Shake your Life
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Shake your Life
Ralph Goldschmidt Shake your Life Der richtige Mix aus Karriere, Liebe, Lebensart GABAL Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. isbn 978-3-86936-107-9 Lektorat Ute Flockenhaus, GABAL Verlag Umschlaggestaltung, Satz und Layout Martin Zech Design, Bremen, www.martinzech.de Umschlagfoto Birgit Bernt, Berlin, www.media-b.de Kleine Umschlagfotos Steve Allen, Brand X Pictures/getty images gbh, www.morguefile.com Cornerstone, www.pixelio.de Druck und Bindung Salzland Druck, Staßfurt © 2010 GABAL Verlag GmbH, Offenbach Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. 2 Piña Colada Gesundheit Erfolg Familie 42 6 Screwdriver Kultur Drogen Altersvorsorge www.gabal-verlag.de 146 Shake your Life Vorwort Hi! Und bei dir? 1 Double Vision 6 8 3 Absolutely Fabulous 4 Beam me up, Scotty 5 Painkiller 66 94 120 7 Forbidden Fruits Nachwort Mach’s gut! 180 212 Leistung Lifestyle Sex Freundschaft Träume Ziele Inhaltsverzeichnis Wohnen Sport Bildung Geld Beziehung Sinn Status Luxus Macht Vorwort Hi! Und bei dir? 6 Shake your Life Die Handschuhe fühlen sich innen rau an. Ich packe die Schere, trete zur nächsten Rebe und schneide sie runter. Mein Atem bildet eine weiße Wolke. Eine gesunde, kräftige Rebe lasse ich stehen. Ihr traue ich zu, viel zu tragen. Ich lasse nicht zwei stehen, ich will nicht auf Menge produzieren. Sondern auf allerhöchste Qualität. Es geht um Kraft, um Energie. Am Ende um Geschmack und Charakter. Nicht um möglichst viele Liter. Es geht um mehr als mehr. Die Rebe lasse ich etwa 80 cm lang, sie steht senkrecht nach oben. Das Restholz wird runtergeschnitten. Was bleibt, ist die Rebe, der Stock und die Wurzel. Ich atme die schneidend kalte Luft ein. Und schaue mich um. Ich stehe in einem Steilhang – in meinem Steilhang. Unter mir windet sich die Mosel, die Sonnenstrahlen lassen das Wasser glitzern. Die niedrig stehende Sonne hat noch nicht ihre volle Kraft, aber sie ist gleißend hell, ich muss die Augen zukneifen, wenn ich in den stahlblauen Himmel schaue. Aus den Trauben dieser Rieslingreben wird einmal Sekt werden. Und mit diesem Winzersekt werden Menschen miteinander anstoßen. Auf ihre Erfolge, auf ihre Pläne und Hoffnungen, auf ihr Glück. Vielleicht ein Liebespaar bei Kerzenschimmer. Vielleicht ein stolzer junger Mann, der mit seinen Freunden auf den nächsten Karriereschritt anstößt. Vielleicht eine alte Dame, die zum Geburtstag mit ihren Gästen das Glas erhebt und ihre Jahrzehnte vor dem inneren Auge Revue passieren lässt. Am Horizont biegt die Mosel um die Ecke. Wenn in Hollywood ein Moselwinzerfilm den Oscar als beste ausländische Filmproduktion gewinnen würde, dann wäre genau dieses Bild die Eröffnungsszene. Absurder Gedanke. Ich muss laut lachen und gehe einen Schritt weiter, zur nächsten Rebe. Vorwort 7 4 Beam me up, Scotty Wohnen Sport Bildung 94 Shake your Life 2 cl Kahlúa (Kaffeelikör) 2 cl Scotch 2 cl Baileys Irish Cream »Beam me up, Scotty!« »Meinen Sie mich? Moment … Energize!« Ich knalle das Shot-Glas auf den Tresen direkt vor ihr. Sie zuckt zusammen und schaut mich erschrocken an. Dann lacht sie. »Tschuldigung, Ma’am. Aber das ist ja immerhin ein Shooter, den Sie bestellt haben.« Ich angle nach der braunen Kahlúa-Flasche, fülle das Shot-Glas zu einem Drittel. Hmmm, das duftet nach Kaffee! Als ich die Flasche zurückstelle, werfe ich ihr einen Blick zu. Hübsch! Ende dreißig schätze ich sie, sehr liebes Gesicht, mit einem süßen spöttischen Zug um den Mund. Tolle Haare. Aber keine Sportlerin. Das fällt mir immer als Erstes auf, ich kann nichts dagegen tun. Ich greife nach dem irischen Whiskey und setze gerade an … »Halt!« »Wie?« »Bitte nicht, das ist doch irischer Whiskey, ich sehe es ganz genau! Das Etikett … er ist aus Irland!« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 95 Jetzt bin ich verblüfft. »Aber natürlich ist das irischer Whiskey. Und gleich kommt auch noch Baileys dazu, der ist mindestens genauso irisch. Da kann ich doch nicht guten Gewissens einen Bourbon reinschütten. Wo ist das Problem?« Sie kneift die Augenbrauen zusammen und biegt das Kreuz durch. Sie hat Mörderbrüste, ist insgesamt ziemlich mollig. »Also, es heißt doch ›Beam me up, Scotty‹ und nicht ›Beam me up, Irie‹«, sagt sie. »Oder täusche ich mich?« »Klugscheißer!«, zischt sie leise zwischen den Zähnen durch. Da muss ich schmunzeln: Sie will etwas trinken, was sie nicht kapiert. Ich stelle die Flasche auf die Arbeitsfläche, stütze mich mit beiden Händen an der Kante auf, beuge mich leicht zu ihr vor und erkläre ihr genüsslich: »Der Drink heißt doch nicht so, weil Scotch drin wäre! Sondern weil er sich auf eine Figur aus ›Raumschiff Enterprise‹ bezieht. Kennen Sie, oder? Captain Kirk und Spock und so. Beamen. Warp-Antrieb. Sie kennen das? Und der eine Typ im Raumfahrerteam heißt nun mal Scotty.« Ich lächle sie überlegen an. Sie starrt mir in die Augen. Stille. Ich starre zurück. Ein, zwei, drei, vier … »Klugscheißer!«, zischt sie leise zwischen den Zähnen durch und kneift die Augen zusammen. »Was?« »Klugscheißer! Chefingenieur Lieutenant Commander Montgomery Scott ist nicht ein Typ im Raumfahrerteam, sondern ein technisches Genie. Er kann alles reparieren. Immer. Und er rettet die anderen Crew-Mitglieder der USS Enterprise aus den brenzligsten Situationen. Seine Doktorarbeit hat er über die Veredelung von Dilithium-Kristallen durch negative Zentrifugation geschrieben. Und er ist Schotte!« Sie giftet mich an. »Schotte! Das ist doch der ganze Witz dabei. Haben Sie das nie kapiert? Er heißt Scott und ist Schotte! Und glauben Sie im Ernst, ein Schotte würde irischen Whiskey zu sich nehmen? Na?« Ich schweige. »Übrigens heißt es ›Star Trek‹.« 96 Shake your Life »Ach?