Kredit und Vertrauen - Universität Mannheim

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Kredit und Vertrauen - Universität Mannheim
Annette Kehnel Hg.
Kredit und Vertrauen
Annette Kehnel Hg.
Kredit und
Vertrauen
Band 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Annette Kehnel Hg.
Kredit und Vertrauen
Band 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“
F.A.Z.-Institut für Management-,
Markt- und Medieninformationen GmbH
Frankfurt am Main 2009
ISBN 978-3-89981-237-4
F.A.Z.-Institut für Management-, Marktund Medieninformationen GmbH
Mainzer Landstraße 199
60326 Frankfurt am Main
Gestaltung/Satz
Umschlag:
Titelbild:
Satz Innen:
Druck und Bindung:
F.A.Z., Verlagsgrafik
Anja Schindler
Ernst Bernsmann
Messedruck Leipzig GmbH, Leipzig
Alle Rechte, auch des auszugsweisen
Nachdrucks, vorbehalten.
Printed in Germany
Inhalt
Einleitung
9
Annette Kehnel
Geld und Vertrauen
17
Otmar Issing
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
29
Peter Raue
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
37
Rupert Graf Strachwitz
Unser täglich Ranking gib uns heute …“
51
Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
79
Alfred Kieser
„Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt,
er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“
87
Markus Glaser und Martin Weber
Trust – A Concept Too Many!
105
Timothy W. Guinnane
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
129
Josef Zimmermann
Vertrauen in der Krise? Das ewige Karussell des Wertezerfalls
151
Stefanie Unger
Markenbildung und die Gewinnung
des öffentlichen Vertrauens
Frank Merkel
157
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
167
Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
183
Marc-Philippe Weller
Vertrauen statt Wissen –
Qualität im Wissenschaftsjournalismus
197
Matthias Kohring
Unsicherheit und Vertrauen:
Eine sozialpsychologische Perspektive
211
Jana Janssen, Christiane Schoel und Dagmar Stahlberg
Vertrauen und soziale Präferenzen:
Die Sicht der experimentellen Wirtschaftsforschung
225
Klaus M. Schmidt
„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit,
wenn ich noch einen habe“
239
Jochen Hörisch
Die Kunstkreditkarte
245
Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen, Peer Boehm
Die Autoren
249
Die Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ an der Universität
Mannheim ist ein gemeinsames Projekt der Philosophischen Fakultät
und der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, mit Unterstützung von
ABSOLVENTUM MANNHEIM, der Freunde der Universität Mannheim
und in Zusammenarbeit mit dem Bronnbacher Stipendium Mannheim.
„Unser gemeinsames Ziel ist es, statt Gräben zwischen Wirtschaft und
Kultur zu ziehen, Brücken zu schlagen, um ein beidseitig befruchtendes
Verhältnis aufzubauen.“
Prof. Dr. Hans-Wolfgang Arndt, Rektor der Universität Mannheim
Abbildung 1: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place I
Abbildung 2: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place II
Einleitung
Annette Kehnel
Vertrauen hat Hochkonjunktur – als Managementkonzept, als Prinzip
der Mitarbeiterführung oder als Grundprinzip der Markenbildung.
Gleichzeitig sind die Gefahren von zu viel Vertrauen und zu wenig Kontrolle in der aktuellen Finanzkrise nur allzu deutlich geworden. Und
während die einen das Bekenntnis zum ökonomischen Wert des Vertrauens einfordern, pochen die anderen auf Kontrolle. Auch in der Forschung ist Vertrauen ein brandaktuelles Thema. Es wird als Fortschrittsfaktor und „Sozialkitt“ von Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften erforscht: Länder, in denen die Menschen einander vertrauen, weisen ein höheres Wirtschaftswachstum und eine höhere
durchschnittliche Lebenszufriedenheit auf.
Im zweiten Band der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ diskutieren Ökonomen, Künstler, Soziologen, Wirtschafts- und Finanzexperten, Politikwissenschaftler und Studenten folgende Fragen: Wie
funktioniert Vertrauen? Ist Vertrauen nicht vielfach eine Ausrede für
Trägheit? Wäre der Markt überhaupt überlebensfähig, wenn die Akteure
statt Kapitalrenditen immer nur Vertrauenswürdigkeit im Sinn hätten?
Und warum beschäftigt sich ausgerechnet die innovativste Spitzenforschung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit Vertrauen?
„Kredit und Vertrauen“ sind hochaktuell.
Eine kurze Begriffsklärung vorab
Kredit und Vertrauen sind Begriffe des täglichen Sprachgebrauchs.
Kredit – so die naheliegende Assoziation – gehört ins Bankwesen:
Kreditgeber und Kreditnehmer trifft man im Bereich Finance. Kreditwürdigkeit und Kreditvergabekriterien werden geprüft und entwickelt. Kredite haben mit hartem Geschäft, mit Investitionen, mit
Information, mit Schulden und mit Werten zu tun. Vertrauen dagegen
gehört in den Bereich des Sozialen. Therapeuten, Sozialarbeiter, Pastoren, Eltern, Erzieher etc. sind zuständig. Vertrauen und Vertrauensbruch sind eher Themen fürs Sofa, für Paare, etwas Privates jedenfalls.
Einleitung
9
Kredit und Vertrauen gehören verschiedenen Sphären des täglichen
Lebens an.
Doch auch das Gegenteil lässt sich mit Fug und Recht behaupten. Kredit und Vertrauen gehören zusammen. Sprachgeschichtlich wurzelt der
Kredit im lateinischen credere, heißt zugleich glauben und vertrauen.
Creditum ist das im guten Glauben Anvertraute. Gemeinsam mit anderen
Begriffen des Banken- und Finanzwesens wie „Giro“, „Konto“, „Bank“
oder „Kontor“ wurde „Kredit“ in Zeiten der wirtschaftlichen Expansion
seit dem 13. Jahrhundert aus dem Italienischen in fast alle europäischen
Sprachen übernommen. Kredit setzt Vertrauen voraus und zählt zu den
Grundprinzipen des Wirtschaftslebens und der Geschäftsbeziehungen.
Nur derjenige Kaufmann konnte langfristig Erfolg haben, dessen Ansehen (creditum) untadelig war.
Seit Beginn der Bankenkrise im September 2008, dem Zusammenbruch
von Lehman Brothers, wird die Zusammengehörigkeit der Begriffe vermehrt betont. Die Krise – so die Argumentation in den Medien – sei
durch mangelnde Kontrolle und blindes Vertrauen ausgelöst worden.
Wie konnte es geschehen, dass so viele vernünftige, rational denkende
und handelnde Privatleute, Banker, Investmentberater, Finanzexperten
etc. in Wertpakete investierten und Wertpakete schnürten, die – im
Nachhinein – mit ganz wenig Aufklärungsbedarf von jedem Kind als
wertlos identifiziert werden können? Warum hat keiner die ungedeckten Tripple-A-Ratings hinterfragt? Wie kann der systematische Verzicht
auf Information, wie kann das blinde Vertrauen der Fachleute erklärt
werden? Eine Vertrauenskrise? Der massive Vertrauensverlust unter den
Geldinstituten wurde als verhängnisvolle Folge der Finanzkrise erkannt.
Vertrauen ist nicht länger Privatsache. Blindes Vertrauen, der Verzicht
auf adäquate Information, die unkritische Gewährung von Krediten,
fehlendes Vertrauen, missbrauchtes Vertrauen und der Verlust an Vertrauenswürdigkeit tauchen als Begriffe in jeder Fehleranalyse zur Krise
auf.
Angesichts dieser widersprüchlichen Vielfalt am kollektiven Verständnishorizont lässt sich der Zusammenhang zwischen Kredit und Vertrauen folgendermaßen konkretisieren: Kredit im engeren Sinne (= die
Überlassung von Geld oder Werten auf Zeit an einen Dritten) und Vertrauen (= ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion, der Entscheidungen auch in unüberschaubaren Situationen ermöglicht) sind unmittelbar miteinander verknüpft. Besonders insofern, als wirtschaftliches
Handeln ein Handeln in komplexen Zusammenhängen meint.
Um mit dem Soziologen Niklas Luhmann zu sprechen: „Ohne Vertrauen
sind nur sehr einfache, auf der Stelle abzuwickelnde Formen menschlicher Kooperation möglich.“ Wirtschaftliches Handeln erfordert Trans10
Einleitung
aktionen, die das menschliche Handlungspotential über die elementaren Formen hinaus steigert, Transaktionen, die nicht stets aufs Neue die
Voraussetzungen und Folgen vorangegangener Entscheidungen in Frage
stellen oder überprüfen können.
Vertrauen als Thema der Wissenschaft
In den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften wird Vertrauen
als Wirtschaftsfaktor und „Sozialkitt“ schon seit langem erforscht. Vertrauen ist kein privates Thema, kein exklusives Problem für Psychotherapeuten oder Moraltheologen, kein Refugium für spezielle Probleme
der menschlichen Psyche. Das Thema Vertrauen hat Hochkonjunktur
als Wirtschaftsfaktor. Man hat empirische Studien vorgelegt, die belegen, dass in Ländern, in denen die Menschen einander vertrauen, ein
höheres Wirtschaftswachstum und eine höhere durchschnittliche Lebenszufriedenheit herrschen. Vertrauen in der Arbeitswelt steigert die
Leistungsfähigkeit. Entsprechend hat Vertrauen Hochkonjunktur in der
Erfolgsfaktorenforschung, als Managementdevise, als Prinzip der Mitarbeiterführung, als Grundlage der Markenbildung, als Organisationsprinzip etc. Vertrauen beschäftigt Sozialpsychologen, Soziologen, Verhaltensbiologen, Organisationstheoretiker etc. Vertrauen wird hier
nicht länger als Privatsache oder ein Konzept für Seelsorger oder Beziehungsberater behandelt, sondern vielmehr als ein für Fortschritt,
Wachstum und Wohlstand unentbehrlicher Erfolgsfaktor.
Auch Erkenntnisse aus der empirischen Sozialforschung und den Naturwissenschaften können ins Feld geführt werden. Hier wird untersucht,
unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, blind zu vertrauen,
Risiken einzugehen, zu entscheiden und zu handeln sowie zu investieren ohne nachzufragen. Unter welchen Voraussetzungen verzichten sie
auf weitere Informationen über das Zustandekommen der Entscheidungsgrundlagen und der potentiellen Folgen ihrer Entscheidung? Mit
den Oxytocinrezeptoren hat man die molekularen Grundlagen für Vertrauen – allgemeiner gesprochen für gesteigerte Risikobereitschaft und
für Altruismus – gefunden. Oxytocin wird besonders dann ausgeschüttet, wenn Tiere oder Menschen auf Partnersuche sind. Verhaltensökonomen haben in Experimenten gezeigt, dass Mitspieler bei Vertrauensspielen, in denen sich die Teilnehmer wechselseitig Geldbeträge übereignen müssen, dann mehr übereignen, wenn man ihnen vorher Oxytocin verabreicht hat.
Das Wissen um die „Relevanz“ von Vertrauen ist natürlich wesentlich
älter als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Das Entlastungsangebot im freiwilligen Verzicht auf Kontrolle war für den Men-
Einleitung
11
schen schon immer verlockend und zugleich überlebensnotwendig. In
diesem Sinne wäre das sprichwörtlich seligmachende Gottvertrauen
eine altmodische Bezeichnung für das, was wir heute Überlebensstrategie nennen. Ohne ein grundständiges Zutrauen in die eigenen Erwartungen an die Welt wäre es auch dem modernen Menschen unmöglich,
den Alltag zu bewältigen, einen Einkauf zu tätigen, in ein Auto zu steigen oder morgens sein Bett zu verlassen.
Vertrauen wäre demnach ganz allgemein eine soziale Tatsache, ein
empirisch unbestreitbares Faktum. Der Ruf nach mehr Vertrauen in
aktuellen Wertedebatten scheint daher nicht ganz zutreffend. Vertrauen ist genau genommen kein Wert, keine Tugend, kein Verdienst
„an sich“. Die Luhmann’sche Rede vom Mechanismus der Komplexitätsreduktion nimmt dem Begriff den moralischen Unterton. Vertrauen ermöglicht die Steigerung der Handlungspotentiale eines sozialen Systems. Vertrauen spart Zeit. Ganz neue Arten von Handlungen werden durch Vertrauen möglich, vor allem solche, die erst langfristig Erfüllung in Aussicht stellen, Handlungen also, die nicht unmittelbar
befriedigen und daher künstlich motiviert werden müssen. Vertrauen
befähigt Menschen und Gesellschaften zu Handlungen, die langfristige
Zwecke, Entlohnung oder Rendite verfolgen. Die Überlassung von Werten an Dritte wäre demnach eine Form der Vergabe von Vorschussvertrauen, eine Form des Zukunftshandelns, das kreativ mit Werten
umgeht. Ob dieses Zukunftshandeln auf Zeitersparnis im Fegefeuer oder
auf Steuerersparnis beim Finanzamt zielt, ist aus Sicht der Mediävistin
nur eine Frage des Zeitgeistes.
Was bietet dieser Band?
Der Band, den Sie hier in Händen halten, bietet Stimmen und Ergebnisse
aktueller Forschungen zum Thema aus den verschiedensten Fachdisziplinen und aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens.
Einschlägige Beiträge aus Politik und Öffentlichkeit eröffnen den Band:
Otmar Issing, der Vater des Euro, knüpft an die Frage nach dem Zusammenhang zwischen „Geist und Geld“ – die Thematik des ersten Bandes
der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ – an und endet mit
Cicero, „De officiis“: „Keine Sache hält den Staat mehr zusammen als
Vertrauen“. Der Anwalt der schönen Künste, Peter Raue, widmet sich der
Frage: „Wie eigentlich funktioniert der Kunstmarkt?“. Rupert Graf
Strachwitz fragt nach den politischen Implikationen des „Vertrauens“.
Unter der Überschrift: „Unser täglich Ranking gib uns heute …“ diskutieren Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele
über das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen und andere
12
Einleitung
Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb. Der Organisationstheoretiker Alfred Kieser hinterfragt erneut das Vertrauen in Leistungskennziffern und Ranglisten in der Wissenschaft, ja er behauptet, es sei
völlig naiv. Friedrich Schillers klassische Unterscheidung zwischen dem
„Brodgelehrten“ und dem „Philosophischen Kopf“ sei in dieser Hinsicht
bis heute gültig. Die Mannheimer Finanzexperten Martin Weber und
Markus Glaser warnen vor zu viel Vertrauen in jene, die vorgeben zu
wissen, wie sich die Kurse entwickeln. Timothy Guinnane, Wirtschaftshistoriker aus Yale, vertritt die provokante These, dass Vertrauen im
Finanzsektor ein überflüssiges Konzept sei. Josef Zimmermann fragt
nach den Vorteilen einer vertrauensbasierten Hausbankbeziehung
gegenüber der stets bedarfsorientierten Abdeckung des Finanzbedarfs
im Alltagsgeschäft herkömmlicher Kreditinstitute. Stefanie Unger problematisiert das maßlose Vertrauen in vermeintlich idyllische Zeiten in
der Vergangenheit, als die freie Marktwirtschaft noch den Geboten der
Rücksichtnahme und Angemessenheit folgte. Frank Merkel untersucht
Markenführung als ethisches Prinzip und fragt als Marketingfachmann,
warum Vertrauen verpflichtet.
Konstantin Adamopoulos, Kurator des „Mannheimer Bronnbacher Stipendiums“, fragt nach dem stets prekären Verhältnis zwischen Vertrauen und Innovation. Entsteht nicht dort Innovation, wo auf Kontrolle
verzichtet wird? Die Mannheimer Bronnbacher Stipendiaten Iria Budisantoso und Christoph Sextroh denken über jenen Vertrauensvorschuss
nach, der ihnen von Seiten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft
entgegengebracht wird. Der Mannheimer Jurist Marc-Philippe Weller
geht der Frage nach, in welchem Verhältnis die Vertragstreue als normative Größe („pacta sunt servanda“) und ihrem Gebrauch als Passepartout in verschiedensten Argumentationszusammenhängen steht.
Die Rolle von Vertrauen im Wissenschaftsjournalismus hinterfragt der
Medien- und Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring in seinem Beitrag über Qualität im Wissenschaftsjournalismus.
Aus sozialpsychologischer Perspektive betrachten Jana Janssen, Christiane
Schoel und Dagmar Stahlberg das Problem der „gefühlten“ Unsicherheit
im Hinblick auf individuelle Bedürfnislagen nach zuverlässigen und vertrauenswürdigen Führungspersönlichkeiten. Klaus M. Schmidt hinterfragt aus Sicht des Behavioural Economists den Homo oeconomicus als
Fiktion der Standardökonomie und stellt fest, dass Vertrauen, das
Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und soziale Präferenzen eine zentrale
Rolle im aktuellen Verhalten seiner Probanden spielen. Jochen Hörisch
geht aus von dem Faszinosum des „Wirtschaftsweisen“ und hinterfragt
das Vertrauen in institutionalisierte Instanzen vermeintlich zuverlässigen Wissens: „invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn
ich noch einen habe“.
Einleitung
13
Wirtschaft und Kultur bleiben im Gespräch. Wirtschaft braucht Kultur.
Kultur braucht Wirtschaft. Die Gesellschaft braucht beides. Dieses Wissen wird an der Universität Mannheim großgeschrieben. Das Bronnbacher Stipendium des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft hat
diese Erkenntnis in ein innovatives Förderprogramm übersetzt.
Der hier vorgelegte zweite Band der Mannheimer Reihe „Wirtschaft und
Kultur im Gespräch“ zum Thema „Kredit und Vertrauen“ hätte schon
dann seine Pflicht erfüllt, wenn damit die stereotypen Grenzen unseres
Alltagsdenkens hinterfragt werden. Wenn es darüber hinaus gelänge, zu
weiteren zukunftsträchtigen Experimenten und Krediten an den Grenzen zwischen Wissenschaft, Kultur, Kunst und Wirtschaft zu inspirieren, dann wird die Zukunft zur Kür.
Fußnoten
1 Luhmann, Niklas, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität,
Vierte Auflage, Stuttgart 2000, S. 117.
14
Einleitung
Abbildung 3: Peer Boehm, Kunstkreditkarte:Geist und Geld I
Abbildung 4: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Geist und Geld II
Geld und Vertrauen
Geld und Geist – Geld oder Geist?
Otmar Issing
Die Nationalökonomie verliert für den wahren Adepten niemals ihr Faszinosum. Das gilt im Besonderen für die „Politische Ökonomie“ im
Sinne der Klassiker. Es ist unserer Disziplin nicht gut bekommen, dass
sie sich allzu lange und allzu sehr in der Spezialisierung isoliert und das
Feld der „Rahmenbedingungen“ anderen Fächern überlassen hat.
Als mich Frau Kollegin Kehnel auf diese Veranstaltungsreihe angesprochen hat, konnte ich der Einladung nicht widerstehen. Erst recht nicht,
als sie die Publikation „Geist und Geld“ erwähnte, die aus der ersten
Runde hervorging. Schon seit langem beobachte ich die Diskrepanz zwischen der überwiegend feindlichen Einstellung der Vertreter der schönen Künste zum Geld und ihrer meist verborgenen, gelegentlich aber
auch offen demonstrierten Gier nach dem angeblich verachteten
Medium.
Ich will es hier mit einem, allerdings besonders prominenten Beispiel
bewenden lassen. Als mir die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche
Fakultät der Universität Bayreuth im Jahre 1996 die Würde eines Ehrendoktors verlieh, wählte ich für meinen Festvortrag den Titel „Wider den
dämonischen Begriff des Geldes – diesseits und jenseits von Geldangebot und Geldnachfrage“. Dies war auch als Huldigung an den Genius
Loci zu verstehen. Richard Wagner hatte nämlich am 14. Juni 1848 in
einem Vortrag vor dem „Vaterlandsverein“ in Dresden sein Publikum
mit folgenden Worten zum Beifall hingerissen.1
„Wir werden erkennen, dass die menschliche Gesellschaft durch die
Tätigkeit des Geldes erhalten wird: wir werden den Grundsatz in klarer
Überzeugung feststellen, und Gott wird uns erleuchten, das richtige
Gesetz zu finden, durch das dieser Grundsatz in unser Leben geführt
wird, und wie ein böser nächtlicher Alb wird dieser dämonische Begriff
des Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge von
öffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und
Bankiersspekulationen.“2
Ich will erst gar nicht versuchen, die Logik in diesen Ausführungen aufzuspüren – ein Unterfangen, das bei Wagner im Allgemeinen nicht sehr
Geld und Vertrauen
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weit führt. Allen voran war er wie viele herausragende Musiker oder Literaten der festen Überzeugung, die Gesellschaft schulde ihm nicht nur
die Anerkennung für das Werk, sondern auch die Mittel für einen
zumindest gehobenen Lebensstil. Wagner hat dies nicht nur vielfach
geäußert, sondern dieser Überzeugung auch kräftig nachgeholfen,
indem er Gönner und Gönnerinnen ausgenutzt und Gläubiger betrogen
hat.
Ich sehe hier die Wurzel für die feindselige Haltung vieler Künstler und
Intellektueller gegenüber der Marktwirtschaft beziehungsweise dem
Kapitalismus: Das Geld weilt meist nicht dort, wo der Geist herrscht. Von
da ist es nicht weit bis zum Verdacht, mit dem „Geist“ sei es dort nicht
weit her, wo der Mammon zu Hause ist. Wem fielen dazu nicht sofort
Beispiele ein. So ist auch zu erklären, warum die Großverdiener unter
den Künstlern und Literaten, die es ja durchaus gibt, oft besonders
rabiat „antikapitalistische“ Parolen pflegen – man will sich schließlich
vor falschem Verdacht schützen. Aber reicht das schon für die Antithese
„Geist oder Geld“?
Heißt es aber nicht schon in der Bergpredigt (Matthäus, 6.24): „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und
den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ In die
Sprache der weniger Gläubigen übersetzt: Wer als Künstler oder Intellektueller nicht genug Geld hat, verdankt dies seinem elitären Dienst an
höheren Dingen.
Grundlage des Vertrauens
Bevor ich mich weiter in philosophischem Dilettantismus verliere, will
ich mich auf das Thema meines Vortrages konzentrieren: „Geld und Vertrauen“. Geld braucht Vertrauen, das ist so offensichtlich, dass ich mit
diesen drei Worten eigentlich meinen Vortrag beginnen und zugleich
beenden könnte. Vielleicht lohnt es sich aber doch, ein wenig darüber
nachzudenken, worauf dieses Vertrauen gebaut ist. Warum verkaufe ich
ein wertvolles Bild und nehme dafür Papier entgegen? Weil auf den
Euroscheinen Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, unterschrieben hat?3
Aber wofür steht diese Unterschrift? Gehen Sie einmal in die Kaiserstraße 29 in Frankfurt und versuchen Sie, eine Euronote einzulösen.
Wenn Sie Glück haben, schickt man Sie einfach weg und ruft nicht den
Arzt. Auf der Pfund-Sterling-Note der Bank of England befindet sich
neben dem Bild der Queen Elizabeth und der Unterschrift des Chief
Cashier der ominöse Satz: „I promise to pay the bearer on demand the
18
Geld und Vertrauen
sum of twenty pounds.“ Machen Sie den Versuch in der Threadneedle
Street in London, und man wird Ihnen bestenfalls den Schein gegen
einen neuen mit der gleichen Aufschrift umtauschen. In den USA unterschreibt auf den Dollarscheinen nicht der Notenbankpräsident, sondern der Secretary of the Treasury, also der Finanzminister. Dafür steht
auf der Rückseite: „In God We Trust“. Ich will nicht behaupten, der
Dollar benötige göttlichen Beistand, doch darf die Frage erlaubt sein,
wie das Vertrauen in Gott der amerikanischen Währung helfen soll?
Und: Warum hat man noch nichts von einer Klage der Atheisten gegen
diese Praxis gehört?
Im Papierstandard unserer Zeit erreicht das Geld den Zenit der Abhängigkeit vom Vertrauen der Menschen. Hinter dem Papiergeld steht
zunächst einmal: nichts. Die Notenbank als Schöpfer des Geldes unterliegt keinerlei Einlösungspflicht. Das ändert allerdings nicht unbedingt
etwas daran, dass Vorstellungen einer Art „Deckung“ kaum auszurotten
sind. Der damalige Bundesbankpräsident Blessing hatte beispielsweise
immer wieder einmal die Bevölkerung mit dem Hinweis beruhigt, der
DM-Bargeldumlauf sei zu mehr als 100 Prozent durch Gold und Devisen
„gedeckt“. De facto verkörpert das Geld einen Anspruch an das reale
Sozialprodukt, dessen Wert vom Preisniveau abhängt.
Es ist hier nicht der Ort, den einzelnen Facetten der Geschichte des Geldes nachzugehen. Der Ursprung des Geldes dürfte in der Verwendung
als Rangzeichen und Schmuck sowie für sakrale Zwecke zu suchen sein.4
Den Schritt von dieser Zwecksetzung hin zu einem Mittler des Tausches
sehen die Vertreter der Konventionstheorie in einer Übereinkunft, die
durch den aufkommenden Fernhandel erforderlich wurde. „Man kam
daher überein, behufs Tausches gegenseitig eine Sache zu geben und
anzunehmen, die selbst zu den nützlichen Dingen zählte und bei ihrer
Verwendung im Verkehr am leichtesten zu handhaben war, wie es Eisen,
Silber und dergleichen ist. Zuerst bestimmte man sie einfach nach
Größe und Gewicht, schließlich aber drückte man ihr ein Zeichen auf,
um sich das Messen und Wägen zu ersparen, indem die Prägung als Zeichen ihrer Quantität galt.“5
Carl Menger hält die Auffassung für widerlegt, „dass das Geld das Produkt einer allgemeinen Übereinkunft oder positiver Gesetzgebung (also
das Ergebnis von vornherein des Zieles und der Mittel bewusster staatlicher und gesellschaftlicher Maßregeln) … sei.“6 Vielmehr sei das Geld
das Ergebnis eines allmählichen gesellschaftlichen Fortschrittes, Folge
einer entstehenden Gewohnheit.
