Blue Jeans - Neue Zürcher Zeitung

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Blue Jeans - Neue Zürcher Zeitung
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gestellt ZU werden: Jeans sind gewissermassen zur Schuluniform von heute geworden. 1975 gingen übrigens rund zwei
Auf ikn Pausenplätzen der Mittel- und Oberstufenschulhäuser braucht ein solches Bild nicht
Millionen der in der Schweiz verkauf teil Jeans an Kinder unter 15 Jahren.
Ein Schraubstock um ilie Hüften
Bemerkungen über Blue .Deans
1
lichte Bluc Jeans aus dem klassischen indigogcfärbten Baumwollstoff haben folgende LMgenschaften: Der strapazierfähige schwere Stoff ist
beim Kauf steil und brettig; sitzen die Joans modisch eng. umspannen sie die -Hüften wie einr
Schraubstock, kneifen '>;cim Sitzen und lassen
nur eine ganz spezifische rollende Gangart zu;
wirklich bequem sind Jeans erst, wenn sie ausgeleiert und verwaschen um den Körper schlot-
tern; bei jeder Wäsche gehen die Jeans mehr
die Weite wird zwar
oder weniger stark ein
beim Tragen wieder ausgeglichen, rd e Längenverlust jedoch ist irreversibel; rd e Stoff hellt sich
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Margret Mellert
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Aufnahmen: Kurt Schollenberger
mit jeder Wäsche mehr und mehr auf und wird
beim Tragen vor allem an den Nähten abgescheuert; werden die Jeans nicht separat gewaschen, geben sie ihre schöne blaue Farbe gern an
helle Wäschestücke weiter; obwohl Jeans einfache
Kleidungsstücke sind und in Massen hergestellt
werden, sind sie relativ teuer
der schweizerische Durchschnitt liegt /wischen 60 und 70
Franken.
Die meisten dieser Eigenschaften würde man
jedem anderen Kleidungsstück als Mangel ankreiden. Die Jeans aber haben damit Furore geausgemacht. Kein anderes Kleidungsstück
ist derart uninommen vielleicht der Pullover
versell und wird von so vielen verschiedenen
Leuten zu so vielen verschiedenen Gelegenheiten
getragen. Im Grunde sind Jeans längst keine
Mode im eigentlichen Sinne mehr; sie sind zum
unentbehrlichen Gebrauchsgegenstand geworden, an dem sich gelegentlich Modeströmungen
manifestieren und auch orientieren: Jeans-Look.
Jeans-Fashion und Jeans-Art sind bloss Varianten eines einzigen Grundthemas, das seit mehr
als zwei Jahrzehnten das Strassenbild beherrscht.
Mit ästhetischen oder praktischen Gründen
allein ist das Phänomen Blue Jeans kaum zu er-
tägliche Ausstoss beträgt
In der Fabrikhalle von Lee-Europe N. V. in Ypern (Belgien) sind 500 Näherinnen beschäftigt. Der
Neue Zürcher Zeitung vom 03.09.1977
klären; die ('Schönheit» verwaschener Jeans ist
zumindest umstritten, und die unbestrittene Strapazierfähigkeit ist höchstens für Mütter von
Kleinkindern, Tramps und (echte) Cowboys von
Interesse. Die Jeans-Werbung operiert denn
auch bezeichnenderweise weder mit dem einen
noch mit dem andern Argument; sie macht allenfalls auf Sex, meist aber auf «Weltanschauung». Freiheit und Freizeit werden da zu Syn-
onymen, die Befreiung von rd e Bügelfalte wird
salopp rd e Befreiung von jeglichem Zwang
gleichgestellt. Jeans sind (auch) ein Klischee
und ein paradoxes dazu: Die wohl meistgetragene
11 000 Jeans.
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Samstag 'Sonntag, 3./4. September 1977
Nr.
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Mehr als fünf Arbeitsgänge beherrscht niemand.
Denn der Anforderung, flink und doch sauber
und exakt zu arbeiten, ist erst nach wochenlanger Uebung zu genügen -- Routine ist alles.
Gearbeitet wird im Akkotd, ausgehend von
7.85)
einer Lohnbasis von 117 bFr. (etwa sFr.
pro Stunde für eine Arbeitsleistung von 90 ProLeistung
zent. Mit wachsender Routine kann die
und damit der Lohn gesteigert werden. Die meisten kommen auf HO Prozent Leistung, wns einem Stundenlohn von etwa 140 bFr. (etwa
sFr. 9.40) entspricht. Es gibt aber auch wesentlich höhere Leistungen: Der «Stur» der Firma,
ein blutjunges Mädchen, bewältigt seinen Arbeitsgang, eine Tuschennaht, mit 200prozentigcm Tempo.