« »Wer ›Raumschiff Enterprise‹ sagt, hat sich schon gleich als Trekkie disqualifiziert und klargemacht, dass er null Ahnung hat. Und jetzt gießen Sie mir bitte einen Scotch in das Glas!« Ich bin baff. Und ich belehre sie noch wie ein Schulmädchen! Mensch, Bruno! »Hoppla. Jetzt haben Sie mich aber kalt erwischt. Sie sind ja gefährlich, gute Frau!« Ich hebe beide Hände auf Schulterhöhe, Handflächen nach vorne. »Bitte nicht weiterschießen!« Sie lächelt versöhnlich und legt den Kopf schief. Entwarnung! Ich stelle den Irish Whiskey zurück, hole den Scotch vom Regal und gieße das zweite Drittel des Glases voll. »Sie haben alle Folgen gesehen, nicht wahr?« Sie nickt. »Ja, nicht nur einmal. Wussten Sie übrigens, dass James Doohan, der Schauspieler, der Scotty spielte, im Zweiten Weltkrieg bei der Landung in der Normandie seinen rechten Mittelfinger verloren hatte?« Die ist ja heiß drauf. Jetzt dreht sie den Spieß um und klugscheißert selber. »Nein, ich gebe zu, das hätte ich jetzt gerade nicht gewusst, wenn mich jemand danach gefragt hätte. Da bin ich ganz aufrichtig.« Ich versuche ein Gesicht zu machen wie ein Grundschüler bei der Abfrage des Gedichtes, das als Hausaufgabe auswendig zu lernen war. »Und Sie wissen bestimmt, wie das genau passiert ist, richtig?« Ich hebe beide Hände auf Schulterhöhe. »Bitte nicht weiterschießen!« Sie ist jetzt ganz in ihrem Element: »Ja. Natürlich. Er wurde am D-Day von sechs Kugeln aus einem Maschinengewehr getroffen und niedergestreckt. Eine davon riss ihm den Finger ab. Und wissen Sie was?« »Ja, schon. Aber sicher nicht das, was Sie jetzt meinen.« »Es war ein Friendly Fire.« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 97 »Hä?« »Na, er wurde von einem amerikanischen Posten getroffen. Von den eigenen Leuten. Die haben sich zum Teil selber umgebracht. Ist das nicht irre?« Sie deutet mit der Hand an, dass ich endlich den Baileys zugeben soll. »Nein.« Sage ich und schaue sie fasziniert an. »Was nein? Sie finden das nicht irre?« Sie legt wieder den Kopf schief. Attraktiv! »Doch. Ich finde das irre. Selbstsabotage ist sowieso ein Riesenthema. Nicht nur im Krieg. Trotzdem nein. Ich traue mich nicht.« Selbstsabotage ist sowieso ein Riesenthema. »Was trauen Sie sich nicht?« Sie schürzt die Lippen und lässt ihre Grübchen sehen. »Ich traue mich nicht den Baileys einzugießen. Da ist irischer Whiskey drin. Wo James Doohan doch Schotte war.« »Oh, Mann!« Sie lehnt sich zurück und holt spielerisch mit ihrem Arm aus. »Der war doch kein Schotte! Kanadier war der!« »Hä?« Jetzt kapier ich gar nichts mehr. »Sie haben doch gerade gesagt …« »Nein, Sie Klingone! Scotty war Schotte. James Doohan war Kanadier. Aber er hatte ein großes Talent, Akzente nachzumachen. Schütten Sie den Baileys rein! Energize!« Ihrem Bildungsstand bin ich offenbar nicht gewachsen. Im Gespräch erfahre ich, dass sie in ihrer Abteilung zur Chefin gemacht wurde. Das kann ich gut nachvollziehen. Ich schätze sie tough, selbstbewusst und ehrgeizig ein. Aber kein Mannweib. Sie hat ohne Zweifel 98 Shake your Life auch sehr weibliche Eigenschaften und führt ihren Laden mit all dem weiblichen Geschick im Umgang mit sozialen Systemen und mit viel emotionaler Intelligenz. »Ich verkaufe mich gut«, sagt sie ganz unbescheiden. »Aber ich habe keinen Abschluss.« »Sie haben keinen Abschluss? Faszinierend. Und ich dachte, Sie seien Professorin für Star Trekologie.« Sie findet das nicht so witzig. Die haben studiert, aber ich bin der Boss. Als Frau! »Nein. Die Jungs in meiner Abteilung sind alle BWLer, einer ist Jurist. Und ich hatte mir gesagt: Denen zeig ich’s! Hat ja auch geklappt, jetzt bin ich ihre Chefin. Die haben studiert, aber ich bin der Boss. Als Frau! Da bin ich schon stolz drauf. Aber bei den Kollegen aus der Chefetage habe ich jetzt echt einen schweren Stand.« »Weil Sie eine Frau sind oder wegen des fehlenden Diploms?«, will ich wissen. »Na, beides. Das mit der Frau steht, glaube ich, ziemlich fest«, witzelt sie und schaut an ihren Kurven hinunter. »Aber das mit dem Studium wurmt mich gewaltig. Ich fürchte, für mich geht’s nicht mehr weiter.« Ich werfe das Handtuch, mit dem ich die Tische gewischt hatte, in den Wäschekorb und hole mir ein neues aus der Schublade. »Aber wenn Sie das wirklich wollen, warum studieren Sie dann nicht noch?« »Ich habe eine Tochter, die ist gerade 21 geworden und vor kurzem ausgezogen. Sie studiert jetzt in Mailand. Ich war zig Jahre alleinerziehend. Da ging das nicht, nebenher noch was zu lernen«, erzählt sie. »Oh, da ist jetzt aber eine gute Ausrede weggefallen«, provoziere ich sie ein wenig. Und sie funkelt mich gleich wieder biestig an. »Na, toll, Sie haben ja gut reden! Als Barkeeper braucht man auch kein Diplom, oder?« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 99 Ich lächle sie freundlich an: »Nein, Sie haben recht, als Barkeeper brauche ich mein Diplom tatsächlich nicht. Jetzt unterschätzen Sie zur Abwechslung einmal mich.« »Ach, ja. Mann, tut mir leid«, sie zieht die Augenbrauen hoch. »Das Thema nervt mich einfach. Ich weiß ja, dass ich was tun sollte, bildungsmäßig meine ich. Aber ich kriege meinen Hintern einfach nicht hoch.« »Hm.« Aber ich kriege einfach den Hintern nicht hoch. »Ja, aber ich habe auch wirklich wenig Zeit. Und ich wohne auch saublöd. Ich brauche jeden Morgen und jeden Abend anderthalb Stunden zur Arbeit. Das sind in der Woche 15 Stunden Fahrtzeit. Die Hälfte eingespart, dann hätte ich netto einen ganzen Tag gewonnen. Da könnte ich dann was lernen.« »Ziehen Sie um!« Der innere Schweinehund taucht fast immer auf, wenn wir in unserem Leben etwas verändern wollen. »Ja, ich weiß«, sie kaut an ihrer Unterlippe und rutscht auf dem Hocker nach vorne. »Aber ich krieg einfach …« »… den Hintern nicht hoch!