Kapitel 4.5 - Institut für Friedenspädagogik Tübingen eV
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Kapitel 4.5 - Institut für Friedenspädagogik Tübingen eV
Kapitel 4.5 Amoklauf an Schulen In: Günther Gugel: Handbuch Gewaltprävention II. Tübingen 2010. Impressum Günther Gugel: Handbuch Gewaltprävention II Für die Sekundarstufen und die Arbeit mit Jugendlichen Grundlagen – Lernfelder – Handlungsmöglichkeiten. © 2010 Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. / WSD Pro Child e.V. Gestaltung: Manuela Wilmsen, eyegensinn Fotos: Alles Fotos Jan Roeder, Gauting, außer: Druck: Deile, Tübingen Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V Corrensstr. 12, 72076 Tübingen [email protected] www.friedenspaedagogik.de Das Handbuch Gewaltprävention II ist ein Projekt von WSD Pro Child e.V., als Kooperationsprojekt durch das Institut für Friedenspädagogik entwickelt und durch die Berghof Stiftung für Konfliktforschung gefördert. ISBN 978-3-93244452-4 Amoklauf an Schulen Dieser Baustein enthält Informationen über Vorkommen und Hintergründe von Schulmassakern. Des Weiteren werden Hinweise zur Vorbereitung auf und zum Handeln in solchen extremen Situationen gegeben, sowie Wege zum Umgang nach solchen Attacken aufgezeigt. Der Umgang mit Posttraumatischen Belastungsstörungen und Trauer ist dabei von besonderer Wichtigkeit. 649 denn wenn ein solcher iten, esk e r e b vor e l fäl lem b ro r „Die u le S ch so ll t e h sic fP au K. Materialien Für Lehrkräfte und Eltern • M1: Warum läuft ein Mensch Amok? __________________S.668 • M2: Abschiedsbrief________________________________S.669 • M3: Meinungen __________________________________S.670 • M4: Offener Brief der Opferfamilien __________________S.671 • M5: Checkliste extreme Gewaltvorfälle_ _______________S.673 • M6: Gutes Krisenmanagement _______________________S.674 • M7: Verwaltungsvorschrift Verhalten _________________S.675 • M8: Notfallpläne für Berliner Schulen _ _______________S.676 • M9: Raster für einen Notfallplan _ ___________________S.677 • M10: Verhalten in einer Amoksituation _______________S.678 • M11: Posttraumatische Belastungsstörung_____________S.679 • M12: Erstkontakt mit Traumaopfern___________________S.680 • M13: Hilfreich im Krisenfall_________________________S.681 • M14: Trauer_____________________________________S.682 • M15: Reaktionen auf Verlust________________________S.683 • M16: Auseinandersetzung in der Klasse________________S.684 • M17: Schule als verlässlicher Ort_____________________S.685 t es zu sp ät. rt, is “K alie a e in ol Grundwissen • Schwere Gewalt_ _________________________________S.650 • School Shootings _ _______________________________S.652 • Umgang mit Krisenereignissen_______________________S.657 • Traumatische Gewalterlebnisse_ _____________________S.662 • Umsetzung______________________________________S.666 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Nach dem Amoklauf in Winnenden am 11.3.2009 Wir müssen aufmerksam sein, das ist die Lehre, auf alle jungen Menschen – das gilt für Eltern, das gilt für Erzieher. Wir müssen alles tun, um zu schauen, dass Kinder nicht an Waffen kommen, dass ihnen auch sicherlich nicht zu viel Gewalt zugemutet wird in den verschiedenen Stellen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, 15.3.2009. Die Tat mahnt uns auch, darüber nachzudenken, ob wir unseren Mitmenschen immer die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen. Bundespräsident Horst Köhler, 14.3.2009. Schwere Gewalt Obwohl krisenhafte Ereignisse, wie sog. Schulmassaker oder Amokläufe, nur selten vorkommen, ist ihre Anzahl in den letzten Jahren gestiegen. Das erste School Shooting fand am 13.12.1974 in Olean, New York, (USA) statt als ein 18-Jähriger Schusswaffen und selbst gebastelte Bomben mit in die Schule brachte (vgl. Wickenhäuser 2005, S. 13). Über 100 weitere haben seitdem weltweit stattgefunden, 66 davon in den letzten zehn Jahren. Fast 200 Schüler und Lehrkräfte fielen den Gewalttaten zum Opfer. In Deutschland haben seit 1999 acht Amoktaten an Schulen stattgefunden, bei denen über 40 Menschen ums Leben kamen (vgl. Langer/Diehl 2009; Ludwig 2009). Solche Ereignisse kommen meist – da mögliche Anzeichen nur unzureichend wahrgenommen und verstanden werden – unerwartet und überraschend. Sie bringen die Betroffenen in eine existentielle Stresssituation, die sofortiges Handeln erfordert, das über Leben und Tod entscheiden kann. Auch wenn solche Ereignisse wohl nie vollständig verhindert werden können, kann man ihnen präventiv begegnen und sich auf sie vorbereiten. Hierzu gehören das Aufstellen von Notfallplänen, das Einüben von günstigen Handlungsweisen in Extremsituationen sowie der Umgang mit den Betroffenen nach dem Ereignis. Ein Amoklauf ist in den seltensten Fällen nur blindwütige Raserei, die sich impulsiv aus einer Situation heraus ergibt. Bei Amok handelt es sich in aller Regel um eine genau geplante und organisierte Tat. Fast alle Täter beschäftigen sich vor der Tat einige Zeit gedanklich mit dem bevorstehenden Gewaltakt und planen diesen oft sehr genau. Sie beschaffen sich gezielt die Tatwaffen, und wählen ihre Opfer in den meisten Fällen bewusst aus. Der Begriff „Amok“ ist das einzige aus dem Malaiischen entlehnte Wort (amuk) in der deutschen Sprache. Es bedeutet ursprünglich „wütend“, „rasend“, „im Kampf sein Letztes geben“. Amokkämpfer in Südindien oder Malaysia warfen sich mit Todesverachtung in die Reihen des Feindes. Gefallene Amokkrieger galten als Helden des Volkes und als Lieblinge der Götter. Handlungsreisende berichteten im 16. Jahrhundert über Malaien, die sich mit Opium berauschten, plötzlich mit einem Dolch bewaffnet auf die Straße stürmten und jeden niederstachen, der ihnen begegnete. Dabei riefen sie „Amok“ (vgl. Focus, 18/2002, S. 26). [M] Person unkenntlich gemacht 650 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Tätertypen Der Amokforscher Lothar Adler (2000) unterscheidet drei Tätertypen: 1. Die Schizophrenen: Sie bekämpfen aus einer Wahnvorstellung heraus irgendwelche bösen Mächte oder Invasoren aus dem All. 2. Die Depressiven: Sie bilden sich ein, durch eine schandhafte Tat etwa die Ehre ihrer Familie befleckt zu haben, und töten, um den ihnen Nahestehenden die Schmach zu ersparen. 3. Die Persönlichkeitsgestörten: In der Regel verbergen sich dahinter narzistische Persönlichkeiten, die beziehungsgestört und leicht kränkbar sind. Sie sind sehr bemüht, sich anzupassen. Zugleich haben sie eine ganz genaue, hochstrebende Vorstellung von sich selbst, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Diese Menschen erleiden deshalb eine Kränkung nach der anderen, und im Gegensatz zu den meisten Menschen vergessen sie keine davon. Die Schmach wühlt in ihnen, bis sie irgendwann gegen die ihrer Meinung nach ungerechte Welt losschlagen. Nahlah Saimeh, ebenfalls Amokforscherin, nennt als typische Merkmale von Amokläufern: Sie haben große Niederlagen erlebt und empfinden sich als Looser. In Familie, Schule oder Beruf sind sie isoliert. Sie besitzen kein funktionierendes soziales Netz. Der Wunsch, „ganz groß rauszukommen“, treibt sie zum Verbrechen. Die Entwicklung eines Amoklaufes beschreibt der Psychiater Volker Faust so (vgl. www.psychosoziale-gesundheit.de): • Im Vorstadium finden sich gehäuft Milieu-Schwierigkeiten, chronische Erkrankungen, der Verlust der sozialen Ordnung oder Demütigungen, Kränkungen, Beleidigungen bzw. eine Verminderung des persönlichen Ansehens. • Auf dieser Grundlage bekommen dann akute Belastungen körperlicher, seelischer oder psychosozialer Art eine besondere, letztlich verheerende Bedeutung. • Danach droht aber (noch) kein aggressiver Durchbruch, sondern das Gegenteil, nämlich Rückzug und Isolationsneigung. Dies kann verstanden werden als ein dumpf-diffuses, missgestimmtreizbares bis depressiv-feindseliges Brüten über reale oder eingebildete (imaginierte) Kränkungen oder Demütigungen. • Aus einem solchen Stadium der „verwirrten Sinne“ bricht plötzlich der eigentliche Amok-Zustand hervor. Der Betroffene wird von einem so genannten „Bewegungssturm“ ergriffen, mit planlosen Angriffs- oder Fluchtbewegungen. Er tut alles, um das Ausmaß an Zerstörung oder Tod möglichst extrem zu gestalten. • Den Abschluss bildete früher ein stunden- bis tagelanger schlafähnlicher bis stuporartiger Zustand. Heute werden Amoktäter i.d.R. während der Tat erschossen oder töten sich selbst. 651 Amok Der Begriff Amok ist zwar in aller Munde, wird aber inzwischen so breit und damit unscharf gebraucht, dass viele gar nicht mehr wissen, was er ursprünglich bezeichnete: eine plötzliche, willkürliche, nicht provozierte Gewaltattacke mit mörderischem oder zumindest erheblich zerstörerischem Verhalten. Danach Erinnerungslosigkeit und Erschöpfung, häufig auch Umschlag in selbstzerstörerische Reaktionen mit Verstümmelung oder Selbsttötung. Volker Faust http://psychiatrie-heute.net/ psychiatrie/amok.html Grundwissen ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen School Shootings School Shootings bezeichnen Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten oder zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden. Dieser Bezug wird entweder in der Wahl mehrerer Opfer deutlich oder in dem demonstrativen Tötungsversuch einer einzelnen Person, insofern sie aufgrund ihrer Funktion an der Schule als potenzielles Opfer ausgewählt wurde. „Amokläufe bzw. Massenmorde durch Jugendliche an Schulen“ und „schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen“ stellen geläufige Umschreibungen des Begriffes dar. Frank J. Robertz/Rubens Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007, S. 10. [M] School Shootings Bei der systematischen Auswertung von Schulmassakern konnten Kriminologen und Psychologen eine Reihe von Gemeinsamkeiten feststellen, wenngleich von keinem einheitlichen Profil ausgegangen werden kann (vgl. Bannenberg 2009, Landeskriminalamt NRW 2007, Wickenhäuser 2007, S. 31): •Junge Männer: Nahezu alle Täter waren junge Männer. •Familie: Die Täter stammen nicht aus besonders schwierigen oder „zerbrochenen“, sondern eher aus „funktionierenden“ Familien. •Psychische Auffälligkeiten: Die Täterpersönlichkeiten sind wohl in weitaus höherem Maße psychopathologisch (Depression/Schizophrenie) als bislang angenommen, wenngleich dies i.d.R. erst nach der Tat diagnostiziert wurde. • Einzelgänger: Es handelte sich bei den Tätern oft, aber nicht immer, um introvertierte Einzelgänger, die in ihrer subjektiven Sichtweise keine funktionsfähigen sozialen Strukturen aufweisen. •Verhaltensauffälligkeiten: Nur ein kleiner Teil der Täter hat bereits vor der Tat Gewalt gegen Menschen angewandt. Auch sonst waren sie nicht überproportional auffällig. •Schusswaffen: Die Mehrzahl der Taten wurden mit Schusswaffen durchgeführt. Fast alle Täter waren von Waffen fasziniert und hatten ungehinderten Zugang zu Waffen, die häufig den Vätern gehörten. Der gekonnte Umgang mit diesen Waffen war zuvor eingeübt worden. •Medien: Gewalt verherrlichende Video- und Computerspiele sowie Gewalt glorifizierende Musik spielten im Leben der meisten Attentäter zwar eine gewisse, aber nicht die dominante Rolle. Anerkennungszerfall Die dramatische Verengung und Vergeltung durch extreme Gewalt steht am Ende eines Anerkennungszerfalls. Anerkennungszerfall bedeutet nicht bloß den Verlust von Prestige, sondern löst die Persönlichkeit auf, weil niemand auf Dauer ohne Anerkennung leben kann. Der Fall ins Bodenlose steht zur Debatte. Auf existenzielle Fragen der sozialen Integration (Wer braucht mich? Wer nimmt meine Stimme ernst? Wohin gehöre ich?) gab es offensichtlich keine sinnhaften Antworten mehr, so dass insbesondere aufgetürmte Ungerechtigkeitsempfindungen sowohl den Kontrollverlust über den weiteren Lebensweg, als auch den Kontrollverlust über die Konsequenzen für andere in Gang setzt. Wilhelm Heitmeyer, Professor für Sozialisation, in: Blickpunkt Bundestag, 5/2002, S. 3. 