Diese Erklärung liegt auf der Linie der britischen Philosophen, die den
Ursprung von Institutionen nicht in rationalen Entwürfen sehen, sondern darlegen, „wie Nationen im Dunkeln auf Einrichtungen stoßen, die
Geld und Vertrauen
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in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“7.
Diese Erklärung verbindet Menger mit der überraschenden Schlussfolgerung, „Vertrauen“ sei für die Erklärung des Geldes ebenso unzulänglich wie überflüssig.8
Es sei einmal dahingestellt, ob nicht schon der Fernhandel, der Handel mit Fremden, nicht auf gegenseitigem Vertrauen basiert und daher
auch die gegenseitige Anerkennung von „Geld“ Vertrauen voraussetzt.
Solange als Geld Güter fungieren, die wie Gold und Silber von Natur
aus knapp sind, bleiben die Anforderungen an das notwendige Vertrauen auf die Verlässlichkeit des Reinheitsgehalts oder des Gewichts
von Münzen beschränkt. Die geschichtliche Erfahrung liefert allerdings hinreichend viele Beispiele dafür, dass die Verwendung edler
Metalle keine Garantie für gutes Geld ist. „Denn überall in der Welt
haben Herrscher und unabhängige Staaten in ihrer Habsucht und
Ungerechtigkeit das Vertrauen der Menschen missbraucht, indem sie
nach und nach den ursprünglichen Metallgehalt ihrer Münzen herabgesetzt haben.“9
Gleichwohl hat die Vorstellung lange dominiert, das Geld bedürfe eines
materiellen Ankers. In seinem Buch „Das Geld“ berichtet D. H.
Robertson: „Man erzählt von einem Bergwerksbesitzer in Johannesburg,
der ein Glasauge hatte, dass er dieses, wenn ihn die Geschäfte fortriefen,
auf einen erhöhten Platz niederlegte. Solange nun das Auge des Herrn
auf ihnen ruhte, fuhren die Arbeiter fort, … zu arbeiten. Aber eines Tages
ging einer der Arbeiter, mutiger als die übrigen, an die allsehende Halbkugel heran und bedeckte sie mit einer umgestülpten Zigarettendose,
worauf dann er und seine Genossen sich prompt davonmachten und
sich betranken. Ähnlich wie in dieser Erzählung würde es dann hergehen, wenn jeder Anschein eines Goldstandards vernichtet würde.“10
Dem heutigen Leser des ansonsten immer noch interessanten Autors
dürfte es allerdings schwerfallen, dieses Argument ernst zu nehmen.
Wie kann man Vertrauen durch einen Schwindel erzeugen, zumal
einen, der derart leicht zu durchschauen ist?
Zerrüttung der Währung in der Hyperinflation
Nachdem sich das Geld im Laufe der Geschichte zunehmend von der Bindung an Gold oder Silber löste, hat der Faktor „Vertrauen“ immer mehr
an Bedeutung gewonnen. Im reinen Papierstandard, der heute weltweit
herrscht, gibt es vor allem keine „natürliche Bremse“ an der Notenpresse. Dem Missbrauch sind damit Tür und Tor geöffnet.
20
Geld und Vertrauen
Erwartungsgemäß hat der Staat in vielen Ländern und zu allen Zeiten
die Notenpresse bedient, um seine Ausgaben zu „finanzieren“. Uferlose
Ausweitung der Geldmenge, Inflation und Zerrüttung der Währung
waren oft die Folgen. Deutschland steht mit der Hyperinflation nach
dem Ersten Weltkrieg mit an der Spitze dieser Tabelle. Im Oktober 1923
lag die monatliche (!) Inflationsrate bei rund 32.000 Prozent.11 Unter solchen Umständen kann es nicht überraschen, dass die Mark weitgehend
ihre Geldfunktionen verlor. Wer den Anspruch durchsetzen konnte,
ließ sich in Devisen oder realen Gütern bezahlen. Wer die sich am Ende
minütlich entwertende Mark erhielt, versuchte, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes stieg unter
diesen Umständen ins Unermessliche. Als Recheneinheit wurde die
Mark von Indexierungen und Wertsicherungsklauseln der verschiedensten Art (z.B. Weize- oder Roggenanleihen) abgelöst. In seiner Entscheidung vom 28. November 1923 erklärte schließlich sogar das Reichsgericht, das Festhalten am (Nominal-)Prinzip „Mark = Mark“ verstoße
gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
Die wirtschaftlichen, sozialen und schließlich politischen Folgen der
vollständigen Zerrüttung des Geldwesens waren verheerend. Die Produktion geriet immer mehr ins Stocken. Eine vernünftige Kalkulation
war kaum mehr möglich, die Rationalität des Wirtschaftens war durch
den faktischen Ausfall der Geldwirtschaft gravierend beeinträchtigt.
Während der Staat sich entschuldete, waren die Opfer der Inflation vor
allem die Sparer, die zur Alterssicherung in traditioneller Weise in
gutem Glauben Staatsanleihen erworben hatten, deren Wert jetzt auf
null gesunken war.
Niemand hat anschaulicher als Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt
von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“ den Kontrast zwischen
Stabilität und Inflation beschrieben. Im „goldenen Zeitalter der Sicherheit“, wie er die Phase gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nennt, lohnte es sich, Geld Jahr für Jahr in
sicheren Anlagen zu investieren. Diese Welt ging in der Hyperinflation
1922 und 1923 unter:
„Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis
gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die
Inflation. Denn der Krieg, so mörderisch er gewesen, er hatte immerhin
Stunden des Jubels geschenkt mit Glockenläuten und Siegesfanfaren. Und
als unheilbar militärische Nation fühlte sich Deutschland durch die zeitweiligen Siege in seinem Stolz gesteigert, während es durch die Inflation
sich einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt empfand; eine ganze
Generation hat der deutschen Republik diese Jahre nicht vergessen und
nicht verziehen und lieber seine Schlächter zurückgerufen.“12
Geld und Vertrauen
21
Einen krasseren Vertrauensverlust in Staat und Währung kann man sich
kaum vorstellen. Ein Neubeginn konnte danach nur über eine grundlegende Reform gelingen. In Deutschland geschah dies durch die Ausgabe
der Rentenmark zum Kurs von 1 Billion gegen die alte Währung. Das
neue Geld gewann schnell Vertrauen. Dazu trug die Vorstellung bei, die
Rentenmark sei durch „Grund und Boden gedeckt“. Entscheidend war
aber, dass die Reichsbank die Diskontierung von Schatzanweisungen des
Reiches einstellte. Damit war die Defizitfinanzierung durch die Notenpresse beendet und damit die entscheidende Quelle der vorangegangenen Inflation stillgelegt. (Im Oktober 1923 waren gerade noch 1 Prozent
der Ausgaben des Reiches durch Steuern gedeckt.)
Am Extrem der Hyperinflation sind die Konsequenzen instabilen Geldes
besonders deutlich zu verfolgen. Die Sparer, die vorher in gutem Glauben öffentliche Anleihen gekauft haben, werden vollständig um ihr Vermögen gebracht und fühlen sich vom Staat betrogen.
Vertrauen in das Geld
Vertrauen in das Geld, das heißt Vertrauen in die Erhaltung des Geldwertes, ist ein unverzichtbares Erfordernis einer Gesellschaft freier Bürger. Die Möglichkeit, privates Geldvermögen zu bilden und insoweit
finanzielle Unabhängigkeit zu erhalten, ist ein unverzichtbares Element individueller Freiheit. In diesem Sinne ist Dostojewskis Charakterisierung des Geldes als „geprägte Freiheit“ zu verstehen.
In vielen Ländern verlangt inzwischen allein schon die Demografie
einen Ausbau der privaten Altersvorsorge. Vertrauen in die Stabilität des
Geldwertes spielt dabei eine entscheidende Rolle. In 20 bis 30 Jahren,
den Zeiträumen, um die es sich bei der finanziellen Absicherung für das
Alter (mindestens) dreht, führen bereits vermeintlich „mäßige“ Inflationsraten zu einer weitgehenden Erosion des Realwertes des Geldvermögens. Schon bei einer verschiedentlich als „akzeptabel“ apostrophierten Preissteigerungsrate von jährlich 5 Prozent hat das Geld nach
20 Jahren fast zwei Drittel seiner Kaufkraft verloren, nach 30 Jahren sind
es sogar mehr als drei Viertel.
Diesem rechnerischen Wertverlust steht entgegen, dass sich die Anleger
nicht dauerhaft betrügen lassen – das berühmte Wort Abraham Lincolns
erfasst diesen Zusammenhang zutreffend – und entsprechend ihren
Inflationserwartungen einen „Zuschlag“ im Nominalzins verlangen. Ob
diese Rechnung im Nachhinein betrachtet aber immer voll aufgeht,
muss bezweifelt werden. Einmal kann es zu unerwarteten Inflationsschüben kommen, so dass die tatsächlich erzielte reale Verzinsung hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zudem wirkt die Besteuerung von
22
Geld und Vertrauen
Zinserträgen nach dem Nominalwertprinzip in hohem Maße verzerrend, denn hier wird nicht danach differenziert, ob Zinseinkünfte nur
inflationär aufgebläht sind oder ob es sich um reale Erträge handelt.
Derjenige Teil der Zinseinnahmen, der einen bloßen Inflationsausgleich
bewirkt, wird also voll besteuert.
Ich möchte diesen Effekt anhand eines einfachen Beispiels illustrieren:
Eine Geldanlage mit einem Nominalzins von 5 Prozent erbringt bei
Preisstabilität und einem Steuersatz auf Zinseinkommen von 50 Prozent
eine Realverzinsung von 2,5 Prozent. Um die gleiche Realverzinsung bei
einer Inflationsrate von 5 Prozent zu erzielen, müsste der Nominalzins
nach Steuern auf 7,5 Prozent steigen, vor Steuern insgesamt also 15 Prozent betragen. Oder anders betrachtet: Jeder Prozentpunkt Inflation
schlägt voll – und nicht nur anteilig nach Steuern – auf die reale Verzinsung durch. Die Geldentwertung verstärkt damit den steuerlichen
Zugriff auf die Zinseinkünfte, und zur faktischen Enteignung durch
negative Realverzinsung nach Steuern ist es nur noch ein relativ kleiner
Schritt.
Es liegt auf der Hand, dass Inflation – gepaart mit den geschilderten
steuerlichen Effekten – die Ersparnisbildung behindert und gesamtwirtschaftlich zu einem suboptimalen Kapitalstock führt. Geldvermögensbildung in gesamtwirtschaftlich wünschenswertem und individuell optimalem Umfang setzt also Geldwertstabilität – oder genauer
gesagt, Vertrauen in die künftige Stabilität des Geldes – voraus.
An dem genannten kleinen Rechenbeispiel wird bereits erkennbar, wie
stark moderne Volkswirtschaften auf dem Nominalprinzip – etwa
„Mark = Mark“ basieren: Die Mark oder der Euro von heute entsprechen
der Mark oder dem Euro von morgen. Dieser Grundsatz durchzieht
nicht nur das Steuerrecht, sondern das ganze System von Abgaben und
Leistungen. In den meisten Auffassungen, nach denen „ein wenig Inflation gar nicht so schlimm ist“ – oder sogar noch positive Wirkungen
haben soll –, wird dieser Aspekt völlig ausgeblendet. Empirische Untersuchungen belegen jedoch, dass die gesamtwirtschaftlichen Kosten
selbst als „mäßig“ erachteter Inflationsraten von beispielsweise 4 Prozent erheblich sind, bezieht man die Verzerrungen mit ein, die aus der
Anwendung des strikten Nominalprinzips im Abgaben- und Transfersystem resultieren.13
Die Vorteile der Geldwirtschaft gegenüber dem Naturaltausch liegen auf
der Hand. Jedoch nur stabiles Geld kann die Funktionen als Recheneinheit, Tausch- und Zahlungsmittel sowie Wertaufbewahrungsmittel optimal erfüllen. Irving Fisher bemerkt lapidar: „We have standardised every
other unit in commerce except the most important and universal unit
of all, the unit of purchasing power. What business man would consent
Geld und Vertrauen
23
for a moment to make a contract in terms of yards of cloth or tons of
coal, and leave the size of the yard or the ton to change?“14
Über Indexierung lassen sich die negativen Wirkungen der Inflation teilweise vermeiden. Jedoch kann ein auch noch so ausgeklügeltes und
umfassendes System – das logischerweise zusätzliche Kosten verursacht
– nur ein unvollkommener Ersatz für stabiles Geld sein.
Ein instabiler Geldwert verursacht volkswirtschaftliche Kosten, schafft
Verzerrungen im Tauschverkehr und Unsicherheiten bei Investitionsentscheidungen. Das Vertrauen in das Geld leidet im Allgemeinen erst
dann, wenn diese Kosten so hoch werden, dass sie den einzelnen Akteuren bewusst werden.15
Vertrauen durch die Währungsverfassung
Nach den negativen historischen Erfahrungen wächst nicht von ungefähr die Sorge um die künftige Stabilität des Geldes mit der Höhe der
Staatsschuld. Wenn die Bedienung der Staatsschuld einen immer höheren Anteil an den Steuereinnahmen erfordert, liegt es dann nicht nahe,
den Ausweg über höhere Inflation zu suchen? Hat sich nicht der Staat
gerade in Deutschland in einer Generation zweimal seiner Schuld entledigt (1923/1948)?
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges kann als historisch herausragendes Beispiel dafür
gelten, wie grenzenloses Misstrauen in die Währung durch neues, stabiles Geld überwunden werden kann. Die Währungsreform von 1948
markiert den totalen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginn
einer neue Ära. Dank der strikt auf die Erhaltung des Wertes der neuen
Währung ausgerichteten Politik der Bank deutscher Länder/Bundesbank galt die D-Mark schließlich als eine der stabilsten Währungen der
Welt.16 Das grenzenlose Vertrauen der Deutschen in ihre Währung und
die für ihre Stabilität verantwortliche Institution, die Deutsche Bundesbank, veranlassten Jacques Delors zur halb ironischen, halb bewundernden Bemerkung: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle
glauben an die Bundesbank.“
Dieser Einstellung der deutschen Öffentlichkeit habe ich einmal – wohlgemerkt als Bundesbanker, der mit Überzeugung dieser Institution
angehörte – „pathologische Züge“ attestiert. Diese Charakterisierung
bezog sich auf die besonderen Umstände der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Zusammenbruch 1945 und der vorangegangene Terror des
Naziregimes hatten den Deutschen jegliches Nationalbewusstsein
genommen. Die D-Mark stand dann als Symbol für den wirtschaftlichen
24
Geld und Vertrauen
Erfolg, der dem Lande schließlich weltweit Anerkennung verschaffte.
Die Plakate in den Straßen von Leipzig im Herbst 1989 mit der Aufschrift: „Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zur DMark“ belegen, dass die besondere Beziehung der Deutschen zur D-Mark
sich auch durch Trennung und Mauer nicht aufhalten ließ.
Die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag Anfang der neunziger
Jahre wurden wesentlich beeinflusst durch die Erfolgsgeschichte der
Bundesbank und ihrer Währung. Nur auf diesem Fundament stimmten
die anderen Länder einem Statut für die künftige Europäische Zentralbank zu, das im Kern einer Kopie des Bundesbankgesetzes gleicht.
Während zu diesem Zeitpunkt die anderen nationalen Notenbanken
mehr oder weniger der Regierung unterstellt waren, hatte die Bundesbank in der Praxis den Beweis geliefert, dass nur eine unabhängige
Notenbank stets die für die Erhaltung der Stabilität des Geldes notwendigen Entscheidungen treffen kann.17
Das Statut der Europäischen Zentralbank spiegelt auch den Erkenntnisstand der Wissenschaft wider. Geldwertstabilität verlangt im Papierstandard folgende institutionelle Elemente:
1. Unabhängigkeit der Notenbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen.
2. Preisstabilität als Mandat.
3. Das Verbot der monetären Finanzierung der Aufnahme von Schulden
durch die öffentliche Hand.
Nur auf diesem Fundament und dank wegweisender Entscheidungen
der EZB war es möglich, dass der Übergang von den nationalen Währungen auf den Euro derart reibungslos vor sich ging.18 Wer hätte es für
möglich gehalten, dass die neue Währung vom ersten Tag an das gleiche Vertrauen genoss wie die D-Mark? Die langfristigen Zinsen wurden
durch den Wechsel ebenso wenig tangiert wie die Inflationserwartungen.
Fazit
Der Weg der Geschichte ist gesäumt von Währungen, die in Inflationen
untergegangen sind. Die Erkenntnis, dass die Aushöhlung des Geldwertes nichts anderes als Betrug an der Bevölkerung darstellt, stammt nicht
erst aus unseren Tagen. Schon Nikolaus Oresmus, der Bischof von
Lisieux (1325 – 1382), hat dieses Verdikt in seinem Traktat über Geldbewertungen ausgesprochen. Jede Zerrüttung des Geldwesens zerstört
auch das Vertrauen in den Staat, der schließlich immer als Verursacher
Geld und Vertrauen
25
anzusehen ist. „Überall und zu allen Zeiten waren die Regierungen die
Hauptursache der Geldentwertung.“19 Nicht von ungefähr wird Lenin
der Satz zugeschrieben: „Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören,
muss man ihr Geldwesen verwüsten.“20
In seinem politischen Vermächtnis „De officiis“ schreibt Cicero: „Keine
Sache hält den Staat mehr zusammen als Vertrauen.“ Vertrauen in das
Geld, seinen Wert, ist und bleibt ein Prinzip, das weit über den Bereich
des Ökonomischen hinausreicht.
Wer dieses Vertrauen zerstört, lädt große Schuld auf sich. In seiner Göttlichen Komödie lässt Dante den Münzfälscher Adam von Brescia mit aufgeblähtem Wanst – inflatus! – im siebten Höllenkreis des 10. Grabens für
seinen Frevel büßen. Diese Drohung hat freilich – bisher jedenfalls –
noch keinen Eingang in die Sanktionen für die gefunden, die für die
Inflation verantwortlich zu machen sind.
Fußnoten
1 Wapnewski, P., Richard Wagner – Die Szene und ihr Meister, 2. Auflage, München 1983,
S. 149.
2 Wagner, R., Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber?, in: J. Kapp (Hg.), Richard Wagners gesammelte Schriften, 12. Band, Leipzig, S. 11.
3 Im Sinne von Knapps staatlicher Theorie des Geldes läge die Antwort auf der Hand. „Das
Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung.“ Knapp, G. F., Staatliche Theorie des Geldes,
Leipzig 1905, S. 1 (und S. VI).Nicht zuletzt Hyperinflationen haben gezeigt, dass dieser
Ansatz formal-rechtlicher Art zu kurz greift; das staatliche Geld wird im Zahlungsverkehr mehr und mehr nicht mehr anerkannt. Die moderne Geldtheorie erklärt das
Geld mit seinen Funktionen. „Geld ist, was Gelddienste leistet.“ Die staatliche Anerkennung bleibt akzessorisch.
4 Siehe Laum, B., Heiliges Geld, Tübingen 1924; Davies, G., A History of Money: From
ancient times to the present day, University of Wales, 3. Auflage, 2002.
5 Aristoteles, Politik, Übersetzt von E. Rolfes, Hamburg, 1981, S. 19, Erstes Buch, 9. Kapitel, 1257, S. 35–40.
6 Menger, C., Geld, in: ders., Gesammelte Werke, F. A. Hayek (Hg.), Band IV, Schriften über
Geld und Währungspolitik, 2. Auflage, Tübingen 1970, S. 16.
7 Ferguson, A., Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, deutsche
Übersetzung V. Dorn, 2. Auflage Jena 1923, S. 171.
8 Menger, ibid., S. 17.
9 Smith, A., Der Wohlstand der Nationen, aus dem Englischen übertragen von H. C. Recktenwald, München 1974, S. 26. Smith weist in diesem Zusammenhang z.B. darauf hin,
dass der römische As gegen Ende der Republik nur noch ein Vierundzwanzigstel seines Anfangswertes hatte und statt einem Pfund nur noch eine halbe Unze wog.
10 Robertson, D. H., Das Geld, 2. Auflage, Wien 1935, S. 147.
26
Geld und Vertrauen
11 Für eine kurze Darstellung und weitere Literaturhinweise siehe: Issing, O., Einführung
in die Geldpolitik, 6. Auflage, München 1996, S. 18ff.
12 Zweig, S., Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt 1995, S. 359.
13 Siehe dazu: Feldstein, M. (ed.), The Costs and Benefits of Price Stability, Chicago and London 1999.
14 Fisher, I., A Remedy for the Rising Cost of Living: Standardising the Dollar. American
Economic Review, Supplement, March 1913, p. 27.
15 Zu dieser Thematik und zur Begründung einer niedrigen, möglichst wenig volatilen
Preissteigerungsrate als Ziel der Geldpolitik siehe: Issing, O., Why Price Stability?, in:
ECB, Why price stability?, A. G. Herrero et al. (eds.), Frankfurt 2001, S. 179 ff.
16 Siehe: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, München 1998.
17 Siehe dazu: Issing, O., Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, Stuttgart
1993. Von den Konflikten mit der Bundesregierung bleibt vor allem die berühmte
Gürzenich-Rede von Bundeskanzler Adenauer unvergessen.
18 Issing, O., Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, München 2008.
19 Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, 413.
20 Zitiert nach: Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Tübingen
1955, S. 255.
Geld und Vertrauen
27
Abbildung 5: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke I
Abbildung 6: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke II
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
Wer statt der Kunst dem Kunstmarkt vertraut,
kauft faule Kredite
Peter Raue
Das Verhältnis „Kunst und Markt“ ist ebenso untrennbar eng wie unheilbar gegensätzlich. Werke der bildenden Kunst sind Raritäten, grundsätzlich nicht beliebig vermehrbar – somit „knappe Ware“ – und lösen
Begehrlichkeiten aus. Der Markt ist mitbestimmt von Menschen, die
hohe und höchste Beträge in den Erwerb von Kunstwerken investieren,
wobei die Motivationen dieser Handlung – Kunstliebe oder Kapitalanlage – kaum auszumachen und nur individuell zu bestimmen sind.
Damit hat sich der Kunstmarkt von heute weit entfernt vom nachwirkenden, romantischen Bild des armen, besessenen, verkannten Kunstgenies: „e-a-f“ – einsam, aber frei.
Der „Kunstmarkt“ ist ein relativ modernes Wort. In den sechziger Jahren etablieren sich erstmals die Kunstmessen in Köln und Basel – bis
heute haben sich in wohl allen größeren Hauptstädten derartige Veranstaltungen etabliert –, und alle schlüpfen sie unter die Dachmarke
„Kunstmarkt“. Dieser sich weltweit schnell etablierende Kunstmarkt
entwickelte jene Tendenzen, die heute sein Erkennungsmerkmal sind:
Es sind nur wenige, die Höchstpreise der Contemporary Art zahlen. Die
Tendenz, in geradezu absurde Preishöhen für moderne Kunst zu investieren, hält unvermittelt an und längst erzielen die Stars der Szene
Preise, die kaum für einen Rembrandt, Caspar David Friedrich oder
Menzel gezahlt werden. Diesem Phänomen liegt eine so merk- wie fragwürdige Übereinkunft der Sammlerwelt zugrunde: dass wir heute –
international und global vernetzt – wissen, wer die Großen unserer Zeit
sind. Irrtum ausgeschlossen!?
Die Geschichte jedenfalls lehrt anderes: Sie ist ein Kontinuum der
Fehlurteile. Nur ein Blick in das 19. Jahrhundert: Monet, Courbet,
Cézanne, Gauguin oder van Gogh – sie alle wurden zu ihrer Zeit verkannt. Unter den damals von Kunstkennern ausgewählten Werken für
die berühmten Pariser Salons des 19. Jahrhunderts findet sich kaum ein
– aus heutiger Sicht – bedeutendes Werk. Weder die Realisten noch die
Impressionisten fanden Anerkennung. Die Gefahr, dass auch unsere
Gegenwart an den wirklichen Meisterwerken vorbeisammelt, ist schon
deshalb nicht zu leugnen.
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
29
Doch das scheint keinen Galeristen, keinen Sammler zu irritieren. Sie
alle sind fest davon überzeugt, die größten Künstler unserer Zeit
erkannt zu haben, und widmen ihnen ganze Säle in den Museen und
Sammlungen, weil doch die anderen Sammler und Galeristen (und alsbald Museen) dieselben Künstler ausstellen. Warhol und Twombly, Richter und Kiefer, Hirst und Koons, Rauch und Doig sind die Heiligen unserer Tage, und ihre Werke werden verehrt wie die Schwarze Madonna von
Tschenstochau.
Der Kunstmarkt folgt der Logik:
„Was teuer ist, muss auch gut sein“
Die großen und großzügigen Privatsammler, ob Erich Marx, Frieder
Burda, Udo und Anette Brandhorst oder Friedrich Christian Flick, sammeln mehr oder weniger das Gleiche. Und es ist kaum anzunehmen,
dass sie alle dieses aus der in einsamer Kunstbetrachtung gewonnenen
Erkenntnis der höchsten Qualität der Arbeiten tun. Nahe liegt vielmehr
der Verdacht, dass bei vielen Käufern auch das Gefühl mitbestimmend
ist, den geltenden Geschmackskonventionen genügen zu wollen. Die
Kunstgemeinde, die in wenigen Wochen Künstlerinnen und Künstler zu
höchstbezahlten Weltstars macht, ist klein und verschworen. Wer dazugehören möchte, kann es sich nicht leisten, auf den Erwerb von Kiefer,
Richter und Koons zu verzichten. Wenn wir von 20 Galeristen sprechen,
die bestimmen, was weltweit führend ist, dann ist die Zahl wohl hoch
gegriffen. Allein der Zugang eines Künstlers zu einer dieser Galerien
zündet die Preisrakete mit der Folge, dass der Galerist problemlos die
Sammler für seinen neuen Künstler findet.