«, komplettiere ich. »Genau.« 100 Shake your Life »Und zum Sport können Sie sich auch nicht motivieren, richtig?« »Richtig«, seufzt sie und legt ihre Hand auf den Bauch. »Friendly Fire«, sage ich. »Was?« »Friendly Fire. Selbstsabotage. Sie sabotieren sich selbst.« Die meisten Menschen wissen sehr gut, was sie tun sollten, was sie sich wünschen und was ihnen guttun würde. Mehr Sport, bessere Ernährung, endlich eine neue Wohnung suchen, sich fortbilden, endlich anfangen zu Hause aufzuräumen und auszumisten und so weiter. Was sie davon abhält, ist eindeutig: der innere Schweinehund! Er taucht fast immer auf, wenn wir in unserem Leben etwas verändern wollen. Und dann hält er uns mit seinen fiesen Unmöglichkeitstaktik, Unverbindlichkeitsmasche, Verharmlosungsstrategie. Tricks davon ab, dass wir das tun, was sich für uns lohnen würde. Er sabotiert uns, wenn es um unsere Gesundheit geht, wenn wir Projekte angehen und dann auch noch durchziehen wollen, wenn wir Neues lernen wollen, wenn wir aufräumen und Ordnung schaffen wollen, wenn es um den Umgang mit Kollegen, Mitarbeitern und Kunden geht, Freunde und Familie, Bildung und Kultur, Sport und Ernährung, vor allem auch, wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen. Nein! Nein! Nein!, sagt das blöde Vieh dann und zieht seinen Stiefel durch. Wir haben keine Chance. Ich schildere Molly die gemeinen Strategien des inneren Schweinehunds: »Immer wenn wir uns überwinden wollen, bringt er zum Beispiel seine Unmöglichkeitstaktik: ›Kann gar nicht klappen!‹ Und dann die Unverbindlichkeitsmasche: ›Man könnte doch mal …‹ Oder die Verharmlosungsstrategie: Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 101 ›Was soll’s. Das haben schon ganz andere nicht hingekriegt …‹ Oder seine Rücksichtsfinte: ›Willst du denen das wirklich antun?‹ Beliebt ist auch das Herkules-Prinzip: ›Das kann doch nie und nimmer ein Mensch alles auf einmal …‹ Die Nicht-zuständig-sein-Falle: ›Warum ausgerechnet ich?‹ Und der Sicherheitstrick: ›Bloß nichts riskieren!‹ Und, nicht zu vergessen, die Ablenkungsmanöver: ›Nur eben noch mal schnell …‹« Rücksichtsfinte, Nicht-zuständig-sein-Falle, Ablenkungsmanöver. »Wow«, sagt sie. »Was machen Sie denn nach Feierabend? Das klingt ja wie aus einem Seminar.« »Da haben Sie recht, das ist aus einem Seminar.« Sie denkt nach, trinkt den letzten Tropfen aus ihrem Shot-Glas und bestellt gleich noch mal einen. »Sie haben kein Problem mit dem inneren Schweinehund? Oder wie?«, fragt sie mich. »Doch. Natürlich.« Es gab eine Zeit, da habe ich abends mit den Gästen gerne mal einen mitgetrunken. Das ging dann schon mal bis zum nächsten Morgen. War immer nett und hat viel Spaß gemacht, aber am nächsten Tag war ich platt wie eine Scholle, bis hin zum Totalausfall. Und wenn ich dann in meinem anderen Job im Einsatz war, war ich nicht auf der Höhe. Das war es einfach nicht wert. Und abends waren dann wieder ein paar nette Gäste da, es war lustig und schon war ich wieder mittendrin und am nächsten Tag wie ausgewrungen. Ich kotzte mich irgendwann nur noch selber an. Aber ich schaffte es nicht, dieses Muster zu durchbrechen. 102 Shake your Life Eines Abends traf ich in meiner Bar einen alten Bekannten und von dem erzählte ich jetzt der hübschen Molly. Ich hatte ihn fast nicht wiedererkannt, denn er war schlank, fit und sah gesund aus. Er bestellte einen bleifreien Fruchtcocktail. Knapp ein Jahr vorher hatte ich ihn das letzte Mal gesehen: Da hatte er noch gut 15, 20 Kilo mehr. Voll der Schwabbeltyp. Als Jugendlicher war er Leistungsturner, aber irgendwann hatte ihn der Alltag in Job und Familie in Birnenform gebracht. Die Sixpacks von früher waren ersetzt durch ähnlich viele Röllchen vor dem Bauch. Er war fett. Und fett sein macht träge. Und träge sein macht fett. Er war kreuzunglücklich, denn er war nicht mehr attraktiv, er war auch nicht mehr leistungsfähig und seine zwei Kinder zogen ihn bereits auf. Aber wie er aus seinem Teufelskreis rauskommen sollte, das war ihm nicht klar. Denn natürlich hatte er alle Diätversuche mit noch mehr Kilos bezahlt, das übliche Jojo-Programm. Ihm mangelte es an Bewegung, er ernährte sich miserabel, nahm sich keine Zeit für sich selbst und generell kriegte er den … »… Hintern nicht hoch. Genau«, sagt sie. »Und was hat er dann gemacht?« »Dann hatte er von mir ein Buch geschenkt bekommen. Von einem Bekannten von mir, den ich ab und zu auf der Hundewiese treffe«, fahre ich fort. »Es geht darin genau um diesen inneren Schweinehund.« Er hat sich ein Ziel gesetzt. Und das ist einer der zentralen Punkte. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Jedenfalls las er das Buch, stellte sich anschließend nackt vor den Spiegel und sagte sich: ›Scheiße, ich sehe aus wie ein Maikäfer. Ich habe die Schnauze voll.‹ Er wollte nicht mehr so fett sein, und er hatte ja gerade etwas Schlaues gelesen und zwang sich darum, außer dem Von-weg-Ziel auch noch ein Hin-zu-Ziel zu definieren. Er hat sich ein Ziel gesetzt. Und das ist einer der zentralen Punkte.« »So?« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 103 »Ja, aber ein konkretes Hin-zu-Ziel. Sie sagen sich also nicht: Ich will nicht mehr so faul sein. Oder: Ich will nicht mehr so lange zur Arbeit fahren. Oder: Ich will nicht mehr schlechter gebildet sein als die Kollegen. Das würde nicht funktionieren.« Entweder Sie wollen oder Sie wollen nicht. Ich gehe kurz hinüber zu den Tischen, um eine Bestellung aufzunehmen. Als ich wieder zurück bin und mich an der Kaffeemaschine zu schaffen mache, sagt sie: »Ich muss also sagen: Ich möchte gerne bis spätestens Juni eine schöne helle Altbauwohnung in der Nähe des Stadtzentrums haben, größer als 75 qm, für maximal 1.000 Euro Miete, am besten im vierten Stock oder höher, damit ich Treppen laufen kann. Habe ich’s kapiert?