652 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN •Kleidung: Häufig waren die Täter in einem martialischen schwarzen Outfit gekleidet und trugen Masken. Diese Maskierung dient nicht nur der Anonymisierung, sondern oft auch der Identifikation mit Rächerfiguren und auch dem Ausdruck der eigenen Macht. • Planung: Die Tat wurde lange vor der Durchführung detailliert geplant und oft regelrecht inszeniert. • Andeutungen: Die Täter haben kurz vor der Durchführung ihrer Pläne Andeutungen oder Drohungen zur Umsetzung ihrer Tat gemacht, diese wurden jedoch vom Umfeld entweder nicht erkannt oder nicht ernst genommen. •Tatanlass: Als Tatanlass werden regelmäßige Kränkungen, Demütigungen, Verluste gesehen, die von den Tätern als schwerwiegend wahrgenommen werden. • Nachahmer: Es zeigte sich, dass Gewalttaten, die den Täter durch eine allgegenwärtige Medienberichterstattung prominent machen, bei psychisch instabilen jungen Menschen den Wunsch zur Nachahmung auslösen. Schulmassaker in Deutschland In den letzten Jahren haben an deutschen Schulen mehrere schwere Amokläufe stattgefunden. Erklärungen und Ursachenerforschung sind schwierig, und die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Gewalt bildet fast immer den Endpunkt eines Weges, der bei dem Täter durch eine schrittweise Verengung der Perspektiven gekennzeichnet ist, bis nur noch die finale Tat als denkbare Option erscheint. Der jugendliche Amokläufer fühlt sich ausgegrenzt und verhöhnt von einer ihn zurückweisenden Welt, in der er seine eigene Bedeutung und Macht schließlich in einem gewaltvollen Finale unter Beweis stellen will. • Meissen, 9.11.1999: Der 15-jährige Andreas S. stürmt maskiert ins „Franziskaneum“, das städtische Gymnasium. In seiner Klasse stürzt er sich auf die Deutsch- und Geschichtslehrerin Sigrun L. und sticht 22-mal auf sie ein. Die 44-Jährige verblutet. Andreas S. gibt als Motiv „Hass“ an. Er wird zu siebeneinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. • Brannenburg, 16.3.2000: Der 16-jährige Schüler Michael F. schießt im Treppenhaus des Schloss-Internats im oberbayerischen Brannenburg auf den Schulleiter Reiner G. und fügt sich anschließend selbst schwere Verletzungen zu. Der 57-jährige Pädagoge stirbt später an seinen Kopfverletzungen. Michael F. liegt seit der Tat im Wachkoma. • Freising, 19.2.2002: In Eching bei München erschießt der 22-jährige Adam L. seinen ehemaligen Chef und einen Vorarbeiter. 653 Nicht verstehen Vorsicht ist bei Spekulationen über die Motivlagen der Täter geboten. Außer den äußerlichen Tatabläufen und sehr wenigen Selbstäußerungen stehen dafür keine verlässlichen Informationen zur Verfügung. Ganz offensichtlich folgt die Logik von Amokläufen einem anderen Muster als die in Form von Abschiedsbriefen zumindest ansatzweise erläuterte Selbsttötung. Amokläufe von Jugendlichen erzeugen deshalb neben dem Entsetzen der Sprachlosigkeit und der Trauer über die Opfer immer auch Erklärungsnöte, weil man die Handlung nicht nachvollziehen/verstehen kann. Deutsches Jugendinstitut: Der Amoklauf von Winnenden. Arbeitspapier, 18.3.2009. Grundwissen Aus dem Skizzenbuch der Täter des School Shootings von Columbine. Jefferson County Sheriff‘s Office: Columbine Documents. ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Nachahmungstäter Folgende Faktoren der Berichterstattung über Selbstmorde weisen eine besondere Bedeutung für Nachahmungstaten auf: • Vereinfachte Erklärungen, •eine Sinnzuweisung des Selbstmordes, •die Darstellung konkreter Selbstmordmethoden, •die Beschreibung von positiven Eigenschaften des Toten. Studien weisen darauf hin, dass dieser Nachahmungseffekt auch bei Schulmassakern auftritt. Daher ist die Medienberichterstattung bei School Shootings zu überdenken. Vgl. Frank J. Robertz/Rubens Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007, S. 98 f. Anschließend fährt er nach Freising und wirft zwei Rohrbomben ins Rektorat der Wirtschaftsschule. Er tötet den Direktor mit drei Schüssen. Auf dem Flur begegnet er einem Religionslehrer, dem er durch die Wange schießt. Dann begeht L. Selbstmord. • Erfurt, 26.4.2002: Der 19-jährige Robert S. erschießt 12 Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten und begeht dann Selbstmord. • Waiblingen, 18.10.2002: Der 16-jährige Marcel K. nimmt zehn Schüler und eine Lehrerin als Geiseln. Er ist mit einer schusssicheren Weste, einer Luftpistole und Bombenattrappen ausgerüstet. Nach intensiven Verhandlungen lässt er die Geiseln frei und ergibt sich. • Coburg, 2.7.2003: Ein 16-jähriger Schüler schießt eine Lehrerin an und tötet sich anschließend selbst. Die Waffe stammt aus dem Waffentresor des Vaters. • Emsdetten, 20.11.2006: Ein bewaffneter 18-Jähriger stürmt maskiert und bewaffnet in seine ehemalige Schule, schießt wahllos um sich und wirft Rauchbomben. Elf Kinder werden durch Schüsse verletzt. Danach erschießt er sich selbst. • Winnenden, 11.3.2009: Der 17-jährige ehemalige Schüler Tim K. dringt in die Albertville Realschule ein, erschießt neun Schülerinnen und Schüler und drei Lehrkräfte. Auf der Flucht erschießt er drei weitere Personen, bevor er sich selbst umbringt. 15 Personen werden z.T. schwer verletzt. Vgl. Frankfurter Rundschau, 24.4.2007, S. 25; Stern, 20/2002, S. 44 f.; Die Welt, 12.3.2009. Warum Schule? Die Wahl des Schauplatzes für die Inszenierung des Abgangs fällt auf den letzten Arbeitsplatz oder eben die Schule, die als Symbol des misslungenen Lebens und als der Ort erscheint, an dem alles Unglück seinen Anfang nahm. Im Amoklauf werden die Kindheitstraumata in den Triumph des Erwachsenen verwandelt und all die Niederlagen und die Ohnmacht von einst verblassen angesichts der machtvollen finalen Demütigung der Demütiger. Warum beschränkt sich der Racheimpuls nicht auf Lehrer, sondern schließt Schüler mit ein? Sie symbolisieren eine in die Zukunft weisende Lebendigkeit, die, weil sie der Amokläufer nicht finden konnte, nun keinem zuteil weden soll. Das Glück, das Kinder in guten Augenblicken umgibt, kann in dem zu Lebzeiten bereits Gestorbenen und vom Leben Enttäuschten, der sich zum Anwalt seiner Zerstörung gemacht hat, einen unbändigen Vernichtungsimpuls hervorkitzeln. Sein Hass entlädt sich gegen jene, die ihn an versunkene eigene Glücksversprechen erinnern und schwach und ohne Schutz sind. Götz Eisenberg: Tatort Schule. In: Frankfurter Rundschau, 24.4.2007, S. 25. 654 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Kann man Amokläufe verhindern? Die Meinungen darüber, ob man Amokläufe verhindern könne, gehen auseinander. Verschiedene Fachleute vertreten die Ansicht, dass derartige Ereignisse eher schicksalhaften Charakter hätten, dass man sie weder verhindern oder „vorausahnen“ könne. Andere weisen darauf hin, dass es im Vorfeld solcher Ereignisse immer auch Hinweise und Symptome gäbe, die als Hilferufe zu verstehen seien, die zeigten, dass jemand mit seinen Problemen nicht zurecht komme. Begreift man schwere Gewalttaten und Amokläufe nicht als Schicksalsschläge, sondern als krisenhafte Entwicklungen, so gibt es vielfältige Möglichkeiten auf Warnsignale zu reagieren. Hierzu gehören u.a. Gewaltdrohungen (mit konkreten Zeit und Ortsangaben), Suizidäußerungen, Zugang oder Besitz von Waffen, Rückzug und Isolation sowie das Gefühl der Ausweglosigkeit. Das Problem der Erkennung solcher Frühwarnsignale liegt jedoch darin, dass sie oft zu wenig trennscharf sind und dadurch auf viele Jugendliche zutreffen und somit die Gefahr besteht, ein Klima von Verdächtigungen zu schaffen. Solche Hinweise, die sich nach Amokläufen immer rekonstruieren lassen und auch immer vorhanden sind, vor einer Tat rechtzeitig zu erkennen, ist das Ziel des Berliner LeakingProjektes. „Beim Leaking lässt der Täter seine Tatfantasien oder Pläne im Vorfeld ‚durchsickern‘. Somit bietet dieses Phänomen einen Anhaltspunkt für ein präventives Eingreifen“ (www.leakingprojekt.de). Leaking? „Leaking“ kann auf unterschiedliche Art erfolgen: 1. direkt • mündlich (z.B. Ankündigungen/Drohungen am Telefon oder in einem direkten Gespräch); • schriftlich (per SMS, Email, Brief, in einem Aufsatz oder auf Internetseiten); • zeichnerisch (z.B. Bilder, Comics, Graffitis). 2. indirekt = auffällige Verhaltensweisen eines Schülers in der letzten Zeit: • übermäßiges Interesse an Waffen, Gewalt, Krieg; ständiger Bezug auf diese Themen; • Sammeln von Material über School Shootings, Amoktaten, Massenmörder etc.; • demonstratives Tragen von Tarnkleidung; • Suizidversuche und -drohungen. www.leaking-projekt.de/index.php?id=10 655 Grundwissen Die Begleitumstände Amok ist ein Phänomen jenseits von Krankheit, Kriminalität und Kontrolle. Die Begleitumstände des modernen Amoklaufs treffen auf zu viele zu, um für Präventionsansätze tauglich zu sein: Man(n) liebt Waffen oder virtuellen Waffenersatz, trainiert mit ihnen, man(n) übt sich in der Entmenschlichung (Dehumanisierung) der vermeintlichen Gegner, man(n) teilt sich niemandem mit. Kein Staat, keine Polizei kann das kontrollieren. Joachim Kersten: Jugendgewalt und Gesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B44/2002, S. 20. ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Waffen Ausgerechnet Deutschland, das sich gern als friedliche Nation bezeichnet, ist in Wahrheit ein Land unter Waffen, mit 8 bis 10 Millionen legalen Feuerwaffen und mindestens 20 Millionen illegalen. Die Faszination Flinte ist kaum geringer als die Faszination Auto. Und so wie das eine an den Urinstinkt anknüpft, jederzeit flüchten zu können, so das andere an den, töten zu können, um zu überleben. Der Spiegel, 13/2009, S. 42. Im Bereich der primären Prävention gilt es Verantwortlichkeiten in vielfältigen Bereichen zu erkennen und wahrzunehmen: •Eltern: Welchen Erwartungsdruck vermitteln Eltern? Bleibt Zeit für Auseinandersetzung und Anerkennung? •Freunde und Bekannte: Ist genügend Neugier vorhanden, den anderen auch als Mensch kennenzulernen? Wird vom anderen Rechenschaft für sein Verhalten verlangt? Wird eine gewisse Verantwortung für sein „Wohlergehen“ empfunden? •Schule: Werden neben Leistung und Noten auch Mitmenschlichkeit und Solidarität vermittelt und gelebt? Werden Alarmsignale erkannt? Werden Konfliktlösungsmöglichkeiten eingeübt, Schwächen nicht ausgenützt und Stärken gefördert? •Medien: Werden alle Möglichkeiten der Unterbindung von Gewalt verherrlichenden Medien ausgeschöpft? Wird die Produktion und der Vertrieb solcher Medien auf ihre Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit geprüft? •Waffen: Wie kann verhindert werden, dass Waffen problemlos legal (und illegal) zu beschaffen sind? Wie kann sichergestellt werden, dass Waffen „sicher“ aufbewahrt werden? •Gesellschaft: Wie kann eine Kultur des Friedens und der Anerkennung entwickelt werden, die Gewalt auf allen Ebenen tabuisiert, die auch den Schwächeren eine erstrebenswerte Zukunft und einen Platz in der Gesellschaft ermöglicht? •Politik: Wie kann erreicht werden, dass Politik sich stärker um die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen kümmert? Warnsignale erkennen, Normen verdeutlichen, zur Seite stehen Es kommt darauf an, die Warnsignale zu erkennen und den Jugendlichen dann auf dreifache Weise zu begegnen. Weitere Informationen müssen gesammelt werden, Normen des Zusammenlebens müssen verdeutlicht werden, vor allem aber muss den Jugendlichen klargemacht werden, dass ihre im Vorfeld subjektiv unlösbar erscheinenden Probleme nicht unlösbar sind. Sie müssen begreifen, dass ihnen von diesem Zeitpunkt an Erwachsene zur Seite stehen – nicht um zu strafen, sondern um auch Hinweise zu geben auf die Lösung der immer gleichen Kernprobleme: Wege zu Anerkennung, Kontroll-Erleben, soziale Bezugspersonen, Einbindung in die Gesellschaft und Umgang mit Kränkungen. Schwere, zielgerichtete Gewalt ist immer die allerletzte Option für diese Jugendlichen, also muss ihnen eine Alternative aufgezeigt werden. Das können Schulpsychologen, jedoch auch Lehrer tun, die das Wohlergehen ihrer Schützlinge ernst nehmen. Frank Robertz: Die Statistik des Leids. Nach dem Amoklauf in Winnenden. Süddeutsche Zeitung, 16.3.2009. www.sueddeutsche.de/,tt5m1/panorama/165/461787/text/ 656 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Umgang mit Krisenereignissen Notfallsituationen sind gekennzeichnet durch ihre geringe Wahrscheinlichkeit des Auftretens, durch ihre Unvorhersehbarkeit und Unterschiedlichkeit, durch die Bedrohung für Leben und Wohlbefinden und die Notwendigkeit des schnellen Eingreifens. „Die Schulleiterin oder der Schulleiter (Schulleitung), die Lehrkräfte, die sonstigen Bediensteten der Schule und die Schülerinnen und Schüler müssen vorbereitet werden, Gewaltvorfälle wie Bombendrohungen, Geiselnahmen usw. und Schadensereignisse wie Brände, Katastrophen, Unglücksfälle richtig einzuschätzen und unter Einschaltung der dafür fachlich zuständigen Stellen zu bewältigen. Die Lehrkräfte und die sonstigen Bediensteten an Schulen sind verpflichtet, sich rechtzeitig mit den dargelegten Verhaltensregeln vertraut zu machen und sie im Ernstfall zu beachten.