So rationell die Arbeit auch eingeteilt ist,
zwischen den ein/einen Produktionsgängen geht
offenbar recht viel Zeit verloren. Rechnet man
nämlich die gefordert! Akkordzeil je Arbeitsgang
zusammen, kommt man auf eine effektive Nähzeit von einer knappen Viertelstunde pro Hose.
Für den Weg vom Zuschncidctisch bis zur Verpackung bruucht eine Jeans jedoch eine ganze
Woche. Ein Grund dafür ist sicher der, dass die
Einzelteile in Sechziger-Bündeln von Maschine ?u
Maschine geschoben werden und somit eine Arbeiterin immer an 60 Jeans gleichzeitig arbeitet.
Bei der andernorts üblichen sogenannten «hängenden Produktion» dagegen hängen alle Einzelteile einer Jeanshose an einem Gestell, das von
Arbeiterin zu Arbeiterin gefahren wird.
Immerhin schafft die Fabrik in Ypern mit ihrer anscheinend nicht mehr ganz modernen Produktionsmethode einen beachtlichen Ausstoss:
000 Jeans verlassen täglich per Lastwagen die
Fabrik Richtung St-Nicolas, der Ausliclerungsstelle für ganz Westeuropa. Allerdings ist die
stolze Anzahl von rund 2.5 Millionen jährlich in
Ypern hergestellter Jeans klein im Vergleich zur
Verbrauchszahl in Westeuropa: diese wird auf
J90 Millionen Einheiten pro Jahr geschätzt.
1
Noch auf dem Zuschneidetisch werden dir einzelnen Schnittelle auf der Stojfriickteitc mit Nummern versehen: nur Teile mit gleichen Nummern, ili, auch
zur selben Stofflage gehört haben, werden zusaniincngcfi'gt; io werden Farbunterschiede an den felligen Jeans vermieden.
Uniform aller Zeiten gilt als «Kleidung für freiheitlich gesinnte unbürgerliche Individualisten».
Von der Goldgräberhose zur Gcsiimungsmode
Als in den fünfziger Jahren die ersten europäischen Jugendlichen mit ihren Nietenhosen in
die Badewanne stiegen und sie dann am Körper
trocknen liessen, war das Jeans-Modell schon
mehr als hundert Jahre alt. Der bayrische Auswanderer l.cvi Strauss soll um 1850 für kalifornische Goldgräber die ersten Jeans aus Segeltuch
geschneidert haben. Die Nachfrage muss gross
gewesen sein, jedenfalls ging ihm bald einmal
das Segeltuch aus, und er verwendete jenen speziellen Baumwollköper, aus dem noch heute
Jeans hergestellt werden: Serge de Nimes, später Denim genannt. lOÜ Jahre lang dienten die
Jeans den Amerikanern als brave, praktische Ar,
beitshosen. Auch in Europa
wohin sie mit den
amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg
kamen, waren sie zunächst nichts anderes. Der
Jeans-Boom begann in den fünfziger Jahren bei
den «Halbstarken» und jenen, die es ihnen
gleichtun wollten, bei den James Dean- und Elvis Presley-Fans, bei jenen, die damals die spitzesten Schuhe und die kühnste Haartolle trugen
und die immer ein wenig frecher waren als der
Durchschnitt. Bei der älteren Generation waren
Jeans damals verpönt; in der Schule wurden sie
an den Buben gerade noch geduldet
für Mädchen waren sie absolut unmöglich, ausser vielleicht auf der Schulreise. Schliesslich galt damals
für Mädchen im Klassenzimmer noch «Jupeund Schürzenzwang»; Hosentragen war nur im
Winter bei hohem Schnee oder mindestens 10
Grad Kälte gestattet, und als Wärmespender waren und sind Jeans ziemlich ungeeignet.
Die Umsatzzahlen der Jeans wuchsen jedoch
stetig, wenn auch vorerst nur langsam. Der ent-
Um 16 Uhr IS Ist bei Lee in Ypern Feierabend.
Kaum ertönt die Klingel, stürmen die Arbeiterinnen
davon.
scheidende Durchbruch zur Massenware kam
Ende rd e sechziger Jahre, als die Jugend
auf die Barrikaden
selbstverständlich in Jeans
ging und gegen das Establishment rebellierte.
Damit wurden die Jeans zur antibürgerlichen
Gesinnungsmode, zum Symbol für Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit.
Und sie wurden zum ganz grossen Geschäft.