« »Ich bin begeistert«, antworte ich und sortiere Unterteller, Löffel, Kekse, Zucker und Tassen auf das Tablett. »Kleiner Tipp noch: ›Möchte gerne‹ ist zu lasch. Entweder Sie wollen oder Sie wollen nicht. Mein Kumpel hat sich, als er nackt vor dem Spiegel stand, als Ziel gesetzt, dass er sechs Monate später einen Halbmarathon laufen wollte. Konkret, mit Ort und Datum. Er wollte keine bestimmte Zeit laufen, sondern einfach nur ohne anzuhalten durchkommen. Aber das war nicht alles.« Ich bugsiere die Kaffees durch den Raum an den großen runden Tisch und komme mit einer neuen Bestellung wieder hinter den Tresen. »Was noch?« Sie ist neugierig. »Er bastelte sich ein Zielbild. Er suchte ein Foto von einem Marathon-Zieleinlauf und überklebte einen der Köpfe mit einem Foto von sich selbst. Daneben hängte er ein Foto von sich in der Badehose aus dem Maikäferurlaub. Mit einer Fünfundzwanzig-Kilo-Schwabbel-Plautze, die so richtig über die Badehose rüberhängt. Ein kapitales Schockfoto. Vorher – nachher. Und beides hängte er sich so an die Wand im Büro, dass er es jeden Morgen ansehen musste. Und auch die Kollegen. So was wirkt.« Ich bringe einen Bitter Lemon und einen Tomatensaft an den Tisch und komme zurück zu Molly, die mich ungeduldig anschaut. 104 Shake your Life »Und weiter?« »Er schrieb einen Satz darunter: ›Ich bin stolz darauf, am 16. Mai den Halbmarathon in Heilbronn komplett durchzulaufen, ohne zu gehen oder stehen zu bleiben.‹ Aber das war noch nicht alles.« »Fakt.« Sagt sie, leert ihr Glas und knallt es auf den Tresen. »Hey, Mann, erzähl einfach alles. Ich muss das doch wissen, oder?« Sie lacht und schlägt mir mit dem Handrücken gegen die Schulter. »Okay. Als Nächstes meldete er sich online für den Marathon an und überwies die Anmeldegebühr. Fakt. Am selben Tag ging er in ein Sportgeschäft …« »Ich hoffe, er hatte sich vorher wieder angezogen!« »… und kaufte vollständig bekleidet ein Paar Laufschuhe. Fakt. Und dann meldete er sich beim Lauftreff an, um sich dem Gruppendruck auszusetzen.« »Fakt.« Sagt sie, leert ihr Glas und knallt es auf den Tresen, wie sich das für einen Shot gehört. Deshalb haben die Shot-Gläser übrigens unten so einen dicken Glasboden. »Noch einen?«, frage ich sie. »Nein danke, lieber eine große Apfelschorle, Ihre Drinks machen durstig.« Ich mache ihr die Apfelschorle, trockne mechanisch Glas und Arbeitsfläche mit dem Handtuch und erzähle weiter. Denn das war immer noch nicht alles. Mein Kumpel erzählte allen Freunden und Bekannten, dass er sich zum Marathon angemeldet hatte, so dass die Blamage riesengroß gewesen wäre, hätte er den Lauf nicht geschafft. Jedes Mal wenn er merkte, dass er belächelt wurde, nahm er das als Ansporn. Er trug sich jeden Trainingstermin fein säuberlich in seinen Kalender ein. Und dann setzte er noch eins obendrauf und schloss mit seinem besten Freund eine Wette ab: Sie buchten ein KumpelWochenende in Barcelona kurz nach dem Wettkampftermin. Würde er es Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 105 nicht schaffen, würde er die Reise zahlen, würde er es schaffen, ginge alles auf Kosten seines Freundes. »Also, ich glaube, ich habe das kapiert. Er schuf Fakten und machte sie unumkehrbar. Und er bezog sein komplettes Umfeld mit ein, um seinem Schweinehund Dampf zu machen.« Sie nippt an der Apfelschorle. »Hm, das ist ja lecker.« »Direktsaft vom Bodensee. Gut für die Verdauung …«, grinse ich, während ich die Spüle wische. »Mit der Zeit wird der Schweinehund dann zum Freund und hilft einem ganz gewaltig. Denn wenn man sich an das neue Verhalten gewöhnt hat, passt er gut auf, dass man daraus nicht mehr ausschert. Allerdings setzt diese ganze Sache natürlich voraus, dass man überhaupt weiß, was man will – und ob man das überhaupt wirklich will.« Jedes Mal, wenn er merkte, dass er belächelt wurde, nahm er das als Ansporn. Molly geht auf die Toilette. Als sie wiederkommt, frotzle ich: »Oh, tut mir leid, ich wusste nicht, dass der Apfelsaft so schnell wirkt.« »Idiot! Das tut er ja auch nicht.« Sie setzt sich wieder auf den Hocker. »Erzählen Sie mir bitte noch: Was wurde aus Ihrem Freund? Hat er es geschafft?« »Ja. Na, klar. Wie gesagt, er war eines Abends in meiner Bar und ich sprach ihn auf sein fittes Aussehen an. Da erzählte er mir die ganze Geschichte. Er hat es gepackt. Das hat auf mich einen solchen Eindruck gemacht, dass ich beschloss, mich auf ähnliche Weise am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und meine Sauferei mit den Gästen sein zu lassen. Und das war eine meiner besten Entscheidungen. Ich habe es auch gepackt. Jetzt müssen nur noch Sie es packen. Das mit dem Umzug kommt als Erstes dran. Das schaffen Sie!« Ich klopfe mit der flachen Hand auf den Tresen. 106 Shake your Life Molly nickt. »Ich schaffe das. Ich halte mich an Scotty und rufe ihn zu meiner Motivation aus der Zukunft heran. Übrigens, kennen Sie das Geheimnis, warum Scotty immer alles gerade noch rechtzeitig hinbekommt, obwohl Captain Kirk ihn immer enorm unter Druck setzt und ihm viel zu enge Deadlines gibt?« Das war eine meiner besten Entscheidungen. Ich habe es auch gepackt. »Nein, da bin ich nicht eingeweiht.