“ So die Verwaltungsvorschrift 1721.6-7/16 des Kultusministeriums Baden-Württemberg über Gewaltvorfälle und Schadensereignisse an Schulen. In den letzten Jahren haben fast alle Bundesländer sog. Notfallpläne für Schulen als Verwaltungsvorschriften erlassen. Diese sind unterschiedlich konkret und regeln (wie z.B. in Baden-Württemberg) oft nur Zuständigkeiten. Notfallpläne können Amokläufe nicht verhindern. Sie können jedoch dazu beitragen, die Folgen abzumildern. Trotz dieser Pläne bleibt die Feststellung von Eikenbusch (2005, S. 7) richtig, dass in vielen Krisen Lehrkräfte unvorbereitet, hilflos und unsicher sind. Dabei entscheidet sich, ob und wie eine Krisensituation bewältigt werden kann, lange vor der Krise durch die Art und Weise der Auseinandersetzung mit und der (inneren und äußeren) Vorbereitung auf solche Notfallsituationen. •Notfallpläne: Individuell ausgearbeitete Notfallpläne für Schulen legen fest, wer bei Krisen/Notfällen welche Aufgabe übernimmt, wie die Verantwortlichen in Krisenfällen erreichbar sind, was bei bestimmten Ereignissen zu tun ist, wer welche Unterstützung leisten kann, wer die Schüler, die Eltern, die Öffentlichkeit informiert usw. (vgl. Eikenbusch 2005). Um mit solchen Plänen auch wirkungsvoll umgehen zu können, ist die Einrichtung von Notfall- oder Krisenteams in der Schule Voraussetzung. •Notfallordner: Als ein wichtiges konkretes Hilfsmittel haben sich sog. Notfallordner erwiesen, die an einem leicht zugänglichen zentralen Ort aufgestellt werden und alle wesentlichen Informationen in Form von Checklisten enthalten. 657 Notfallplan für Schulen in NRW Das NRW-Schulministerium hat unter dem Stichwort „Hinsehen und Handeln“ einen Notfallplan für die Schulen des Landes erstellt. Darin sind Handlungsvorschläge für Gewaltvorfälle, Krisensituationen und extremistisch motivierte Vorfälle enthalten. „Hinweise zum Notfall können in akuten Belastungssituationen nur dann gefunden werden, wenn der Umgang mit ihnen geübt ist“, heißt es in einem Anschreiben an die Lehrer. Der 117 Seiten starke Ordner unterscheidet zwischen drei Gefährdungsgraden und enthält auch Hinweise für das richtige Verhalten bei Mord/Amok- und Totschlagdrohungen im Internet oder per SMS. Ebenfalls enthalten sind Formulierungsvorschläge für einen Elternbrief nach dem Tod eines Schülers. Einzelheiten zu den Empfehlungen will das Schulministerium nicht mitteilen. „Wir wollen vermeiden, dass sich potenzielle Täter darauf einstellen“, sagte Sprecher Jörg Harm. Kölner Stadtanzeiger, 28.11.2007 Grundwissen ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Indikatoren, die auf eine substantielle Drohung hinweisen: • Die Äußerung enthält spezifische Details wie etwa Daten oder Orte. •Sie wird wiederholt oder vor unterschiedlichen Menschen geäußert. •Sie enthält konkrete Handlungspläne. •Der drohende Schüler hat Komplizen oder versucht, Zuschauer für seine Tat zu werben. •Es liegen konkrete materielle Hinweise vor, beispielsweise eine Schusswaffe oder eine Liste potenzieller Opfer. Sannah Koch: Wie erkennt man School Shooter? In: Psychologie heute, 11/2007, S. 38. Vgl. Frank J. Robertz/Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Berlin 2007. •Koordination der Abläufe: Zentral für das Handeln in Notfällen ist der Personenschutz und die Mobilisierung von professionellen Einsatzkräften wie Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste. Regelmäßige Übungen dienen dazu, Missverständnisse und Schwierigkeiten zu beheben. •Bedrohungsanalyse: Zur Einschätzung von Drohanrufen, Drohschreiben oder im Internet veröffentlichten Drohformulierungen müssen Fachleute der Polizei hinzugezogen werden. •Drohungen: Substantielle Drohungen müssen ernst genommen werden. Mögliche Reaktionen reichen von Gesprächen mit dem Betroffenen und seinen Eltern über Verhaltenstrainings bis hin zu Strafanzeigen, Hausdurchsuchungen und – bei dringendem Tatverdacht – Festnahme durch die Polizei. •Pressearbeit: Der sensible Umgang mit den Medien, die bei Gewaltdrohungen und Gewaltvorfällen oft dazu neigen, nicht sachlich, sondern sensationsheischend und voyeuristisch zu berichten, ist wichtig. Es muss klar sein, über wen (ausschließlich) die Presseinformation läuft. •Verhalten in Gewaltsituationen: Eine der schwierigsten Aufgaben ist die Entwicklung von günstigen Handlungsweisen in Gewaltsituationen. Opferschutz hat Vorrang vor der Identifizierung oder Verfolgung des Täters. Deckung und Schutz suchen, Klassen zusammenhalten, Türen verschließen und Fenster und Türen zu meiden sind dabei grundlegende Verhaltensweisen zu denen auch gehört, dass Fluchtwege für Täter offengelassen und nicht abgeschlossen werden dürfen (vgl. Wickenhäuser 2007, S. 214). In speziellen Trainings kann der Umgang mit Gewaltsituationen zwar geübt werden, wie die eigenen Reaktionen in einer Realsituation jedoch tatsächlich sein werden, ist nicht planbar. 658 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Amokprävention Die folgenden Präventionsmaßnahmen zielen auf die Stärkung von Schutzfaktoren ab: • Schulpsychologische und sozialarbeiterische Konzepte; •Förderung und Stärkung des Selbstbewusstseins; •Vermittlung von Selbstwirksamkeitserleben und Erfolgserfahrungen (die der Kränkbarkeit bzw. potenziellen Kränkungen als Tatauslöser entgegenarbeiten); •Abbau von Ängsten (z.B. bezüglich Noten oder Versetzung). Als Präventionsmaßnahmen zur Verminderung von Risikofaktoren gelten etwa: •Zugangskontrolle zu Waffen. •Verbot bzw. Kontrolle bestimmter Gewaltdarstellungen. Die einzelfallbezogene Prävention (Krisenintervention) muss darin bestehen, die „Problemschüler“ zu erkennen, beispielsweise anhand von Vorbereitungshandlungen und Planungen, und zugleich Hilfen anzubieten. Grundsätzlich sollten, nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Spezifität der Merkmale, produktive, helfende Maßnahmen den sanktionierenden Maßnahmen vorgezogen werden. Der „Weg eines Amoktäters“ (Hoffmann, 2007) lässt sich an den folgenden Stellen durchkreuzen, wobei die entsprechenden Maßnahmen sukzessive von der Prophylaxe – zuerst Stärkung der Schutzfaktoren, dann Abbau von Risikofaktoren – zur Krisenintervention übergehen: •Verhinderung der sozialen und persönlichen Defizite; •Verhinderung der Kränkung; •Verhinderung der Nebenrealitätsbildung; •Verhinderung der Entwicklung von Tötungsfantasien; •Verhinderung der Voraussetzungen für die Realisierung der Tat (Waffenzugang, Übung im Umgang); •Verhinderung der Tatrealisierung. Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen: Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext. Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle. Analysen Nr. 3/2007, S. 11 f. [M] Presserat rügt Berichte über Tat in Winnenden Der Deutsche Presserat hat die Berichterstattung der Bild- Zeitung und ihrer Online-Ausgabe zum Amoklauf von Winnenden gerügt. Beanstandet wurde unter anderem die mehrseitige Berichterstattung der Bild unter den Überschriften „Seid ihr immer noch nicht tot?“ sowie „Wie wurde so ein netter Junge zum Amokschützen?“. Ein ganzseitiges Bild zeige den Amokläufer mit gezogener Waffe in einem Kampfanzug. Diese Fotomontage verbunden mit der Überschrift „Seid ihr immer noch nicht tot?“ ist nach Ansicht des Beschwerdeausschusses des Presserates unangemessen sensationell. Sie stelle den Amoktäter in einer Heldenpose dar. Süddeutsche Zeitung online, 22.5.2009. Grundwissen [M] 659 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Erfurt, 26. April 2002 Grundwissen Der 19-jährige Schüler Robert S. tötet in seiner ehemaligen Schule, dem Gutenberg Gymnasium in Erfurt, 16 Menschen und sich selbst. Dieser Massenmord schockierte ganz Deutschland. Die Medienberichterstattung In allen Programmen gierte man nach authentischen Bildern. Hatte man sie, wiederholte man sie permanent, ohne ihre Widersprüche zu erkennen. So lief am Tag der Tat in allen Nachrichtensendungen ein fast identischer Kurzfilm ab, dessen Bilder nichts über die Tat verrieten, meint der Journalist Dietrich Leder (Funkkorrespondenz Nr. 19, 10.5.2002). Mangels Aufnahmen vom Tatort ließ RTL die Morde in einer Kölner Schule nachinszenieren. Andere Sender rekonstruierten die Vorgänge im Erfurter Gutenberg-Gymnasium am Computer. Johannes B. Kerner reiste im Auftrag des ZDF noch am Tag der Tat nach Erfurt, um dort live unter anderem einen elfjährigen Augenzeugen nach seinen Wahrnehmungen und Überlegungen zu fragen. Der Spiegel zum „Rauswurf“ „Es war ein hektischer Rauswurf ohne Netz und ohne Boden, und für Robert war es so etwas wie ein Todesurteil. Es war die endgültige Niederlage. Und der Anstoß zur Tat.“ Der Spiegel, 19/2002, S. 138. Die Schule Robert hatte sehr schlechte Noten. Er sei faul, sagten die Lehrer, mache die Aufgaben nicht. Doch statt Hilfe gab es Demütigungen. Die elfte Klasse machte Robert nochmal. Er versuchte die Prüfung zum Realschulabschluss zu machen, gab aber schnell wieder auf. Als es im neuen Schuljahr nicht besser lief, schwänzte er die Schule. Um das Schwänzen zu verstuschen, fälschte er Atteste. Als die Fälschung aufflog, wurde er im September 2001 zu einem Gespräch bestellt, und in seinem Beisein wurde beschlossen, ihn an eine andere Schule zu verweisen. Der Schulpsychologische Dienst des Schulamtes wurde nicht eingeschaltet. Eine Schulkonferenz hat es für Robert S. nie gegeben. Zuhause tat er so, als ob er weiter ins GutenbergGymnasium ginge. Seinen Freunden sagte er, er habe die Schule gewechselt. Statt in die Schule ging er ins Café Marathon. Seinen Eltern legte er ein gefälschtes Zwischenzeugnis vor. Der 26. April war der Tag der letzten Klausur, und bald wäre Robert aufgeflogen. 660 Gemeinsame Erklärung der Kultusministerinnen und Kultusminister zu den Morden im Erfurter Gutenberg-Gymnasium (Auszug) Die gesamte Gesellschaft muss sich fragen, wie wir Tag für Tag mit Gewalt umgehen. Nicht nur in den Medien wird Gewalt allzu oft als einfaches Mittel zur Problemlösung dargestellt. Die Gewaltbereitschaft insgesamt hat leider zugenommen. Sie kann auf lange Sicht nur durch ein grundlegendes Umdenken der Gesellschaft gesenkt werden. Dabei müssen sowohl Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler als auch alle anderen gesellschaftlichen Gruppen mitwirken. Der Schützenverein Robert S. besaß seine Waffen legal. Er war Mitglied im Erfurter Polizeisportverein Schützenverein Domblick e.V. Am Schießstand wurde Robert im zielsicheren Umgang mit Waffen ausgebildet. Robert schoss regelmäßig. Er wurde als guter Schütze eingeschätzt. Im Oktober 2001 erwarb er die spätere Tatwaffe, die 9-mm-Glock. Danach wurde er nicht mehr im Schützenverein gesehen. ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Gewalttaten entstehen nicht im luftleeren Raum. Es sind oft lange Prozesse von Enttäuschungen, Demütigungen, mangelnder Anerkennung, die das Leben ohne Hoffnung erscheinen lassen und scheinbar keine Lebensperspektive bieten. Kausale Zuschreibungen oder einseitige Schuldzuweisungen sind nicht angebracht, sie helfen nicht weiter. Die Familie In einem offenen Brief hat die Familie des Todesschützen von Erfurt ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung über das Blutbad ausgedrückt: „Seit dieser schrecklichen Tat fragen wir uns immer und immer wieder, woher der Hass und die Verzweiflung von Robert kamen, und warum wir nichts davon vorher erfahren haben. Wir waren bis zu dieser brutalen Wahnsinnstat eine ganz normale Familie und haben Robert anders gekannt. Bis jetzt haben wir noch nicht die Zeit gefunden, um unseren Sohn und Bruder zu trauern, wir denken nur an die Opfer und sind mit unseren Gedanken bei ihren Familien.“ „Aus vollkommen heiterem familiären Himmel geschehen solche Taten nicht. Viele Familien, die nach außen vollkommen ‚normal‘ aussehen, sind innen eine einzige Szenerie von Gleichgültigkeit und Kälte, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten. Viele Eltern wissen selbst nicht mehr, was richtig und was falsch ist, woran sie sich in puncto Erziehung halten sollen. Götz Eisenberg, Psychologe PC Spiele Robert S. spielte gern und viel am Computer. Als Polizisten nach dem Amoklauf sein Zimmer durchsuchten, fanden sie unzählige Computerspiele. Unter den vielen Ballerspielen waren auch indizierte. Schuld Abschreckend ist ein Großteil der Debatte um Ursache und Schuld. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre die Katastrophe von Erfurt ein gefundenes Fressen für notorisch heißhungrige Antwortmaschinen: Schärfere Waffengesetze, Verbot von Gewaltvideos, Heraufsetzen der Volljährigkeit, mehr Schulpsychologen. All diese Ursachen verstellen das, was eben nicht dingfest zu machen ist, weil es eben kein Ding und keine Sache ist, die Sprache der Worte und der Beziehungen, die Sprache der Ideen, der Wünsche und der Relationen zwischen den Menschen. Reinhard Kahl in: Pädagogik 6/2002, S. 64. Fragen Gibt es einen Zeugen, der sagt: Ich war in seiner Nähe, ich habe versucht ihn zu erreichen? Friedrich Ani, Schriftsteller 661 Grundwissen Die Politik Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien sowie alle führenden Politiker gaben Erklärungen und Stellungnahmen zu dem Attentat in Erfurt ab. Dass Robert S. seine Tat genau an dem Tag verübte, an dem der Deutsche Bundestag ein neues – liberaleres – Waffenrecht verabschiedete, war sicher nicht beabsichtigt. Die Clique Robert gehörte zu einer Clique, mit der er EgoShootings im Cyberspace zelebrierte und Death-Metal hörte. Sie trafen sich auf dem Domplatz oder organisierten sog. LAN-Parties für Computerspiele. Einem Jungen aus der Clique zeigte er auch stolz seine Waffen und die Munition. Mit einem aus der Clique war er am letzten Abend vor dem Amoklauf noch zusammen. In der Clique durfte er sein, wie er war, verschlossen und einsilbig, denn hier war das cool. Es gab keine Nachfragen, keine Diskussion. „Es ist erschreckend, wir wussten von Robert nahezu nichts“, sagte einer aus der Clique später. ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Post Traumatic Stress Disorder (P.T.S.D) Post Traumatic Stress Disorder is a natural emotional reaction to a deeply shocking and disturbing experience. It is a normal reaction to an abnormal situation. www.ptsd.org.uk/what_is_ ptsd.htm Traumatische Gewalterlebnisse Im Kontext von Gewalthandlungen kommt es oft zu traumatischen Erlebnissen, die bei Opfern und Zuschauern zu sog. Posttraumatischen Belastungsstörungen führen können. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine mögliche Reaktion auf eines oder mehrere traumatische Ereignisse. Prinzipiell können vier verschiedene Erfahrungszusammenhänge unterschieden werden (Bolt 2005, S. 31): •Erfahrungen im sozialen Nahraum, wie z.B. häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, Misshandlungen und Vernachlässigungen in der Familie, Trennung durch Scheidung oder Tod. •Erfahrungen im Gesellschaftskontext wie Krieg, Folter, Terrorakte, Verfolgung. •Erfahrungen mit Großschadensereignissen wie Naturkatastrophen, Unglücksfällen. •Mittelbare Erfahrungen, wie Zeuge von Traumatisierungen von anderen werden, Computerspiele, Horrorfilme. Es kommt bei einer Traumatisierung oft zum Gefühl von Hilflosigkeit und zu einer existentiellen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Das Entscheidende an der Traumatisierung ist der Verlust der Sicherheit und die Unterbrechung des Kontaktes zu anderen. Die Welt und das eigene Leben sind nach dem Trauma nicht mehr wie zuvor; Beziehungen müssen neu aufgebaut und neu definiert werden. Das Störungsbild ist u.a. geprägt durch: •sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma oder Erinnerungslücken (Albträume, Flashbacks, partielle Amnesie); •Übererregung (z.B. Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Konzentrationsstörungen); •Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziativer Eindrücke); •emotionale Taubheit (z.B. allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit); •Verhaltensauffälligkeiten (z.B. bei Kindern und Jugendlichen). Die Symptomatik ist individuell sehr verschieden und kann auch mit mehrjähriger Verzögerung noch auftreten. Die Häufigkeit des Auftretens ist abhängig von der Art des Traumas. 662 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN Umgangsmöglichkeiten Die „Erstversorgung“ traumatisierter Personen wird als zeitnahe Maßnahme (beginnend am Ort des Geschehens) oft von sog. Kriseninterventions-Teams vorgenommen. Die sich anschließenden Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien verlaufen i.d.R. in drei Stufen: 1.Stabilisierung, Kommunikation, Sicherheit: Herstellung von äußerer (und innerer) Sicherheit: Schutz vor Wiederholung der traumatischen Ereignisse, Ausschluss von Kontaktmöglichkeiten zum Täter, Herstellung einer sicheren Beziehung und einer verlässlichen Kommunikationsbasis durch feste Bezugspersonen, bewusste aktive Planung (Strukturierung) des Alltags usw. 2.Verarbeitung und Erinnern des Traumas: Trauerarbeit durch verbale und nonverbale Ausdrucksformen, Wiedererleben und Durcharbeiten. 3.(Re-)Integration, Aktivierung eigener Ressourcen durch Mobilisierung der Selbstheilungskräfte. Gewinnung neuer Sinnzusammenhänge und Lebensperspektiven. Die erste Stufe wird dabei oft der traumapädagogischen Arbeit zugeschrieben, während die Stufen zwei und drei als Aufgaben der Traumatherapie bezeichnet werden. Als Grundregel kann gelten: Es ist besser sich mit den belastenden Ereignissen auseinander zu setzen als diese zu verdrängen, zu verleugnen oder zu verniedlichen, auch wenn dies für den Moment schmerzhafter ist (vgl. Gugel/Jäger 1999, S. 123 ff.). Alarmsignale Das Verhalten der Schüler beobachten, Alarmsignale wahrnehmen: • andauernde Apathie; • andauerndes depressives Verhalten; • wiederkehrende – unmotivierte – Aggressivität; • erhebliches und andauerndes Fehlen; • Klagen über Schlaflosigkeit, Albträume, Appetitverlust, Magenschmerzen, Kopfschmerzen, andere psychosomatische Beschwerden. Tritt solches Verhalten bei Schülern auf, sollen Hilfsund Interventionsangebote wahrgenommen werden. Gerhard Eickenbusch/ Ragnhild Wedlin: „Jetzt weiß ich, was ich tun muss, wenn etwas passiert!“. In: Pädagogik, 4/2005, S. 14. Grundwissen Albträume und mehr ... Die Schüler hatten Albtraume und sahen Dinge, die sie gar nicht erlebt hatten. Und was sie erlebt hatten, war zum Teil unbeschreiblich. Einige haben mir erzählt, wie sie stundenlang unter Todesangst gewartet haben, wie sie Lehrer oder Mitschüler haben sterben sehen. Es gab vereinzelte Kinder, die mir anvertrauten, dass sie sich mit Rasierklingen verletzen, aber ihren Eltern nicht davon erzählen. Manche Schüler und auch Lehrer haben mir von ihren Selbstmordplänen und -versuchen berichtet, und mehr als einmal war ich in Bedrängnis, wie ich mit dem mir anvertrauten Wissen umgehen sollte. Anfangs war mir diese Suizidsucht ein Rätsel: Das Glück, ein solches Ereignis zu überleben, muss doch dazu führen, das eigene Leben ab jetzt bewusst und aktiv zu gestalten?! Die Traumatherapeutin Gabriele Kluwe-Schleberger hat mir erklärt, dass manche Überlebende einer solchen Katastrophe eben auch den verlorenen Menschen in den Tod folgen wollen. Jens Becker: Kurzschluß. Der Amoklauf von Erfurt und die Zeit danach. Berlin 2005, S. 245. 663 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Schritte, um mit einem Todesfall in der Klasse umzugehen •Das Leid benennen; •die Lücke beschreiben; •Schuldgefühle abbauen; •das aktive Trauern, z.B. durch kleine Gaben, Schulzimmerrituale und eventuell die Teilnahme an der Beerdigung. Dorothea Meili-Lehner: „Wir müssen nicht alle Antworten wissen ...“ In: Pädagogik, 4/2005, S. 17. Handlungsmöglichkeiten •Den Hilferuf erkennen: Kinder, die zu klein sind, um komplexe Gefühle verbal auszudrücken, formulieren ihren Hilferuf, indem sie auf frühere Verhaltensstufen regredieren (z.B. wieder einnässen), indem sie vorübergehend bereits erworbene Fähigkeiten verlieren oder indem sie sich an Elternteile oder andere Personen klammern. •Gedanken und Ängste ausdrücken: Ältere Kinder sollten ermutigt werden, ihre Gedanken und Ängste durch Erzählen, Singen, Spielen, Malen usw. auszudrücken. Erwachsene haben dabei eher die Rolle des aktiven Zuhörers. Neben Einzelgesprächen spielt auch die Arbeit in Gruppen von Betroffenen eine wichtige Rolle. Künstlerische Ausdrucksformen (Zeichnen, Basteln, Werken, Gestalten) stellen eine spezifische Art der Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen, sowie eine Möglichkeit der Bewältigung dar. •Trauer und Abschied ermöglichen: Wenn Geschwister, Eltern oder Bekannte ums Leben kamen, ist es wichtig Trauern zu ermöglichen. Hierzu gehört als erstes, dass die betroffenen Kinder die Toten subjektiv auch als Tote (und nicht als Vermisste, die irgendwann wiederkommen) wahrnehmen, sowie, dass sie wo immer möglich, an den Todes-Zeremonien und -Ritualen beteiligt werden. 664 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN •Sicherheit geben: Ein wichtiger Weg, um bei diesen Kindern die seelische Gesundheit wieder herzustellen, ist, ihnen wieder die Sicherheit zu geben, dass ihre einst relativ stabile Welt, die durch ein plötzliches Ereignis aus den Fugen geraten ist, wieder eine neue Ordnung erhalten kann. •Nähe und Geborgenheit vermitteln: Gerade Kinder benötigen zwischenmenschliche Wärme, das Gefühl von Angenommensein und Geborgenheit. Dies ist in Extremsituationen besonders wichtig und zugleich besonders schwierig zu vermitteln. •Zur täglichen Routine zurückfinden: Bei der Herstellung von Verlässlichkeit und Sicherheit spielen wiederkehrende Rituale sowie gleichbleibende tägliche Routinen eine wichtige Rolle. Die meisten Kinder können durch solche Maßnahmen innerhalb weniger Monate die mit den traumatischen Erfahrungen verbundenen Ängste überwinden. Wichtig ist es auch zu berücksichtigen, dass neue Geborgenheit und Vertrauen sich am effektivsten die Traumatisierten selbst gegenseitig geben können. Dies spricht dafür, vor allem bei Erwachsenen Selbsthilfegruppen anzubieten. •Nichts ist wie vorher: Die durch krisenhafte Ereignisse (Verletzungen, Tötungen, Selbsttötungen) herbeigeführte Situation verändert das Leben der Betroffenen grundlegend und dauerhaft. Was bisher war, ist nicht mehr herstellbar. Das Leben „muss“ zwar (irgendwie) weitergehen, doch der Blick in den Abgrund, die erfahrene Nähe des Todes und der Verlust von Angehörigen, Freunden und/oder Bekannten veränderte alles, was wichtig war und Sicherheit gab. Wie der Opfer gedenken? Vorschläge von Schülerinnen und Schülern (nach einer Brandkatastrophe in einer Diskothek in Göteborg, bei der 15 Schülerinnen und Schüler ums Leben kamen): •Alles, was über die Katastrophe berichtet und geschrieben wurde, soll in einem Buch gesammelt werden. •Es soll ein gesonderter Gedenkraum eingerichtet werden – mit einer Gedenktafel und Bildern der Verstorbenen. •Ein Buch mit Gedichten und Grüßen der Schüler drucken. •Die Verstorbenen mit einer Schweigeminute ehren. •Sich jedes Jahr am Unglückstag an der Brandstelle versammeln und Kerzen anstecken. Gerhard Eickenbusch/ Ragnhild Wedlin: „Jetzt weiß ich, was ich tun muss, wenn etwas passiert!“. In: Pädagogik, 4/2005, S. 14. Grundwissen Trostworte, die nicht trösten •„Ich weiß genau, wie du dich fühlst.“ Diese Aussage sollte nur gemacht werden, wenn wirklich Ähnliches erlebt wurde, ansonsten soll sie zwar Mitgefühl ausdrücken, verkleinert aber den augenblicklichen Schmerz zu einem Allerweltsschmerz. •„Du bist noch jung, das Leben geht weiter.“ Diese Worte nehmen den Schmerz nicht ernst. •„Ein Glück, dass sie jetzt erlöst ist und keine Schmerzen mehr hat.“ Sie hat keine Schmerzen mehr, aber um welchen Preis? •„Die Guten sterben immer jung.“ Schlussfolgerung: Dann hat man lieber schlechte Kinder!? •„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Nicht alle Wunden heilen, mit manchen muss man einfach leben lernen. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Vom Umgang mit Trauer in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte und Erzieher/innen. Stuttgart o.J., S. 33, Auszüge. 665 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Grundwissen Debriefing Vielfach wird von DebriefingSpezialisten suggeriert, dass das Erzählen allein genüge, dass es dem Opfer schon besser gehen würde und es darum keine posttraumatischen Symptome zu befürchten habe. (...) Allein durch mehrfaches Wiedererzählen kann das Erlebnis nicht verarbeitet und integriert werden, es bleibt präsent und lähmt auch die anwesenden Beteiligten. (...) Beim Debriefung ist der traumatisierte Mensch den vielen Experten hilflos ausgeliefert und kann sich nicht wehren. In der großen Not und Ohnmacht ist jedermann froh, dass überhaupt jemand hilft. Horst Kraemer: Das Trauma der Gewalt. Wie Gewalt entsteht und sich auswirkt. Psychotraumata und ihre Behandlung. München 2003, S. 274 f., Auszüge. Umsetzung Die Materialien (M1-M17) bieten Informationen und Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit Amokläufen und schwerer Gewalt an Schulen. Dabei geht es um die prinzipiell möglichen und notwendigen Klärungen und organisatorischen Vorbereitungen, um Verhalten in solchen Situationen sowie, um den Umgang mit den Betroffenen und den Folgen solcher Taten. Das Bedürfnis diese Ereignisse verstehen und erklären zu können darf nicht zu vorschnellen und unterstellten einfachen Kausalzusammenhängen führen. Bei der Beschäftigung mit dem Thema Amoklauf bleiben an vielen Punkten Erklärungsnöte, Hilflosigkeit und Handlungsunsicherheit zurück. • Erklärungsversuche Warum ein Mensch Amok läuft, entzieht sich den gängigen Erklärungsmustern. In M1 berichtet der Kriminalpsychologe Thomas Müller über seine Einschätzung. Der Abschiedsbrief des Amokläufers von Emsdetten (M2) vermittelt einen Einblick in dessen Gedankenwelt. Welche unterschiedlichen Erklärungsversuche Internetnutzer haben, zeigt M3. • Betroffenheit In einem offenen Brief mit konkreten Forderungen wandten sich am 13.3.2009 fünf der vom Attentat in Winnenden betroffenen Familien an Politik und Öffentlichkeit (M4). • Sich auseinandersetzen Amokläufe wird man, wenn überhaupt, nur selten verhindern können, aber man kann sich darauf vorbereiten, um die Folgen zu begrenzen. Anhand der Checkliste „extreme Gewaltvorfälle“ (M5) lässt sich der Stand der Krisenplanung in der Schule einstufen. Anforderungen an ein gutes Krisenmanagement formuliert M6. • Notfallpläne Verschiedene Bundesländer haben Verwaltungsvorschriften über das Verhalten an Schulen bei Gewaltvorfällen erlassen in denen das Aufstellen von Notfallplänen geregelt ist. M7 zitiert aus der Verwaltungsvorschrift für Baden-Württemberg und M8 zeigt, wie die Notfallpläne in Berlin aufgebaut sind. Anhand des Rasters von M9 kann die Notfallplanung für die Schule reflektiert werden. 