Meine These: Mangels nachprüfbarer Qualitätskriterien definiert der
Markt den Rang der Kunst und nicht die Kunst den Preis der Werke. Der
Kunsthandel mit der teuersten Kunst wird von der stillschweigenden
Übereinkunft einiger Weniger bestimmt.
Ein Bespiel: Als Anette und Udo Brandhorst 1993 eine Stiftung für ihre
Sammlung gründen, besitzen sie noch kein einziges Werk von Warhol.
Das erste Bild dieses Künstlers erwerben sie vier Jahre später, 1997.
Bereits zehn Jahre nach der Stiftungsgründung zieren die Sammlung
40 Arbeiten von Warhol, wohl weil alle „Sammlerkollegen“ ihn auch
zum Größten (und Teuersten) erklären! Eine Sammlung zeitgenössischer Kunst der Öffentlichkeit ohne Warhol zu präsentieren, das
scheint ähnlich undenkbar wie ein Weihnachten ohne Christbaum.
Die Inkunabeln der Moderne erzielen Summen, die für kein Kunstwerk
der vergangenen 200 Jahre bezahlt werden würden. Jackson Pollocks
No. 5 aus dem Jahre 1948 wird 2006 für 140 Millionen Euro verkauft. Die30
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
sen Preis erzielt kein Dürer, kein Caravaggio. Gibt es dafür eine
Erklärung? Einen Qualitätsmaßstab? Der selbst ernannte Malerfürst
und langjährige Akademiepräsident in Düsseldorf, Markus Lüpertz, formuliert in einer trefflichen Polemik: „Sie können doch ein Bild von Gerhard Richter, das sechs, acht, zehn Millionen kostet, nicht mehr beurteilen. Da können Sie doch nicht mehr sagen, das ist schlecht.“ Dem
Mainstream der Sammler folgt der Mainstream der Kritiker – und umgekehrt. Längst hat der Kunstmarkt den Merkvers: „Was gut ist, ist auch
teuer“ pervertiert in die Erkenntnis: „Was teuer ist, muss deshalb gut
sein“ (das ist ähnlich wie beim Rotwein, scheint mir).
Ein weiteres Beispiel: Es ist noch nicht lange her, da wurde bei Christie’s
in London Martin Kippenbergers „Paris Bar“ für 2,5 Millionen Pfund
einem amerikanischen Sammler zugeschlagen. Christie’s bot das Bild
im Katalog an mit dem Vermerk „Öl auf Leinwand, 1991, Martin Kippenberger“. Diese Angaben enthielten einen kleinen und einen großen
Fehler. Der kleine: Das Bild ist in Acryl und nicht in Öl gemalt. Der
größere Fehler: Das Bild stammt nicht von Martin Kippenberger. Vielmehr hat es der Plakatmaler Götz Valien gemalt – im Auftrag von Kippenberger. Und der Auftrag wurde auch bezahlt. 1.000 Mark bekam
Valien dafür. Auf der Auktion hingegen reichte die Kippenberger-Zuordnung, um einen neuen Kippenberger-Rekordpreis zu erzielen. Um nicht
missverstanden zu werden: Wer das Konzeptuelle in der Arbeit von Kippenberger begreift, wer seine „Lieber Maler, male mir ein Bild“-Serie
kennt, der versteht durchaus, wie konsequent im Kippenberger-Werk
auch diese Arbeit ist. Nicht den künstlerischen Gehalt dieses Werkes hinterfrage ich, sondern den erstaunlichen und schwer nachvollziehbaren
Preis.
Um es konsequent weiterzudenken: Was wäre eigentlich – so darf man
wohl fragen –, wenn Valien die Paris-Bar noch einmal malte und auf den
Markt brächte? Der Wert dieser neuen Arbeit läge dann wohl allenfalls
im vierstelligen Bereich bei absolut gleicher Qualität. Warum? Weil
Qualität nicht der bestimmende Faktor beim Wert eines Kunstwerkes zu
sein scheint. Der Preis des Kippenberger-Bildes Paris-Bar erklärt sich
nicht aus der Qualität (Peinture oder Originalität) des Bildes, sondern
aus der Spielfreude eines Sammlers beim Roulette am Kunstmarkttisch.
Es ist einige Jahre her, da besuchte ich eine Galerie in New York, die für
den nächsten Abend eine Tuymans-Ausstellung plante; alle Bilder waren
noch verpackt. Ich wünschte der Galeristin beim Abschied eine verkaufsreiche Vernissage, und sie lachte: „Alle Bilder sind längst verkauft!“
– „Aber die Käufer haben die Bilder doch gar nicht gesehen“, entgegnete
ich. „Das ist bei Tuymans auch nicht nötig. Die Sammler lassen mich
wissen, welche Formate sie haben wollen. Und ich gehe streng, ganz
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
31
streng in der jeweiligen Warteliste vor.“ Den Preis der Bilder bestimmen
nicht Motiv oder Qualität, für den Preis gibt es eine Formel: Höhe mal
(manchmal: plus) Breite, multipliziert mit einem Faktor X. Kein „amour
fou“ zwischen Bild und Sammler bestimmt den Kauf, sondern die Lust
und Last, einen Tuymans besitzen zu dürfen oder zu müssen (um im
Kreise der millionenschweren Sammler satisfaktionsfähig zu bleiben).
Hat ein Künstler einmal Zugang zu einem der Weltspitze-Galeristen
gefunden, Höchstpreise erzielt, die Begehrlichkeit der großen Sammler
geweckt, so ist es – der Geldvermehrung wegen – nur noch erforderlich,
die Warteliste der Kaufinteressenten so lange und so schnell zu bedienen, bis die Wartenden sich an einer anderen, neuen Schlange angestellt
haben.
Dieser Hype der Kunsthandelshöchstpreise hat freilich einen bösartigen
Gesellen zur Seite, den der Käufer zunächst nicht sieht, dessen Niedertracht er aber irgendwann spürt: Die Anzahl der Künstler, die einst
hohe Preise erzielt haben, aber bereits ein Jahrzehnt später in diesem
Preissegment unverkäuflich sind, ist Legion. Pattern Art, Hyperrealismus, Op-Art, die Jungen Wilden vom Moritzplatz: Was waren sie prominent und höchstbezahlt vor 30 Jahren, und wie schwierig ist es, sie
heute an den Mann zu bringen – insbesondere dann, wenn aus der Crew
der jeweiligen Kunstrichtung nur einer als „Spitzenvertreter“ übriggeblieben ist. Dieser Bedeutungsverlust verdankt sich ja nicht einem Qualitätsabfall, sondern dem Zeitgeschmack, der wiederum bestimmt wird
durch den Einfluss der Großen unter den Sammlern. Wie ein solcher
Sturz aus dem Preishimmel manipuliert werden kann, belegt wiederum
der Werbefachmann und Großsammler Charles Saatchi, der über 50 Bilder des Künstlers Sandro Chia von heute auf morgen – warum auch
immer – auf den Markt wirft. Diese Fülle kann der Markt nicht aufnehmen, die Preise fallen, und – für die Käufer: glücklicherweise – führt dies
dazu, dass Sandro Chia wieder bezahlbar ist.
Erstaunlich ist, dass trotz der immer deutlicher werdenden Markthörigkeit kaum eine Auseinandersetzung über den Kunstwert der so
hoch gehandelten Künstler stattfindet. Wir erinnern uns doch an die
öffentlich und vehement geführte Diskussion um Wilhelm Nays angeblich „bunte Kleckse“, um die Kunst eines Pollock oder um die Fett- und
Filzkunst des Joseph Beuys. Wo gibt es heute eine ähnliche Diskussion
um Neo Rauch, Damien Hirst oder Jeff Koons?
Wer wird recht behalten vor der Geschichte? Die Kunst und die Künstler, die heute Millionenpreise erzielen, oder die auf den Seitenwegen
Arbeitenden, verkannt von der Mehrheit, gesammelt von wenigen?
Diese Fragen wecken den unwiderstehlichen Wunsch, in 100 Jahren
noch einmal für einen Tag auf die Erde zu kommen und sehen zu dür32
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
fen, was in den großen Museen hängt, wo die Kunstgeschichte die
Hauptwege gebaut, die Nebenwege getrampelt hat – Überraschungen
nicht ausgeschlossen.
Der Geschmack der Privaten hält Einzug im Museum
Fast alle staatlichen Museen in Deutschland verfügen heute nicht mehr
über die erforderlichen Mittel, um Kunstwerke einzukaufen. Dennoch
kommen nach wie vor Bilder in die Museen, und zwar vermehrt über
private Sammler. Die Museumsdirektoren und Kuratoren haben die Aufgabe, Dauer und Tiefe zu etablieren, ja, einen Kanon der Kunst ihres
jeweiligen Sammlungsgebietes festzulegen. Indem immer mehr private
Sammler über jene Bilder entscheiden, die in Museen gezeigt werden,
geht der Einfluss der Museumsdirektoren zurück. Dieser Aspekt verdient umso mehr Beachtung, als häufig Privatsammler den Museen
nicht ihre zehn besten Stücke geschenkweise anbieten, sondern ausschließlich die gesamte Sammlung (in der Hoffnung, dass diese auch am
besten in einem eigenen „wing“ gehängt werden). Diese private Sammlung vereint Arbeiten – wie jede Sammlung und erst recht wie jede private Sammlung –, die der Traum eines Museumsdirektors sind, und
andere die – schlimmstenfalls – dessen Albtraum sind. Ein „Cherry
Picking“ des Museumsdirektors wird der Sammler in aller Regel nicht
dulden – so wird sein Sammelgeschmack zum öffentlich-staatlichen
Kanon der präsentierten Kunst. Aber welcher Museumsdirektor wird
eine Sammlung zurückweisen, die großartige Exemplare enthält, nur
weil ihm einige der Stücke missfallen?
In diesem Zusammenhang spielen die Fördervereine eine immer stärker
wachsende und gewichtige Rolle. Weil die Museen zu wenig Geld haben,
sprießen die Fördervereine wie Pilze aus dem Boden. Das ist eine zweischneidige Sache. Natürlich sind wir alle froh über das unbezahlbare
Engagement privater Förderer und Freunde. Ich darf das sagen, war ich
doch selbst drei Jahrzehnte als Vorsitzender des Vereins der Freunde der
Nationalgalerie Berlin tätig.
Um es an einem konkreten Beispiel zu beleuchten: Der mir nun besonders nahe stehende Verein der Freunde der Nationalgalerie hat in den
vergangenen rund 25 Jahren über 40 Ausstellungen finanziert. Keine
dieser Ausstellungen hätte von der Nationalgalerie ohne diese Unterstützung realisiert werden können, weil der Staat – Bund und Länder –
der Stiftung keine Gelder für diese museumswichtigen und -richtigen
Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Ich wage die These: Hätte es diesen Verein und dessen Finanzkraft nicht gegeben, hätte der Staat
erkannt, dass die Nationalgalerie katastrophal und skandalös unter-
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
33
finanziert ist und Gelder fließen lassen, damit das Museum seinen Bildungsauftrag erfüllen kann.
Der Sponsor ist gefragt, gesucht und erhofft wie die berühmte Perle in
der Auster. Er kann Segen und Basis für große und bedeutende Ausstellungsvorhaben sein – er bleibt aber immer Sponsor und mutiert nicht
zum Mäzen. Einer Aktiengesellschaft, die den Aktionären zumutet,
hohe Beträge in die Kultur zu investieren, muss der Vorstand verständlich machen, dass ein solcher Auftritt letztlich dem Unternehmen
zugute kommt. Deshalb kann und muss der Sponsor, wenn er Geld in
eine kulturelle Veranstaltung gibt, Gegenleistungen verlangen, von
denen er sich mit einigem Grund eine jedenfalls mittelbare Stärkung
des eigenen Unternehmens erwarten darf.
Hinweis des Sponsors auf den Plakaten, auf der ersten Seite des Kataloges, durch eine Rede bei der Eröffnung gehören zum selbstverständlichen Forderkatalog derartiger Sponsoren. Selbstbewusst formulierte
George Weismann, CEO von Philip Morris, in einer Werbebroschüre
diese Auffassung in dem Statement: „The fundamental interest of business in art is self-interest.“ Das ist radikal formuliert, aber man darf sich
hier auch nichts vormachen: Kultursponsoring ist immer eine Synthese
von Altruismus und Egoismus.
Ein einziges Bespiel: Für eine Andy-Warhol-Ausstellung in der unter
anderem seine Serie „Cars“ gezeigt werden sollte, war der Hersteller
der gemalten Automarke bereit, die Ausstellung mit dem Betrag von
1 Million mitzufinanzieren unter der Voraussetzung, dass in der Ausstellung neben den Siebdrucken Andy Warhols das von ihm bemalte
Auto desselben Herstellers zu sehen sei. Der Kurator der Ausstellung
hat diesem Angebot eine klare Absage erteilt, was zum Rückzug des
erhofften Sponsors geführt hat. Der Kurator dieser Ausstellung war –
nicht zuletzt gestützt durch den Freundesverein – in der glücklichen
Situation, das tun zu können. Andere Museen, denen es nur mit jener
Million möglich gewesen wäre, ihre Ausstellung zu realisieren, hätten wohl kaum darauf verzichten können, auf die Forderung des
Sponsors einzugehen und das ungeliebte Projekt der Schau einzuverleiben.
Trotz der aufgezeigten Problemfelder kann ich aus eigener Erfahrung
betonen, dass es immer wieder Sponsoren gibt, die in nobler Zurückhaltung und mit großer Lust am Entstehen bedeutender Ausstellungen
eher Mitdenker als Mitbestimmer sind. Dabei ist – die Zusammenarbeit
etwa bei der MoMA-Ausstellung in Berlin mit der Deutschen Bank hat
dies bewiesen – eine zurückhaltende Präsenz des Sponsors oft der bessere Werbefaktor als ein allzu deutlicher Auftritt.
34
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
Ob Freundesverein oder Sponsor: Stets sind diese Unterstützer eines
Museums hilfreich und erfreulich, wenn sie den Respekt vor der Entscheidungshoheit des Museumsverantwortlichen – seines Direktors, seiner Kuratoren – zur Maxime ihrer Unterstützung machen.
Vertrauen in die Kunst – statt in den Kunstmarkt
Lassen Sie mich durchaus bekenntnishaft enden: Seit Jahrzehnten
sammle ich Kunst und kann von der Erregung des Kunstkaufes berichten, von der Vorfreude auf das Eintreffen der Kunst in den eigenen Räumen, von dem Glück auch nach Jahrzehnten – gleichgültig, welchen
Wert der Kunstmarkt den Werken zugesteht –, die Freude über den
Besitz solcher Werke. Und immer wieder bin ich überrascht davon, was
der Umgang mit Kunst und deren Präsenz bei den Menschen, die mit solchen Arbeiten leben, bewirken kann. Viele Kollegen und Mitarbeiter in
meinem Anwaltsbüro, die sich ursprünglich durchaus zu einer Kunstferne bekannten, entwickeln auf Dauer eine enge Beziehung zu den Bildern, die sie umgeben. Mitarbeiter, die das Büro verlassen, kommen
immer wieder und sagen: „Kann ich die Arbeit, die in meinem Zimmer
hängt, mitnehmen? Leihen Sie sie mir, verkaufen Sie sie mir?“ Dies
belegt aufs Schönste, welche Freude und Empathie der Umgang mit der
bildenden Kunst auslösen kann.
Auf die Frage, nach welchen Kriterien man Kunst kaufen soll, kann ich
nur ganz subjektiv antworten: nach dem Lustprinzip. Liebe und Leidenschaft für Kunst und Künstler sind die besten Berater beim Erwerb
eines Kunstwerks. Sinnstiftend ist letztlich nicht der Preis, den eine
Arbeit auf dem Kunstmarkt erzielt, sondern die Beziehung, die der Käufer zum Kunstwerk und Künstler aufbaut. Manche meiner Bilder mag
ich mittlerweile so sehr, dass ich sie um keinen Preis der Welt wieder
hergeben will. Ein Gespür für Kunst entwickelt sich nur dort, wo man
lernt, mit der Kunst zu leben.
Kunst und Markt – eine Mesalliance?
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Abbildung 7: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Öffentlichkeit
Abbildung 8: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Zwischenzeiten
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
Rupert Graf Strachwitz
Einleitung
„Vertrauen scheint sich am besten in kleinräumigen, überschaubaren
Ordnungen zu entfalten, im Privaten, im Zwischenmenschlichen: also
in einer Sphäre, wo es möglich ist, Personen kennenzulernen, ihr Verhalten zu beobachten, Erfahrungen mit ihnen zu sammeln und stabile
Beziehungen aufzubauen.“ So versuchte der Politikwissenschaftler und
Politiker Hans Maier (1988, 35), dem schwer zu definierenden Begriff des
Vertrauens eine politische Konnotation zu geben. „Eine Verfassung“, so
fuhr er fort, „in deren Mitte das Wort Vertrauen stünde, käme uns
gefährlich und leichtfertig vor.“ (Ebd.). Und weiter: „Auf der einen Seite
Vertrauen als bereitwillig eingeräumter Kredit, sogar als Überziehungskredit im persönlichen, privaten Bereich – auf der anderen Seite
das Misstrauen als entschlossen installiertes Frühwarnsystem im öffentlichen Leben.“ (Ebd., 36). Um die politische Konnotation soll es in diesem
Beitrag gehen – gerade nicht allerdings in erster Linie um die im engeren Sinn politische Arena von Parlamenten, Regierungen, Verwaltung,
Gerichtsbarkeit, also die durch die Verfassung bestimmte Arena gesellschaftlichen Handelns, sondern um die politische Ordnung in einem
umfassenderen Sinn, die, wie noch darzulegen sein wird, als ein Ineinandergreifen von drei Handlungsarenen begriffen werden kann. Mit dieser Perspektive soll zugleich der Versuchung widerstanden werden,
einen in der Soziologie zurzeit wieder heftig diskutierten Begriff
(Endress 2002, 28) gewissermaßen in der Kurzfassung zu diskutieren,
wofür der Politikwissenschaftler denn auch nicht qualifiziert wäre.
Die Implikationen von Vertrauen werden auch daraufhin zu untersuchen sein, ob dieses in einer der Arenen einen besonders hohen Stellenwert besitzt und, weiterführend, dieser daraus eine Bringschuld oder
andererseits eine spezifische Legitimität in Bezug auf die Gesellschaft
insgesamt erwächst. Dieser Ansatz gründet sich auf die Hypothese, dass
eine Gesellschaft ohne Vertrauen schlechthin nicht funktionieren kann.
„Vertrauen ist das Gleitmittel des gesellschaftlichen Lebens.“ (Putnam
und Goss 2001, 21). Er muss allerdings auch der Analyse Rechnung tra-
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
37
gen, dass das aus Vertrauen erwachsende Sozialkapital in einer Gesellschaft höchst ungleich verteilt sein kann (Putnam 2001, 785). Dennoch:
die Hypothese der Notwendigkeit von Vertrauen für das Funktionieren
gesellschaftlicher Arrangements wird von Jan Philipp Reemtsma eindrucksvoll durch eine Schilderung der Zustände im 16. und 17. Jahrhundert, und hier besonders im 30-jährigen Krieg, gestützt, in der
unkontrollierbare Gewalt und die Notwendigkeit, jedem zu misstrauen,
das Sozialgefüge gänzlich zum Erliegen gebracht haben (Reemtsma
2009, 215 ff.). Insofern war das ganz und gar auf Misstrauen aufgebaute
Ordnungskonzept von Hobbes (Endress 2002, 10) zwar aus der Analyse
der zeitgenössischen Zustände plausibel, aber letztlich doch höchst defizitär, was schon von dem schottischen Aufklärer und Theoretiker der
Civil Society Adam Ferguson in seiner Diskussion der Modelle von
Hobbes und Rousseau heftig kritisiert wurde (Broadie 2007, 80). Kein
Wunder, so Reemtsmas implizierter Kommentar, hat doch das 18. Jahrhundert der exzessiven Gewaltausübung, insbesondere auch der Folter,
ein Ende gesetzt (Reemtsma 2009, 224). Jedenfalls scheint zwischen
Gewalt und Vertrauen eine Korrelation zu bestehen. Beschränkung der
Gewalt geht mit Strategien des Vertrauenserhalts einher (Ebd., 256),
nachdem sich gezeigt hat, dass das berühmte Verdikt König Friedrich
Wilhelms I. von Preußen, der auf seine Untertanen einprügelte und
dabei schrie „Ihr sollt mich lieben!“, keine Aussicht hatte, die Basis eines
erfolgreichen gesellschaftlichen Arrangements zu sein.
Wie sieht dies nun im modernen Verfassungs- und Verwaltungsstaat
aus? Ist dieser, mit dem Gewaltmonopol ausgestattet und zugleich in seiner Gewaltausübung deutlich beschränkt, geeignet, das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zu erwerben, oder hindert ihn ebendieses
Monopol letztlich daran? Der massive Vertrauensverlust, den beispielsweise Einrichtungen der US-Regierung nicht zuletzt durch die übermäßige Gewaltausübung gegenüber Gefangenen erlitten haben, scheint
auf Letzteres hinzudeuten (Ebd., 527). Erweist sich diese Sicht als richtig, untermauert dies die These von der Notwendigkeit einer weiteren
Arena, in der sich Vertrauen und damit auch Sozialkapital bilden können. Mit vielen anderen Themen schienen in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts die Prämissen für ein gelingendes Sozialarrangement auf
die Kräfte des Marktes überzugehen. Die damit verbundenen Hoffnungen haben sich jedoch, wie spätestens die Ereignisse des Jahres 2008
gezeigt haben, als trügerisch erwiesen.
Angesichts der Tatsache, dass sich dieser Beitrag in einen Zusammenhang einzuordnen hat, der mit „Kredit und Vertrauen“ überschrieben
ist, soll der Darlegung des Szenarios aus zivilgesellschaftlicher Perspektive wenigstens ein kurzer Versuch vorangestellt werden, den
Begriff des Vertrauens begrifflich zu fassen. Auch ist ein zumindest
38
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
kursorisches Eingehen auf alle drei gesellschaftlich relevanten
Arenen, das heißt in diesem Sinn den Staat, den Markt und die Zivilgesellschaft, unerlässlich.
Zur Begrifflichkeit des Vertrauens
Niklas Luhmann hat das „Problem des Vertrauens“ als „Problem der riskanten Vorleistung“ beschrieben (2009, 27). „Die Welt“, fährt er fort, „ist
zu unkontrollierbarer Komplexität auseinander gezogen, so dass andere
Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt sehr verschiedene Handlungen frei wählen können. Ich aber muss hier und jetzt handeln. Der
Augenblick, in dem ich sehen kann, was andere tun und mich sehend
darauf einlassen kann, ist kurz. In ihm allein ist wenig Komplexität zu
erfassen und abzuarbeiten, also wenig Rationalität zu gewinnen.“ (Ebd.,
27 f.). Luhmann sieht Vertrauen wesentlich als eine risikobehaftete, aber
notwendige Grundlage für eine Fülle von Entscheidungen. Die zeitliche
Asymmetrie, der notwendige „Vertrauensvorschuss“, ist prägnanter Ausdruck dieses Risikos (Endress 2002, 36). Ob das Risiko zu Recht eingegangen wurde, wird für Luhmann erst in der Rückschau erkennbar. „Ob
vertrauensvolles Handeln in der rückblickenden Endbewertung richtig
war, hängt […] davon ab, ob das Vertrauen honoriert oder gebrochen
wird.“ (Ebd., 29). Vertrauen ist demnach für ihn eine potentiell ausschlaggebende Komponente von Entscheidungsprozessen, weil die
inhärente Komplexität der Zusammenhänge eine rein rational herbeigeführte Entscheidung prinzipiell ausschließt. „Trotz aller Bemühungen um Organisation und rationale Planung kann nicht alles Handeln
durch sichere Voraussicht seiner Wirkungen geleitet sein. […] Erfolg
aber stellt sich erst nach dem Handeln ein oder nicht ein. Man muss sich
jedoch vorher engagieren. Dieses Zeitproblem überbrückt das Vertrauen
[…].“ (Ebd., 30).
Luhmann scheint mir hier an Georg Simmels Erörterung des Vertrauensbegriffs (1989, 212 ff., 667 ff.) im Sinne einer entscheidungsbedingenden Kategorie anzuknüpfen, ohne jedoch die Verknüpfung mit dem
Kredit zu übernehmen. Jedenfalls fehlt bei Luhmann Simmels Argument, dass „das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz
gewährt, […] vielleicht die konzentrierteste und zugespitzteste Form
und Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung“ sei (Simmel 1989, 216; s. hierzu Endress 2002,
13). Putnams erwähnter Einwand steht hierzu in einem unmittelbaren
Zusammenhang, während Luhmann die Kategorie des Vertrauens generalisiert. Beide stellen jedoch auf unmittelbare soziale Beziehungen
(Mikroebene) ebenso ab wie auf professionelle Interaktionen (Mesoebene)
und gesellschaftliche Subsysteme (Makroebene) (Endress 2002, 14), wobei
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
39
Luhmann diese deutlich voneinander abgrenzt (Ebd., 31). Talcott Parsons erweitert dies, indem er von Vertrauen als primärer Bedingung der
Funktionsfähigkeit von Interaktionsmedien spricht (Parsons 1980, 215;
s. hierzu: Endress 2002, 21). Allerdings sieht Luhmann, und dies scheint
mir für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung zu sein, eine
Entwicklung vom interpersonalen Vertrauen in kleinen zum Systemvertrauen in komplexen Gesellschaften, der durch einen Lernprozess
bedingt ist (Luhmann 2009, 34 f.; s. hierzu: Endress 2002, 32).