Denn die Sehnsucht nach Veränderung und Befreiung (auch vom Anzugzwang) beeinflusste
nicht nur die Kleidung der Jugendlichen. Jungsein selber wurde Mode, Freizeitgestaltung und
damit Freizeitbekleidung wurden wichtig. Und
schliesslich akzeptierten auch Leute über 30, denen man laut Slogan eigentlich nicht tranen
durfte, die «Revolutionsuniform»
als Symbol
der Jugendlichkeit. Die einstige Arbeiterhosc
wurde als Freizeitkleidung par excellence entdeckt, zunächst in der klassischen Form, bald
von cleveren Herstellern mit immer wieder
neuen Gags und Zierat versehen und modisch
abgewandelt. Blümchen, Flicken, Ziersteppnähte
kamen und verschwanden wieder; Buchumschläge, Handtaschen und Portemonnaies aus JeansStoff wurden lanciert, der «totale L
J eo ao nk s» machte kurz Furore; «vornehme» Jeans aus
Kord, aus Samt, sogar aus Goldstoff tanzten im
modischen Reigen mit, und selbst Modeschöpfer
wie Yves Saint-Laurent kamen um den JeansAnzug nicht herum.
Doch all die Modeströmungen, all der Firlefanz haben den normalen klassischen Blue Jeans
den Rang nicht ablaufen können. Sie sind als
Piece de resistance, von modischen Anpassungen
der Beinweiten abgesehen, unverändert geblieben. Sie sind nahezu überall salonfähig geworden, werden von Kindern, Frauen und Männern
jeden Alters und aller Bevölkerungsschichten
gleichermassen getragen. Rein äusserlich besteht,
jedenfalls nach Feierabend, kein
mehr zwischen Bankdirektor und
Man konnte behaupten, die Jeans
geschafft, wovon Ideologen kaum
Unterschied
Hilfsarbeiter.
hätten etwas
zu träumen
wagen.
36 Arbeitsgänge für eine Hose
Entsprechend der grossen Nachfrage läuft
die Jeans-Produktion auf Hochtouren. Bei Lee
Europe in Ypern (Belgien) bedeutet dies: sichere
Arbeit für 500 Näherinnen und rund 100 weitere
Arbeiter und Angestellte. Die riesige Fabrikhalle
wirkt denn auch wie ein Bienenhaus: In einem
verwirrenden Durcheinander von Fadenspulen
und Bündeln zugeschnittener Jeansteile wimmeln scheinbar zahllose blaugeschürzte Frauen
und Mädchen, die mit beinahe unglaublicher Behendigkeit ihre Arbeiten verrichten
die meisten schweigend, konzentriert, kaum von der
Nähmaschine aufschauend. Die Verständigung
mit ihnen ist schwierig, nicht nur weil die meisten nur ihre Muttersprache, Flämisch, sprechen; das Gesumme der Maschinen und die Musikberieselung aus einigen Deckcnlautsprechern
beschränken die Kommunikation auf freundliches
Lächeln. Erst wenn man sich eine Weile ganz
nah bei einem d
r e Mädchen aufhält, bemerkt
man, dass es bei rd e Arbeit singt. Eigentlich eine
verblüffende Erfahrung, diese Fröhlichkeit.
Denn die Arbeit an den Nähmaschinen ist schematisch und monoton; rentable Produktionszahlen lassen sich nur durch möglichst weitgehende
Arbeitsrationalisierung erreichen. Allein die
Näharbeiten sind je nach Modell in 34 bis 36
Arbeitsgange eingeteilt. Jede der 500 Näherinnen
ist auf einen Arbeitsgang voll trainiert und beherrscht daneben einen zweiten, um bei Ausfällen einspringen zu können. Etliche werden auch
zu «Einspringerinnen» ausgebildet und erreichen
bei mehreren Arbeitsgängen ein zugiges Tempo.
d e Arbeitspausen (je 15 Minuten vor- und nachmittags, eine halbe Stunde mittags) kann die Kantine
n
benutzt werden; Essen wird nicht serviert, die Arbeiterinnen können jedoch eine Suppe kaufen, Mitgebrachtes
verzehren und Getränke aus dem Automaten beziehen.
In
Neue Zürcher Zeitung vom 03.09.1977
1
Im Dschungel des Jeans-Marktes
Die Behauptung, der Jeans-Markt sei unübersichtlich, ist eine gelinde Untertreibung. lir
ist ein undurchdringlicher Dschungel, in dem die
neuen wilden Sträucher schneller wachsen, als
man die alten abschneiden kann.
Allein schon über die Verbrauchszahlen des
kleinen Schweizer Marktes streiten sich die
Fachleute. Von 3 Millionen pro Jahr reden die
einen, von 4.9 Millionen Jeans die andern; ein
Importeur schätzt die Zahl gar auf 6 Millionen.