« »Er gibt seinen Zeitbedarf immer absichtlich zu hoch an, damit er es auf jeden Fall schafft, wenn Kirk von ihm verlangt, es in der Hälfte der Zeit zu schaffen. Er hat schließlich einen Ruf zu verteidigen …« Sich selbst zu dem motivieren zu können, was gut für einen ist, ist eine Fertigkeit, die man sich wie jede andere Fertigkeit aneignen kann. Reine Übungssache. Faulheit, Trägheit, Aufschieberitis – neudeutsch: Prokrastination – sind nur Angewohnheiten, schlechte Angewohnheiten. Wer also die Kunst beherrscht, Angewohnheiten zu ändern, der kann fleißig, pünktlich und produktiv sein. Und vieles mehr. Wenn er will. Faulheit,Trägheit, Aufschieberitis. Zu glauben, man sei nun mal so, wie man ist, ist eine der vielen kleinen Selbstbetrügereien. »Ich bin nicht fleißig«, »Ich kriege den Hintern nicht hoch«, »Ich bin eben ein Gemütlicher« – alles Glaubenssätze, die vielleicht in der Vergangenheit zugetroffen haben mögen, die für die Zukunft aber nicht gelten müssen. Es gibt kein Gen, das wir zum Sündenbock erklären können. Unsere Eltern, unsere Schulzeit oder Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 107 sonstige Ereignisse in der Vergangenheit sind gewesen, wie sie gewesen sind. Aber sie manifestieren nicht die Zukunft. Wenn Molly es schafft, aus dem Quark zu kommen und sich eine neue Wohnung zu suchen, sich weiterzubilden und regelmäßig Sport zu machen, dann deshalb, weil sie sich konkrete Ziele setzen wird. Sie ist ja nicht faul. In ihrem Job hat sie kein Trägheitsproblem, ganz im Gegenteil. Aber da hatte sie ja auch immer konkrete Ziele und wusste, wozu sie sich anstrengte. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Ziel einerseits und einem Vorsatz oder einem Vorhaben oder einer Wunschvorstellung andererseits besteht darin, dass bei einem guten Ziel die Verwirklichung exakt erkennbar ist. Dazu muss das Ziel auf eine ganz bestimmte Weise formuliert werden. Ich habe acht Kriterien gefunden, die eine sinnvolle Zielformulierung erfüllen sollte. Erstens sollte die Formulierung eine Ich-Aussage sein. Zweitens sollte das Ziel im eigenen Einflussbereich liegen. Sie können sich nichts vornehmen, was nur dann erreichbar ist, wenn die Regierung eine Steuerreform durchführt, der Klimawandel zum Erliegen kommt oder die Nachbarin stirbt. Die Erreichbarkeit des Ziels muss unabhängig sein von Zufällen oder purem Glück. Drittens sollte das Ziel so formuliert werden, dass man es messen kann: erreicht oder nicht? Dazu muss es sehr konkret formuliert werden, beispielsweise auch Zahlen, Daten, Fakten enthalten, die erreicht werden sollen. Und ein konkretes Datum braucht es auch. Wichtig in dem Zusammenhang ist weiterhin, dass die messbaren Daten absolute, nicht relative Ziele sind. Es bringt also überhaupt nichts, als Ziel zu formulieren: »Ich werde bald weniger wiegen.« Es genügt auch nicht zu sagen: »Ich werde bis zu den Sommerferien ein paar Kilo abnehmen.« Und immer noch nicht ausreichend ist: »Ich werde bis zum Beginn der Sommerferien 10 Kilo abnehmen.« Warum das nicht reicht? Weil Sie dann zum Beispiel zuerst im Winter zehn Kilo zunehmen könnten, um bis zum Sommer wieder zehn Kilo abzunehmen. Bis zu den Sommerferien zehn Kilo abnehmen? Auftrag erfüllt! Saldo: null Kilo. Ein Schuh wird daraus, wenn Sie formulieren: »Am 15.7. wiege ich 87 Kilo.« Ich habe acht Kriterien gefunden, die eine sinnvolle Zielformulierung erfüllen sollte. 108 Shake your Life Hier ist schon das vierte Kriterium eingebaut: Formulieren Sie mit Entschlossenheit und in der Gegenwartsform. Also: »Ich mache …« oder »Ich bin …« Und auf keinen Fall: »Ich würde ganz gern …« oder »Ich möchte …« Fünftens muss das Ziel positiv formuliert sein. Andersherum ausgedrückt: Es darf keine Verneinung und keine Von-weg-Aussage enthalten. Also nicht »Ich will hier nicht mehr wohnen«, sondern »In eine neue Wohnung einziehen«. Statt »Ich will nicht mehr so viel fernsehen« formulieren Sie zum Beispiel: »Ich lese ab sofort mindestens zweimal pro Woche abends eine Stunde lang oder länger ein gutes Buch.« Es ist ein gutes Ziel, wenn es herausfordernd, aber dennoch erreichbar ist. Sechstens sollten Sie das Ziel so formulieren, dass Sie selbst an dessen Erreichbarkeit glauben. Es ist ein gutes Ziel, wenn es herausfordernd, aber dennoch realistischerweise erreichbar ist. Siebtens rate ich Ihnen, dem Ziel den Ausdruck von Freude und Begeisterung zu geben: »Ich freue mich, dass ich …« oder »Ich bin stolz darauf …« Achtens darf das Ziel auch keinen Stress machen, wenn Sie es erreichen wollen. Ich füge deshalb jedem Ziel einen Zusatz an: »Ich erreiche dies auf eine gelassene, gesunde und für alle Beteiligten positive Art und Weise.« »Ich find’s klasse, dass ich ab morgen mindestens zweimal pro Woche bei einem Puls von maximal 145 jogge. Das ziehe ich durch bis zum 31. Mai« – das wäre zum Beispiel ein gut formuliertes Ziel. Oder: »Ich gewinne bis zum 31.12. dieses Jahres mindestens fünf Neukunden mit einem Auftragsvolumen von insgesamt mindestens 500.000 Euro.« Oder: »Ich mache ab sofort konsequent jeden Sonntag meine Wochenplanung. Darin enthalten ist jeweils mindestens eine Aktivität mit den Kindern und eine Sporteinheit.« Einige Wochen später kommt Molly mit einer Freundin in die Jangada Bar. Ich nehme ihre Bestellung auf und frage: »Und, haben Sie schon was Neues gefunden?« Sie schaut mich an wie ein Auto. »Was gefunden? Habe ich denn was gesucht?« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 109 »Ja.« Pause. »Aber dann war es wohl nicht so wichtig.