Anthony Giddens hat versucht, das Vertrauensphänomen in den Kontext seiner Untersuchungen der modernen Gesellschaft zu stellen. Er
führt die Überlegungen von Simmel, Luhmann und Parsons fort, wenn
er herausstellt: „Das Wesen moderner Institutionen ist zutiefst mit den
Mechanismen des Vertrauens in abstrakte Systeme verbunden, vor allem
in Vertrauen in Expertensysteme.“ (Giddens 1995, 83; s. hierzu: Endress
2002, 40). Das interpersonale Vertrauen scheint hier von einem abstrakteren, institutionengebundenen Vertrauen verdrängt zu werden. Und in
der Tat: Dieses Vertrauen fordert die sich als demokratisch definierende
Gesellschaftsordnung einerseits explizit ein, bietet dafür andererseits
die Herrschaft des Rechts1 als rationale Basis an. „Dem ‚Gesetz‘, Inbegriff
der generellen, abstrakten und permanenten Normen, zu deren bloßem
Vollzug Herrschaft herabgesetzt werden soll, wohnt eine Rationalität
inne, in der das Richtige mit dem Gerechten konvergiert.“ (Habermas
1990, 118). „Damit ist die Umkehrung des in Hobbes’ Staatstheorie endgültig formulierten Prinzips der absoluten Herrschaft vorbereitet.“
(Ebd.). Auf dieses Vertrauen gründet, in radikaler Abkehr von der Unterwerfung unter die Gewalt und Willkür eines Herrschers, die moderne
politische Ordnung. Schon Simmel bezieht in dieses Konzept „ein Vertrauen des Publikums zu der [das Geld] emittierenden Regierung“ und
„zu dem Wirtschaftskreise“ ein, ohne dass es „zu einem Bargeldverkehr
nicht kommen“ könne (Simmel 1989, 215; s. hierzu: Endress 13), ein
institutionengebundenes Vertrauen also, ohne das das Arrangement
zum Scheitern verurteilt ist. Das Problem der zeitlichen Asymmetrie
stellt sich in hohem Maße auch hier; ohne permanenten Vertrauensvorschuss des Bürgers und der Bürgerin kommt das Arrangement nicht
in Gang.
Die Vertrauenskrise
Angesichts dieses Befundes ist die Frage zu stellen, was geschieht, wenn
der Vertrauensvorschuss nicht gewährt oder nicht repliziert wird, wenn
das Risiko zu vertrauen von den Bürgern und Bürgerinnen als zu hoch
eingeschätzt wird, wenn also eine Vertrauenskrise eintritt. Ulrich Beck
spricht davon, dass „von der Mehrheit der Menschen als verheerend
40
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
erlebte Konsequenzen mit dem gesellschaftlichen Industrialisierungsund Modernisierungsprozess verbunden“ sind (Beck 1986, 67), also
gerade mit dem Prozess, der doch durch zunehmende Rationalisierung
vertrauens- und gesellschaftsbildend hätte wirken sollen. „Die Modernisierungsagenten – in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – sehen
sich in den unbequemen Zustand eines leugnenden Angeklagten versetzt, den die Indizienkette ganz schön ins Schwitzen bringt.“ (Ebd., 68).
Diese Analyse wird durch eine Vielzahl von Beobachtungen gestützt, die
wohl jeder Bürger selbst hat machen können. Welcher Empfänger
gesetzlich verbriefter Leistungen einer staatlichen Behörde wird der
Institution noch vertrauen, wenn er Erfahrungen der Willkür, der
bewusst falschen Auslegung von Bestimmungen, oder auch nur der
arroganten Behandlung im Zusammenhang mit dem Vortrag von
Ansprüchen gemacht hat? Dabei geht es hier nicht darum, ob diese
Ansprüche in einem größeren Zusammenhang als gerechtfertigt oder
überzogen erscheinen müssen, sondern darum, dass zumal ein sich in
einer Notlage befindender Bürger sich auf die Gültigkeit der Gesetze verlassen zu können glaubt und in diesem Glauben nicht unterstützt wird.
Behörden, die für den Umgang mit einzelnen Bürgern zuständig sind,
etwa Jugendämter, Ausländerämter und dergleichen, haben das Vertrauen vielfach in einer für die Betroffenen existentiellen Weise nicht
eingelöst. Mangelhafte Pflichterfüllung, Kompetenzverfall, politisch
motivierte Entscheidungen bis hin zur Rechtsbeugung haben das Vertrauen nachhaltig zerstört. Für viele Bürgerinnen und Bürger hat das
Gefühl des „Die da“, die unkontrollierbar Gewalt ausüben, nie durch ein
Gefühl des Gemeinsinns, des „Wir“, in dem Vertrauen gedeihen kann,
überwunden werden können.
Dieses Gefühl ist nicht auf unterprivilegierte Minderheiten, auf die
„Loser“ in der Gesellschaft beschränkt. Jedem Bürger tritt die öffentliche Verwaltung wesentlich als eine fremde Gewalt gegenüber, von der
man sich in Acht zu nehmen und der man möglichst auszuweichen hat.
Die Erfahrungen mit den Diktatoren des 20. Jahrhunderts, denen
tatsächlich weithin und mit schrecklichen Konsequenzen vertraut worden war, haben gewiss dazu beigetragen, mit politischen Vertrauensvorschüssen vorsichtiger zu sein (Reemtsma 2009, 436). Doch haben
auch krasse Pflichtversäumnisse und Korruption den Vertrauensvorschuss weithin aufgezehrt. Selbst das angeblich – nach Meinungsumfragen – große Vertrauen in die Polizei scheint eher durch einschlägige
Fernsehsendungen, sehr viel weniger durch persönliche Erfahrungen
bedingt zu sein. Politiker genießen das Vertrauen ihrer Bürger schon
lange nicht mehr. Dies äußert sich beispielsweise in allen sogenannten
Industrieländern in abnehmender Neigung, einer Partei anzugehören,
abnehmender Beteiligung an Wahlen (vgl. Putnam 2001, 770, 772), aber
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
41
auch rückläufiger Mitgliedschaft in Gewerkschaften (Ebd., 774). In diesem Zusammenhang kommt es gar nicht darauf an, ob die von den Bürgern angestellten Analysen zutreffend sind, wenn auch sehr viel dafür
spricht; vielmehr ist die wie auch immer zustande gekommene Überlegung, das Gefühl ausschlaggebend, dem Staat misstrauen zu sollen oder
jedenfalls das Risiko des Vertrauensvorschusses bei Inkaufnahme zeitlicher Asymmetrie kritisch zu überprüfen (Endress 2002, 36). Anders als
bei Hobbes, für den das Misstrauen von den Einrichtern einer politischen Ordnung ausgeht, geht es nach den Erfahrungen mit dem modernen Staat von dessen Bürgern aus. Ohne dass es dazu präzise Untersuchungen gibt, scheint sich dies auch dadurch bemerkbar zu machen,
dass in Volksabstimmungen zu einzelnen Themen ganz überwiegend
die Mehrheit gegen die Vorschläge oder Positionen der Regierung
stimmt, besonders dann, wenn Regierung und Opposition die gleiche
Position vertreten.
Besonders bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass das Misstrauen gegen den Staat weit über den Eindruck des Versagens in einzelnen Bereichen hinausreicht und sich gegen die hoheitliche Gewalt mit
allen ihren Teilen richtet. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese
Vertrauenskrise mit wenigen Ausnahmen, die sich beispiels- aber auch
interessanterweise vor allem in kleinen Gemeinden finden, alle Ebenen
und Einrichtungen von Politik und Verwaltung erfasst hat. Nach einer
international komparativen Studie haben in Deutschland nur 38 Prozent der Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen, dass die Regierung das
Richtige tut, verglichen mit 43 Prozent in den USA, aber mit 77 Prozent
in China (Edelman 2010, 8). Die Krise wäre noch größer, wenn der Bürger nicht mit dem Dilemma konfrontiert wäre, keine systematische
Alternative zu dem modernen Verfassungsstaat erkennen zu können –
und wohl auch, wenn nicht die Regierung und das sie insgesamt stützende Staatssystem mit hohem Aufwand versuchen würden, den Eindruck zu korrigieren. Es gibt beispielsweise – bislang unbewiesene – Vermutungen, dass die Vertrauen schaffenden Polizeiserien im Fernsehen
über die Mehrheit der öffentlichen Mandatsträger in den Aufsichtsgremien der Sender durchgesetzt oder sogar teilweise aus Budgets der Polizeibehörden mitfinanziert werden – eine dem Katalog der Möglichkeiten eines im Wettbewerb stehenden Wirtschaftsunternehmens entnommene, hier wie dort tatsächliche Qualität nicht notwendigerweise
widerspiegelnde Marketingmaßnahme. Ob sie langfristig erfolgreich
sein kann, mag bezweifelt werden.
Die Wirtschaft selbst kämpft aus einer sehr viel schlechteren Ausgangsposition heraus um das Vertrauen ihrer Kunden. Jeder weiß schon
von jeher, dass Anpreisungen von Verkäufern, Klagen über Kosten und
alle Werbung auf dem Markt Übertreibungen enthalten, die versuchs42
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
weise durchschaut werden müssen. Jedes Tauschgeschäft, das Wesensmerkmal des Marktes, lebt ein Stück weit vom Misstrauen gegenüber
dem Tauschpartner, das regelmäßig nur durch lange Kundenbeziehungen abgebaut wird. Dennoch ist unstreitig ein erheblicher Vertrauensvorschuss notwendig, um eine Kaufentscheidung zu bewirken. Kaum
ein Käufer kann tatsächlich den Wahrheitsgehalt des Angebots nachprüfen. Die vertrauensgestützte professionelle Interaktion (nach Luhmann) gilt gerade auf dem Markt und gerade, weil ein Stück Misstrauen
jedes Geschäft begleitet.
Bedenklich sind daher einige Entwicklungen der letzten Jahre. Zum
einen hat die zunehmende Kommerzialisierung ehedem nicht einmal
als Teil des Marktes gesehener Branchen dazu geführt, dass die Vertrauenskrise auch diese erfasst hat. Zu den betroffenen Branchen
gehören beispielsweise die sogenannten freien Berufe, neben Rechtsanwälten vor allem die Ärzte. Ein Zahnarzt, der ein bestimmtes Pflegemittel empfiehlt und, wie zunehmend üblich, hinzufügt, der Patient
könne es bei ihm erwerben, untergräbt damit das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Parsons Paradebeispiel des Arztes, dessen „nicht vorrangige Gewinnorientierung sowie nicht zuletzt seine affektive Neutralität elementare Bedingungen des Aufbaus einer Vertrauensbeziehung seitens des Patienten sind“, wird dadurch zum Beweis des Gegenteils (Endress 2002, 21; vgl. Parsons 1965).
Zum zweiten bezieht sich der Vertrauensschwund offenbar zunehmend
auf das System der sozialen Marktwirtschaft als solches. Weniger als 50
Prozent der Bürger vertrauen, so eine vom Institut für Demoskopie
Allensbach 2009 publizierte Zahl, diesem Wirtschaftssystem. Das Vertrauen in die Wirtschaft, dass sie das Richtige tut, haben 2010 51 Prozent der Deutschen (Edelman 2010, 8). Nur 17 Prozent der Deutschen
haben 2010 Vertrauen in die Banken, ein Rückgang auf die Hälfte seit
2007 (Ebd., 4). Zu Recht hat der Vorstandsvorsitzende eines großen Beratungsunternehmens2 diesen fortschreitenden Vertrauensverlust als
„gesellschaftliches Desaster“ bezeichnet. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass viele Unternehmen diesen Verlust des Vertrauens in die hergestellten Güter und Dienstleistungen durch Maßnahmen zu kompensieren suchen, die zur Verbesserung von deren Qualität und damit intrinsisch zur Wiederherstellung des Vertrauens wenig oder nichts beitragen können. Dies wird von den Konsumenten tatsächlich honoriert.
So stehen in den USA Ratgeber hoch im Kurs, die den Verbraucher darüber aufklären, welches Unternehmen in Bezug auf Arbeitsbedingungen, ethnische Parität, Umweltmaßnahmen und so weiter welchen
Rangplatz einnehmen kann. Dass Unternehmen auch hinsichtlich ihrer
sozialen Verantwortung und Grundsätze beurteilt werden, ist gewiss
nicht zu kritisieren; doch kann vorbildliches prosoziales Verhalten überVertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
43
höhte Preise, Qualitätsmängel der Produkte und dergleichen ebenso verschleiern wie aggressive Werbung. Das Vertrauen in den Partner am
Markt wird dadurch letztlich ebenso wenig wiederhergestellt wie das in
den staatlichen Amtsträger durch Broschüren einer Zentrale für politische Bildung oder eines Presseamtes. Ebenso wie dem Staat muss auch
dem Markt schließlich ein offenkundiges Versagen bei der Erfüllung seiner originären Aufgaben, der Bewältigung benennbarer Herausforderungen, der Bereitstellung adäquater Leistungen und dergleichen attestiert werden. Nicht nur Verhaltensmuster, Unregelmäßigkeiten und
sich häufendes Versagen von Protagonisten, sondern auch systemimmanentes Versagen haben Staat und Markt in die gegenwärtige Vertrauenskrise gestürzt. Wem, so fragt sich der Bürger, kann denn überhaupt noch vertraut werden?
Diese Ratlosigkeit wirkt sich verheerend auf die Kohäsion der Gesellschaft aus. Nimmt man andere Faktoren, beispielsweise die transnationalen Kommunikationsmöglichkeiten, hinzu, erscheinen die seit dem
18. Jahrhundert entwickelten Modelle einer modernen Gesellschaft in
hohem Maße bereits obsolet geworden zu sein. So taugt etwa der Begriff
der Nation – zumindest in Europa – kaum noch als identitätsstiftendes,
soziales Kapital generierendes Modell. „Die Marktwirtschaft und die territorialen Nationalstaaten waren nicht dafür gedacht, sich einer Kommunikationsrevolution anzupassen, die den gesamten Globus umfasst
und alles und jeden auf dem Planeten simultan verknüpft. Die Folge ist,
dass wir Zeugen der Geburt eines neuen Wirtschaftssystems und neuer
Regierungsinstitutionen werden, die sich vom Marktkapitalismus und
vom modernen Territorialstaat so sehr unterscheiden werden wie die
Feudalwirtschaft und die Monarchien von ihren Vorgängern.“ (Rifkin
2004, 201). Mit vielen anderen bietet Rifkin eine Option an: „In der globalisierten Wirtschaft mit ihren entpersonalisierten Marktkräften ist
die Zivilgesellschaft zu einem wichtigen sozialen Rückzugsgebiet geworden. Hier können Menschen Intimität und Vertrauen herstellen,
gemeinsame Ziele und eine kollektive Identität entwickeln.“ (Ebd., 257).
Die dritte Arena
Seit den 1980er Jahren setzt sich zunehmend ein politisches Ordnungskonzept durch, welches die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zugunsten von drei Arenen
gesellschaftlich wirksamen kollektiven Handelns überwindet.3 Schon
im 18. Jahrhundert wurde durch Ferguson der Begriff der Civil Society
(wieder) in die politische Theorie eingeführt (vgl. Broadie 2007, 86),
wobei Ferguson zugleich für eine bis heute nachwirkende begriffliche
Unschärfe verantwortlich ist, indem „civil“ sowohl bewusst den Bezug
44
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
zu „zivilisiert“, also eine Art des Umgangs, als auch den Gegensatz zu
„militärisch“, also ein Ordnungsprinzip, bezeichnen und darüber hinaus durch Hervorhebung des freiwilligen Charakters die Abgrenzung
zum Herrschaftsanspruch des Staates unterstreichen sollte. Idealtypisch
wurde die Zivilgesellschaft als herrschafts- und hierarchiefreie Arena
aufgefasst, in der nicht nur die Handlungslogik, sondern auch die Kommunikation unter den Beteiligten von der in anderen Arenen grundsätzlich verschieden sei.
In dieser Idealtypisierung ist das Konzept an den Unzulänglichkeiten
menschlichen Handelns gescheitert und hat sich nicht durchgesetzt.
Heute wird Zivilgesellschaft mehrheitlich als die Arena gesehen, in der
zum einen diejenigen Organisationen aktiv sind, die im weitesten Sinn
öffentliche und meritorische Güter für die Allgemeinheit herstellen
(Dienstleister), zum zweiten Gruppierungen, die für ihre Mitglieder
Chancen der Lebensgestaltung anbieten (Selbsthilfegruppen), zum dritten mehr oder weniger organisierte Gruppen, Initiativen und so weiter,
die ein allgemeines, in der Regel thematisch sehr eingegrenztes politisches Mandat wahrnehmen (Themenanwälte), sowie schließlich unterschiedliche intermediäre Vereinigungen und Institutionen. Allen Teilen
sind der selbstermächtigte Gründungsimpuls, ein gewisses Maß an Kollektivität und Öffentlichkeit, die freiwillige Zugehörigkeit, die Selbstorganisation und die subjektive Gemeinwohlorientierung sowie das
Verbot, eventuelle Überschüsse an Mitglieder oder Eigentümer auszuschütten, gemeinsam. Ferner nehmen sie grundsätzlich nicht an der
Ausübung hoheitlicher Gewalt teil, sind jedoch sehr wohl prosoziale
Akteure in der allgemeinen politischen Ordnung4 (s. hierzu u.v.a.
Anheier und List 2005, 53 ff.; Strachwitz 2009, 10 ff.).
Für die Herausbildung der modernen Zivilgesellschaft war das Versagen
von Staat und Markt keine notwendige Voraussetzung. Sie ist auch das
Ergebnis anderer Faktoren wie der von Rifkin konstatierten kommunikativen Revolution oder der politischen Überwindung des Nationalstaates. „Im Nationalstaat kreist die Politik um zwei Pole, den Markt und
die Regierung. Im Unterschied dazu operiert die EU-Politik zwischen
drei Knoten: Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft. Der Übergang
von zwei zu drei Sektoren stellt einen radikalen Entwicklungssprung in
der Evolution des politischen Lebens dar und trägt entscheidend dazu
bei, wie wir unsere Zukunft organisieren.“ (Rifkin 2004, 253). Jedoch ist
nicht zu übersehen, dass aufgrund des Vertrauensverlustes in den
Arenen Staat und Markt die Suche nach Optionen der Vertrauensbildung den Blick auf die Zivilgesellschaft gelenkt hat. Die von Luhmann
beschriebene Entwicklung vom interpersonalen zum Systemvertrauen
scheint eine Gegenbewegung ausgelöst zu haben, indem das Scheitern
des Systemvertrauens die Attraktivität einer Systematik des interpersoVertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
45
nalen Vertrauens neuerlich heraufbeschworen hat. Putnams Langzeituntersuchungen in Italien (Putnam 1993) und seine daraus entwickelte
Theorie des sozialen Kapitals haben in herausragender Weise dieses
Phänomen untersucht und theoretisch untermauert5. Sozialkapital
erweist sich für Putnam als der für den Erfolg eines gesellschaftlichen
Arrangements entscheidende Faktor. Seine These, dass Sozialkapital vornehmlich in freiwillig zustande gekommenen Netzwerken und assoziativen Organisationen formeller wie informeller Art gebildet wird
und den anderen Arenen erfolgreich zur Verfügung gestellt werden
kann (Putnam und Goss 2001, 23 ff.), ist heute weithin akzeptiert. „Dieselben globalen Bedingungen, die neue kooperative, auf Netzwerk-Architekturen basierende Wirtschaftsmodelle befördern, wirken sich auch
auf die politische Arena aus.“ (Rifkin 2004, 215).
Doch warum ist dies so? Diese Frage kann hier nur gestreift werden.
„Soziale Netzwerke und die damit zusammenhängenden Normen der
Gegenseitigkeit lassen sich als soziales ‚Kapital‘ bezeichnen, weil sie –
wie physisches und Humankapital (Ausrüstung und Ausbildung) –
sowohl individuellen als auch kollektiven Wert schöpfen und weil man
in Netzwerke investieren kann. Tatsächlich legt die umfangreiche internationale Literatur über die Korrelate von Glück […] die Vermutung
nahe, Sozialkapital könne für das menschliche Wohlbefinden sogar
noch wichtiger sein als materielle Güter.“ (Putnam und Goss 2001, 22).
Den schon vermuteten engen Zusammenhang zum Vertrauen einerseits, zur Handlungslogik der Zivilgesellschaft andererseits stellen unter
anderen Claus Offe und Susanne Fuchs her, wenn sie feststellen: „Wie
können wir das Niveau oder den Bestand an Sozialkapital messen?
Benötigt dafür werden aussagefähige Indikatoren, zumindest jedoch
‚feinkörnige‘ konzeptionelle Komponenten des Sozialkapitals […] Wir
schlagen drei solche Komponenten vor: ‚Aufmerksamkeit‘, ‚Vertrauen‘
und ‚Engagement in assoziativen Aktivitäten‘.“ (2001, 418). „Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Netzwerk liegt in der Reziprozität und dem
Vertrauen. […] Vertrauen ist der Kern der Netzbeziehungen.“ (Rifkin
2004, 205 f.). Insofern, als die Arena der Zivilgesellschaft die Arena der
assoziativen Aktivitäten und Netzwerke unter Hintanstellung wirtschaftlichen Gewinnstrebens und der Ausübung von Gewalt darstellt, ist
sie denn auch diejenige, die sich als Produzentin von Sozialkapital vornehmlich eignet. Hier kann sich, nicht zuletzt auch bedingt durch die
extreme Ausdifferenzierung in kleine und kleinste Organisationen, das
interpersonale Vertrauen bilden, das anscheinend das Systemvertrauen
ablöst. Hans Maiers eingangs zitierte Vermutung erweist sich als zutreffend.
Freilich muss eindringlich davor gewarnt werden, die Zivilgesellschaft
als Deus ex Machina in der Not der Vertrauenslosigkeit zu apostrophie46
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
ren. Weder ist Zivilgesellschaft inhärent gut – Organisationen wie Al
Qaida oder Ku Klux Klan sind eklatante Beweise des Gegenteils –, noch
haben alle personalen oder kollektiven Akteure in dieser Arena gerade
die Vertrauensbildung als Ziel. Auch sind diese Akteure prinzipiell
zugleich auch in den anderen Arenen unterwegs, und es gibt zwischen
den Arenen relativ große Überschneidungszonen, so dass sich eine systematische Abgrenzung verbietet. Schließlich sagen Untersuchungen,
dass beispielsweise in Deutschland nur 55 Prozent der Bürger das Vertrauen haben, dass Nichtregierungsorganisationen das Richtige tun.
Andererseits ist nicht zu übersehen, dass dies deutlich mehr sind, als
Staat und Markt vertrauen (Edelman 2010, 3, 8). Auch sind hier eher die
großen, für die Zivilgesellschaft untypischen Organisationen im Blick.
Die Handlungslogik der Selbstermächtigung und Selbstorganisation,
die Ausbildung immer wieder neuer kollektiver Akteure und die vergleichsweise hierarchiearme, netzwerkbezogene Arbeitsweise auf der
Mesoebene, wie sie für zivilgesellschaftliche Organisationen typisch ist,
begünstigen die interpersonale Vertrauensbildung. Auch das vergleichsweise geringe Risiko von Vertrauensvorschüssen arbeitet diesem Prozess
zu. Insofern erscheint es gerechtfertigt, den gesellschaftlichen Mehrwert, der der Existenz einer funktionsfähigen und lebendigen Zivilgesellschaft zugemessen wird, neben anderen Beiträgen wie seinem
Integrations- und Inklusionspotential auch an der Chance zu messen,
über Vertrauen soziales Kapital zu bilden (Strachwitz 2009, 18). Aus dem
zivilgesellschaftlichen Mehrwert bezieht diese Arena ihre wesentliche
Legitimation.
„Die ‚starke‘ Version von Vertrauen ist dann erfüllt“, so Offe und Fuchs,
„wenn eine Person nicht nur die optimistische Auffassung vertritt, die
meisten Menschen seien umgänglich und ihr meist auch wohlgesonnen. Diese Weltsicht muss komplettiert werden durch die Annahme, aus
der Kooperation mit anderen Menschen gegenseitigen intrinsischen wie
instrumentellen Nutzen ziehen zu können.“ (2001, 419). In der historischen Situation, in denen die Herstellung von Systemvertrauen in den
Arenen Staat und Markt problematisch erscheint und das rein familiäre
interpersonale Vertrauen nicht hinreicht, ist es verständlich, wenn sich
auf die Arena der Zivilgesellschaft das Vertrauen richtet, über interpersonales Vertrauen auf der Mesoebene soziales Kapital aufzubauen. Dies
freilich ist keine Huldigung an die Zivilgesellschaft, sondern eine Herausforderung, der sie sich stellen muss.
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
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48
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Groschke, Amanda/Gründinger, Wolfgang/Holewa, Denis/Schreier, Christian/Strachwitz,
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Fußnoten
1 Engl. Rule of Law, auf Deutsch meist zu eng als „Rechtsstaat“ übersetzt.
2 Bernd Wieczorek, Chairman, Egon Zehnder International GmbH, auf einer Veranstaltung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien zum Kultursponsoring am 24. August
2010 in Berlin.
3 Der unmittelbare Privatbereich ist in diese Betrachtung nicht einbezogen, wird jedoch
keineswegs marginalisiert. Im Konzept der drei Arenen gesellschaftlich relevanten
Handelns bildet dieser Privatbereich, der Mensch, den Ausgangspunkt, von dem in die
Arenen ausgestrahlt wird.
4 Der Begriff geht insoweit, aber auch in Bezug auf die Einbeziehung informeller Initiativen, erheblich über den in den 1990er Jahren verwendeten Ausdruck ‚Dritter Sektor‘
hinaus.
5 Putnam selbst führt die Begrifflichkeit und die Grundlinien der Theorie des sozialen
Kapitals auf eine 1916 veröffentlichte Schrift des amerikanischen Pädagogen und
Gesellschaftsreformers Lyda Judson Hanifan zurück (s. Putnam und Goss 2001, 16).
Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen
49
Abbildung 9: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen I
Abbildung 10: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen II
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Über das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen und
andere Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb
Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele
© Anja Schindler
Eine Welt ohne Evaluationen, Ratings, Rankings, Kennzahlen und Indizes ist heute kaum mehr vorstellbar. Fast alles lässt sich auf einer Skala
von 1 bis 100 abbilden: der Wert einer Immobilie, die Qualität von
Waschmaschinen oder die Attraktivität eines Studienortes. Der Mensch
verlässt sich gern auf Zahlen. Er scheint lieber zu zählen als zu lesen
oder sich selbst ein Bild zu verschaffen. Doch wie begründet ist das Vertrauen in diese vermeintlich objektiv produzierten Tatsachen?
Diese Fragen wurden am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes in einer
Podiumsdiskussion am 22. März 2010 an der Universität Mannheim thematisiert. Evaluationen im Bereich von Wissenschaft, Forschung und
Lehre sind im Grunde eine Form der Kreditvergabe: Ratings bestätigen
einer Universität Qualität, Werte, Exzellenz oder eben das Gegenteil. Die
Universität kann mit diesem Kapital arbeiten wie eine Bank mit ihren
Einlagen. Über die Frage, inwieweit den methodisch abgesicherten Verfahren zur „Produktion von Objektivität“ zu trauen ist, kann man streiten, auch darüber, in welchem Kontext welche Form der „Objektivität“
sinnvoll zur Messung von Werten eingesetzt werden kann. Schließlich
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
51
wäre die Frage nach den Alternativen ganz zentral: Wenn wir nicht evaluieren und ranken etc., wie sollen wir dann Qualität messen?
Es diskutierten Prof. Dr. Frank Ziegele, Direktor des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), Jürgen Kaube, F.A.Z.-Wissenschaftsredakteur,
Prof. Dr. Stefan Hornbostel, Direktor des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, Berlin, und Prof. Dr. Alfred Kieser, Wirtschaftswissenschaftler und Organisationstheoretiker an der Universität
Mannheim. Die Diskussionsleitung hatte Prof. Dr. Dagmar Stahlberg,
Soziologin an der Universität Mannheim.
Zunächst stellten die Diskussionsteilnehmer in einschlägigen Stellungnahmen ihre Thesen zur Diskussion:
© Anja Schindler
Stefan Hornbostel:
Ich möchte mit der Frage einsteigen, wie Wissenschaft und Vertrauen
zusammenhängen.
Das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft ist sehr groß. Ich glaube,
in der gegenwärtigen Situation hätte die Wissenschaft sogar gute Chancen, der katholischen Kirche den Rang abzulaufen. Allerdings bricht dieses Vertrauen, sobald man nach heiklen Themen fragt, wie zum Beispiel
Stammzellenforschung. Dann schlägt Vertrauen sehr schnell um in
Misstrauen und führt zu einer hohen Bereitschaft, der Wissenschaft Vorschriften zu machen. Betrachtet man die Wissenschaft aber als Institution von innen, dann macht man eine erstaunliche Entdeckung: Anders
als im alltäglichen Leben lebt die Wissenschaft in der Aufforderung zu
permanentem Misstrauen. Alles, was in der Tradition des britischen
Rationalismus steht, lebt eigentlich davon, dass man permanent misstrauisch ist, geradezu destruktiv mit dem Wissen anderer umgeht. Mit
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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
diesem Misstrauen korrespondiert allerdings nicht unbedingt das
tatsächliche Verhalten. Denn das Verhalten von Wissenschaftlern untereinander ist dann doch eher durch Vertrauensbeziehungen geprägt.
Man könnte das Ganze als eine antagonistische Produktionsweise
betrachten. Auf der einen Seite haben wir sehr starke Wettbewerbs- und
Konkurrenzbeziehungen in der Wissenschaft. Fälschungen sind beispielsweise ein schöner Indikator dafür, dass unter diesem hohen Konkurrenzdruck Fälschungen oft nur möglich sind, weil sie gerade das Vertrauen und nicht das Misstrauen auslösen. Und das wäre die andere
Seite: Kooperation. Diese ist genauso wichtig in der Wissenschaft. Ohne
diese ist Wissensproduktion kaum möglich. Und Kooperationsbeziehungen funktionieren nur mit einem erheblichen Einsatz von Vertrauen.
Wenn man das Verhältnis Staat und Wissenschaft einmal anschaut,
dann haben wir auch hier erst mal einen ganz erstaunlichen Vertrauensvorschuss. Die grundgesetzlich garantierte Autonomie ist ja so etwas
wie ein Vertrauensbeweis. Was mich persönlich dabei erstaunt, ist die
unglaubliche Bereitschaft aus der Wissenschaft – und zwar wirklich aus
der Wissenschaft und nicht so sehr aus den Medien –, Information über
die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft so zu vereinfachen, dass man
sie am besten mit einer Zahl abbilden kann.
Rankings wird man danach beurteilen können, wie gut es ihnen gelingt,
geeignete Indikatoren zu finden, die tatsächlich etwas Relevantes messen können. Die Frage ist, welche Indikatoren ausschlaggebend sein sollen. Ich nenne ein Beispiel: In fast jedem Ranking finden Sie die Anzahl
der Promotionen als einen Forschungsindikator. Das heißt, je mehr
Leute promoviert werden, umso besser und forschungsintensiver sei
eine Einrichtung. Das ist Nonsens und es führt zu rapidem Qualitätsverfall. Das ist die negative Seite der Rankings.
© Anja Schindler
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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Die positive Seite wäre die, dass Rankings in der Tat zu einer Stimulans
geworden sind. Ratings ermöglichen Einrichtungen gewissermaßen,
sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Daraus resultiert eine Menge an
Bewegung, mit der wir versuchen, in manchen Bereichen besser zu werden, die eigenen Strategien zu überdenken und genauer zu überlegen,
wie man sich eigentlich positionieren will und wo man Schwachstellen
hat, die man ausbügeln sollte.
Jürgen Kaube:
Ich fange mit einer kleinen Geschichte an. Sie spielt in einer Berufungskommission an einer Universität, an der ich einmal gearbeitet
habe. Es wurden Punkte an die Kandidaten verteilt, und es ergab sich das
Bild, dass einer der Bewerber sehr deutlich vor allen anderen lag. Der
Kommissionsvorsitzende sagte: „Bevor wir nun den Kollegen auf Platz
eins setzen, sollten wir uns vorher noch kurz die Frage stellen, ob wir
ihn auch wollen.“ Innerhalb von etwa fünf Minuten war klar, dass diese
Frage von fast allen Mitgliedern der Berufungskommission mit „Nein“
entschieden wurde. Sie wollten ihn also eigentlich nicht – meiner Meinung nach eine Rückkehr zur Vernunft. Denn man beruft ja einen Kollegen nicht als eine in Einzelkomponenten zerlegbare Leistungsmaschine. Das, was in Rankings quantifiziert wird, ist etwas, was quantifiziert gar nicht existiert. Man nennt es auch Reputation – ähnlich wie die
Kochmützen für Spitzenköche oder die Punktewertung bei der Stiftung
Warentest.
Was hat es mit dieser Reputation auf sich? Wissenschaftler orientieren
sich in vielen Handlungen nicht ausschließlich an Kritik, sie verlassen
sich auch auf Reputation. Das kann der Ruf einer Person sein, aber auch
der einer Zeitschrift, einer Universität, eines Faches oder einer Tagung.
Diese Reputation hat eine Tendenz ins Informelle. Sie beruht auf
Gerüchten, auf Klatsch, auf Fama. Man kann sie nicht in Form einer Zahl
formulieren, so dass man sagen könnte: „Oh, diese Zahl hat einwandfrei
ergeben, der Kollege ist nun einmal der Beste und muss angenommen
werden.“
Das hat damit zu tun, dass die Reputation vor allem dort ins Spiel
kommt, wo Wissenschaftler Entscheidungen treffen müssen, die nicht
wissenschaftlicher Art sind, zum Beispiel die Besetzung einer Stelle. Das
ist keine wissenschaftliche Entscheidung. Es ist lediglich eine Entscheidung, die von Wissenschaftlern getroffen wird. Das wird gerne verwechselt. Rankings suggerieren jedoch implizit, dass alles, was Wissenschaftler tun, auch wissenschaftlich sei. Es ist ganz kurios, dass das Vertrauen der Verwissenschaftlichung an einer Entscheidung, die selber
keine wissenschaftliche ist, dazu führt, dass man Wissenschaft dritten
Ranges akzeptiert.
54
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Wenn ich noch einmal auf das Beispiel mit der Berufungskommission
eingehe: Da machen sich einige einen riesigen Aufwand und rechnen
diese Zahlen aus, aber in den Berufungskommissionen werden die Zahlen nur dann mobilisiert, wenn man etwas begründen will, was man
aber auch ohne diese Zahlen belegen könnte. Das ist problematisch.
Die DFG hat ja gerade die Obergrenzen der anzugebenden Publikationen bei Forschungsanträgen auf maximal fünf beschränkt. Damit wird
versucht, einem der Probleme zu begegnen – nämlich dem, dass die Forscher sich selbst strategisch nach diesen Daten ausrichten. Ganze Universitäten sind besessen von der Idee, von Platz 21 auf Platz 19 vorzuspringen. Obwohl wiederum informell jeder sagt, dass das eigentlich Irrsinn ist. Aber man kann nicht anders.
Und da ist meine Frage an die Wissenschaft: Könnte man sich nicht darauf verständigen, dass man doch anders kann?
© Anja Schindler
Alfred Kieser:
Wir – die Fakultät für BWL an der Uni Mannheim – sind Nummer eins
und zwei im Handelsblattranking, und eigentlich haben wir jeden
Grund, das gut zu finden, was da gemacht wird. Ich tue es nicht, weil
ich meine, dass durch Rankings die Sitten in der Wissenschaft zu einem
gewissen Grade verkommen.
Meine erste These: Rankings schaffen die Wirklichkeit, die zu messen sie
vorgeben. Stellen wir uns vor, eine Fakultät wird aufgrund einer angreifbaren Evaluation schlecht beurteilt. Dann wird sie auch schlecht. Es
gehen keine Studenten mehr hin, die Professoren wollen weg. Genauso
ist das auch, wenn sie zu gut beurteilt wird. Dann wird sie auch tatsächlich gut. Diese Rankings entwickeln eine Eigendynamik. Sie beeinflus„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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sen die Wirklichkeit. Es ist aber nicht im Sinne des Bildungsauftrags,
dass es nur noch wenige Universitäten gibt, die gut sind, und viele, die
schlecht sind.
Die zweite These: Es sagt nicht viel über die Qualifikation eines Wissenschaftlers aus, wenn er oder sie in einer Zeitschrift, die hoch angesehen ist, einen Aufsatz veröffentlicht. Auch hier in Mannheim gibt es
viele Listen, die genau mit diesem sogenannten Impact Factor begründet werden, mit Rankings, die auf solchen Impact Factors aufbauen. Die
Weltvereinigung der Mathematiker – die International Mathematical
Union – warnt aber ausdrücklich davor, die Ergebnisse von Rankings auf
individuelle Forscher anzuwenden. Im Internet ist diese Kritik unter
„Citation Statistics“ zu finden.
Dritte These: Rankings machen aus Wissenschaftlern Punktejäger, sie
verleiten Forscher zum Tricksen. Man macht aus einem Aufsatz drei. Das
Schlimmste ist wohl, dass auf diese Art und Weise Innovation reduziert
wird. Wissenschaftler verfolgen keine innovative Forschung mehr, sondern variieren das Bewährte, denn das hat die größten Aussichten auf
Veröffentlichung. So reduzieren Rankings Kreativität und Innovationen in der Wissenschaft.
Vierte These: Immer mehr Hochschulangehörige sehen Rankings und
Evaluationen skeptisch. Auch in der Presse wird dies eigentlich schon
kritisch diskutiert. Jüngst hat sich der Historikerverband einer Evaluation verweigert. Er begründet dies mit der „Unmöglichkeit, ein dynamisches Fach wie die Geschichtswissenschaft parametrisch gleichsam
in einer Momentaufnahme abzubilden und wertend zu erfassen […].“
Also, ich bin auch mit Herrn Kaube der Ansicht, dass man auf Rankings
verzichten sollte.
© Anja Schindler
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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Frank Ziegele:
Rankings sind nützlich, denn Hochschulen können damit in den Aufbau von Vertrauenskapital investieren.
Erstens: Falsch wäre, die Hochschulen würden sich auf die Position
zurückziehen, die der Historikerverband vertritt. Wissenschaft – so die
Argumentation – sei ein selbstreferentielles System und wisse daher
selbst am besten, was gut und schlecht sei. Ich habe aber den Eindruck,
eine solche Haltung ist für den Aufbau des Vertrauens nicht besonders
hilfreich.
Zweitens: Eine Möglichkeit ist Vertrauensaufbau durch Leistung. Ich
würde die These wagen, ein Vertrauensaufbau über Leistung ist besser
als ein Vertrauensaufbau über Reputation. Ein einleuchtendes Beispiel bietet die Universität Bremen. Über Jahrzehnte hinweg galt diese
Universität als eine rote Kaderschmiede, obwohl dort unglaublich gute
wissenschaftliche Leistungen erzielt wurden. Eine Messung der
tatsächlichen wissenschaftlichen Leistungen hätte die wissenschaftliche Realität an der Uni Bremen sehr viel besser abgebildet als das sehr
beständige Konstrukt der schlechten Reputation. Das Vertrauen in
Reputation ist keine wirkliche Alternative zu regelmäßiger Qualitätskontrolle.
Daher mein dritter Punkt: Ein Schlüssel zum Vertrauensaufbau ist
Transparenz: Bereitstellung von Informationen über das, was an Hochschulen passiert. Daten, Evaluationsergebnisse, Zahlen zum Drittmittelaufkommen, zu den Forschungsaktivitäten, zur Qualität der Lehre
etc., die den Vergleich zwischen Hochschulen ermöglichen.
Damit komme ich bereits zum vierten Punkt: Der Wert eines Rankings
hängt immer von den Zielen und der Zielgruppe ab. Problematisch wird
es immer dann, wenn dieser Zielbezug nicht klar ist und die Instrumente für etwas eingesetzt werden, was sie gar nicht leisten können. Das
klassische Beispiel ist das hochgepriesene Shanghai Ranking, das durch
die ganze Welt geistert: Man kann nur den Kopf schütteln darüber, dass
es noch immer Universitäten gibt, die verzweifelt versuchen, sich im
Shanghai Ranking von Platz 23 auf Platz 17 vorzuarbeiten. Dieses Ranking ist ganz gezielt dafür entwickelt worden, Forschungsleistungen in
den Natur- und Technikwissenschaften zu messen. Geisteswissenschaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Forschungserfolge sind
darin gar nicht darstellbar.
In meinem fünften Punkt möchte ich die Gefahr der Pseudoobjektivität
ansprechen. Wir stehen vor dem Problem, dass metrische Messsysteme
keine Automatismen sind. Oben schmeißt man Daten und Fakten rein
und unten fallen automatisch richtige Entscheidungen raus. Diese Logik
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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funktioniert so nicht. Jede Qualitätsprüfung, jedes Messsystem braucht
interpretierende Menschen.
Sechster und letzter Punkt. Es ist natürlich auch wichtig, dass die Verfahren der Qualitätskontrolle Vertrauen genießen. Wenn ich das CHEHochschulranking betrachte, dann stelle ich fest, dass wir unglaublich
viel in Vertrauensaufbau investieren. Wir haben wissenschaftliche Fachbeiräte, die fachspezifische Optimierungen vorschlagen, und wir
machen jedes Detail, jede Methode transparent.
Dagmar Stahlberg:
Vielen Dank! Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Wer braucht eigentlich
Rankings?
Frank Ziegele:
Hier kann ich nur für das CHE sprechen. Wir machen unser Ranking mit
der klaren Zielsetzung, eine Entscheidungshilfe für Studierende zu bieten. Daher auch der Aufbau nach Studienfächern. Unsere Idee ist die,
dem Studenten, der bereits eine ungefähre Idee davon hat, was er studieren möchte, Entscheidungshilfe zu bieten. Er soll vergleichen können, was die verschiedenen Hochschulen in seinen Interessensgebieten
voneinander unterscheidet. Die Studenten finden hier bis zu 34 verschiedene Indikatoren. Das heißt, unser Ranking gibt Auskunft über die
Hochschulen im Hinblick auf Bereiche, die für die Studenten besonders
wichtig und relevant sind. Dazu befragen wir Studierende: Was war ausschlaggebend für eure Entscheidung, welche Informationen waren
besonders wichtig? Worauf legt ihr Wert? Wie schon gesagt, es gibt kein
Ranking losgelöst von Zielen oder Zielgruppen. Unsere Zielgruppe sind
die Studierenden.
Dagmar Stahlberg:
Sind Rankings eine Antwort auf Missstände?
Stefan Hornbostel:
Nun, jedenfalls beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich höre,
dass in der Vergangenheit doch alles so toll gewesen sei. Ob Reputation
wirklich eine zuverlässige Währung ist, sei hier dahingestellt. Wenn
man genauer hinschaut, sieht die Welt doch etwas anders aus. Diese
Reputationszuweisung hatte und hat ja eine ausgesprochen unangenehme Seite. Sie geht einher mit Vetternwirtschaft. Und die Geschichte
der Universität ließe sich ohne Probleme als eine Geschichte der Universitätskrisen schreiben. So rosig war das früher auch nicht.
Wenn es nun um die Frage nach Reputation oder meritokratischen
Zuweisungsprozessen geht, dann scheint es kein Zufall, dass der Robert
58
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Merton ausgerechnet Publikationen als wichtiges Medium im Kommunikationssystem der Wissenschaft entdeckte. Er selbst bezeichnete es als
Währung. Publikationen sind gewissermaßen Zahlungseinheiten, mit
denen sich Wissenschaftler gegenseitig symbolisch ihre Anerkennung
zeigen. Ich würde daraus jedoch ganz andere Schlüsse ziehen: Evaluationen und Rankings sind Formen der Selbstbefragung dieses Systems,
sie liefern einen Beitrag zur Rationalisierung inneruniversitärer Reputationszuweisungen. Sie sind ein Versuch, die informellen Zuschreibungsprozesse in der Wissenschaft zu steuern. Denn ganz offensichtlich
ist auch dort sehr viel schiefgelaufen und es wurden viele nach oben auf
Positionen gespült – das kann man bei Bourdieu sehr schön nachlesen –,
die dort eigentlich nicht hingehörten. Ratings und Rankings in der Wissenschaft sind im Grunde Ausdruck des Bedürfnisses, diese Prozesse zu
rationalisieren, also stärker die meritokratische Seite zu betonen,
danach zu fragen, was eigentlich an Leistungsprozessen dahintersteht.
Und dafür ist in der Tat die Teilhabe an der wissenschaftlichen Kommunikation ein ganz wesentliches Element.
Dass man nun verrückterweise – und da komme ich nun auf Ihr Statement, Herr Kieser, zurück – Indikatoren wählt, die für völlig andere
Zwecke konstruiert worden sind, das ist in der Tat bedauerlich. Ich
nenne hier als Beispiel den Impact Factor. Das ist ein Wert, der ursprünglich als Unterstützung für Bibliothekare gebastelt wurde, für Bibliothekare, die darüber entscheiden sollten, welche Zeitschriften eine Bibliothek anschafft. Niemand – schon gar nicht die Bibliothekare oder die
Bibliometriker – wären auf die Idee gekommen, mit dem Impact Factor
Personen oder Institutionen zu bewerten. Völliger Unsinn.
Dass man nun ausgerechnet diesen völlig skurrilen Einsatz einer bibliometrischen Kennzahl nimmt, um die Bibliometrie zu kritisieren, halte
ich ehrlich gesagt für problematisch.
Nicht nur Rankings und Ratings produzieren die Realitäten, die sie zu
messen vorgeben. Jede Berufungskommission, jedes Visitationskomitee, oder was immer sie nehmen wollen, konstruiert natürlich eine
soziale Realität. Und die ist am Ende für das Handeln von Personen und
Institutionen genauso maßgeblich, wie das bei einem Ranking auch
der Fall ist. Selbstverständlich, das ist grundsätzlich überhaupt kein
anderer Modus. Und Tricksereien, Fälschungen und solche Dinge gibt
es nicht erst, seit Rankings erfunden wurden. Die gibt es in jedem auf
Konkurrenz ausgelegten System, nicht nur in der Wissenschaft. Das
Gleiche gilt für das Problem der Redundanz. Wissenschaft hat seit
ihrer Erfindung im Mittelalter immer auch hochredundante Diskurse
produziert – denken Sie nur an die Scholastik. Damit muss man sich
abfinden.
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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Statt also die Zustände in der Vergangenheit zu glorifizieren, schlage ich
folgendes Argument vor: Rankings, Evaluationen und eine Wissenschaftssoziologie, die versucht, strukturelle Mechanismen offenzulegen,
sind eine Antwort darauf, dass das System nicht so funktioniert, wie man
es sich vorstellt. Hier geht es um einen Prozess, den man als eine Rationalisierung der Selbstreflexion von Wissenschaft beschreiben kann.
Dagmar Stahlberg:
Sie betonen also stark den aufklärerischen Aspekt von Rankings. Die
Frage ist, warum andere Kollegen diesen aufklärerischen Beitrag nicht
sehen?
Jürgen Kaube:
Wenn ich mir das Soziologie-Rating des Wissenschaftsrates anschaue:
Das war geradezu offensiv redundant, selbst für jemanden, der davon
nicht viel versteht. Das hätte man blind vorhersagen können, was da herauskam. Inklusive der hervorragenden Leistungen von Soziologen, die
seit zehn Jahren keine Soziologie mehr produziert haben, die Beck
heißen und überragende Prominenz genießen und deshalb in einem
solchen Rating auch so beurteilt werden müssen. Daraus zu folgern, wir
seien jetzt in einer rationalisierteren Welt angelangt, das ist kühn, dafür
hätte ich gerne Belege. Man sollte nicht versuchen, Dinge zu optimieren
– noch dazu mit zweitklassigen Techniken –, die gar nicht optimierbar
sind.
Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieser Lehrstuhl ging an den
Falschen. Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieses Journal, das
hat einen tollen Ruf, aber eigentlich produzieren die doch seit Jahren
dasselbe. Es wird immer Betrug geben. Die Frage ist nur: Führen wir
Techniken ein, die uns erstens in der Illusion wiegen, jetzt seien wir das
Problem losgeworden, und die zweitens Seiteneffekte haben wie maßloses Publizieren.
Ein Seiteneffekt von Rankings und Ratings ist zum Beispiel, dass die
Leute in diesen Kommissionen einfach nicht lesen. Stattdessen wird auf
Platznummern verwiesen. Das ist eine echte Auskunft, da stehen Drittmittel. Schauen Sie sich die Websiten von Wissenschaftlern an, das ist
Irrsinn. Die schreiben jede 25 US-Dollar, die sie eingenommen haben,
auf ihre Website. Für wen ist das eine Information? Für niemanden. Dieses System, das glaubt, dass beliebige Zahlen und irgendwelche Rechnungen interpretierbar seien, halte ich für einen Scherz. Diese Zahlen
sind nicht interpretierbar. Welche dieser Zahlen bietet hier Entscheidungshilfe?
Was die Studierenden angeht, ist das nochmal ein ganz anderes Thema.
Ich habe gar nichts dagegen, wenn einzelne Hochschulbereiche oder
60
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Fachbereiche beschrieben werden. Mir ist nur nicht ganz klar, ob bei 34
Indikatoren eine sinnvolle Entscheidungsbildung noch stattfinden
kann. Und mir ist auch nicht ganz klar, ob damit wirklich Rationalisierungsschübe angestoßen werden. Wie passt das, was man hier anbietet,
zu der Tatsache, dass 70 Prozent aller Studenten am Ort ihres Abiturs
studieren?
Dagmar Stahlberg:
Darf ich da vielleicht direkt nochmal nachfragen. Sie haben hier ein
Szenario aufgemacht, nach dem man früher Urteile aufgrund fundierter Lektüre gefällt habe. Heute dagegen vertraue man nur auf Zahlen.
Darf ich hier ein ganz anderes Bild entgegenhalten: Früher haben Sie XY
angerufen, nachgefragt, ob das ein toller Kerl sei, und dann den tollsten
genommen. Ist hier das Vertrauen in die Zahl nicht doch ein Fortschritt?
Jürgen Kaube:
Das hängt natürlich davon ab, wie der Typ war. Wir haben so eine eingebaute Präferenz für eine Zahl gegenüber persönlicher Autorität.
Alfred Kieser:
Auch eine persönliche Geschichte: Als ich das Examen hatte und ans Promovieren dachte, kam nur ein Ort in Frage: die Carnegie Mellon University (Pittsburgh, USA). Da war auch Herbert Simon, der hatte noch
keinen Nobelpreis, und Richard Cyert war auch nicht völlig unbekannt,
von denen hatte ich etwas gelesen und dort wollte ich unbedingt hin.
Wenn es damals Rankings gegeben hätte, wäre ich vielleicht woanders
hingegangen, weil die da vielleicht gar nicht so gut abgeschnitten hätten und weil dieser Ansatz vielleicht gerade gar nicht so en vogue gewesen wäre. Die Identifizierungen mit einem Thema, dass man sich in eine
Monografie verbeißt und das unbedingt weitermachen will, das wird
eigentlich unterbunden durch Rankings. Herr Ziegele sagt, Zahlen sind
gut, wenn sie zu einer verantwortlichen Interpretation führen. Ich
würde sagen, Rankings vertreiben die verantwortliche Interpretation.
Und da würde ich noch weitergehen – das CHE-Ranking für Studenten
ist ja recht anspruchsvoll –, einfache Rankings vertreiben die komplizierten, weil man sie einfach interpretieren kann und sich nicht so viel
damit beschäftigen muss.
