn der sehr ernsthafte Gesichtsausdruck M artins dazu, Steffis Handy erneut zu benutzen.
„Also“, begann er, als er das Telefonat beendet hatte, „Françoise hat mir alles weitergegeben, was
in der Zeitung über die Sache zu lesen war. Die französische Polizei fand einen Zeugen, der aussagte, dass die Nachbarin von einer großen, dunklen Limousine angefahren wurde. Grau, blau oder
schwarz. Und der Zeuge konnte sogar Teile der Nummerntafel erkennen. Er sagt, dass es keine
französische war und, dass sie vielleicht mit BE oder BF anfing.“
„Oder möglicherweise auch mit BB. Wie Böblingen. Wow!“, stieß Steffi aus, der die Zusammenhänge langsam dämmerten. „Dunkelblauer A 8 mit Böblinger Nummer. Dann war Schneider möglicherweise der Fahrer!“
„Valérie könnte zu demselben Schluss gekommen sein. Und dass sie Schneider gesehen hat, als er
sein Auto auf dem Schulparkplatz abstellte, ist ohne weiteres möglich“, ergänzte Sebastian. M artin
überlegte laut. „Wenn sie ihn dann, was nahe liegt, direkt auf den Unfall in Frankreich ansprach,
war ihm klar, dass er eine M itwisserin hatte.“
„Die ihr Wissen sehr wahrscheinlich nicht für sich behalten hätte! Und das musste er um jeden
Preis vermeiden.“ Steffi überlegte nur kurz. „Leute, ich glaube es ist höchste Zeit, dass wir mal bei
den grünen Jungs in der Alzentalstraße 1 vorbeischauen!“
***
Zunächst hatte ein älterer Polizist, an den sie vom Pförtner verwiesen worden waren, wenig Interesse an ihrer Geschichte gezeigt. Er machte keinen Hehl daraus, wie wenig er von den Theorien
hielt, die von selbst ernannten Hobbykriminalisten stammten. Aber dann war es den Dreien durch
hartnäckiges Wiederholen ihres Anliegens doch gelungen, telefonisch mit dem Leiter der Abteilung
für Tötungsdelikte verbunden zu werden. Der fast sechzigjährige Kommissar Eberhard Kienzle hörte zu, ohne zu unterbrechen und bedankte sich bei den Jugendlichen. Er kündigte an, ihrem Verdacht nachzugehen und Herrn Schneider ordentlich auf den Zahn zu fühlen.
M it dem befriedigenden Gefühl, alles Erforderliche getan zu haben, verließen Steffi, Sebastian und
M artin das Gebäude.
Die beiden Jungs mussten sich sputen, wenn sie wenigstens noch zum geselligen Teil kommen
wollten, der sich an jedes Fußballtraining anschloss. Steffi entschied sich, über Umwege von Herrenberg nach Gültstein zu spazieren. Die frische Luft würde ihr guttun und außerdem hatte sie so
die M öglichkeit, die turbulenten Ereignisse der letzten Tage Revue passieren zu lassen. Als sie nach
fast zwei Stunden in die Gültsteiner Cranachstraße einbog, wunderte sie sich darüber, dass vor dem
Haus ihrer Eltern nicht nur ein beigefarbener VW Passat, sondern auch ein Streifenwagen parkte.
Noch mehr überraschte sie allerdings, dass wenige Augenblicke später zwei uniformierte Polizeibeamte aus der Haustür traten, die Steffis Vater in ihre M itte genommen hatten und zum Streifenwagen führten. Als er seine Tochter bemerkte, blieb Thomas Heinemann kurz stehen und sah ihr in die
Augen. Es schien, als ob er etwas zu ihr sagen wollte. Aber dann wandte er sich abrupt um und beeilte sich, aus ihrem Blickfeld zu gelangen. Nur Sekunden später kam Kommissar Kienzle ebenfalls
aus dem Haus, nickte Steffi kurz zu, stieg in den Passat und fuhr davon.
"Was um alles in der Welt ist hier los?", fragte Steffi ihre M utter, die in der Diele stand.
"Sie haben deinen Vater verhaftet. Wegen M ordes an Valérie
M ouillerat.“
„Bitte?!“
„Dein Lateinlehrer lieh ihm sein Auto aus. Damit dein Vater zu seinem Flittchen in Tarare fahren
konnte, ohne dass ich es merke! Und dieser Idiot fährt in Frankreich auch noch eine Frau über den
Haufen!“
Steffi brachte keinen Ton über ihre Lippen. Sie starrte ihre M utter an, die sich eine Zigarette anzündete, tief inhalierte und den Rauch hastig wieder ausstieß.
"Immerhin war er clever genug, den Wagen sofort nach seiner Rückkehr bei der Werkstatt reparieren zu lassen, bei der er zahlungskräftiger Stammkunde ist. Dann kam er winselnd zu mir gekrochen und beichtete mir alles. Ich riet ihm, sich zu stellen. Aber er wollte nicht. Seine Arbeitsstelle.
Seine Familie. Alles wäre den Bach runter gegangen."
Steffi konnte nicht fassen, was sie hörte. M echanisch griff sie ebenfalls in die Zigarettenschachtel
ihrer M utter, obwohl sie eigentlich nicht rauchte.
"In den darauf folgenden Tagen stritten wir häufig deswegen. Eine dieser Auseinandersetzungen die am Samstagabend - bekam Valérie mit. Wahrscheinlich lief sie nur zufällig am Wohnzimmer
vorbei und blieb stehen, als sie uns schreien hörte. Laut genug waren wir nun weiß Gott! Dummerweise hörte dein Vater, wie Valérie die Treppe hinunterging. Er riss die Wohnzimmertür auf und
hetzte mit feuerrotem Kopf hinter ihr her, schüttelte sie und schrie sie an. Ob sie gelauscht, was sie
gehört habe. Sie stammelte nur rum und schließlich ließ er sie los. Sie lief in die Diele und tippte
auf ihrem Handy herum.“
Steffis M utter war anzusehen, wie sehr das Sprechen sie anstrengte. Sie gönnte sich eine Pause,
um dann, mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter sprechend, fortzufahren.
"Kurz vor zwölf hörten wir, dass Valérie das Haus verließ und dein Fahrrad aus der Garage holte.
Dein Vater folgte ihr mit seinem. Irgendwo zwischen Gültstein und Herrenberg holte er sie ein, erwürgte er sie und wollte sie in den See werfen. Aber das ging nicht. Zumindest nicht sofort. Weil
dieser Sebastian dort auf Valérie wartete. Erst nachdem der Junge endlich nachhause gefahren war,
konnte dein Vater Valérie ins Wasser werfen. Auf dem Rückweg schnappte er sich noch dein Rad
und kam so gegen halb zwei völlig fertig bei mir an."
"Und Papa hat das alles zugegeben, als der Typ von der Polizei kam?", hauchte Steffi nach mehreren M inuten der Stille.
"Natürlich nicht! Er stritt alles ab. Aber ich hielt es einfach nicht mehr aus! Ich konnte doch nicht
weiter mit einem M örder zusammenwohnen und so tun, als ob nichts gewesen wäre. Zwanzig Jahre
lang habe ich bei seinen krummen Geschäften und seinen Parteiintrigen zugeschaut. Und geschwiegen. Aber M ord? Das war zu viel! Da ist dann einfach ein Knoten in mir geplatzt! Ich habe dem
Kommissar alles gesagt.“
Steffi sah, dass ihre M utter mit den Tränen kämpfte. Schließlich gab die Frau, die mit einem M örder verheiratet war, auf und begann hemmungslos zu weinen.
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