666 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN • Verhalten in Gewaltsituationen Welche Verhaltensweisen in akuten Amoksituationen hilfreich sein können, wird in M10 dargestellt. Grundwissen • Umgang mit Traumatisierungen Ereignisse, die so überwältigend sind, dass sie das bisherige Leben aus der Bahn werfen, wirken traumatisch. Bei welchen auftretenden Symptomen man von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen kann, führt M11 aus. Der Erstkontakt mit Traumaopfern ist oft von entscheidender Bedeutung für den weiteren Umgang mit dem Erlebten. Deshalb werden bei Amokläufen an Schulen speziell ausgebildete Kriseninterventionsteams eingesetzt. Was beim Erstkontakt mit Traumaopfern zu beachten ist, erläutert M12. Im Krisenfall in der Schule und bei traumatisierenden Ereignissen ist es wichtig Gefühle zu zeigen, die Schüler nicht alleine zu lassen, sachlich zu informieren und besonders belastete Schülerinnen und Schüler zu begleiten (M13). • Trauerarbeit Über die Toten und über den entstandenen Verlust muss getrauert werden. M14 informiert über die sechs Notwendigkeiten des Trauerns mit Kindern und M15 greift die Reaktionen auf den entstandenen Verlust auf. Wie eine Auseinandersetzung innerhalb der Schulklasse (bei Schülerinnen und Schülern, die nicht direkt betroffen sind) aussehen kann, zeigt beispielhaft M16. • Schule als verlässlicher Ort Götz Eisenberg reflektiert Schulmassaker vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und schulischer Entwicklungen und fordert ein von Empathie getragenes Klima der Aufmerksamkeit und der wechselseitigen Sorge (M17). Ergänzende Bausteine 2.3 Jugendliche in Krisensituationen 4.2 Verhalten in akuten Gewaltsituationen 667 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M1 Warum läuft ein Mensch Amok? Woran erkennt man einen Amokläufer? Thomas Müller: Gar nicht. Zeichen gibt es aber, oder? Zweifellos. Im Vorfeld eines Amoklaufs bricht die Kommunikation. Die Art der Kommunikation ist der Schlüssel zum Menschen, sie bestimmt sein Sein. Inwiefern? Wir kommunizieren inzwischen auf unterschiedlichen Ebenen. Das eine ist die technische Kommunikation. Hier ist die Entwicklung unglaublich schnell. Das andere ist die psychologische Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Sie ist schwierig und braucht ihre Zeit. Wir haben aber keine Zeit mehr für den anderen. Das führt zu Oberflächlichkeit, zum NichtErkennen zwischenmenschlicher Probleme. Es gibt Menschen, die das frustriert. Sie werden depressiv und bringen sich um oder bekommen Angst. Und Angst führt zu Aggressionen. Was passiert dann? In unseren Studien zur Gewalt am Arbeitsplatz haben frustrierte Mitarbeiter häufig die Vorgänge öffentlich gemacht, zum Teil den halben Betrieb über E-Mail informiert. Man kann dann sicher sein, dass er in relativ kurzer Zeit denkt: „Ich habe es euch allen gesagt.“ Es geht dann schon nicht mehr um Kommunikation, sondern um Schuldzuweisungen. Zuspruch. Eben. Dass jemand ehrlich Anteil nimmt. Aber manchmal kommt es zu so einer Katastrophe wie in Virginia. Am Anfang stehen immer länger andauernde Stresssituationen und ein Abbruch der Kommunikation, der Verlust der Identifikation mit Gesellschaft, Betrieb, Familie, und dann kommt ein auslösendes Problem. Eine gefährliche Konstellation. Kann jeder von uns zum Amokläufer werden? Zum Amokläufer vielleicht nicht, aber jeder, glaube ich, kann durch widrigste Umstände in die Situation kommen, in der er sagt: Jetzt raste ich aus. Das Entscheidende ist: Welche Möglichkeiten habe ich, um mein Selbstwertgefühl aufzubauen? Der Täter in den USA sah keine mehr. Thorsten Thissen im Gespräch mit Thomas Müller. In: Welt am Sonntag, 22.4.2007, S. 14. Thomas Müller ist Europas renommiertester Kriminalpsychologe. Kann man Amokläufe verhindern? Behandle Menschen, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest. In der größten Stresssituation, wenn der Job auf dem Spiel steht, es zu Hause nicht mehr läuft, was möchte man da haben? Handbuch – Gewaltprävention II 668 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M2 Abschiedsbrief Abschiedsbrief des Amokläufers von Emsdetten 2006 (Auszüge) Wenn man weiss, dass man in seinem Leben nicht mehr glücklich werden kann, und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als aus diesem Leben zu verschwinden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute, die hätten weiter gemacht, hätten sich gedacht „das wird schon”, aber das wird es nicht. Man hat mir gesagt, ich muss zur Schule gehen, um für mein Leben zu lernen, um später ein schönes Leben führen zu können. Aber was bringt einem das dickste Auto, das grösste Haus, die schönste Frau, wenn es letztendlich sowieso für’n Arsch ist. Wenn deine Frau beginnt dich zu hassen, wenn dein Auto Benzin verbraucht, das du nicht zahlen kannst, und wenn du niemanden hast, der dich in deinem scheiß Haus besuchen kommt! Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, dass ich ein Verlierer bin. Für die ersten Jahre an der GSS stimmt das sogar, ich war der Konsumgeilheit verfallen, habe danach gestrebt, Freunde zu bekommen, Menschen, die dich nicht als Person, sondern als Statussymbol sehen. Aber dann bin ich aufgewacht! Ich erkannte, dass die Welt, wie sie mir erschien, nicht existiert, dass sie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt, in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen „Freunde”. Hat man eines davon nicht, ist man es nicht wert, beachtet zu werden. Und diese Menschen nennt man Jocks. Jocks sind alle, die meinen, aufgrund von teuren Klamotten oder schönen Mädchen an der Seite über anderen zu stehen. Ich verabscheue diese Menschen, nein, ich verabscheue Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern Menschen. (...) Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um mit 65 in den Ruhestand zugehen und 5 Jahre später abzukratzen? Warum soll ich mich noch anstrengen, irgendetwas zu erreichen, wenn es letztendlich sowieso für’n Arsch ist, weil ich früher oder später krepiere? Ich kann ein Haus bauen, Kinder bekommen und was weiss ich nicht alles. Aber wozu? Das Haus wird irgendwann abgerissen, und die Kinder sterben auch mal. Was hat denn das Leben bitte für einen Sinn? Keinen! (...) Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt, eine Welt, die mich nicht sein lassen will wie ich bin. Ihr habt euch über mich lustig gemacht, dasselbe habe ich nun mit euch getan, ich hatte nur einen ganz anderen Humor! Von 1994 bis 2003/2004 war es auch mein Bestreben, Freunde zu haben, Spass zu haben. Als ich dann 1998 auf die GSS kam, fing es an mit den Statussymbolen, Kleidung, Freunde, Handy usw. Dann bin ich wach geworden. Mir wurde bewusst, dass ich mein Leben lang der Dumme für andere war, und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen! Diese Rache wird so brutal und rücksichtslos ausgeführt werden, dass euch das Blut in den Adern gefriert. Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst! Ich will dass ihr erkennt, dass niemand das Recht hat unter einem faschistischen Deckmantel aus Gesetz und Religion in fremdes Leben einzugreifen! Ich will, dass sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt! Ich will nicht länger davon laufen! Ich will meinen Teil zur Revolution der Ausgestoßenen beitragen! Ich will R A C H E ! www.mein-parteibuch.de/2006/11/21/abschiedsbrief-des-amoklaeufers-von-emsdetten 669 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M3 Meinungen Nach dem Amoklauf in Winnenden am 11.3.2009 fand im ARD die Sendung „Hart aber Fair“ zu diesem Thema statt. Hier Auszüge aus dem Gästebuch der Sendung: Mutter mit Spielerfahrung (32 J.) Morde und Kriege hat es schon immer gegeben und wird es leider Gottes immer wieder geben. Der Frust, der sich in diesen Kindern und Jugendlichen ausbreitet, kommt so oder so zur Explosion. Verbote und Zensuren sind nur ein weiterer Schritt zum Überwachungsstaat. Fängt man erstmal an, hört es sogar bei Kunst und Literatur nicht auf, denn da die Amokläufe nach den Verboten der Videospiele bestimmt nicht aufhören werden, wird man neue Sündenböcke suchen. Philipp Beck (16 J.) Ich persönlich bin aktiver Counter-StrikeSource-Spieler. Ich fühl mich durch ihren Beitrag in gewisser Weise beleidigt. Es beeinflusst mich nicht, wenn ich virtuell einen Menschen töte. Anonym Die Beschäftigung mit dem Täter tritt immer bizarrer in den Mittelpunkt. Eine Begründung für seine Handlung wird sicherlich gefunden werden. Ich frage aber, wer verantwortet die Tat, den Tod der Opfer und des Täters? Alle könnten noch am Leben sein, wenn der Täter nicht in den Besitz der Waffe gekommen wäre! Meleemaru (19 J.) Die ganze Sache, und so ist es nun mal, hat weniger was mit Gewalt an sich zu tun. Der Junge war innerlich kaputt, das war Verzeiflung, nicht das Bedürfnis wen brutal zu töten. Und es war Selbstmord, was dem Jungen bestimmt von Anfang an klar war. Handbuch – Gewaltprävention II Anonym (68 J.) Gewaltbereite Schüler habe ich schon in der Nachkriegszeit kennengelernt, obgleich die damals Erziehenden (in der Regel noch die eigenen Eltern bzw. Elternteile) noch wesentlich mehr Wert auf Erziehung mit Geboten und auch Verboten gelegt haben. Gewaltbereitschaft wird es immer geben, egal ob mit oder ohne Computerspiele oder Fernsehsendungen. Der eiserne Gustav Man stelle sich vor, dass alle „Gewalt“-Märchenbücher verbannt werden, denn aus denen wird schon 3-Jährigen vorgelesen. Also „Hänsel und Gretel“ (Gewalt-Hexe), Rotkäppchen (räuberischer Wolf) usw. verbrennen. Alexandra Wenn das wirklich stimmt, dass der Junge in psychiatrischer Behandlung war, dann frage ich mich, was dazu beigetragen hat, dass der Junge so psychisch instabil nach innen ist. Bei allem Respekt vor der Familie, wie kann ich dann als Eltern ungesichert eine geladene Waffe in meinem Nachttischschrank haben, die zugänglich ist? Anonym Mir tun neben allen Opfern und ihren Angehörigen auch die Eltern des Täters unendlich leid. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was die zur Zeit durchmachen. Es ist einfach entsetzlich, wenn das eigene Kind zum Mörder wird! www.wdr.de/tv/hartaberfair/gaestebuch/index. php5?buch=798 670 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M4 Offener Brief der Opferfamilien–1 Die Familien von fünf beim Amoklauf von Winnenden getöteten Schülerinnen und Schüler haben sich in einem offenen Brief in der Winnender Zeitung an die Politik gewandt und Konsequenzen aus der Tat gefordert. Sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Oettinger, die Trauer und die Verzweiflung nach dem Verlust geliebter Kinder, Frauen und Männer sind noch überall gegenwärtig. Insbesondere bei uns, den Angehörigen. Der Gedanke, warum es ausgerechnet unsere Liebsten getroffen hat, und wie es überhaupt zu dieser Tat kommen konnte, wird uns unser Leben lang begleiten. In unserem Schmerz, in unserer Hilflosigkeit und in unserer Wut wollen wir aber nicht untätig bleiben. Deshalb wenden wir – die Familien von fünf getöteten Schülerinnen – uns an die Öffentlichkeit. Wir wollen, dass sich etwas ändert in dieser Gesellschaft, und wir wollen mithelfen, damit es kein zweites Winnenden mehr geben kann. Schusswaffen und Sport Wir wollen, dass der Zugang junger Menschen zu Waffen eingeschränkt wird. Die derzeitige gesetzliche Regelung ermöglicht die Ausbildung an einer großkalibrigen Pistole bereits ab dem 14. Lebensjahr. Bedenkt man, dass ein junger Mensch gerade in dieser Zeit durch die Pubertät mit sich selbst beschäftigt und häufig im Unreinen ist, so ist die Heraufsetzung der Altersgrenze auf 21 Jahre unerlässlich. Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob der Schießsport nicht gänzlich auf großkalibrige Waffen verzichten kann. Bis in die achtziger Jahre hinein genügten unseres Wissens nach den Sportschützen kleinkalibrige Waffen. Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern Bis heute sind die olympischen Wettkämpfe auf Luftdruck- und Kleinkaliberwaffen beschränkt. Sollte aus Gründen, die wir nicht kennen, der Verzicht auf großkalibrige Waffen nicht möglich sein, so muss die Schusskapazität verringert werden. Bei der Jagd sind die Magazine der automatischen Waffen auf maximal 2 Schuss begrenzt. Warum nicht auch beim Sport? Der Gesetzgeber hat die Vergabe von Waffenbesitzkarten und die daraus entstehenden Verpflichtungen, wie z.B. die Aufbewahrung von Waffen und Munition, vollständig geregelt. Die zu erwartenden Strafen bei Verstoß gegen die entsprechenden Gesetze erfüllen aber nicht ihren Zweck. Eine Ordnungswidrigkeit wird eher wie ein Kavaliersdelikt betrachtet. Der Gesetzgeber muss Verstöße gegen das geltende Waffenrecht deutlicher und stärker ahnden. Medien: Fernsehen Wir wollen weniger Gewalt im Fernsehen. Das Fernsehen, als noch wichtigste Informationsund Unterhaltungsplattform, hat einen sehr großen Einfluss auf die Denk- und Gefühlswelt unserer Mitbürger. Das Fernsehen setzt heute die ethischen und moralischen Standards. Wenn wir es zulassen, dass unseren Mitbürgern weiterhin täglich Mord und Totschlag serviert werden, ist abzusehen, dass die Realität langsam, aber stetig dem Medienvorbild folgen wird. Von den Sendern muss verlangt werden, dass sie ein ausgewogenes Programm anbieten und die Zurschaustellung von Gewalt reduziert wird. Eine „Gewaltquote“, der Anteil von Sendungen mit Gewalt in Relation zur Gesamtsendezeit pro Sender, sollte eingeführt werden. Die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche fernsehen, sollten generell gewaltfrei sein. 671 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M4 Offener Brief der Opferfamilien –2 Medien: Computerspiele Wir wollen, dass Killerspiele verboten werden. Spiele, ob über Internet oder auf dem PC, die zum Ziel haben, möglichst viele Menschen umzubringen, gehören verboten. Gleiches gilt für alle Gewalt verherrlichenden Spiele, deren Aufbau und Darstellung sehr realistisch sind und bei denen viel Blut fließt. Medien: Chatrooms und Foren Wir wollen mehr Jugendschutz im Internet. In der virtuellen Welt werden heute anonym und gefahrlos Gedankengänge artikuliert und diskutiert, die eine Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen. Wie diese Aktivitäten eingedämmt werden können, wissen wir nicht. Es darf aber nicht sein, dass sich junge Menschen anonym gegenseitig aufhetzen und zu Gewalteskalationen auffordern. Berichte über Gewalttaten Wir wollen, dass der Name des Amokläufers nicht mehr genannt und seine Bilder nicht mehr gezeigt werden. Am aktuellen Beispiel von Winnenden zeigt sich, dass die derzeitige Berichterstattung durch unsere Medien nicht dazu geeignet ist, zukünftige Gewalttaten zu verhindern. Auf nahezu jeder Titelseite finden wir Namen und Bild des Attentäters. Diese werden Einzug finden in unzählige Chatrooms und Internet-Foren. Eine Heroisierung des Täters ist die Folge. Bei Gewaltexzessen wie in Winnenden müssen die Medien dazu verpflichtet werden, den Täter zu anonymisieren. Dies ist eine zentrale Komponente zur Verhinderung von Nachahmungstaten. Handbuch – Gewaltprävention II Aufarbeitung der Vorgänge in Winnenden und Wendlingen Wir wollen, dass die Tat aufgeklärt und aufgearbeitet wird. Das Warum der Tat wird sicher nie vollständig geklärt werden können. Wichtiger für die Angehörigen und unser aller Zukunft ist die Frage: Wie konnte es geschehen? Wir wollen wissen, an welchen Stellen unsere ethisch-moralischen und gesetzlichen Sicherungen versagt haben. Dazu gehören auch das Aufzeigen der persönlichen Verantwortung und die daraus folgenden – auch juristischen – Konsequenzen. Winnender Zeitung, 31.3.2009. www.aktionsbuendnis-amoklaufwinnenden.de Ziele des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden •Vorbeugende Tätigkeit, um eine Wiederholung eines Amoklaufes zu verhindern. •Unterstützung der Opfer und Angehörigen, sowie aller traumatisierten Schüler, Lehrer, Helfer und Betroffenen von Winnenden und Wendlingen. •Eltern zu sensibilisieren, dass sie ihrer Aufsichtspflicht im Umgang mit Killerspielen ihrer Kinder nachkommen. •Verbot von Killerspielen, die dazu dienen Menschen zu ermorden. •Generelles Verbot großkalibriger Waffen für Privatpersonen. •Verbot von Faustfeuerwaffen in privaten Haushalten. •Aufarbeitung der Vorgänge von Winnenden und Wendlingen. •Keine Verherrlichung der Gewalt in den Medien. •Keine Heroisierung der Täter. •Einführung einer Gewaltenquote im Fernsehen bzw. den Medien. •Besserer Jugendschutz im Internet. •Gewaltprävention an Schulen. www.aktionsbuendnis-amoklaufwinnenden.de 672 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M5 Checkliste „extreme Gewaltvorfälle“ ja in Arbeit Lehrer,Eltern noch zu klären Regelmäßige Kontakte zur und Gespräche mit der Polizei. Es gibt ein installiertes Krisenteam an der Schule. Die Aufgaben des Krisenteams sind allen klar. Schriftliche/mündliche Informationen für alle Lehrkräfte zum Thema „Verhalten in extremen Gewaltsituationen“. Fortbildungen für alle Lehrkräfte zum Thema „Verhalten in extremen Gewaltsituationen“. Ausgearbeiteter Notfallplan für die Schule. Leicht zugänglicher Notfallordner mit allen relevanten Abläufen und Informationen. Durchführung einer jährlichen Notfallübung. Schnelle Kommunikationswege für extreme Gewaltfälle sind festgelegt und allen bekannt. Erste Schritte bei extremen Gewaltfällen und Aktivierung des Notfallplanes sind allen Lehrkräften vertraut. Wie die Eltern informiert werden, ist festgelegt und bekannt. Handbuch – Gewaltprävention II 673 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M6 Gutes Krisenmanagement Anforderungen an ein gutes Krisenmanagement •Krisenmanagement sollte Zugänge zu Experten für psychosoziale Belastungen, Stress, Trauma und weitergehende psychische Störungen eröffnen, die gewährleisten, dass aktuelle Befindlichkeiten angemessen beobachtet, ggf. getestet und bewertet werden. •Krisenmanagement sollte eine umfassende Beratung dahingehend leisten, dass den Betroffenen – in Kenntnis ihrer Befindlichkeiten – angemessene Hilfen empfohlen werden und die Wege zu diesen Hilfen eröffnet werden. Dies setzt eine Stelle voraus, welche die möglichen Angebote zur Verarbeitung von Krisenerleben in ihren Konzepten und Leistungsprofilen kennt und auch konkret Zugänge eröffnen kann. •Krisenmanagerinnen und -manager brauchen, um wirksam handeln zu können, eine gute Beziehung zu den betroffenen Personen. Sie sollten in besonderen Fällen zu einer biografischen Begleitung imstande sein, die in Vereinbarung mit den Betroffenen Bewältigungsprozesse, Hilfen und deren Erfolge bzw. Misserfolge sichtbar hält und in die Beratung der Betroffenen einspeisen kann. Dies setzt eine vertrauensvolle Beziehung zu den einzelnen Personen voraus, zumindest: einen belastbaren und stetigen Kontakt zu Personen, welche diese Rolle des biografischen Begleiters übernehmen können – Verwandte, Freunde, Kollegen. Die Beratung solcher „signifikanter Anderer“ ist ein wesentlicher Teil eines Managements. •Krisenmanagement muss präsent, leicht erreichbar und gut ansprechbar sein. Dies hat eine sozialräumliche Komponente. Die Stelle bzw. Person sollte in unserem Fall in der Schule oder nahe der Schule arbeiten, in der alltäglichen Lebenswelt der potenziellen Nachfrager sozialräumlich präsent Handbuch – Gewaltprävention II sein. Erreichbarkeit hat auch eine zeitliche Komponente; es sollte gesichert sein, dass die Stellen zu bekannten Zeiten erreichbar sind. •Nicht nur Personen, sondern auch soziale Systeme wie die Schule, Behörden, Medien, Öffentlichkeit sind in der Bewältigung einer Krise beratungsbedürftig. Sie zeigen die Tendenz, auch in der neuen Situation auf alte, vertraute Handlungspraktiken zurückzugreifen, meist ohne hinreichend Reflexivität aufzubringen, wie diese Routinen mit den neuen Situationsgegebenheiten zusammenpassen. Sie agieren nach ihren Möglichkeiten, mit ihren personellen und kulturellen Ressourcen, die z.B. einem normalen Schulbetrieb, nicht aber der Bewältigung einer Krise angemessen sind, auch wenn unsere Ergebnisse zeigen, dass herkömmliche Veranstaltungen wie z.B. Gottesdienste neue Personen ansprechen und neue Funktionen übernehmen können. •Krisenbewältigung ist mit Suchbewegungen verbunden, folgt einem Muster von Versuch und Irrtum. Die Breite und Deutungsbedürftigkeit der Anlässe, die Vielfalt möglicher Bewältigungshandlungen und Hilfen macht klare, rational zwischen Bedürftigkeit und Hilfe kalkulierende Strategien eher unwahrscheinlich. Interaktivität und Emergenz prägen das Geschehen. Unter diesen Voraussetzungen ist eine stetige Beobachtung der Prozesse von großer Bedeutung: Sie erlaubt, aus den Suchbewegungen und Versuchen zu lernen. Diese Beobachtung verlangt wiederum Multiperspektivität; sowohl die Feststellung von subjektiven Befindlichkeiten als auch die Zuschreibung von Wirkungen auf Hilfen verlangt mehrere Blicke und intersubjektive Verständigung, die Beteiligung der Betroffenen und fachliche Expertise. Werner Schefold/Hans-Jürgen Glinka/Thomas Giernalczyk: Von der Krisenintervention zum Krisenmanagement. In: Dies. (Hrsg.): Krisenerleben und Krisenintervention. Ein narrativer Zugang. Tübingen 2008, S. 346-348, Auszüge. 674 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M7 Verwaltungsvorschrift Verhalten Verwaltungsvorschrift über das Verhalten an Schulen bei Gewaltvorfällen und Schadensereignissen Vorbereitende Maßnahmen zur Bewältigung von Gewaltvorfällen und Schadensereignissen 2.1 Die Schulleitung beruft zu Beginn eines jeden Schuljahres ein schulinternes Krisenteam ein, um die notwendigen Vorkehrungen (Vorsorge, Bewältigung von Gewaltvorfällen und Schadensereignissen, Nachsorge, Umgang mit Medien) zu treffen. Das schulinterne Krisenteam wird auf Anforderung durch die Feuerwehr oder die Polizei beraten. 2.1.1 Die Schulleitung erstellt in Abstimmung mit dem Schulträger auf der Grundlage eines von Innenministerium und Kultusministerium gemeinsam herausgegebenen Rahmenkrisenplans unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse einen Krisenplan für das Verhalten bei Gewaltvorfällen. Mit Blick auf polizeiliche Maßnahmen soll dieser mit der zuständigen Polizeidienststelle abgestimmt werden. Die Schulkonferenz ist über das Ergebnis zu unterrichten. (...) 6. Verhalten bei sonstigen Gewaltvorfällen an Schulen 6.1 Die Entscheidungen über erforderliche Maßnahmen des Krisenplanes (Nr. 2.1.1) liegen bei der Schulleitung. Wenn zeitlich möglich, soll das schulinterne Krisenteam miteinbezogen werden. Bei Gefahr im Verzug sind die erforderlichen Schritte durch eine Lehrkraft oder sonstige Bedienstete der Schule in die Wege zu leiten. Im Wesentlichen geht es darum • Hilfe herbei zu rufen (Polizei) und erste Hilfe zu leisten, •Schülerinnen und Schüler und Schulpersonal zu schützen. Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern Ferner sind gegebenenfalls •Fakten zu sichern und weiterzugeben, •Betroffene und Schulaufsicht zu informieren. Soweit erforderlich sind folgende Stellen einzuschalten: •das Kriseninterventionsteam beim Regierungspräsidium (Abteilung 7 Schule und Bildung), •der Schulpsychologische Dienst. Unbeschadet der vorstehenden Zuständigkeiten hat die Schulleitung zu gewährleisten, dass bei Einsätzen des Polizeivollzugsdienstes aus Anlass von Straftaten oder zur Gefahrenabwehr Maßnahmen nur im Einvernehmen mit der Polizei erfolgen. Dies gilt insbesondere für Räumungs- und Evakuierungsmaßnahmen sowie für die Öffentlichkeitsarbeit und die Information der Eltern. Bei Geiselnahme und Bedrohungslagen ist den Anweisungen des Polizeivollzugsdienstes umgehend Folge zu leisten. 6.2 Entsprechend dem Krisenplan der Schule ist die Betreuung von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Betroffenen im Anschluss an einen Gewaltvorfall einzuleiten und das Kriseninterventionsteam beim Regierungspräsidium (Abteilung 7 Schule und Bildung) einzuschalten. 