Ich war in den achtziger Jahren in den Niederlanden und habe da an den
betriebswirtschaftlichen Fakultäten oder Teilbereichen evaluiert. Die hatten dort schon angefangen, Aufsätze mit Impact Factor aufzulisten, und
bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, wie schwer es ist, dagegen zu
argumentieren: Wenn man sagt, diese oder jene Zeitschrift hat zwar
einen tollen Impact Factor, aber der Aufsatz, um den es geht, ist trotzdem
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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nicht gut: Da haben Sie keine Chance. Das ist ganz schwierig gegen diese
vermeintlichen Objektivitäten anzudiskutieren. Insofern meine ich
schon, die Reputation kann sich auch ohne diese Hilfen herausbilden.
Merton hätte das bestimmt nicht gut gefunden, was seine Schüler mit
dem Impact Factor gemacht haben. Die Tricksereien, die waren schon
immer da. Aber diese Verschiebungen – Aufsätze werden variiert, Monografien verschwinden, weil sie nicht belohnt werden – das ist kein Betrug,
das sind Verwerfungen in der Forschungslandschaft, die gravierende Folgen haben.
Dagmar Stahlberg:
Zurück zur Frage nach dem Vertrauen in die Objektivität. Herr Hornbostel, an Sie eine provokative Frage: Könnte zum Beispiel das iFQ [Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, Anmerkung der
Redaktion] bei seinen Evaluationen zu dem Ergebnis kommen, dass die
Exzellenzinitiative Quatsch war?
Stefan Hornbostel:
Warum nicht? Wir werden als „Hilfseinrichtung der Forschung“ von der
DFG gefördert. Unsere Aufgabe ist die Bereitstellung von Informationen
über Ergebnisse und Erfolge deutscher Forschung, es geht um Forschungsmonitoring und Qualitätssicherung. Und darauf lege ich sehr
viel Wert, dass wir in der Tat eine rechtliche Unabhängigkeit haben. Das
ist so, wie wenn Sie von der DFG Drittmittel erhalten für ein Forschungsprojekt. Sie werden wahrscheinlich auch nicht bei der DFG
nachfragen, soll ich das so oder so machen, oder welches Ergebnis wollen sie haben.
Selbstverständlich ist das iFQ unabhängig. Sie sprechen aber durchaus
einen wichtigen Punkt an. In dem ganzen Evaluationsbereich geht es ja
auch um kommerzielle Faktoren. Und Evaluationen haben natürlich
auch eine ausgesprochene legitimatorische Seite. Und da können sehr
schnell Zwickmühlen entstehen. Darauf muss man also achten, dass da
tatsächlich die Unabhängigkeit gewahrt wird.
Um jetzt noch einmal zurück auf Ihre Frage nach der Objektivität zu
kommen: Es gibt hier keine Objektivität in so einem Sinne, dass sie eine
irgendwie geartete Abbildung der Realität eins zu eins erreichen könnten. Das wäre naiv. Aber das erwarten wir ja auch in keinem anderen
Bereich. Wenn, dann geht es doch immer um methodisch kontrollierte
Annäherungen an einen Gegenstandsbereich. Es geht darum,
bestimmte Daten eben nicht beliebig, sondern in methodisch abgesicherten Verfahren als Grundlage einer Bewertung zu sammeln. Dazu
gehören neben der Expertise von Gutachtern auch Strukturinformationen, die man so ohne weiteres nicht generieren kann. Meines Erachtens
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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
sind Rankings, wenn es um Entscheidungen geht, nicht unbedingt
wesentlich. Denn der Informationsgehalt von Rankings ist de facto für
Prozesse innerhalb der Hochschulen und Einrichtungen oft nicht sehr
hoch. Sie richten sich in der Tat eher an diejenigen, die im System Richtungsentscheidungen treffen müssen. Dazu muss immer schon die Richtung klar sein. Bestimmte Profile, die man sich gibt, bestimmte Publikationsstrategien, die man fahren will, oder sonst irgendwas. Was mich
wundert, ist die Naivität, mit der einem Ranking oder auch anderen qualitativen Informationen sofort unterstellt wird, damit habe man nun die
Realität im Griff.
Ein Ranking darf in dem Sinne nicht als eine Abbildung der Realität
betrachtet werden. Ein Ranking stellt Material zur Verfügung, das man
in sinnvoller Weise nutzen sollte, um Einschätzungen und Urteile zu
korrigieren. Nicht die Spitzenplätze interessieren, sondern es sind die
vielen verschiedenen Puzzlestücke, die man heranziehen kann, um ein
Urteil zu fällen. Wichtig ist, dass diese Informationen auf methodisch
kontrollierte Art und Weise erhoben wurden, daher nachvollziehbar
und natürlich auch kritisierbar sind.
Jürgen Kaube:
Ich sehe eigentlich nur ein Problem: Die Verhältnisse an den Universitäten sind doch gar nicht so intransparent, wie Sie behaupten. Ein ganz normales Institut ist doch auch von seiner Größe her durchaus überschaubar.
Die wissen doch, wo ihre Leute publizieren.
© Anja Schindler
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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Frank Ziegele:
Wir untersuchen derzeit, wie jene Universitäten, die in der Exzellenzinitiative besonders erfolgreich waren, von den Studenten in der Lehre
bewertet werden. Nicht ganz uninteressant. Denn es gibt hier einige
Kandidaten, die im Hinblick auf den Forschungsbezug der Lehre sehr
viel schlechter wegkommen als viele Hochschulen, die nicht in der
Exzellenzinitiative sind.
Wenn mir ein Instrument ein solches Ergebnis liefert – wir sind zwar eine
tolle Hochschule und haben Millionen an Euro abgegriffen, aber die Studenten finden den Forschungsbezug der Lehre miserabel –, dann muss ich
mir Gedanken machen, woran das liegen könnte. Wenn Studenten die
Bibliothekssituation an einer Universität schlecht bewerten, dann kann
eine Universität ein gutes Bibliotheksprogramm auflegen, verlängerte
Öffnungszeiten, neue Anschaffungsprogramme etc. Das sind doch sehr
evidente Möglichkeiten, um auf Rankingergebnisse zu reagieren.
Das liegt doch auf der Hand, dass es hier um den verantwortlichen
Umgang mit jenen Informationen geht, die ein Ranking zur Verfügung
stellt. Darauf hat Herr Hornbostel ja schon hingewiesen.
Und hier sagen die Kritiker – zum Teil sicher zu Recht –, in der Realität
geschieht das aber nicht. Die Leute machen gar nichts mit der Information, sie halten das Ranking bereits für eine Entscheidung, ohne daraus
Konsequenzen zu ziehen. Natürlich kann man dann auf die Idee kommen, das alles sein zu lassen und statt auf Zahlen lieber wieder auf Reputation zu setzen. Allerdings finde ich zuverlässig gemessene Werte
immer noch eine bessere Entscheidungsgrundlage als Reputation – von
der keiner wirklich weiß, wie sie eigentlich zustande kommt. Deswegen
machen wir weiter unsere sehr komplexen Rankings, in der Hoffnung,
dass sie auf verantwortliche Art und Weise genutzt werden.
Alfred Kieser:
Sie können das machen, aber das einfache Ranking setzt sich immer
gegen das komplexe durch.
Frank Ziegele:
In Deutschland nicht.
Alfred Kieser:
Doch, doch, doch. Ich bin auch in der Wissenschaft. Ich kann das schon
beurteilen. Es gibt Fakultäten, da muss der Dekan aufpassen, dass sich
die Position der Fakultät im Ranking nicht verschiebt, weil er einen
genommen hat, der den Punktestand verschlechtert. Da muss er sich
rechtfertigen. Auch die Universitätsleitung, für die ist das alles trans64
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
parent, die versteht das alles. Sie kann sich in die Wissenschaft einmischen. Das macht diese Rankings so populär, aber auch so gefährlich.
Es ist auch kaum noch Gelegenheit – Herr Hornbostel, auch an Sie –, sich
auf eine verantwortungsvolle Interpretation zu besinnen. Sie werden
hinweggefegt. Da gibt es Berichte von amerikanischen Deans, die sagen,
ich habe gedacht, wir nehmen das nicht so ernst, das sind doch nur
Anhaltspunkte. Und dann bin ich Dekan geworden, und plötzlich war
das eine ganz harte Realität für mich. Und ich habe gesehen, was für
einen Käfig so ein Zahlensystem errichten kann. Ich finde, man muss
radikal damit aufhören.
Jürgen Kaube:
Nun, die Informationzurverfügungsteller verantworten natürlich diesen Käfig nicht. Und das Phänomen lässt sich ja nicht auf die Wissenschaft beschränken. Man lebt überall in diesem Zahlenrausch. Wir werden ständig mit Mindestbedarf und anderen Sollwerten konfrontiert.
Das versteht oft keiner (wissen Sie, was Ihnen fehlt, wenn Sie den Mindestbedarf an Vitamin C 12 verpassen?). Keiner weiß, was hinter den Zahlen steckt. Aber es prägt Kaufentscheidungen.
Und da könnte man auf die Idee kommen, von einem verantwortlichen
Umgang mit Zahlen zu sprechen. Es geht also nicht nur um den verantwortungsbewussten Umgang mit Zahlen und den Ergebnissen von
Rankings, es geht auch um ein verantwortungsbewusstes Zurverfügungstellen von Zahlen. Was ist die Aussagekraft eines Drittmittelförderrankings? Mir erschließt sich das nicht. Außer, dass es schön ist,
wenn jemand viel Geld hat – jedenfalls in manchen Disziplinen. In
anderen ist es total verheerend. Die geisteswissenschaftlichen Exzellenzcluster wissen ja gar nicht, wie sie das viele Geld ausgeben sollen.
Dagmar Stahlberg:
Nutzen und Nachfrage nach der Information ist ein Feld. Ich möchte
jetzt auf die Frage nach der Qualität der zur Verfügung gestellten Information zu sprechen kommen. Hier gibt es ja auch jede Menge Kritik
daran, was jeweils gemessen wird. Sie haben gerade das Drittmittelaufkommen erwähnt, vorhin wurde die Zahl der Promotionen als Forschungsindikator angesprochen, die Seitenzahlen der Publikationen
werden gezählt und so weiter. All diese Dinge sind ja im Einzelfall kritisierbar. Wie würden Sie darauf reagieren, wenn solche Fragen im
Raum stünden?
Stefan Hornbostel:
Sie haben natürlich völlig recht, natürlich kann man Drittmittelrankings nicht überall einsetzen. Es ist Unsinn, wenn man Juristen, die
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
65
nicht empirisch arbeiten, über Drittmittelrankings bewertet. Trotzdem
steckt in diesen Drittmittelrankings im Kern natürlich eine ganz wesentliche Information, die man durchaus nutzen kann, nämlich die Anerkennung innerhalb des Faches. Daher werden ja DFG-Mittel auch in der
Regel ganz besonders hoch bewertet, weil man davon ausgeht, dass hier
von der „scientific community“ kontrolliertes Geld verteilt wird. Dabei
geht es also nicht um die Euros, sondern es geht um die Tatsache, dass
man erfolgreich seine Peers überzeugen konnte.
Jürgen Kaube:
Aber selbst da, Herr Hornbostel, gilt doch der verantwortliche Umgang
mit Information. Sie können auch diese Drittmittelinformation ganz
verschieden interpretieren: Die einen sagen, ich bin akzeptiert, weil ich
gut bin, meine Kollegen achten mich und bewilligen meine Drittmittelanträge, weil sie meine Forschung schätzen. Und die anderen sehen die
Sache genau andersrum. Ich werde nicht akzeptiert, weil ich gut bin.
Meine Anträge werden deshalb nicht bewilligt, weil ich Forschung
betreibe, die eben nicht Mainstream ist und von der die Kollegen gar
keine Ahnung haben.
Das heißt, Sie produzieren eine Information, die am Ende entweder gar
nicht oder beliebig interpretierbar ist. Ist das Drittmittelaufkommen
hoch, weil ich Mainstream mache, wie Herr Kieser sagt?
Alfred Kieser:
Und überhaupt: Der angenommene Zusammenhang zwischen Drittmitteleinwerbung und dem Output, der trifft nicht zu – es gibt keinen
positiven Zusammenhang.
Jürgen Kaube:
Ja, das kommt noch dazu.
Stefan Hornbostel:
Wenn das so wäre, dann würden sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen sich in totaler Konfusion über jeden Standard befinden. Das ist
aber erkennbar nicht der Fall, und die Veränderung, etwa der Publikationsgepflogenheiten, finden doch nicht deshalb statt, weil es Rankings
gibt. Das liegt doch nicht an den Rankings.
Alfred Kieser:
Doch, doch. Es gibt mittlerweile Wissenschaftler, die schreiben nicht
mehr für die Community, sondern die schreiben für das Ranking.
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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Stefan Hornbostel:
Aber Herr Kieser, die Einführung der wissenschaftlichen Zeitschriften, die
Abkehr von der Monografie in den Naturwissenschaften hat doch nicht
stattgefunden, weil es Rankings gab. Rankings gab es damals noch nicht.
Alfred Kieser:
Aber in der Soziologie schon oder in der BWL.
Stefan Hornbostel:
Ja, das mag ja sein, da spielen sich andere Dinge ab, aber wir haben eine
hartnäckige Konsistenz der Monografie. Auch in den USA, wo der Druck
viel schlimmer ist, haben Sie nach wie vor ein Drittel des Outputs in den
Geisteswissenschaften und in den Sozialwissenschaften in Monografien, und das ist akzeptiert.
Alfred Kieser:
Und jetzt müssten Sie mal untersuchen, wie stark das zurückgegangen
ist.
Stefan Hornbostel:
Es ist nicht so dramatisch. Natürlich gibt es eine Umorientierung, aber
ich wäre da vorsichtig. Disziplinen verändern sich nun einmal.
Jürgen Kaube:
Selbst das ist doch keine Information. Das sehe ich vielleicht noch
anders als Herr Kieser und würde sagen, selbst die Zahl der Monografien
ist doch keine Information. Schreiben die viele oder wenige Monografien? Es kommt doch ganz darauf an, was die schreiben. Und wenn man
sagt, es kommt darauf an, dann appelliert man ja an einen informierten Beobachter, der aber im Vorfeld der Versuchsanordnung gar nicht
vorgesehen war. Denn dort stand von Anfang an jener Rezipient, der sich
nicht gut auskennt, der die zur Verfügung gestellten Zahlen sieht und
der die Entscheidung relativ schnell fällen muss. Denn sonst brauche
ich die Zahl ja gar nicht. Sonst würde er sagen, ich bin jetzt ein Spezialist für die Ungleichheitsforschung in der Bildung. Das machen außer
mir in Deutschland noch 30 andere oder so. Die kenne ich alle und mit
denen telefoniere ich permanent oder rezipiere ihre Arbeiten. Wir lesen
uns vielleicht sogar. Auch das gibt es, den Forscher der Forschung rezipiert. Der braucht die Zahlen gar nicht. Der will auch gar nicht beeindrucken.
Beeindrucken müssen die nur dann, wenn es in Berufungskommissionen
um Machtkämpfe geht. Und was dort am Ende übrig bleibt, sind Informationen wie, „Das war doch Tabellenplatz 7, und der hatte doch diese
Fantastillionen an Drittmitteln.“ Aber was sind das für bescheuerte Fra„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
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gen? Die Höhe der Drittmittel? In 90 Prozent der Fächer gibt die doch keinerlei Auskunft über die Qualität der Forschung. Gut, wenn jemand Batterien oder so erforscht, ist das okay. Das ist ja teuer. Aber einen Soziologen zu fragen, ob er Drittmittel beibringt, ist reine Rektoratslogik.
Dagmar Stahlberg:
Man kann sich über jedes einzelne Kriterium, jeden einzelnen Indikator streiten.
© Anja Schindler
Frank Ziegele:
Darf ich gleich was dazu sagen? Mein erster Punkt an dieser Stelle: Was
ich lustig finde, ist die Gespaltenheit Ihres Menschenbildes. Solange ich
mich in dem strukturellen Kontext der Wissenschaft bewege, bin ich
also der, der den Idealen nachhängt. Sobald ich aber zum Rektor
gewählt werde, hedoniere ich mich aufgrund der veränderten Strukturen zu einem mechanistischen Gebilde, das in mechanistischer Bezahlung reagiert.
Jürgen Kaube:
Das beruht auf empirischer Beobachtung. Das hat nichts mit dem Menschen zu tun.
Frank Ziegele:
Was aber aus meiner Sicht ein wichtiger Schlüssel ist, ist die Frage nach
der Messbarkeit, um eine bessere Lösung zu finden. Ein ganz wichtiger
Aspekt ist die Fachbezogenheit des Ganzen. Schauen Sie sich Evaluationen von Steuerungselementen an: Als positiver Aspekt wird meistens
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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
genannt, dass sie fachinterne Diskussionen über allgemeingültige Leistungskriterien in Gang setzten. Dann können sie sagen, in unserer
Fakultät, in unserem Fach, gemäß unserem Profil, wollen wir auf diese
Größe schauen. Die definiert kein Rektor von oben, sondern die definieren wir selbst. Ich glaube, das ist etwas, was wir in diesem System zu
wenig machen. Ein selbstkritischer Aspekt, den man hier heranziehen
sollte. Ich glaube, wir sollten mehr auf die Fachspezifika eingehen. Denn
das hat einen positiven Effekt, das vermindert diesen Verdrängungseffekt von intrinsischer Motivation.
Hat die Leistungsmessung den Charakter der Kontrolle von außen, dann
sinkt die Eigenmotivation. Wenn aber die Wissenschaftler das Gefühl
haben, sie sind selbst die Herren und Frauen des Verfahrens und können Leistungsgrößen nach ihrer Fachkultur definieren, können Eigenmotivation und externer Anreiz jedoch im Einklang stehen.
Alfred Kieser:
Es ist so, dass das System ein Eigenleben entfaltet. Die Politiker setzen
die Universitäten unter Druck, die Universitätsverwaltung setzt die
Dekane unter Druck. Man kommt da ganz schlecht raus. Man sagt zuweilen, ein System gegen Gauner produziert Gauner. So weit will ich in dem
Zusammenhang nicht gehen. Aber ein System gegen faule Professoren
produziert zwar keine faulen Professoren, aber auch keine brillierenden
Professoren. Die schauen, wie sie in dem System abschneiden, nicht ob
sie irgendetwas Sinnvolles für die Wissenschaft produzieren. Ihr Bild ist,
Entschuldigung, naiv, dass sich der Professor auf der universitären
Ebene oder in einer Berufungskommission über diese Systeme hinwegsetzt. Das gibt es nicht.
Publikumsfrage:
Sie haben jetzt vor allem über den Sinn von Rankings diskutiert. Mich
würde interessieren, warum überhaupt Rankings gemacht werden. Es
muss ja irgendein Interesse geben. Ihr Interesse, Herr Kaube, kann es ja
nicht sein. Vielleicht liegt es ja an Ihnen, dass die F.A.Z. kein Ranking
hat. Aber wenn ich mir das Handelsblatt-Ranking anschaue, dann wird
doch klar, dass das nicht von der Forschung betrieben wird. Da muss
man doch klar sagen, dass es um den Profit des Handelsblatts geht. Rankings dienen ja nicht nur dazu, irgendetwas zu objektivieren, sie sind
doch auch Mittel zum Zweck, zum Beispiel zum Zweck, die Verkaufszahlen einer Zeitung zu erhöhen.
Jürgen Kaube:
Da muss man sicherlich unterscheiden. Natürlich haben Massenmedien, zu denen ich auch uns, die F.A.Z. mit ihrer bescheidenen Abon-
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
69
nentenzahl, rechnen würde, eine Präferenz für Tabellen. Sie finden
Tabellen für alle Lebenszusammenhänge. Und warum? Weil sich Tabellen leicht ändern. Meine Formulierung ist immer: Die meisten Zahlen
sind ungleich. Ein Mathematiker würde mir zwar widersprechen, sozial
stimmt das. Und das macht Tabellen für Zeitungen so interessant. Tabellen simulieren Veränderung. Es tut sich ständig was. Das trifft ja auch
im Fußball zu. Es lässt sich nicht wirklich erklären, was genau da dran
sein soll: Tabelle rauf, Tabelle runter. Was sind das eigentlich für Informationen? Was bringt es mir zu wissen, dass Hoffenheim jetzt auf Platz
9 und eben noch auf Platz 11 war? Aber für die meisten ist das interessant, die mögen Tabellen.
Dann nehmen sie die PISA-Studie, diese Faszination einer von 99,9 Prozent unverstandenen statistischen Untersuchung. Was ist wichtig? Der
Tabellenplatz! Daher bete ich immer, dass bei uns in der Geschäftsführung sich niemand einfallen lässt, ein F.A.Z.-Hochschulranking zu
machen. Denn dann weiß ich nicht mehr genau, wo ich meine Texte zu
diesem Thema publizieren soll. Dann komme ich ja in ähnliche Konflikte wie Herr Hornbostel mit der DFG. Gelächter. Gut, ich sage, selbstverständlich sind die Redaktionen autonom.
Die andere Frage: Wer macht diese Rankings. Warum kommen diese
Zahlenberge auf? Die Standardantwort ist der Hinweis auf die Unübersichtlichkeit. Das ist ein Standardargument. Es heißt, wir leben in einer
viel komplexeren Welt als noch grade eben. Wenn Sie sich unbeliebt
machen wollen, müssen Sie nur sagen, wir leben in einer genauso einfachen Welt wie früher.
Aber da ist man sich einig, dass alles so wahnsinnig komplex geworden
ist. Ich sage, die Komplexität ist eine Begleiterscheinung des Wachstums.
Da wird oft ein bisschen unterschlagen, dass das System schon vor dem
Ranking auf das Wachstum reagiert hat, nämlich durch Spezialisierung. Niemand ist heutzutage noch Jurist oder Soziologe und behauptet, das ganze Gebiet beurteilen zu müssen. Eigentlich kennt man sich
nur auf einem viel spezielleren Gebiet sehr gut aus. Als Spezialist für den
späten Hofmannsthal kann ich gar nicht mehr beurteilen, was die Leute
machen, die den frühen Hofmannsthal erforschen. Also brauche ich
eine Zahl.
Ich halte das für Schwindelei.
Dagmar Stahlberg:
Aber die Frage war ja die nach der Instrumentalisierung dieser Rankings. Herr Kieser, Sie haben die These aufgestellt, dass Rankings jene
Wirklichkeit erst schaffen, die sie zu messen vorgeben. Jetzt könnte
man auch sagen, genau das ist auch so gewollt.
70
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Alfred Kieser:
Die Rankings, da sind wir uns ja alle einig, vereinfachen auf sträfliche
Weise die Wissenschaftslandschaft.
Dagmar Stahlberg:
Aber sie helfen bei Entscheidungen.
Alfred Kieser:
Sie helfen Entscheidungen zu fällen, weil man gar nicht mehr lesen
muss, was die Forscher geschrieben haben. Man schaut das Ranking an
und weiß sich auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Kandidat hat
die meisten Impact-Factor-Punkte. Den müssen wir nehmen. Da ist ganz
schwer dagegen zu argumentieren. Also, diese Rankings befreien die
Gutachter in Berufungskommissionen und in anderen Zusammenhängen von der Lektüre und der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen.
Deswegen sind sie auch so beliebt, weil man das Denken ersetzen kann
durch das Zitieren von Rankings.
Publikumsfrage:
Noch eine Nachfrage, jemand muss doch das Ranking machen. Und der
muss doch einen Grund dafür haben, dass er die macht.
Alfred Kieser:
Ja, Rankings gibt es im Fußball und in der Popmusik und weiß der Teufel wo. Das ist natürlich ein Renner. Man muss schon Angst haben, dass
die F.A.Z. auch mit einem Ranking kommt. Hoffentlich nicht. Die Studenten kaufen das, die Professoren kaufen das.
Jürgen Kaube:
Weil es unterhaltsam ist, würde ich sagen.
Alfred Kieser:
Man kann sich, wie Herr Kaube richtig sagt, damit unterhalten, wie viel
man sich verbessert hat, wie die eigene Universität abgesunken oder aufgestiegen ist. Das ist eine spannende Lektüre. Wir haben alle unsere Zahlen im Kopf und die werden diskutiert. Die Pressestellen in den Universitäten treten das noch breiter, als es schon ist. Das ist gefundenes Fressen. Keine Frage.
Publikumsfrage:
Ich bin Student. Bevor ich studiert habe, was habe ich gemacht? Ich habe
mir natürlich die Rankings angeschaut. Habe alle Informationen angeschaut, bin genommen worden und habe mich wahnsinnig gefreut, weil
ich gedacht habe, ich bin am richtigen Platz. Was ist passiert? Es ist
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
71
natürlich nicht alles so rosig, wie es schien. Ich hätte manche Entscheidung anders getroffen, hätte ich auch noch andere Informationen
gehabt. Daran schließt sich eben auch meine Frage an:
Woher wissen Sie, was Studenten wissen müssen?
Frank Ziegele:
Das war an mich gerichtet! Ich gehe noch einmal einen Schritt zurück,
bevor ich Ihre Frage beantworte, und komme noch mal auf die Frage
nach der Motivation.
Ich kann Ihnen sagen, warum wir das machen. Das CHE ist eine gemeinnützige Einrichtung und hat irgendwann einmal ein Leitbild
geschaffen, das die Idee hat, das Hochschulsystem in Deutschland zu
verändern. Das kann man ja nachlesen. Ein wichtiger Teil dieses Leitbildes ist die Idee des Wettbewerbs. Also für Studierende die Idee, dass
man nicht automatisch dahin geht, wo Mutti wohnt und wo man zu
Hause bleiben kann, sondern dass man sich mal in der Republik
umschaut und Informationen kriegt, wo auch etwas anderes passiert.
Die Pension Mutti erhält Konkurrenz. Deswegen sind es heute nur noch
70 Prozent, früher waren es 90 Prozent oder so, die sozusagen „von zu
Hause aus“ studieren.
Ein zweites wesentliches Ziel ist das der gesellschaftlichen Teilhabe.