« Ich bin enttäuscht. Auf dem Weg zurück hinter die Bar grüble ich, was da los ist. Sie wollte doch dringend näher an ihren Arbeitsplatz, um dann die Zeit zu haben, sich fortzubilden. Wir haben doch noch zusammengesessen und hatten auf einer Serviette ihr Ziel formuliert. Und jetzt ist alles vergessen? Woran liegt so etwas? Die Leute haben natürlich immer Ausreden: Keine Zeit. Andere Prioritäten. Die anderen sind schuld. Und so weiter. Wann fangen die Leute an, etwas zu ändern? Meistens erst dann, wenn es schon fast zu spät ist, wenn der Leidensdruck riesengroß ist, wenn sie so richtig einen vor den Koffer gekriegt haben. Dummerweise erst dann. Rauchen, schlemmen und den ganzen Tag herumsitzen bis zur ersten BypassOperation. Dann ändert sich das Verhalten – vielleicht. Und auch dann oft nicht auf Dauer. Es hätte aber auch schon der erste Infarkt tödlich sein können. Arbeiten bis zum Umfallen. Oder bis zum Tinnitus. Oder bis zum Bandscheibenvorfall. Und dann kommt eine Änderung. Gezwungenermaßen. Das kann jeder. Auf dem Weg zurück hinter die Bar grüble ich, was da los ist. So wie einer meiner Gäste, der mir von seinem großen Umschwung im Leben erzählt hatte: Eines Vormittags war er im Büro gegen die Glastür geknallt. Er hatte die Klinke nicht gesehen und deshalb gedacht, die Tür sei offen. Er hatte es gar nicht gemerkt, aber sein Gesichtsfeld war eingeschränkt, in der unteren Hälfte fehlte ein großes Stück. Er rief sofort einen Freund an, der ihn abholte und gleich ins Krankenhaus fuhr. Er wurde direkt ruhiggestellt und durfte sich nicht mehr bewegen. Diagnose: Apoplex. Gehirnschlag. Mit Mitte dreißig. Er hat es überlebt und sein Gesichtsfeld kam auch wieder zurück. Aber die Dynamik von früher ist weg, er ist seitdem nicht mehr so belastbar und er ist sehr wetterfühlig geworden. Bei der Ursachenforschung kam raus: Er hatte sich das Leben selbst zur Hölle gemacht, sich in seinem Job einem wahnsin110 Shake your Life nigen Stress ausgesetzt und von seinen Kollegen, den Kunden und seinem Chef permanent antreiben lassen. Er konnte nicht Nein sagen und saß bis spät nachts am Schreibtisch, oft auch am Wochenende, um die Termine zu halten. Bis eines Tages sein Körper laut und vernehmlich »Stopp!« gesagt hat. Das Erstaunlichste dabei: Er lernte von einem Moment auf den anderen, gelassen zu bleiben und sich keinen Stress zu machen. Mühelos. In seinem Job bekam er genau die gleichen positiven Rückmeldungen wie früher, niemand war unzufrieden mit ihm, obwohl er viel weniger arbeitete und einfach ablehnte, was ihm zu viel war. Jeder akzeptierte das, keiner wunderte sich, außer er selbst. Die Ergebnisse stimmten trotzdem. Oder gerade weil er weniger arbeitete. Dafür aber effektiver. Er hatte offenbar früher überhaupt niemandem einen Gefallen damit getan, sich kaputtzuarbeiten. Es hatte in Wahrheit niemanden interessiert. Er hatte sich den Stress ganz alleine gemacht, nur für sich selbst. Zunächst einmal müssen Sie Ihr bisheriges Verhalten würdigen. So ein Ereignis kann ein heilsamer Schock sein. Aber es geht doch auch ohne Schocktherapie. Es gibt Beispiele von Menschen, die ihr Verhalten ändern, bevor es zur Katastrophe kommt. Das geht. Allerdings bedarf das einer Reihe von Voraussetzungen. Zunächst einmal müssen Sie Ihr bisheriges Verhalten würdigen. Sie wollten nämlich auch bisher nur Ihr Bestes. Jeder will immer nur sein Bestes. Wenn wir uns dabei ungesund oder wenig zielführend verhalten, dann nicht weil wir uns selbst schaden wollen. Wir haben uns lediglich Angewohnheiten zugelegt, die nicht effektiv sind oder nicht zu unserer gegenwärtigen Situation passen. Das größte Problem: Unser Unterbewusstsein, also unser innerer Schweinehund, will, dass es uns jetzt gut geht. Jetzt, im gegenwärtigen Moment. Und gut gehen heißt für ihn: angenehm, bequem. Oft müssen wir aber etwas unternehmen, das unangenehm oder mühsam ist, damit es uns in einer Stunde, morgen oder in einem Jahr gut geht. Da ist unser innerer Schweinehund dann leider überfordert, denn er lebt ganz im Hier und Jetzt. Da braucht er dann sein Herrchen, also das Bewusstsein. Man kann auch sagen: Willenskraft. Eines sollten Sie nur bitte verstehen: Wir müssen uns Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 111 nicht überwinden. Wir haben keinen Feind in uns. Wir müssen uns vielmehr wieder mit uns selbst anfreunden. Alle Persönlichkeitsanteile von Ihnen haben eines gemein: Sie wollen, dass es Ihnen gut geht. Gefragt ist nur etwas Köpfchen, um allen Anteilen beizubringen, dies so anzustellen, dass es auch zu Ihrer Situation und Ihrem Umfeld passt. Ich fülle die Zutaten für zwei Cocktails in den Shaker. Und schüttle. Ist es das, was Molly davon abhält, ihr Ziel zu erreichen, also eine Wohnung zu finden? – Sie hat offenbar nicht mal angefangen zu suchen, sondern das Ziel schnurstracks wieder aus den Augen verloren. Oder ist es etwas anderes? War das Ziel für sie gar nicht sinnvoll? War das Ziel für sie gar nicht sinnvoll? Ich gieße den Inhalt in die zwei Cocktailgläser. Garnierung dran. Strohhalme. Und fertig. Mit dem kleinen Tablett bringe ich die Drinks an den Tisch zu Molly & Co. Als ich die Lieferung abstelle, schaut mich Molly ganz ernst an. »Mir ist eingefallen, was Sie vorhin meinten.« »Ja?« »Ja, ich erinnere mich durchaus an unser Gespräch. Das Ziel, das wir da gemeinsam auf der Serviette formuliert haben, das war schon sehr gut. Aber …« Sie lächelt, als sie fortfährt: »… aber es ist nicht mehr wichtig. Ich habe erkannt, dass ich gar nicht in der Stadt leben will. Ich bin glücklich und zufrieden in meiner Wohnung. Und ich möchte auf gar keinen Fall ausziehen.« Ich beginne zu verstehen. »Das heißt, Ihnen war gar nicht so wichtig, sich weiterzubilden? Das war vielleicht nur ein Glaubenssatz, so etwas wie ›Man muss sich doch weiterbilden!‹?« 112 Shake your Life Sie schüttelt den Kopf. »Nein, nicht ganz. Ich finde Weiterbildung nach wie vor wichtig. Ich habe mir darum einen Audio-Kurs besorgt und büffle jetzt BWL auf der Autofahrt. Ist gar kein Problem und macht mir Spaß.« Das freut mich. »Hey, das ist eine gute Idee!« »Ja, finde ich auch. Die drei Stunden Autofahrt jeden Tag stören mich gerade überhaupt nicht. Das zu ändern hätte gar keinen Sinn gemacht.« »Gratuliere!