6.3 Die Pressearbeit wird im schulinternen Krisenteam besprochen. Medienvertreter werden an die Pressestelle der Polizei und an die Pressestelle der Schulaufsicht verwiesen. Nach Einschaltung des Kriseninterventionsteams beim Regierungspräsidium (Abteilung 7 Schule und Bildung) wird die Pressearbeit durch dieses eventuell begleitet oder übernommen. Die Pressearbeit ist stets im Hinblick auf die einsatztaktischen Belange mit der Polizei abzustimmen. Kultusministerium Baden-Württemberg: VwV Gewaltvorfälle, Schadensereignisse an Schulen – Verhaltens VwV vom 27.6.2006, Az.: 1721.6-7/16, Auszüge. 675 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M8 Notfallpläne für Berliner Schulen Die Notfallpläne für die Berliner Schulen sind eine Handreichung zum Rundschreiben I Nr. 41/2003 „Hinsehen und Handeln“. Unprofessionelles Handeln hat seine Ursache selten im Nichtwollen oder im Prestige, sondern im Mangel an Kenntnissen, was man tun kann und muss. Die Notfallpläne bieten dafür klare Antworten und Hilfen. Das Ziel der Handreichung ist es, dass Schulleiter und pädagogisches Personal in akuten Notfällen, z.B. bei Amokdrohungen und in schweren Krisensituationen wissen, was sie zu tun haben und in welchen Fällen und bei wem sie rasch Hilfe anfordern und erwarten können, wenn ein Vorfall weiterer Unterstützung bedarf. Neben dem Berliner Frühwarnsystem (Meldepflicht bei Gewalttaten innerhalb von 24 Stunden) existiert nun eine klare Handlungsempfehlung bei Gewalt- und Notfällen. Das Konzept des Vorgehens folgt einem 5-Stufen-Plan: 1. Sofortreaktion 2. Eingreifen/Beenden 3. Opferhilfe/Einleitung von Maßnahmen 4. Informieren 5. Nachsorgen/Aufarbeiten 6. Ergänzende Hinweise Die Notfallpläne enthalten darüber hinaus konkrete Handlungsanweisungen und Hinweise auf Hilfen, wenn Schulen mit minderschweren Gewaltvorfällen, Krisensituationen oder extremistisch motivierten Vorfällen zu tun haben. Sie helfen, die Vorgaben des Rundschreibens I Nr. 41/ 2003 „Hinsehen und Handeln“ dem Einzelfall entsprechend durchzusetzen. Bei wem findet man die Notfallpläne? •Schulleitung; Handbuch – Gewaltprävention II •Schulpsychologen für Gewaltprävention und Krisenintervention; •Schulaufsicht; •Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Sport, Abteilung II E 5 Gewaltprävention. Grundsätzlich gilt Opferhilfe vor Täterermittlung, Personenschutz vor Sachwertschutz. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Bildung für Berlin (Hrsg.): Verstehen und Handeln X. Gewaltprävention im Miteinander. Berlin 2007, S. 43 f. Krisenteams in Berlin Wichtige Aufgaben von Krisenteams sind beispielsweise: • Bereitstellung des Notfallordners an einem festen zugänglichen Ort; •Erstellung einer schulbezogenen Liste zur Erreichbarkeit von schulnahen Helfern; •Erstellung von Checklisten, Formblättern, Informationen für Schulpersonal; • Absprache von Kooperationen mit dem zuständigen Polizeiabschnitt, Rettungsdiensten und Ärzten; •Vorbereitung von Maßnahmen zur Notfallversorgung; •Schulhausbegehung und Erstellung von aktuellen baulichen Lage- und Gebäudeplänen; •Weitergabe dieser Informationen an Polizei und lokale Rettungskräfte; •Verbesserung der technischen Sicherheit; •regelmäßige Aktualisierung der Ordner und Listen; •regelmäßige Instruierung des Kollegiums; •Ansprechbarkeit für Schüler und Schulpersonal; •Schärfung der Aufmerksamkeit für Problemlagen bei Schülern; •Einrichtung gewaltpräventiver Maßnahmen. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Bildung für Berlin (Hrsg.): Verstehen und Handeln X. Gewaltprävention im Miteinander. Berlin 2007, S. 43 f. 676 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M9 Raster für einen Notfallplan Lehrer,Eltern Folgende Themenfelder sollten detailliert in einem Notfallplan beschrieben werden: 1. Verhalten in einer extremen Gewaltsituation (Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Schulleitung, Krisenteam, technische Mitarbeiter) 11.Medienarbeit • Information und Umgang mit den Medien 12.Elternarbeit • Information, Umgang und Betreuung der Eltern 2. Aktivierung des Notfallplans 3. Notrufe an Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste 4. Erste Hilfe • Notfallkoffer, Telefonliste 13.Betreuung und Umgang mit direkten Opfern/Zeugen von Gewalttaten 14.Unterstützung der Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse 5. Verantwortlichkeiten • Checkliste/Übersicht: Wer macht was? 6. Bewertung von Drohungen 7. Personen/Stellen, die kontaktiert werden müssen • z.B. Polizei, Notarzt, Feuerwehr • Schulaufsicht 8. Absperrungen und Sicherungen • durch wen, wann? • Plan für Gebäuderäumung? 9. Dokumentation und Umgang mit Beweismitteln • durch wen, wie? 10.Information • durch wen, wie, wann? • nach innen, Lehrerschaft, Schülerinnen und Schüler • nach außen, z.B. Eltern, Presse Handbuch – Gewaltprävention II 677 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M10 Verhalten in einer Amoksituation Unerlässlich •Vermeidung aller Handlungen, die Leben und Gesundheit gefährden könnten! •Notruf 110 tätigen (Polizei). •Notruf 112 tätigen (Feuerwehr/Ambulanz). Wichtig Schutz suchen •Deckung/Schutz suchen. •Schüler in Klassen zusammenhalten sowie Türen verschließen bzw. sichern. •Verständigen der Polizei über Notruf 110. •Fenster und Türen meiden. •Provokation des Täters vermeiden. •Ausschließlich der Polizei öffnen. Hilfskräfte unterstützen •Hilfskräften Zufahrt ermöglichen. •Mögliche Verletzte an sicherer Sammelstelle versorgen. •Ansprechpartner für Polizei benennen und ständige Erreichbarkeit garantieren. •Bereitstellung der Gebäude- und Belegungspläne des Schulobjektes für die Polizei. •Infos für die Polizei sammeln, falls es die Lage zulässt. Handlungsmöglichkeiten für die Schulleitung •Hilfe herbeirufen. •Schüler und Schulpersonal schützen. •Fakten sichern und weitergeben. •Betroffene informieren. •Psychologische Betreuung der Betroffenen einleiten. •Verpflegung bei hinhaltenden Ereignissen organisieren •Einschaltung des Kriseninterventionsteams beim Oberschulamt veranlassen. •Eltern informieren. •Zusammenarbeit mit der Presse organisieren (mit Polizei und Pressesprecher des Oberschulamtes). Dieter Glatzer/Helmut Nock: Informationen zur Krisenbewältigung an Schulen. Arbeitspapier, o.J. Frank J. Robertz/Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007, S. 214. Handbuch – Gewaltprävention II 678 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M11 Posttraumatische Belastungsstörung A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: (1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. (2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt: (1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. (2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. (3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative FlashbackEpisoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten). (4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. (5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern. C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor: (1) Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. (2) Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. (3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern. (4) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten. (5) Gefühl der Losgelöstheit und Fremdheit von anderen. (6) Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden). (7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben). D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor: (1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen. (2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche. (3) Konzentrationsschwierigkeiten. (4) Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz). (5) Übertriebene Schreckreaktionen. E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat. F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Bestimmen Sie, ob: Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern. Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern. Bestimmen Sie, ob: Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor liegt. Diagnostische Kriterien für die Posttraumatische Belastungsstörung nach DSM-IV, 1996 (309.81) www.polizeieinsatzstress.de/was_ist_ptsd.htm 679 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M12 Erstkontakt mit Traumaopfern Nicht die Dramatik und das Spektakuläre einer Situation sind verantwortlich dafür, ob und wie stark eine Situation traumatisierende Wirkung erzeugt, sondern die subjektiv erlebte Bedrohung und der subjektiv erlebte Zusammenbruch des Grundsicherheitsempfindens. Achten Sie auf Zeichen Körpersprache, Stimme, Mimik und Gestik, Atmung usw. vermitteln einen Eindruck, wo der andere gerade steht. Versuchen Sie einen Zustand maximaler Entspannung herzustellen. Strukturieren Sie das Gespräch. Erkennen eines traumatisierten Menschen Das Erkennen, dass ein Mensch traumatisiert ist und seine Körperempfindungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen damit zusammenhängen, ist der erste Schritt zum weiteren Umgang. Erklären Sie dem Betroffenen, was mit ihm passiert ist Dieses Wissen gibt ihm eine Erklärung für das, was er spürt, was er bisher nicht erklären konnte, was ihn aber so stark belastet. Vermeiden Sie die eigene Traumatisierung Wahren Sie die nötige innere Distanz. Bleiben Sie in Bewegung, machen Sie gezielt Atemübungen. Beobachten Sie sich selbst genau. Vermeiden Sie jeden direkten oder indirekten Schuldvorwurf oder jede Schuldzuweisung Schnell Schuldige oder einfache Erklärungen zu finden entlasten, verdrängen aber die Realität. Schicken Sie den betroffenen Menschen an einen Ort, wo er ein effizientes TraumaCoaching erhalten kann Wenn ein Betroffener frühzeitig kompetente Hilfe erfährt, hat er gute Chancen, das Trauma zu bewältigen. Nach: Horst Kraemer: Das Trauma der Gewalt. Wie Gewalt entsteht und sich auswirkt. Psychotraumata und ihre Behandlung. München 2003, S. 285 ff. Nehmen Sie das Opfer ernst Geben Sie dem Opfer das Gefühl, dass es in seiner Notlage willkommen ist. Seien sie offen und aufnahmebereit. Nehmen Sie sich Zeit. Vermeiden Sie Beurteilungen. Achten Sie auf das totale Selbstbestimmungsrecht Ihres Gegenübers Die Hilfe suchende Person muss die totale Kontrolle über die Situation behalten. Sie darf nicht gezwungen werden, irgendetwas zu tun oder zu sagen. Machen Sie Vorschläge. Handbuch – Gewaltprävention II 680 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M13 Hilfreich im Krisenfall Lehrer,Eltern Hilfreiche Verhaltensweisen im Krisenfall und bei traumatisierenden Ereignissen in der Schule sind: Gefühle zeigen Alle Beteiligten, einschließlich der Lehrer, sollten ihre Gefühle, ihre Einschätzung und ihre Befürchtungen offen zeigen können. Das heißt Wut, Angst, Traurigkeit, Tränen, Fassungslosigkeit sollten mit Respekt wahrgenommen und erlaubt sein, ja es sollte sogar dazu ermuntert werden. Niemals allein Die Schüler sollten niemals in und nach Notfallsituationen allein gelassen werden. In jeder Klasse, im Schulgebäude, auf dem Gelände sollten so viele Lehrer wie möglich präsent und ansprechbar sein. Denn ein Notfall betrifft immer die Gesamtheit der Gemeinschaft. Diese Präsenz- und Auseinandersetzungspflicht hilft übrigens auch den Lehrkräften bei der Selbststrukturierung. Besondere Begleitung Bereits belastete Schülerinnen und Schüler sollten besonders angesprochen und betreut werden, da hier die Gefahr einer Dauerüberlastung durch Symptomausbildung groß ist. In den ersten Tagen nach einem schweren traumatisierenden Ereignis sollte es in jedem Fall in den Klassen Gruppengespräche geben, die einem strukturierten Ablauf folgen, z.B.: Verankern in dem noch heilen Teil des Alltags: „Was habt ihr gerade gemacht, als ihr von dem Ereignis erfahren habt?“, „Welches ist eurer Erinnerung nach der letzte Moment, wo ihr euch noch wohl gefühlt habt?“, „Ab wann war für euch der Schrecken vorbei?