Viele Leute, die sich für das Studieren interessieren beziehungsweise
interessieren sollten, haben eben keine Eltern, die danach fragen könnten, was eine Hochschule auszeichnet. Sie sind also nicht Teil dieses
selbstreferentiellen Systems, in denen Akademiker sich selbst reproduzieren. Die Idee ist also, das Ganze zu öffnen. Das ist erst einmal die Zielsetzung.
Sekundäre Zielsetzung ist natürlich auch, die Arbeitsplätze für meine
Mitarbeiter zu halten und das Ding nicht den Bach runtergehen zu lassen, solange wir davon überzeugt sind, etwas Sinnvolles zu machen.
Alfred Kieser:
Aber seine Frage war doch, woher Sie wissen, was einer, der studieren
will, wissen muss? Eigentlich hat er gesagt, hätte ich kein Ranking
gehabt, hätte ich mich selber darum gekümmert und wäre damit vielleicht besser rausgekommen.
Frank Ziegele:
Wir versuchen auch, vielleicht sind wir da noch nicht perfekt, mit dem
ganzen Ranking Handlungsanweisungen mitzugeben. Wenn Sie in das
Heft reingucken, finden Sie seitenweise Erläuterungen: Wie entscheide
ich mich für ein Studium? Und da steht auch drin: Guck nicht nur auf
72
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
das Ranking! Sondern mach dies oder das. Vielleicht bin ich da auch
naiv, wie Herr Kieser schon meinte. Aber ich meine immer noch, man
muss es versuchen, den Informationsfluss in die richtige Richtung zu
lenken. Man kann nicht sagen, wir überlassen das alles sich selbst.
Stefan Hornbostel:
Ich weiß ja nicht, wie Sie jetzt wissen, dass Sie sich falsch entschieden
haben? Diese Information muss ja auch irgendwie generiert worden
sein. Aber was die Interessen hinter den Machern von Ranking betrifft,
kann man zweierlei Dinge sagen. Sie sind, das gilt seit dem ersten, 1989
im Spiegel veröffentlichten Hochschulranking, stark verbunden mit USamerikanischen Vorstellungen. Es geht darum, einer ganz bestimmten
Gruppe im Marktgeschehen, den Studenten nämlich, eine Stimme zu
geben.
© Anja Schindler
Das war die erste Intention. Und das Medieninteresse ist relativ klar.
Junge Akademiker sind nun mal eine wichtige Zielgruppe der Medien.
Das hat etwas damit zu tun, dass man die Werbung loswerden muss. Es
geht nicht um das inhaltliche Interesse, das eine oder andere zu beeinflussen. Sie können bei allen Printmedien, und bei anderen auch, den
Versuch erkennen, an die Zielgruppe Jungakademiker heranzukommen. Die muss man irgendwie einfangen, und das Hochschulranking ist
ein Weg, das zu tun. Der Spiegel hat das zweimal wiederholt, hat aber
dann diese Art des Rankings wieder eingestellt. Vermutlich, weil sich das
dann schnell wieder abnutzt.
Dagmar Stahlberg:
Ich würde die verbleibenden Wortmeldungen jetzt sammeln, die Zeit
läuft uns davon. Und das Podium soll dann mit einem abschließenden
Statement schließen.
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
73
Publikumsfrage:
Die Welt braucht Orientierungswissen. Und die Frage ist, ob wir da wirklich ohne Zahlen auskommen können, oder sagen wir, ohne zumindest
den Versuch, einigermaßen objektive Entscheidungsgrundlagen zu bieten. Kann sich die Wissenschaft die von Ihnen vorgeschlagene Alternative der Reputation wirklich leisten? Ist es wirklich erstrebenswert, die
Wissenschaft statt über Kennzahlen, über Päpste – egal ob die nun Luhmann oder Beck heißen – steuern zu wollen?
Publikumsfrage:
Die Ratingagenturen in der Finanzwelt sind ja ähnlich problematisch
wie die in der Wissenschaft, und auch da sieht man, dass es sehr schwer
ist, eine Entscheidung gegen einen Listenplatz durchzusetzen.
Publikumsfrage:
Bietet nicht Google Scholar ohnehin jede Menge Informationen über die
Leistungen der Wissenschaftler? Man kann sich doch da ohnehin bedienen und da kann ja jeder seine eigenen Leistungen reinschreiben.
Abschlussstatements
Jürgen Kaube:
Die Welt will uns suggerieren, dass wir das alles beurteilen können wie
eine Maschine, wie – ich weiß nicht –, wie eine Pizza oder so, dass man
sagt, okay, wie viele Kalorien ziehen wir uns jetzt rein. So ist das eben.
Sie würden Ihre Freundin bestimmt nicht nach einem Ranking aussuchen! Gelächter.
Stefan Hornbostel:
Danke für den Hinweis auf die Ratingagenturen. Das passt in der Tat. So
wissenschaftlich, wie Sie es dargestellt haben, arbeiten die nicht. Und
man weiß ja, dass fast alle großen Crashs und Finanzfälschungen von
den großen Agenturen übersehen wurden. Aber es brachte etwas anderes, nämlich dass bei fast allen großen Akteuren, den Banken und Unternehmen etc., zunehmend eigene Kompetenzen aufgebaut worden sind.
Das ist eine wichtige Folge.
Übertragen auf die Wissenschaftssituation bedeutet das, dass es nicht
darum geht, Ratings abzuschaffen, sondern darum, die Entwicklung
von Kompetenzen im Umgang mit komplexen Informationen zu fördern.
Mein letzter Punkt bezieht sich auf den Hinweis auf Google Scholar. Die
Rankings sind überhaupt nicht das Problem! Auch nicht, was die Ver-
74
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
haltenssteuerung betrifft. Die Internetseite Google Scholar liefert da ein
schönes Beispiel. Die Seite zeigt, dass sie Informationen von selbst verbreitet und genutzt wird. Und was da verbreitet wird, wollen Sie gar
nicht wissen. Das ist ein Netz von handgestrickten Fakten und Informationen, für deren Beurteilung es keinerlei Kriterien gibt. Da haben Sie
keine Basis, das ist methodisch nicht mehr kontrollierbar. Da weiß keiner, wie die hier bereitgestellten Informationen zustande kommen, was
berechnet wird, wie es berechnet wird oder von wem. So entsteht ein
Nutzerverhalten, das sich jeder Steuerung entzieht und über jeden
geschulten Umgang erhaben ist.
Es gibt also offensichtlich einen Bedarf nach dieser Art Information und
wir sollten nicht darauf verzichten, diesen Bedarf mit zuverlässigen
Daten zu bedienen, durch Information, die auf nachvollziehbare,
methodisch abgesicherte Art und Weise gewonnen wurde.
Frank Ziegele:
Ich darf Ihnen zum Abschluss noch einen Einblick in den Alltag des „Ranking-Produzenten“ geben. Wir haben ja verschiedene Formen der Aufbereitung des Hochschul-Rankings. Wir haben die Listen mit den fünf
Plätzen und wir haben die Liste mit den 34 Indikatoren. Was machen die
Leute im Internet? – Unterstützung der Kieser’schen These – die gucken
alle nur die fünf Kriterien an und gehen nicht auf die 34. Wir verzeichnen ganz wenige Zugriffszahlen in den differenzierenden Kategorien.
Was haben wir jetzt versucht? Wir haben lang überlegt, wie kriegen wir
die Leute dazu, differenziertere Daten abzufragen, weil wir glauben, das
ist der richtige Punkt, wo man Rankings hintreiben muss: ein hohes
Angebot an Information und komplexe Suchmechanismen für die Auswertung.
Seit dem letzten Ranking haben wir diese Grafik mit der Zielscheibe eingebaut – wo man die einzelnen 34 Kriterien anklicken kann. Je nachdem, welche man anklickt, schießen die Hochschulen rein oder raus. Ich
glaube, das ist didaktisch und methodisch ein wichtiges Instrument,
weil wir die Leute darauf hinweisen, dass dieses Ranking ein relatives
Konzept ist, je nachdem, was man auswählt. Das ist ein Anstoß, grafisch
illustriert, über die Kriterien nachzudenken, so wollen wir den Studenten auffordern, überleg dir mal, was du eigentlich wichtig findest. Die
Kunst ist die Aufbereitung der Geschichte, Entscheidungsprozesse
durch handhabbare Werkzeuge zu unterstützten.
Ich bin mit Ihnen der Überzeugung, dass es einen großen Fehler in diesem ganzen Geschäft gibt: das Reduzieren auf eine Kennzahl. Solche
Rankings machen keinen Sinn. Ein Ranking kann nur mehrdimensional arbeiten. Das ist eine Grundanforderung.
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
75
Wo wir uns überraschenderweise mit Herrn Kaube einig wurden, dass
man allein aufgrund einer Zahl gar nichts sagen kann. Zahlen sind interpretierbar, sie müssen interpretiert werden – da stimme ich zu. Ich versuche, in meinem naiven Glauben, dass man es hinkriegt, weiter an der
Optimierung der Systeme zu arbeiten. Herr Kaube sagt, das gehe nicht.
Alfred Kieser:
Ich glaube, es ist klargeworden, warum man Rankings so schätzt. Man
schätzt sie, weil sie vereinfachen und legitimieren. Der Vorstand kann
sagen, ich habe den Besten genommen, weil er von der Universität mit
dem besten Ranking kommt, und so werden Entscheidungen schwer
angreifbar. Das ist eine Funktion, die Rankings erfüllen. Aber sie erfüllen sie schlecht. Sie sind trügerisch. Sie geben eine Sicherheit, die eigentlich keine ist.
Ich glaube auch nicht, dass man sagen kann, der intelligente Umgang
mit Rankings wird besser und deswegen seien Rankings nicht mehr
gefährlich.
Ich denke, man sollte aufhören, von unserer Seite aus die Hoffnung zu
schüren, dass Rankings eine einfache, gleichwohl zutreffende Sicht,
einen einfachen, gleichwohl zutreffenden Blick in die Universität und
auf die Universitätspolitik gestatten.
76
„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“
Abbildung 11: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Brodgelehrte
Abbildung 12: Kunstkreditkarte: Philosophische Köpfe
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
Vertrauen in Leistungskennziffern und Ranglisten in der
Wissenschaft macht naiv1
Alfred Kieser
In seiner Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert
man Universalgeschichte?“, 1789 an der Universität Jena, unterschied
Friedrich Schiller zwei Typen von Gelehrten: den „Brodgelehrten“ und
den „philosophischen Kopf“. Nur Letzterer forsche um der Erkenntnis
willen. Richard Feynman, der amerikanische Physik-Nobelpreisträger,
bringt die Motivation des Wissenschaftlers prosaischer auf den Punkt:
„Science is like sex. Sure, it may give some practical results, but that’s
not why we do it.“ Es ist vor allem die Tätigkeit und erst in zweiter Linie
der Erfolg, die den Forscher motiviert. Denn Erfolg in der Forschung ist
höchst unsicher. Die meisten Wissenschaftler machen nie sensationelle
Entdeckungen, veröffentlichen nie Aufsätze in absoluten Spitzenzeitschriften, schreiben nie Bücher, die Furore machen, und werden nicht
zum Hauptvortrag bei internationalen Konferenzen geladen. Nur
wenige heimsen Ruhm ein.
Wie aber wird Leistung in der Wissenschaft gemessen? Welche wissenschaftliche Leistung ist höher einzustufen: die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming oder die These Max Webers vom Protestantismus als Beförderer des Kapitalismus? Diese Frage ist schlicht
unsinnig. Ebenso unsinnig ist die, ob ein Aufsatz im „Journal of Marketing“ höher zu gewichten sei als ein Aufsatz im „Journal of Finance“.
Selbst innerhalb eines Fachs erweisen sich Forschungsleistungen oft als
unvergleichbar. Diese Unmöglichkeit, sie in eine Rangfolge zu bringen,
ist häufig die Ursache mühseligen Ringens in Berufungskommissionen.
Subjektive Einschätzungen sind unvermeidlich.
Objektivierungsbemühungen
In solchen Situationen greift man gerne auf quantitative Kriterien
zurück, indem man etwa darauf hinweist, dass der eine Kandidat eine
umfangreichere Veröffentlichungsliste vorzuweisen hat als der andere.
Häufig wird auch argumentiert, dass, wenn die Aufsätze der einen Kandidatin mit dem wissenschaftlichen Rang der jeweiligen Zeitschriften
gewichtet werden, sie klar höher einzustufen ist als die anderen Bewerber.
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
79
Wenn der wissenschaftliche Rang einer Zeitschrift einfach behauptet
wird, haftet einer solchen Argumentation jedoch immer noch eine subjektive Tönung an. Dieser Eindruck verschwindet jedoch aus der Diskussion, wenn alle Vertreter eines Fachs um eine Einschätzung der
Bedeutung der wissenschaftlichen Zeitschriften gebeten und diese Einschätzungen dann gemittelt werden. Das Kunststück einer noch weiter
gehenden „Objektivierung“ hat Eugene Garfield mit seinen Impact Factor geschafft. Dieser Indikator zur Gewichtung des wissenschaftlichen
Einflusses von Zeitschriften wird heute von Thomson Science, einer
Division der Agentur Reuters, für eine große Zahl ausgewählter Zeitschriften verschiedener Disziplinen ermittelt und in einer Datenbank
gegen Entgelt zur Verfügung gestellt: Wissenschaftsbewertung ist Big
Business.
Unsinnige Vergleiche
Der Impact Factor beruht auf der Annahme, dass Wissenschaftler Werke
anderer Wissenschaftler vor allem deshalb zitieren, weil sie auf deren
Ergebnissen aufbauen. Eine Zeitschrift, deren Aufsätze häufiger zitiert
werden, würde dann einen höher zu bewertenden Beitrag zur Wissenschaft leisten und könnte eine höhere Qualität beanspruchen als eine
Zeitschrift, auf deren Aufsätze Wissenschaftler weniger häufig zugreifen. Die Forschungsleistung eines Wissenschaftlers kann dann als
Summe seiner mit den jeweiligen Impact Factors gewichteten Veröffentlichungen erfasst werden. Auf dieser Basis kann man dann auch ein
Ranking von Wissenschaftlern erstellen und die Position einer ganzen
Fakultät für ein Fakultäten-Ranking aus den Rangplätzen der in ihr tätigen Wissenschaftler aggregieren. So geht das Handelsblatt bei der
Ermittlung des Rankings deutschsprachiger BWL-Professoren vor. Es
werden allerdings nicht nur die Impact Factors betriebswirtschaftlich
relevanter Zeitschriften des Social Science Citation Index (SSCI) und des
Science Citation Index (SCI) berücksichtigt, sondern auch noch das Ranking des Erasmus Research Institute of Management, Rotterdam, sowie
das über eine Befragung aller Mitglieder ermittelte Ranking des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, in dem deutschsprachige Zeitschriften stärker berücksichtigt sind.
Die ersten beiden Plätze des Handelsblatt-Rankings für Betriebswirtschaftslehre werden von zwei Professoren der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Mannheimer Universität belegt. Das ist aus Sicht
eines Mannheimer Universitätsangehörigen sehr erfreulich, aber es ist
gleichwohl unsinnig. Dass beide in ihren Fächern international hochrenommierte Wissenschaftler sind, kann einem jeder Insider versichern. Was die beiden jedoch forschen und was sie veröffentlichen, ist
80
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
nicht vergleichbar und nicht in eine Rangfolge zu bringen. Der eine
forscht zu Marketing, der andere zu Banken und Finanzierung. Die Feststellung, dass der eine Nummer eins und damit besser als die Nummer
zwei ist, wäre so sinnvoll wie die, dass Tiger Woods im Vergleich mit
Roger Federer der bessere Sportler ist.
Marktgerechte Forschung
Wenn aber Rankings von Wissenschaftlern unsinnig sind, dann auch
auf ihnen aufbauende Rankings von Fakultäten und Universitäten. Trotz
ihrer Absurdität sind Rankings von Wissenschaftlern und Wissenschaftsinstitutionen ungemein populär. Viele Berufungskommissionen,
Dekane und Universitätspräsidenten richten ihre Entscheidungen nach
ihnen aus. Ihre Popularität gründet sich vor allem darauf, dass sie den
Prozess der Bewertung abkürzen. Man multipliziert einfach die Aufsätze
der Bewerber mit den zugehörigen Impact Factors und addiert die so
ermittelten Punkte. Dazu muss man nicht einmal ein Angehöriger des
betreffenden Fachs, ja nicht einmal Wissenschaftler sein. Wissenschaftler sind darum gut beraten, eine Art von Forschung zu betreiben,
die sich zu Aufsätzen verarbeiten lässt, die mit großer Wahrscheinlichkeit von hoch gerankten Zeitschriften zur Veröffentlichung angenommen werden.
Wie das Top-Management eines diversifizierten Unternehmens weiß,
welche Gewinnbeiträge die einzelnen Geschäftsbereiche bringen, wissen nun die Dekane und die Universitätsspitze, welche Fakultäten und
Institute „gut am Markt ankommende“ Forschung generieren, und richten ihre Entscheidungen zur Mittelausstattung oder zu Stellenbesetzungen danach aus. Die Strategie der ökonomisierten Universität zielt
darauf ab, in ein optimales „Portfolio der Forschungswertschöpfung“ zu
investieren. Diese Strategie determiniert in einem hohen Maße die
Arbeit der Wissenschaftler. Von ihnen wird erwartet zu forschen, was
ihnen, ihrer Fakultät und ihrer Universität Ranking-Punkte bringt,
nicht aber, was sie selbst als die Wissenschaft vorantreibende Projekte
ansehen.
Allerdings weisen Impact Factors einige empfindliche Begrenztheiten
auf. 1. Es werden nur Veröffentlichungen in bestimmten Zeitschriften
berücksichtigt. Dies sind fast nur englischsprachige, vorwiegend amerikanische Zeitschriften. 2. Buchveröffentlichungen und Beiträge in
Sammelbänden werden nicht berücksichtigt. 3. Es werden auch nur
Zitierungen berücksichtigt, die innerhalb von zwei Jahren nach der
Publikation erfolgen. Zeitschriften zu Spezialgebieten, die in der Regel
eine geringere Zirkulation aufweisen, werden benachteiligt.
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
81
Vor allem aber ist es mehr als fraglich, ob Zitierungen vorwiegend Anerkennung für die Übernahme wichtiger Ergebnisse anderer Forscher in
die Forschung der sie Zitierenden zum Ausdruck bringen. Ein Forscher
zitiert einen anderen Forscher nicht nur, wenn er dessen Ergebnisse
übernimmt, sondern auch, wenn er ihn kritisiert, sich seiner Schule
zuordnet, sich von ihm abgrenzt, durch Belesenheit zu beeindrucken
versucht. Gerne zitiert er diejenigen, die generell häufig zitiert werden,
denn das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst zitiert wird.
Erstaunlich ist nun, dass sich in Zeitschriften mit einem hohen Impact
Factor Aufsätze finden, die nicht oder kaum zitiert werden. Dies lässt fragen, ob das System der Begutachtung von Aufsätzen so funktioniert,
dass tatsächlich die besten in die renommiertesten Journale kommen.
Fragwürdige Gutachterverfahren
Schon die für renommierte Zeitschriften typischen Ablehnungsquoten
von mehr als 90 Prozent der eingereichten Aufsätze lassen Zweifel aufkommen. Ein Großteil der eingehenden Manuskripte wird nämlich vom
Haupt- oder Mitherausgeber nach erster Durchsicht in einem „desk
reject“-Verfahren“ abgelehnt. Man darf eine nicht geringe Irrtumswahrscheinlichkeit dieser ersten, notgedrungen nicht ganz so gründlichen Siebung annehmen. Zu einer ausführlichen Beurteilung der Aufsätze, die diese Hürde nehmen, wählt der Herausgeber in der Regel
zwei, mitunter auch drei oder vier Gutachter aus. Diese empfehlen
Ablehnung oder Annahme des Manuskripts. Die Übereinstimmung zwischen Gutachterurteilen zu eingereichten Zeitschriftenaufsätzen ist
extrem gering, was manche Autoren zu dem Schluss gelangen lässt, man
könne die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Manuskripts auch dem Wurf eines Würfels anvertrauen.
Auch korrelieren, wie die Forschung belegt hat, Urteile von Gutachtern
über die Qualität eines Manuskriptes nur schwach mit den späteren
Zitierungen. Folgerichtig stellte der amerikanische Supreme Court
unlängst fest, dass von dem Umstand, dass Peer Reviews durchgeführt
werden, nicht auf die Qualität der Inhalte wissenschaftlicher Zeitschriften geschlossen werden könne. Besonders aufschlussreich ist eine
Studie von Peters und Ceci. Sie wählten aus zwölf angesehenen psychologischen Zeitschriften je einen Artikel der letzten Jahre aus und änderten deren Autoren- und Institutionennamen vom Hochreputierten ins
Namenlose. Auch die Titel, Abstracts und Einleitungsabschnitte veränderten sie. Dann reichten sie den sonst unveränderten Aufsatz bei der
gleichen Zeitschrift ein, die ihn bereits publiziert hatte. Das Ergebnis:
Nur drei der zwölf Manuskripte wurden als schon publiziert erkannt,
und acht der neun übrigen wurden nun abgelehnt.
82
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
In dem Experiment von Peters und Ceci hat sicher eine Rolle gespielt,
dass die Autorenbezeichnungen ins „Namenlose“ geändert wurden.
Die Autoren der echten Einreichungen waren ausnahmslos recht
bekannt. Bei in der Community bekannten Autoren aber geben sich
die Herausgeber Mühe, Gutachter zu finden, die die gleichen Ansätze
schätzen wie die Autoren, und sie entscheiden sich bei widersprüchlichen Gutachten eher für eine Annahme. Neben einer Vorliebe für
bestimmte Theorien und Methoden haben Gutachter noch andere Vorurteile. Sie sind vor allem konservativ, weil sie Karriere machen wollen: vom Gutachter zum Mit- und Hauptherausgeber und zum Herausgeber noch bedeutenderer Zeitschriften, und deshalb meiden sie
das Risiko, einen Aufsatz zur Annahme zu empfehlen, bei dem damit
zu rechnen ist, dass er in der Scientific Community auf Ablehnung
stößt. Man muss als Autor also nicht nur einen guten Aufsatz schreiben, man muss vor allem das Glück haben, dass der Herausgeber nicht
nur einen, sondern zwei oder drei Gutachter auswählt, bei denen der
eingereichte Aufsatz nicht Missgunst, Hochmut oder Dogmatismus
weckt und die eine gewisse Sympathie für den gewählten theoretischen Ansatz haben. Nicht zuletzt wegen des äußerst schwachen
Zusammenhangs zwischen Gutachterurteilen und Zitierungen eines
Aufsatzes ist der Impact Factor ein schlechter Indikator der Qualität;
um wie viel schlechter die Addition der mit ihm gewichteten Aufsätze
eines Autors.
Das Ranking als sich selbst erfüllende Prophezeiung
Das größte Problem von Rankingsystemen ist aber, dass sie das Verhalten derjenigen, die von ihnen betroffen sind, beeinflussen. Im sehr
populären Handelsblatt-Ranking für Betriebswirtschaftsprofessoren
sind die 200 erfolgreichsten Professoren aus deutschsprachigen Ländern gelistet. Unter diesen finden sich keine Professoren, die ihre Forschungsergebnisse vorwiegend in Monografien veröffentlichen,
mögen diese auch noch so einflussreich sein. Es werden nämlich auch
im Handelsblatt-Ranking nur Zeitschriftenveröffentlichungen berücksichtigt. Die Folge ist, dass Wissenschaftler weniger Monografien
schreiben, was ich persönlich sehr bedauerlich finde, denn als Student
habe ich vor allem aus Monografien gelernt. Für deutschsprachige
Zeitschriften schreiben sie, weil das keine oder nur wenige Punkte
bringt, höchstens noch Zweitaufgüsse ihrer englischsprachigen Veröffentlichungen oder Zweitrangiges. Schlechter gerankte Wissenschaftler oder Institutionen verlieren Ansehen bei Studierenden, Politikern und Hochschuladministratoren. Sie erleiden Einbußen bei der
Ressourcenausstattung, ihre Rankingposition verschlechtert sich
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
83
eventuell weiter. Rankings wirken dann wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen.
Außerdem verleitet das System zu Tricksereien. Wissenschaftler zitieren
etwa ihre eigenen Schriften noch häufiger als bisher. Auch zitieren sie
mit Vorliebe Aufsätze, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor erschienen sind. Das verleiht ihren eigenen Aufsätzen Bedeutung.
Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor haben also nicht nur deswegen ein hohes Prestige, weil sie häufig zitiert werden, sie werden auch
häufig zitiert, weil sie ein hohes Prestige aufweisen. Mit dem Versprechen, dass sie den Großteil der Arbeit übernehmen, veranlassen weniger berühmte Wissenschaftler berühmtere Kollegen zu gemeinsamen
Veröffentlichungen. Das erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der
Annahme des resultierenden Manuskripts zur Veröffentlichung – für
den Herausgeber sind die Autoren nicht anonym –, sondern auch später die des Zitiertwerdens. Wenn man früher einen Bewerber für eine
Professur fragte, was seine Forschungsinteressen seien, erhielt man Antworten der folgenden Art: „Mich interessiert, wie Arbeitsgruppen funktionieren“ oder „Ich erforsche, ob Anreize die Leistung erhöhen“. Heute
sagt er: „Ich will in A-Journals veröffentlichen.“
Und er weiß auch, was er dazu tun muss: eine Thematik, eine Theorie
und eine Methode wählen, die im Schwange sind. Mit anderen Worten
macht er genau das, was sich in der jüngeren Vergangenheit bewährt
hat, halt ein bisschen anders. Am besten er wiederholt eine Untersuchung mit einer etwas leistungsfähigeren Methode. Fortschritte in der
Methodik sind leichter festzustellen als Fortschritte bei den Ergebnissen.