«, sage ich. Nicke ihr zu und gehe wieder hinter den Tresen. So ganz überzeugt bin ich nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich habe das Gefühl, Molly lügt sich da was in die Tasche. Ja, die Idee mit dem Audio-Kurs ist großartig. Aber sie wohnt vermutlich immer noch ganz allein draußen auf dem Lande und treibt immer noch keinen Sport. Ich peile über den Tresen, um noch einmal ihre Figur in Augenschein zu nehmen. Zu viel Speck, ganz eindeutig. Und ich weiß, dass sie damit nicht glücklich ist. Ich vermute, dass ihr innerer Schweinehund ganz geschickt unterwegs ist, um sie mit Ausreden einzulullen und im Status quo festzuzurren. Wenn ich mir ein Ziel setze, dann genügt es nicht, dass es gut formuliert ist, es muss für mich auch Sinn machen. E.M. Gray schrieb in seinem Artikel »Der gemeinsame Nenner des Erfolgs«: Der erfolgreiche Mensch hat die Gewohnheit, die Dinge zu tun, die die Versager nicht gerne tun. Die Erfolgreichen tun sie auch nicht notwendigerweise gerne. Aber ihre Abneigung ist der Kraft der Sinnerfüllung untergeordnet. Der letzte Satz ist der Schlüssel. Es kommt auf das Wozu an. Wenn ich mir ein Ziel setze, dann genügt es nicht, dass es gut formuliert ist, es muss für mich auch Sinn machen. Der innere Schweinehund versorgt mich genau dann mit allen möglichen Ausreden, wenn das Erreichen des Ziels unbequemer, Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 113 mühevoller oder unangenehmer ist, als es aus meiner subjektiven Sicht sinnvoll ist. Das Vorhaben ist aber nun mal so unbequem, mühevoll oder unangenehm, wie es ist. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Wenn in der Waagschale das Erreichen des Ziels also schwerer wiegt als der Sinn und ich mir lieber eine Ausrede suche, dann war der Sinn des ganzen Unterfangens nicht gewichtig genug. Oder andersrum gesagt: Wenn mir ein Ziel ausreichend sinnvoll erscheint, dann bin ich bereit, dafür auch einen Preis zu bezahlen. Der Witz dabei ist, dass wir den vollen Preis oft nicht sehen können, denn der Preis, den es kostet, etwas nicht zu tun, ist oft höher als die Kosten des Tuns. Wie finde ich das raus? Indem ich mir die kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen vor Wenn mir ein Ziel ausreichend sinnvoll erscheint, dann bin ich bereit, dafür auch einen Preis zu bezahlen. Augen halte. Welchen Preis habe ich schon dafür gezahlt, dass ich nicht umgezogen bin, dass ich mich nicht weitergebildet habe, dass ich keinen Sport gemacht habe? War das ein gutes Geschäft? Und welche emotionalen Kosten muss ich in meinen Plan schreiben, wenn ich weiterhin nicht aktiv werde? Wie viel kostet mich das in einem Jahr, in fünf, in zehn? Kann ich so einen Bilanzgewinn einfahren oder zahle ich drauf? Fahre ich mein emotionales Konto ins Bodenlose, wenn ich weiter tatenlos bleibe? Sinn klingt so hochtrabend. Dabei ist es ganz einfach. Ob etwas für Sie Sinn macht oder nicht, ist eine Frage der Emotion: Wir tun nur Dinge, die uns emotional bewegen. »Fünf Kilo abnehmen« ist erst mal vollkommen blutleer. Die Frage ist: Wozu will ich abnehmen? Welchen emotionalen Zustand strebe ich damit an? Wie wird es sich anfühlen, wenn ich mich wieder im Bikini an den Strand traue statt im Schlabberhemd? Wie wird es sich anfühlen, abends, wenn ich nackt aus dem Bad ins Schlafzimmer gehe, das Licht endlich mal wieder AN zu lassen? Wenn die damit verbundene Emotion erstrebenswert ist, dann macht ein Ziel Sinn. 114 Shake your Life Umziehen, um weniger Auto zu fahren, um mehr Zeit für Weiterbildung zu haben – das hat sich wunderbar angehört, hat aber offenbar für Molly wenig Sinn ergeben. Das Wozu, der Zweck des Unterfangens, war nicht ausreichend attraktiv. Aber was ist es dann? Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass sie weiterhin unzufrieden ist? Ich bin der »Mestre de Jangada«. Unter uns: Es geht mich ja überhaupt nichts an. Es kann mir völlig egal sein, was meine Gäste mit ihrem Leben anfangen, könnten Sie berechtigterweise denken. Warum zerbreche ich mir den Kopf, was im Kopf von Molly oder irgendwelchen anderen Leuten vorgeht? Ich will mal so viel verraten: Es ist mir ein Vergnügen. Und der wahre Grund, warum ich die Jangada Bar eröffnet habe. Ich bin der »Mestre de Jangada«. »Was heißt eigentlich Jangada?«, reißt mich eine sanfte Stimme aus meinen Gedanken. »Was?« Ich schaue auf und sehe Molly und ihre Begleiterin an der Bar Platz nehmen. »Wir ziehen um an die Bar und wollen gerne noch ein wenig gebeamt werden. Lässt sich das machen, Scotty?« Sie lacht mich an und ihre Freundin schaut etwas verdutzt. »Aber klar, Molly. Macht euch bereit!«, sage ich und knalle zwei Shotgläser auf den Tresen. Die beiden zucken zusammen. »Wie haben Sie mich gerade genannt? Molly?« Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 115 »Oh, tut mir leid. Heißen Sie nicht so?« Das ist mir jetzt peinlich, das ist mir so rausgerutscht. »Na, macht ja nichts«, sagt sie ganz ruhig. »Ich schätze mal, Sie haben an Molly Sims gedacht, als Sie mich so getauft haben, stimmt’s? Als ich noch eine halbe Tonne leichter war, hatte ich tatsächlich ein wenig Ähnlichkeit mit ihr. Aber noch mal die Frage: Sie haben da vorhin irgendwas genuschelt – ›Mercedes Jangada‹ oder so. Jangada heißt doch die Bar, oder?« Ich bin erleichtert, dass sie das Molly-Thema nicht vertieft hat, und beantworte ihr gerne ihre Frage: »Mestre de Jangada – der Jangada-Kapitän. In Brasilien gibt es an der Küste auch heute noch die ursprünglichen Flöße, mit denen die Fischer manchmal mehrere Tage auf hoher See unterwegs sind, um ihren Fang einzubringen. Das sind einfache Flöße aus Holzstämmen mit kleinen Segeln. Um sie zusammenzubinden, wird kein einziges Stück Metall verwendet. Die Jangadeiros sind abergläubisch und haben Angst, dass ihr Floß sinken würde, wenn da ein Metallnagel drin wäre.« Ich gieße die drei Flüssigkeiten in die zwei Gläser. Sie tun, was sie lieben, und sie sind, was sie von ganzem Herzen sein wollen. »Ich liebe Brasilien. Die Mutter zweier meiner Kinder ist Brasilianerin. Und die Flöße haben mich fasziniert. Deshalb habe ich die Bar so genannt. Bis zu 120 Kilometer weit fahren diese Verrückten damit aufs Meer hinaus. Nachts binden sie sich am Mast fest, um von den Wellen nicht heruntergespült zu werden.