“ ... Friedegunde Bolt: Junge Menschen stark machen gegen Widrigkeiten und Belastungen. In: Pädagogik, 4/2005, S. 32. Sachlich informieren Je früher ausreichend und konkret über ein traumatisierendes Geschehen in und um die Schule informiert wird, desto mehr Sicherheit und Zusammenrücken kann entstehen. Ohnmachtsgefühle und Angst können so reduziert werden. Also das Beantworten der Fragen: Was ist geschehen? Wie soll man sich verhalten? Welche Hilfe wird bereitgestellt? Was kommt danach? ist unentbehrlich. Handbuch – Gewaltprävention II 681 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M14 Trauer Die sechs Notwendigkeiten des Trauerns verstehen Die Realität des Todes anerkennen Das Kind muss sich behutsam mit der Realität auseinander setzen, dass jemand, den es liebte, tot ist und nie mehr physisch bei ihm sein wird. Kindern ist es möglich, die Realität des Todes nach und nach, in einer dosierten Form zu akzeptieren. Den Schmerz des Verlustes annehmen Wie alle Trauernden müssen auch Kinder den Schmerz des Verlustes zulassen. Sie können dem Kind helfen, indem Sie es ermutigen, über seine schmerzlichen Gedanken und Gefühle zu sprechen, und indem Sie, ohne zu urteilen oder gar zu verurteilen, einfach zuhören. Sich des verstorbenen Menschen erinnern Wenn ein geliebter Mensch stirbt, lebt er durch die Erinnerung in uns weiter. Trauernde Kinder müssen sich aktiv an die verstorbene Person erinnern und dazu beitragen, des Lebens, das gelebt wurde, zu gedenken. Die Suche nach dem Sinn Wenn ein geliebter Mensch stirbt, fragen wir natürlich nach dem Sinn und Zweck des Lebens. Kinder tun dies in der Regel ganz einfach, indem sie Fragen stellen wie: Warum sterben Menschen? Versuchen Sie nicht, Antworten auf alle Fragen des Kindes nach dem Sinn des Lebens zu haben. Unterstützung von anderen erhalten Trauer ist ein Prozess, kein Ereignis. Kinder trauern genau wie Erwachsene noch lange nach dem Tod des geliebten Menschen. Das trauernde Kind braucht nicht nur in den Tagen und Wochen nach dem Tod, sondern noch Monate und Jahre Ihre mitfühlende Unterstützung und Anwesenheit. Alan D. Wolfelt: Für Zeiten der Trauer. Wie ich Kindern helfen kann: 100 praktische Anregungen. Stuttgart 2002, Auszüge. Eine neue Identität entwickeln Die Identität des Kindes wurde zum Teil durch die Beziehung, die es mit der verstorbenen Person hatte, geprägt. Niemand kann die Lücke füllen, die die verstorbene Person hinterlassen hat. Unterstützende Beziehungen – ja! Ersatz – nein! Handbuch – Gewaltprävention II 682 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M15 Reaktionen auf Verlust Trauer ist eine außerordentlich individuelle Angelegenheit. Kinder, Jugendliche und Erwachsene reagieren höchst unterschiedlich auf einen schweren Verlust. Trotzdem gibt es einige Reaktionen, die bei einem Großteil der Trauernden ähnlich sind. Schock Der Gedanke an den Tod ist so überwältigend, dass manche Kinder sich verhalten, als sei gar nichts geschehen. Im Gegenteil, sie sind besonders aufgedreht und albern. Diese Betäubung ist gesund, da sie das Kind davor schützt mit zuviel Schmerz und Realität auf einmal fertig werden zu müssen. Körperliche Erscheinungen Manche Trauernde werden körperlich krank. Sie leiden unter Kopf- und Bauchschmerzen, manche bekommen Fieberschübe. Viele leiden außerdem unter Schlafproblemen, Müdigkeit, mangelnder Energie und Appetitlosigkeit, was sich wiederum direkt auf die Schulleistungen auswirken kann. Zorn Wenn der erste Schock nachlässt, werden viele Trauernde unglaublich wütend. Wut, Hass, Schuldzuweisungen, Zorn und Eifersucht sind für sie oftmals einfach ein Weg, um gegen die Realität des Todes zu protestieren. Ihre Wut kann sich gegen die Ärzte richten, gegen Gott oder den Verstorbenen selbst, von dem sie sich im Stich gelassen fühlen. Schuldgefühle Oftmals leiden trauernde Kinder und Jugendliche unter Schuldgefühlen. Sie denken dann, dass der Tod etwas damit zu tun hat, dass sie sich falsch verhalten haben, dass sie nicht Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern artig waren. Oder ein zurückbleibendes Geschwisterkind macht sich Vorwürfe, weil es mit dem Bruder oder der Schwester gestritten hat. Angst Die Kinder fürchten oft, dass sie selbst oder ein anderes Familienmitglied sterben könnten. Angst lähmt. Sie bindet die Energie, die Kinder für ihre Entwicklung brauchen. Kinder, die einen nahen Verwandten durch einen schweren Verkehrsunfall verloren haben, und die womöglich noch selbst dabei waren, sind meist traumatisiert. Entwicklungsrückschritte Verhaltensauffälligkeiten können auftreten oder sich verstärken. Die Konzentration kann nachlassen, das Kind, der Jugendliche, vergisst mitunter auch schon Gelerntes. Unter der Angst, den Verstorbenen zu vergessen, leiden besonders Grundschulkinder. Oft wissen sie nach einem Jahr wirklich nicht mehr, wie der Verstorbene ausgesehen hat oder wie seine Stimme klang. In Gedanken versuchen sie dann das, was sie noch wissen, „festzuhalten“. Sie leben nicht, wie andere Kinder, in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit und in einer Traumwelt. Auch das behindert eine „normale“ Entwicklung. Andere trauernde Jugendliche werden wiederum übermäßig reif. Manche übernehmen zu Hause die Rolle der verstorbenen Mutter oder des verstorbenen Vaters. Für sie ist es besonders wichtig, dass sie in der Schule auch einmal unbefangen herumalbern dürfen. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg (Hrsg.): Vom Umgang mit Trauer in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte und Erzieher/ innen. Stuttgart o.J., S. 6 f. 683 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4 . H A N D E L N I N P R O B L E M - U N D G E WA LT S I T UAT I O N E N Lehrer,Eltern M16 Auseinandersetzung in der Klasse Ergebnisse eines Rückblicks auf den Amoklauf am 11. März 2009 in Winnenden mit Schülerinnen und Schülern der Klassen 10c und 10d Einstieg über ein kurzes Klassengespräch In einer ersten Blitzlichtrunde wurde ausgetauscht, wie die einzelnen Schülerinnen und Schüler von dem Vorfall am Vortag erfahren haben und welches ihre erste Reaktion war. Gruppenphase Die Klasse verteilte sich im Raum an 6 Stationen in Kleingruppen. An den Stationen lagen die unten stehenden Fragen. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler blieben an den jeweiligen Stationen zur Ansicht für die anderen liegen. Station 1: Tim K. tötete 15 Menschen: neun Schülerinnen und Schüler im Alter von 15-16 Jahren, drei Lehrerinnen, drei Passanten. Notiere einen Kommentar zur Tat, deine ersten spontanen Gedanken, ein Gebet, dein erstes Gefühl. Antworten der Schülerinnen und Schüler: •Eine kranke Vorstellung von Gerechtigkeit, um Aufmerksamkeit zu bekommen. •Mein erster Gedanke ist, dass die Schüler eben in unserem Alter waren und dass es auch uns hätte treffen können. Hoffentlich ist meine Freundin nicht unter den Opfern. •Die armen Eltern: Auf einmal ist ihr Kind weg, gestern hat man noch geredet, heute ist sie tot. •Schock. Kenne ich jemand? Station 2: Was sind die Motive für eine solche Tat? Warum verübt ein Jugendlicher eine solche Tat? Notiere erste Vermutungen. Antworten der Schülerinnen und Schüler: •Ich möchte die Gründe für eine solche Tat auch gar nicht wissen. •Hass auf sich und auf seine Umgebung, Mobbing, wird abgewiesen von Mädchen und hat deshalb fast nur Mädchen gekillt. •Ausgrenzung, Einsamkeit, der Wunsch nach Aufmerksamkeit. Station 3: Welche Botschaft sendet der Täter mit seiner Tat? Was drückt er mit ihr aus gegenüber sei- Handbuch – Gewaltprävention II nem Umfeld? Notiere vage Vermutungen. Antworten der Schülerinnen und Schüler: • Ich denke, er möchte ein Zeichen setzen. • Ihm stinken sein Leben und seine Mitmenschen. • Ich will Aufmerksamkeit! • Ich habe keine Lust mehr, ich bin frustriert, lasst mich in Ruhe Station 4: Welche Formen von Gewalt gibt es in unserer Gesellschaft? Notiere die Erscheinungsformen von Gewalt bei uns. Antworten der Schülerinnen und Schüler: •Körperliche Gewalt (Schläge usw.)/psychische Gewalt und seelische (Mobbing)/Ausgrenzung. •Es gibt ziemlich viele Formen. Station 5: Was hilft den Hinterbliebenen der Opfer und den Betroffenen in dieser Situation? Antworten der Schülerinnen und Schüler: • Eigentlich gar nix: Die haben einen riesen seelischen Schock. • Mitgefühl/das Gefühl, dass sie nicht alleine dastehen/Helfende/psychische Hilfe. Station 6: Welche Konsequenzen müssten deiner Meinung nach aus einer solchen Tat gezogen werden für das Leben an Schulen? Antworten der Schülerinnen und Schüler: •Es sollte nicht so viel darüber berichtet werden, nicht so viele Einzelheiten wie es abgelaufen ist, denn das könnte andere dazu animieren. •Kontrollieren, wer ins Schulhaus geht. •Ich denke, dass man eigentlich so gut wie nichts tun kann. Es kann jede Schule treffen. •Übungen an Schulen: Wie verhalte ich mich? Fluchtwege! Klassengespräch zum Austausch der Ergebnisse Abschließend wurden die Ergebnisse der einzelnen Stationen im Plenum ausgetauscht. Einiges wurde untereinander kommentiert. Mancher Diskussionsstrang wurde nur kurz angerissen. Heike Bosien: Unterrichtsstunde Evangelische Religion am 12.3.2009. Klasse 10c und 10d, RiegelhofRealschule Nellingen, unveröffentlichtes Manuskript, Auszüge. 684 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 4.5 AMOKLAUF AN SCHULEN M17 Schule als verlässlicher Ort Nach dem Erfurter Schulmassaker gab es einen breiten Konsens darüber, dass ein Zusammenhang zwischen einem einseitig leistungsfixierten Schulklima und der wachsenden Gewaltbereitschaft von Schülern existiert. Als Konsequenz folgte daraus: Schulen sollten der sozialen und emotionalen Entwicklung ihrer Schüler mehr Raum und Zeit gewähren. Aber die Konsequenzen aus dem so genannten PisaSchock haben schnell die Schlussfolgerungen aus dem Massaker von Erfurt beiseite gedrängt. Seither wird weiter an der Leistungsschraube gedreht. In dem Maße, in welchem Schulen sich als effiziente Zulieferbetriebe für Industrie und Markt begreifen, werden sie verschärft zu Orten der Konkurrenz, der Selektion und damit auch der Kränkung. Gleichzeitig sind Heranwachsende immer weniger in der Lage, Kränkungen angemessen zu verarbeiten. So entsteht hier jede Menge (schulischer) Sprengstoff. Wenn die Elternhäuser ihre erzieherischen Aufgaben nicht mehr mit ausreichender Zuverlässigkeit wahrnehmen, müssen Schulen kompensieren und sich zu geschützten, verlässlichen Orten entwickeln, aus denen ein Schüler auch dann nicht vertrieben werden darf, wenn er leistungsschwach ist oder „stört“. Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung dann am meisten, wenn sie sie am wenigsten „verdienen“. Wir dürfen es nicht länger hinnehmen, dass Subjektivität und Innerlichkeit in Schulen meist nur als Störung vorkommen, dass also die Lernenden selbst als etwas betrachtet werden, das am Lernort „nicht zur Sache“ gehört. Das einzige Antidot aber gegen Gewalt sind emotionale Bindungen der Schüler an ihre Schule und ein lebendiges, offenes Schulklima. Eine Atmosphäre, die verhindert, dass einzelne Schüler oder ganze Gruppen aus von der Schule gestifteten Bezügen herausfallen und Handbuch – Gewaltprävention II Lehrer,Eltern dauerhaft an den Rand gedrängt werden. „Es hätte nur jemand mit mir reden müssen“, hat ein amerikanischer „School Shooter“ auf die Frage geantwortet, was hätte passieren müssen, um seinen Amoklauf zu verhindern. Schulen benötigen das, was bürokratischen Institutionen eigentlich wesensfremd ist: Einfühlungsvermögen und Sensibilität für besondere Umstände. Nur so sind Schulgemeinschaften imstande, die Folgen von Verletzungen wahrzunehmen, die die Schule einzelnen Schülern zufügt, und die Warnsignale aufzufangen, die die Verletzten und Gekränkten aussenden, bevor sie zur Gewalt greifen. Routine, Bequemlichkeit und Indifferenz sorgen im Schulalltag dafür, dass solche Vorzeichen übersehen werden: die Äußerung von tiefer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, das Abdriften in gewaltgesättigte virtuelle Welten, versteckte oder offene Andeutungen, dass „demnächst irgendetwas passieren wird“, die intensive heroisierende Beschäftigung mit anderen Amokläufern und die Übernahme von deren Zeichen- und Symbolsystemen. Was wir benötigen, ist ein von Empathie getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge. Jedes hysterische Agieren aber, das auffällige Schüler vorschnell verdächtigt, droht das informelle Frühwarnsystem zu zerstören. Nicht jede Verhaltensauffälligkeit darf Nachstellungen durch Behörden und psychotherapeutische Zuwendung auslösen. Vor dem Hintergrund alltäglicher Gewalt an Schulen, aus der als „Spitzenleistung“ das „School Shooting“ hervorgeht, müssen wir uns fragen: Was wird aus den Schülern, die im Rennen um Chancen auf rare Ausbildungs- und Arbeitsplätze auf der Strecke bleiben? Götz Eisenberg: Verlässliche Orte. In: Frankfurter Rundschau, 24.4.2007, S. 25, Auszug. 685 ©2010, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. – WSD Pro Child e.V. 6 . L I T E R AT U R Klärner, Andreas/Michael Kohlstruck (Hrsg.): Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006. Klug, Brian: The collective Jew: Israel and the new antisemitism. In: Christina von Braun/Eva-Maria Ziege (Hrsg.): Das „bewegliche“ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg 2004. Kural, Mahmut: Rechtsrock – Einstiegsdroge in rechtsextremes Gedankengut? Saarbrücken 2007. Lempa, Günter: Der Lärm des Ungewollten. Psychoanalytische Erkundungen zu Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und politischem Extremismus. Göttingen 2001. 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