Und was den Anteil der einheimischen Hersteller
am Produktionskuchen betrifft, schwanken die
Angaben zwischen 10 und 30 Prozent.
Für Hersteller und Importeure interessant ist
die Verteilung rd e Konsumenten auf Bevölkerungs- und Altersgruppen. Laut einem Artikel in
der «Tcxtil-Revue» vom Oktober 1976 sollen
1975 Manner und Knaben 58 Prozent, Frauen
und Mädchen 42 Prozent der in rd e Schweiz umgesetzten Jeans gekauft haben. An Kinder unter
15 Jahren gingen rund 2 Millionen Nietenhosen;
Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren kauften
770 000, Damen über 35 240 000 und Herren
über 35 340 000 Jeans.
Soweit ist alles noch relativ klar und statistisch erfassbar. Stürzt man sich jedoch ins Dikkicht rd e verschiedenen Marken, wird die Sache
uferlos. Da ist gerade noch auszumachen, dass
die drei Marktleader Levi's, Lee und Wrangler
vermutlich mit 20 Prozent am schweizerischen
Jeans-Markt beteiligt sind. Die restlichen 80 Prozent oder 4 bis 5 Millionen Jeans jedoch verteilen sich auf die verschiedensten kleinen und
grossen Hersteller von Marken- und namenloser
Ware.
Zukunftsaussichten
Man konnte sagen, bei den «Grossen» des
Jeans-Marktes herrsche vorsichtiger Optimismus,
was die Zukunft anbelangt. Der Trend, meinen
sie, gehe eindeutig zurück zur klassischen Jeans
ohne Schnickschnack. Mit weiterhin steigenden
Verkaufszahlen wird allerdings nicht gerechnet,
eher mit Stagnation. Und man hegt die Befürchtung, eine weitere ZerkrUmelung des Marktkuchens konnte dem Ruf der Ware und damit dem
Geschäft schaden. Ganz abgesehen davon, dass
die «Namenlosen aus dem Fernen Osten» die
Preise (auch der Markenware) drücken konnten
dies obwohl Jeansboutiquen-Besitzer rd e Meinung sind, echte «Jeans-Freaks» kauften stets
markenbewusst ein und seien bereit, für das
Image «ihrer» Marke auch mehr Geld auf den
Tisch zu legen. Dazu wäre zu bemerken, dass in
den Warenhäusern die bescheidenen, billigen,
namenlosen Jeans durchaus nicht in den Gestellen hängen bleiben. Qualitativ schlechte Jeans
und solche, die nicht gut sitzen oder dem modischen Geschmack nicht entsprechen, dürften allerdings in der Schweiz wenig Verkaufschancen
haben.
Daran, dass Jeans überhaupt aus der Mode
kommen konnten, scheint niemand auch nur im
entferntesten zu denken. Mit den Jeans scheint
es zu sein wie mit dem Auto: Solange kein vollwertiger Ersatz dafür da ist, werden sie weiter
gebraucht. Und was wäre schon ein vollwertiger
Ersatz für die lässig vergammelten, abgetragenen, verwaschenen, ausgefransten, wunderschönbässlichen Jeans?
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Knie jiiitlii'rÄilHii.ii
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6/7
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Aufnähen des «Ueberlritts» am Reissverschluss.
Einnähen der Waschanleituni; ins Taschenfutter.
Schritt/iaht.
Zuschneiden.
Ziernaht an den Gesässtaschen.
Rundnaht am Taschenfiitter der Vordertasche.
Aufsticken des Zierkreuzes an den C csasstaschen.
Numerieren der einzelnen Teile.
Annähen des Markenzeichens an den Gesässtaschen.
Seitennaht Vordertasche und Hosenbein.
Annähen der Gürtclschlaufen.
Gürtelschlaufen werden aus dem Ausschuss-Stoff
genäht.
Einschlagen der Kanten und Dampfen der Gesässtaschen.
Einnähen des Reissverschlusses.
Versäubern der vorderen Bundkanten.
Aufnähen von Endlosreissverschluss auf Stoffstreifen.
Aufnähen des Sattele'msaizes am Hinterteil.
Gesässnaht (Kappnaht).
Knopfloch und Einsetzen des Knopfes.
Ausstanzen der tZähne» zwischen zwei Verschlüssen.
Die einzelnen Arbeitsgange werden kontrolliert.
Ränder einfacher Nähte werden auseinandergebügelt.
Letzte Kontrolle, falzen, verpacken.
Prüfen der Stoffballen im Stoff lauer.
Neue Zürcher Zeitung vom 03.09.1977
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