« »So etwas kann ich mir gar nicht vorstellen«, sagt Mollys Freundin. »Ich werde schon auf der Fähre zwischen Calais und Dover seekrank. Auf einem Floß würde ich sterben vor Angst.« Ich nicke ihr zu. »Die Jangadeiros sind Fischer mit Leib und Seele. Das, was sie tun, lieben sie so sehr, dass sie sich gar nichts anderes auf der Welt vorstellen können. Es ist für sie einfach selbstverständlich. Sie tun, was sie lieben, und sie sind, was sie von ganzem Herzen sein wollen.« Ich schaue Molly an. »So wie Sie.« 116 Shake your Life »Ich?« »Ja. Ihre Arbeit ist das, was Sie für sich gewollt haben. Und Ihre Wohnung ist die, die Sie sich für sich ausgesucht haben. Und Ihr Körper, Ihr Aussehen, Ihre Figur, Ihre Fitness sind genau die, die Sie sich für sich gewünscht haben. Einverstanden?« Molly entgleiten die Gesichtszüge. Sie schaut mich entgeistert an. Ich lege nach: »Ich habe Sie nicht Molly getauft, weil Sie Ähnlichkeit mit Molly Sims haben.« Ich stelle mir einen Augenblick lang Molly Sims im Bikini vor. Wow! Dann schaue ich wieder die Molly an, die in ihrem übergroßen Schlabberkleid vor mir sitzt. Sie hat grüne Augen. »Mir ist der Name eingefallen, weil Sie ganz schön mollig sind. Für meinen persönlichen Geschmack zu mollig. Aber wenn das Ihre Wunschfigur ist, ist es ja auch keine Beleidigung.« Wer große Fische harpunieren will, muss manchmal weit hinausfahren. Sie starrt mich an. Ihre Freundin starrt mich ebenfalls an. »Arschloch«, knurrt Molly. Rutscht vom Hocker runter, zieht ihre Freundin am Ärmel mit sich. Weg sind sie. Wer große Fische harpunieren will, muss manchmal weit hinausfahren. Mollys Impuls, sich weiterzubilden, ist eigentlich goldrichtig. Nicht nur, um ihren Chef zu beeindrucken, sondern aus etlichen weiteren Gründen. Sich permanent weiterzubilden ist klug. In Amerika gibt es tolle Studien, die belegen, dass ein einziges zusätzliches Jahr auf einer weiterführenden Schule das Einkommen im späteren Leben um sieben bis zwölf Prozent erhöht. Das wurde sogar mit eineiigen Zwillingen gezeigt: Die gleichen genetischen Voraussetzungen, das gleiche Elternhaus, das gleiche Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind. Der eine Zwilling geht ein Jahr länger auf die Schule, der andere fängt ein Jahr früher an zu arbeiten. Derjenige Zwilling, der noch ein Jahr in seine Bildung gesteckt hat, Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 117 überholt den anderen später locker beim beruflichen Erfolg und beim Einkommen. Der Kontostand ist aber nur eine Auswirkung von viel grundsätzlicheren Effekten, die Bildung auf Menschen hat. Wenn man alle Studien zusammen nimmt und auswertet, findet man erstaunliche Ergebnisse: Gebildetere Menschen genießen höheres Ansehen, sind freier bzw. haben weniger Abhängigkeiten zu erdulden. Sie haben größere Freundes- oder Bekanntenkreise und haben gesündere Arbeitsplätze. Sie sind mit ihrer Arbeitsstelle zufriedener und werden seltener arbeitslos. Sie sind gesünder, sowohl körperlich als auch geistig. Es kommt noch besser: Gebildete Frauen sind attraktiver für Männer und vice versa. Gebildete lassen sich weniger scheiden, werden weniger straffällig. Gebildete haben weniger Stress, obwohl sie in Berufen mit mehr Verantwortung arbeiten. Gebildetere Menschen genießen höheres Ansehen und sind freier. Und die positiven Effekte pflanzen sich über die Generationen hinweg fort: Die Kinder gebildeter Eltern sind im Vergleich mit den Kindern weniger gebildeter Eltern ebenfalls gesünder, haben weniger Probleme in der Schule und sind später im Leben erfolgreicher, beruflich wie privat. Und weiter: Wenn in einer Stadt Menschen mit hohem Bildungsgrad leben, dann ist nicht nur ihr Einkommen höher als das der weniger Gebildeten, sondern auch das Einkommen der weniger Gebildeten steigt dadurch an. Mit anderen Worten: Die ganze Gesellschaft profitiert davon, wenn sich Menschen weiterbilden. Neulich beim Klassentreffen ist mir wieder bewusst geworden, wie unterschiedlich sich die Menschen entwickeln. Da gab es Mitschüler, die super Noten hatten und ein Riesenpotenzial, heute aber einfache Sekretärinnen oder Sachbearbeiter sind. Die leben immer noch in unserem alten Kaff in der Nähe von Mama, haben von der Welt noch nicht viel gesehen und haben bei der Ausbildung die Abkürzung genommen. Sie sind grau und langweilig, es klappt kaum, drei Minuten lang ein interessantes Gespräch mit ihnen zu füh118 Shake your Life ren. Hätte ich den Eindruck gewonnen, sie wären glücklich dabei … völlig okay! Hatte ich aber nicht. Und andere, die in der Schule nicht gerade zu den High Performern gehört haben, sind rausgegangen aus der Stadt und aus dem Land, haben unterschiedliche Sachen gelernt, studiert, Jobwechsel, noch mal was Neues gelernt. Diese Leute trifft man nach zwanzig Jahren wieder und denkt: Wow! Hammer! Was haben die sich weiterentwickelt! Wer hätte gedacht, dass so jemand aus denen wird! Meinen Traumjob als Barkeeper missbrauche ich dafür, immer wieder Leuten zu helfen, einen besseren Mix im Leben zu finden. Es ist verblüffend, wie sich Menschen verändern können, wenn sie wollen. Wenn sie ein Ziel haben, das für sie Sinn macht. Meinen Traumjob als Barkeeper missbrauche ich dafür, immer wieder Leuten zu helfen, einen besseren Mix im Leben zu finden. Aber eben nicht immer. Molly habe ich vielleicht nicht geholfen. Aber ich habe mein Bestes gegeben. Ich würde mich freuen, wenn ich sie eines Tages wiedersehen würde. Und wenn mich nicht alles täuscht, wird ihr Chef demnächst eine Kündigung auf dem Tisch liegen haben und sich eine neue Abteilungsleiterin suchen müssen. Beam me up, Scotty: Wohnen – Sport – Bildung 119