Wenn nämlich Wissenschaftler wirklich neue Befunde mitteilen, riskieren sie, dass die Gutachter ihren Aufsatz nicht mit ihnen bekannten
Erkenntnissen in Verbindung bringen können und ihn ablehnen. Wenn
es der Autor nicht schon von sich aus gründlich genug macht, dann sorgen Gutachter und Herausgeber dafür, dass ein eingereichter Aufsatz zu
einem Mainstream-Aufsatz wird. Um die Gutachter bloß nicht zu vergraulen und keine negative Entscheidung zu provozieren, machen die
Autoren alles, was die Gutachter vorschlagen, auch wenn sie den Eindruck haben, dass dadurch ihr Aufsatz eher schlechter als besser wird.
Zu Recht spricht Bruno Frey daher von der „Prostitution der Veröffentlichung“.
Wissenschaftler auf dem Trampelpfad
Und Wissenschaftler versuchen, aus ihren Forschungsprojekten so viele
Aufsätze wie möglich zu pressen. Das geht so ähnlich wie bei den Kombinationsbilderbüchern, bei denen man mit jeweils einigen Streifen
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„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
verschiedener Hüte, Gesichter, Bäuche und Beine ganz viele lustige Figuren erzeugen kann. Mit dieser Methode bringt es ein Betriebswirt
Anfang 30 auf 36 internationale Veröffentlichungen in drei Jahren. Herausgeber und Verlage tricksen ebenfalls: Sie drängen Autoren, möglichst viele Aufsätze zu zitieren, die in ihrer Zeitschrift erschienen sind:
„We have noticed that you cite ,Leukemia‘ only once in 42 references.
Consequently, we kindly ask you to add references of articles published
in ,Leukemia‘ to your present article.“ Fakultäten und Universitäten
beteiligen sich an den Tricksereien. So drängen Dekane und Präsidenten Wissenschaftler ihrer Institutionen, in Zeitschriften zu veröffentlichen, die populären Rankings wie dem der „Financial Times“ zugrunde
liegen. Sie stellen gerne Bewerber ein – auch temporär als Gastwissenschaftler –, die in „high impact“-Zeitschriften veröffentlichen und viele
Zitierungen versprechen, um dadurch den Rangplatz ihrer Institutionen zu verbessern. So schaffen Rankings Wirklichkeit. Sie stellen nicht
Transparenz auf einem bereits existierenden „Markt“ her, vielmehr
generieren sie einen Pseudomarkt. Profilbildung nach Maßgabe der
Rankings heißt nicht, ein anderes Profil auszubilden als konkurrierende Fakultäten, sondern das gleiche Profil mit größerer Perfektion
anzustreben: so zu werden wie erfolgreiche Konkurrenten, diese aber in
ihrem „Sosein“ noch zu übertreffen.
Akteure des Systems sind Herausgeber, Gutachter und Universitätsleitungen, die alle danach streben, dass ihre Rankingpositionen sich verbessern. Und weil sie alle karriererelevante Entscheidungen fällen, wollen die Wissenschaftler genau die Punkte erringen, die im System angerechnet werden. Sie gehen nicht mehr Forschungsfragen nach, die sie
im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn für wichtig erachten, sie sammeln Punkte für Ranglisten. Sie begeben sich nicht mehr auf wissenschaftliche Entdeckungsreisen, sondern folgen den in Rankings ausgeflaggten Trampelpfaden. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“.
Fußnoten
1 Erstmals abgedruckt unter der Überschrift „Die Tonnenideologie der Forschung“, in
der F.A.Z. am 11.6.2010.
„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“
85
Abbildung 13: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Monsterstuhl
Abbildung 14: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Schwanensee
„Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt,
er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“
Die Börse als Spiegel des wahren Lebens: Aktienkurse und
Aktienrenditen1
Markus Glaser und Martin Weber
In diesem Beitrag erwartet Sie eine Vielzahl von Beispielen und Erkenntnissen aus
der Statistik, die belegen, dass die Kursverläufe und Renditen individueller Aktien
ebenso wie von Aktienindizes dem Zufall unterliegen. Außerdem werden psychologische Konzepte vorgestellt, die erklären, warum wir Menschen die Zufälligkeit der
Börse nur allzu ungern akzeptieren wollen.
Die Argumentation des Börsenjournalisten im Fernsehen ist einleuchtend: Der Ölpreis hat im Laufe des Tages einen neuen, einmaligen
Höhepunkt erreicht. Das scheint schlecht zu sein für deutsche Autoaktien, die am gleichen Tag stark im Kurs gefallen sind. Die Erklärung:
„Immer weniger Menschen leisten sich Autos, da Autofahren einfach
zu teuer wird.“ Der Kursverlauf von Aktien scheint verblüffend einfach
vorhersagbar. Oder etwa doch nicht? Was sagte nochmal ein anderer
Wirtschaftsjournalist vor einigen Tagen, als der Ölpreis ebenfalls stark
angestiegen war? „Davon profitieren insbesondere deutsche Autobauer, denn sie sind der Konkurrenz beim Bau des Drei-Liter-Autos weit
voraus. Dies erklärt die positive Kursentwicklung der deutschen Autoaktien.“
Führt ein steigender Ölpreis nun zu steigenden oder fallenden Kursen
bei den Aktien deutscher Automobilbauer? Vielleicht war eines der
Beispiele nur ein Ausreißer! Vielleicht gilt ja der alte Spruch: „Ausnahmen bestätigen die Regel“, werden Sie denken. Warten wir doch
einfach den nächsten Tag ab. Wieder steigt der Ölpreis. Das nächste
absolute Hoch. Wie verhalten sich die Kurse der Autoaktien? Ein Blick
auf die Internetseite der Deutschen Börse AG zeigt es: Die Aktienkurse
von BMW, DaimlerChrysler und VW sind am Morgen leicht gestiegen
und haben dann über den Nachmittag fast exakt wieder ihr Ausgangsniveau erreicht. Wie kann das sein? Der Ölpreis beeinflusst doch
die Autoaktien! Vertrauen wir doch einmal wieder auf die Erklärung
des Börsenexperten im Fernsehen. Der sagt: „Wieder ist der Ölpreis
stark gestiegen, aber diesmal hat dies keinen Einfluss auf die DaxWerte BMW, DaimlerChrysler und VW. Denn die hohen Ölpreise sind
schon in den Kursen berücksichtigt. Sie wurden in den vergangenen
Wochen ‚eingepreist‘.“ Wie reagieren nun Autoaktien auf die Ölpreis„Vertrauen Sie niemandem ...“
87
entwicklung? Steigen die Kurse oder fallen sie? Oder bleiben sie gar
relativ unverändert?
Viele Anleger werden argumentieren, dass der Aktienkurs nicht in erster
Linie durch den Ölpreis bestimmt wird. Auch die Entwicklung der
Gesamtwirtschaft oder einzelner Industriezweige ist wichtig. Und auch
das Zinsniveau und die Kursentwicklung in den USA fallen ins Gewicht.
Darüber hinaus muss man noch die Nachrichten über die Unternehmen
berücksichtigen und technische Indikatoren wie den Trend der Aktie
und die generelle Marktstimmung – dies jedenfalls suggerieren viele
Anlegermagazine. Aber wie sagt man die Zinsentwicklung vorher? Und
wie kombiniert man diese verschiedenen Informationen, um die Aktienkursentwicklung sicher vorausschätzen zu können?
Unser Beispiel zeigt, dass nicht nur der Zusammenhang zwischen
Ölpreis und Aktienkursentwicklung unklar ist, sondern auch der Einfluss der verschiedensten anderen für die Kursentwicklung bedeutenden Informationen. Es ist also sehr schwer, Aktienkurse sicher und präzise vorherzusagen. Versucht ein Börsenexperte im Abendprogramm,
den Kurs eines Papieres im Tagesverlauf zu erklären, gelingt dies schon
eher. Zumindest im Nachhinein lassen sich meist schlüssige Erklärungen konstruieren. Generell ist es daher wichtig, zwischen Prognose (Vorhersage ex ante) und nachträglicher Erklärung (Erklärung ex post) zu
unterscheiden. Eine plausible rückschauende Erklärung darf nicht zu
der Meinung verleiten, dass auch eine Prognose der Zukunft möglich ist.
Oft sind sogar noch nicht einmal die tatsächlichen, zeitlich zurückliegenden Zusammenhänge eindeutig, wie das Zusammenspiel von
Ölpreis und Autoaktienkursen zeigt.
Da es nicht möglich ist, die Entwicklung einer Branche oder eines Index
an der Börse zu prognostizieren, stellt sich die Frage, ob man nicht
zumindest den Kursverlauf einer Aktie vorhersagen kann? Es müsste
doch zumindest möglich sein, zum Beispiel die Aktie der Bayer AG so
genau zu analysieren, dass sich deren Perspektive sicher einschätzen
lässt. Einzelne Geschäftsbereiche können detailliert untersucht, Änderungen in der Strategie verfolgt werden. Außerdem sind die Wettbewerber sowie die Märkte der Bayer-Produkte sehr genau bekannt. Auch
die Qualität des Managements und insbesondere des Vorstandes kann
beurteilt werden. Viele Anleger glauben, dass eine solche Analyse eine
präzise Vorhersage des Aktienkurses ermöglicht.
Doch all der Aufwand hätte im Falle der Bayer-Aktie im Jahr 2001 nichts
genutzt. Für die Anleger völlig überraschend traten Probleme bei dem
Cholesterinsenker Lipobay auf. Bayer musste dieses Medikament im
Herbst 2001 vom Markt nehmen, nachdem es bei zahlreichen Patienten schwere Nebenwirkungen verursacht hatte. Die nachfolgende
88
„Vertrauen Sie niemandem ...“
Klagewelle in den USA weckte zeitweilig die Befürchtung, Bayer könnte
von existenzgefährdenden Schadenersatzforderungen bedroht werden.
So berichtete die Börsen-Zeitung noch am 26. Februar 2003, über ein Jahr,
nachdem das Mittel vom Markt genommen worden war, unter der
Überschrift „Bayer-Kursverfall ist nicht zu stoppen“: „Der Aktienkurs
des Bayer-Konzerns hat gestern seine dramatische Talfahrt fortgesetzt.
Die Notierung sackte im Tagesverlauf immer weiter ab und übertraf mit
einem Minus von 14 Prozent auf 12,30 Euro bis zum Abend die Verluste vom Vortag noch deutlich. Das ist der tiefste Stand der Aktie seit über
zehn Jahren. Grund sind weiterhin Befürchtungen der Anleger, Bayer
könne durch die Lipobay-Klagen in den USA massiv finanziell belastet
werden.“
Das ist bemerkenswert, da schon im Jahr 2002 gegen Bayer weltweit
über 1.000 Klagen wegen Lipobay anhängig waren. Ist das Bayer-Beispiel
nur ein Einzelfall? Sicherlich. Aber ähnliche Vorfälle sind bei jedem
Unternehmen möglich. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen
gesetzt. Nur eines ist sicher: Ereignisse, die den Kurs einer Aktie beeinflussen, können jederzeit und wie aus heiterem Himmel eintreten.
(Solche Ereignisse, die zufällig sind und nicht präzise vorhergesagt
werden können, werden im Wissenschaftler-Deutsch als unsystematisch bezeichnet.) Damit kann sich jede einzelne Aktie anders entwickeln, als prognostiziert. Potentielle Schadenersatzklagen sollten die
Aktienkurse laut Theorie und gesundem Menschenverstand negativ
beeinflussen. Mit anderen Worten: Wenn wir solche Ereignisse vorhersagen könnten – was uns aber nie gelingen wird, da wir keine Hellseher sind –, wären wir auch in der Lage, die Aktienkurse zu einem gewissen Grad vorherzusagen.
Andererseits gibt es Beispiele dafür, dass sogar irrelevante Ereignisse
sowie nicht vorhersagbare Handelsentscheidungen anderer Akteure am
Aktienmarkt die Kurse beeinflussen. So zeigt eine Studie der US-Wissenschaftler Gur Hubermann und Tomer Regev, die das Spekulationsverhalten von Investoren analysiert haben, wie eine „Nicht-Nachricht“
einen Aktienkurs wesentlich beeinflussen kann: Am Sonntag, dem
3. Mai 1998, veröffentlichte die New York Times einen Artikel über ein
potentielles neues Krebsmedikament der Firma EntreMed. Nachdem
der Aktienkurs von EntreMed am Freitag zuvor mit 12 US-Dollar
geschlossen hatte, schoss er am Montag bis auf 52 US-Dollar in die Höhe.
Klar, werden Sie sagen, es sind ja wichtige und gute neue Nachrichten
aufgetaucht. Das Problem der Argumentation: Fünf Monate zuvor hatte
die New York Times bereits von derselben Sache berichtet, allerdings ohne
dass dies den Kurs wesentlich beeinflusst hätte. Die Meldung am 3. Mai
1998 war somit keine Nachricht, sondern eine „Nicht-Nachricht“, das
heißt keine neue Information.
„Vertrauen Sie niemandem ...“
89
Ein noch extremeres Beispiel liefert eine Studie des US-Finanzmarktforschers Michael Rashes über „verwirrte Investoren“ aus dem Jahr 2001.
Von Ende 1996 bis Ende 1997 wurde über eine bevorstehende Übernahme der MCI Communications, damals eines der größten Telekommunikationsunternehmen weltweit, durch WorldCom spekuliert. Das
Tickersymbol für MCI Communications, also das Kürzel, mit dem die
Fondsgesellschaften und andere institutionelle Investoren Aktien beim
Kauf und Verkauf bezeichnen, war zu diesem Zeitpunkt MCIC. Mit ähnlichem Kürzel, nämlich MCI, wurde ein geschlossener Fonds namens
Massmutual Corporate Investors ebenfalls an der Wall Street gehandelt.
Der Fonds investierte in Unternehmensanleihen. Die beiden Wertpapiere MCIC, die riskante Telekommunikationsaktie, und MCI, der Fonds,
der in Unternehmensanleihen investiert, haben nichts miteinander
gemeinsam – bis auf eine erstaunlich parallele Entwicklung der Wertpapierkurse. Bei wichtigen Nachrichten, welche die mögliche Übernahme von MCIC durch WorldCom betrafen, wurde der Kurs des Anleihefonds MCI massiv beeinflusst. Offensichtlich führte eine zufällige
Verwechslung dazu, dass der Kurs des Anleihefonds wesentlich beeinflusst wurde! WorldCom kaufte MCI Communications erst 1998 und firmierte anschließend unter MCI WorldCom. Heute gehört MCI Communications zu Verizon, einer der größten US-amerikanischen Telefongesellschaften.
Die präzise Prognose von Kursen einzelner Aktien ist ein sinnloses, nicht
lohnenswertes Unterfangen, das zeigen die Beispiele. Kursrelevante
Ereignisse sind nicht vorherzusehen, denn wir wissen nicht, was morgen passiert. Selbst Ereignisse, die offensichtlich in keinerlei Verbindung mit einem Unternehmen stehen, können den Kurs der Aktie dieses Unternehmens beeinflussen. Aber wie sollten Sie als Leser vorhersehen können, wann und wie Anleger auf Nachrichten reagieren oder
wann sie bestimmte Aktien miteinander verwechseln? Sie ahnen, dass
auch dies unmöglich ist.
Noch abstruser erscheint die Idee, Kurse vorherzusagen, wenn obendrein ins Kalkül gezogen wird, dass es plötzliche Ereignisse wie Terroranschläge (wie am 11. September 2001 in den USA) oder Naturkatastrophen gibt. Vom 11. September waren alle Aktien oder Aktienmärkte
negativ betroffen. Ein solches Ereignis sowie der damit einhergehende
Einbruch der Kurse an Aktienmärkten sind nicht zu prognostizieren. (In
der Wissenschaft werden solche Risiken als systematisch klassifiziert.
Gemeint ist damit, dass alle Aktien von diesen Risiken in mehr oder
weniger gleichem Ausmaß betroffen sind.)
Die Beispiele geben Anlass zu der Vermutung, dass Aktienkurse nicht
sicher vorhersagbar sind. Sie folgen vielmehr „einem individuellen
90
„Vertrauen Sie niemandem ...“
Zufallspfad“, wie es die Finanzmarktforschung formuliert. Einen Beweis
für diese Behauptung erbringen die Beispiele allerdings nicht. Diesen
liefert erst die Wissenschaft, die dazu statistische Eigenschaften von
Finanzmarktzeitreihen, also von Charts von Aktien oder Aktienindizes,
untersucht.
Die Statistik zeigt:
Aktienkurse und Aktienrenditen sind zufällig
Im Folgenden werden wissenschaftliche Konzepte dargestellt, die hilfreich sind, wenn Sie mit einschlägigen Medienberichten oder mit Anlageempfehlungen wie „Die Bayer Aktie steigt bis zum Jahresende auf 40
Euro“ besser, das heißt informierter und kritischer, umgehen wollen. Zu
den wissenschaftlichen Konzepten, die Anleger nutzen können, um
objektiver zu entscheiden, gehören
1. statistische Eigenschaften von Aktienzeitreihen,
2. die Markteffizienz und
3. die Rendite und Renditeverteilung.
Die Wissenschaftler entzaubern aber auch Praktikerkonzepte wie die
Chartanalyse.
Die Analyse eines Kurscharts hilft nicht viel
Ob Kursentwicklungen nun zufällig sind oder nicht, lässt sich in einem
ersten Schritt durch einen Blick auf die drei Zeitreihen erahnen, die in
Abbildung 1 dargestellt sind. Nur eine der drei Linien entspricht tatsächlich dem Dax von 1990 bis 1994, die beiden anderen sind schlechte Faksimiles, von Statistikern mittels Zufallsgeneratoren ausgewürfelt und
damit per Zufall bestimmt. Erkennen Sie mit bloßem Auge, welche Zeitreihe „echt“ ist? (Die Auflösung finden Sie am Ende dieses Kapitels.) Ehrlicherweise werden Sie wohl mit „Nein“ antworten müssen, es sei denn,
Sie haben ein phänomenales Gedächtnis und erinnern sich genau an
den Kursverlauf des Dax von 1990 bis 1994. Oder Sie schummeln und
legen über unsere Grafik einen historischen Dax-Chart.
Da es offensichtlich schwer ist, mit bloßem Auge den „echten“ Kursverlauf zu identifizieren, stellt sich nunmehr die Frage, ob nicht vielleicht
die Wissenschaft mit einem eindeutigen Ergebnis weiterhelfen könnte.
Die Antwort lautet Nein. Auch komplizierte statistische Methoden
führen zu keinem eindeutigen Resultat. Der Dax-Chart und das Ergebnis von Zufallsprozessen unterscheiden sich nicht, also müssen alle drei
„Vertrauen Sie niemandem ...“
91
Charts auch auf ähnliche Weise erzeugt worden sein, so die Logik. Und
diese ähnliche Weise heißt: per Zufall. Der Grund dafür, dass auch eine
individuelle Aktienmarktzeitreihe auf diese Art und Weise zustande
kommt, ist Ihnen bereits bekannt: Der Kursverlauf einer Aktie oder
eines Index folgt im Wesentlichen einem Zufallspfad, und diesem
kommt auch die Wissenschaft nicht auf die Spur.
Informationen, die Kurse machen
Aktienkurse schwanken von Tag zu Tag, ja sogar von Minute zu Minute.
Die Finanzmarkttheorie sagt, dass der Preis oder Kurs einer Aktie dem
heutigen Wert aller zukünftigen Erträge entsprechen sollte. Mit anderen Worten: Ein Aktionär sollte in der Zukunft genau den Wert der
Aktie, der dem Kaufpreis entspricht, in Form von Gewinnausschüttungen des Unternehmens sowie eventuell des Erlöses bei Liquidation der
Gesellschaft zurückerhalten. Da diese zukünftigen Erträge nicht sicher
vorhergesagt werden können, spiegeln sich im aktuellen Aktienkurs
immer die zum aktuellen Zeitpunkt erwarteten Erträge wider.
Im optimalen Fall, den die Theorie „informationseffizienten Kapitalmarkt“ nennt, fließen in diese Erwartungen alle Informationen ein, die
es aktuell zu einer Firma gibt. Dazu gehören, wie schon angedeutet, der
Ölpreis, das Wirtschaftswachstum, Zinssätze, Wechselkurse, der Branchenausblick, aber auch die aktuelle politische Lage und geplante Gesetzesänderungen sowie Unternehmensnachrichten.
Die Finanzmarkttheorie systematisiert diese Informationsfülle in drei
Kategorien. Die Informationsstufe eins ist simpel, sie umfasst die Kursverläufe in der Vergangenheit. Zu diesen hat jeder Zugang, sie sind für
alle gleich und leicht nachzuvollziehen. Auf Stufe zwei wird es etwas
komplizierter: Die Anleger wissen deutlich besser Bescheid, bei ihren
Entscheidungen berücksichtigen sie nicht nur frühere Kursverläufe,
sondern zusätzlich alle öffentlich zugänglichen Informationen wie
Unternehmensbilanzen oder Zeitungsartikel. Informationsstufe drei
setzt in Gestalt von Insiderinformationen noch eins drauf. Zu den Insidern gehören vor allem die Vorstände von Unternehmen. Insider sind
„Eingeweihte“. Beispielsweise sind die vom Vorstand geplanten Investitionsentscheidungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nur ihnen als
Angehörigen eines kleinen Kreises bekannt. Und in dem Moment, in
dem die Information an die Öffentlichkeit gelangt, verliert sie ihren Status als Insiderinformation.
Basierend auf diesen drei Definitionen, wurde der Begriff „Markteffizienz“ präziser definiert:
92
„Vertrauen Sie niemandem ...“
„Vertrauen Sie niemandem ...“
Nov. 94
Dez. 94
Nov. 94
Nov. 94
Mai 94
Aug. 94
Mai 94
Feb. 94
Feb. 94
Feb. 94
Aug. 94
Nov. 93
Nov. 93
Nov. 93
Mai 94
Aug. 93
Aug. 93
Aug. 93
Aug. 94
Feb. 93
Mai 93
Nov. 92
Nov. 92
Nov. 92
Feb. 93
Aug. 92
Aug. 92
Aug. 92
Mai 93
Mai 92
Mai 92
Mai 92
Feb. 93
Feb. 92
Feb. 92
Mai 93
Nov. 91
Nov. 91
0
Feb. 92
20
Aug. 91
40
Aug. 91
60
Nov. 91
80
Aug. 91
100
Mai 91
120
Mai 91
0
Mai 91
20
Feb. 91
40
Feb. 91
60
Feb. 91
80
Nov. 90
100
Nov. 90
120
Nov. 90
120
100
80
60
40
20
0
Abbildung 1: Drei Zeitreihen
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1. Schwache Markteffizienz: Aus den Kursverläufen der Vergangenheit kann
nicht auf Gegenwart und Zukunft geschlossen werden.
2. Mittelstarke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationen
sind bereits im Kurs enthalten.
3. Starke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationen
inklusive Insiderinformationen sind bereits im Kurs enthalten.
Der Wirklichkeit am nächsten kommt die sogenannte mittelstarke Markteffizienz, sie ist am plausibelsten. Denn es ist intuitiv einleuchtend, dass
ein Vorstand Entscheidungen treffen kann, die den Kurs in der Zukunft
wesentlich beeinflussen werden, noch nicht aber zum Zeitpunkt der Entscheidung. Präziser muss es also heißen: In einem „effizienten Kapitalmarkt“ fließen in die Erwartungen über zukünftige Erträge alle öffentlich
zugänglichen Informationen ein, die es aktuell zu einer Firma gibt, diese
Informationen sind mithin im aktuellen Kurs enthalten.
Aktienkurse ändern sich also nur, wenn neue, noch unbekannte Informationen auftauchen und veröffentlicht werden, die Nachrichten von
gestern hingegen sind in den Kursen schon enthalten. Darüber hinaus
kommt es vor, dass Kurse von irrelevanten Informationen beeinflusst
werden, wenn zum Beispiel, wie weiter oben beschrieben, eine Aktie mit
einer anderen verwechselt wird. Solche Ereignisse oder „Nicht-Informationen“ treten völlig unerwartet auf – und das heißt auch: völlig
zufällig. Die Folge ist, dass sich auch Aktienkurse völlig zufällig entwickeln. Zu betonen ist hierbei, dass nicht die Börse an sich für die Zufälligkeit verantwortlich ist. Das Leben würfelt, nicht die Börse. Die Börse
ist nicht mehr als ein Spiegelbild des realen Lebens.
Die Zufälligkeit von Aktienrenditen
Bis jetzt haben wir lediglich die Kursverläufe von Aktien diskutiert. Im
Folgenden schauen wir uns zur Bewertung des Anlageerfolges die Entwicklung der Gewinne mit Aktien an. Im Mittelpunkt stehen dabei
empirische Forschungsergebnisse zur Rendite, das ist die relative Kursveränderung eines Papiers.
Eine einfache Möglichkeit, über die Entwicklung einer Aktie nachzudenken, besteht darin, sich die Renditeentwicklung wie folgt vorzustellen: Die Rendite am morgigen Tag wird zufällig generiert, quasi „ausgewürfelt“ oder wie ein Los gezogen, wobei extreme Renditeausschläge
eher selten vorkommen werden. Mit anderen Worten bedeutet dies,
dass die Rendite einer Aktie an einem beliebigen Tag aus einer vorgegebenen „Verteilung“ stammt, aus der gezogen wird. Eine Verteilung gibt
an, wie häufig bestimmte Ausprägungen einer Größe vorkommen. Bei94
„Vertrauen Sie niemandem ...“
spielsweise entstammt auch die Körpergröße der deutschen Männer
einer bestimmten Verteilung. Sammelt man die Körpergrößen aller
deutschen Männer, dann stellt sich wohl heraus, dass die meisten deutschen Männer ungefähr 1,80 Meter groß sind. Männer, die kleiner als
1,70 Meter oder größer als 1,90 Meter sind, sind seltener zu finden; Männer unter 1,50 Meter und über 2,10 Meter sind äußerst selten.
700
600
Häufigkeit
500
400
300
200
100
5,15%
2,16%
-0,84%
-3,83%
-6,82%
-9,82%
-12,81%
0
Rendite
Abbildung 2: Verteilung der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006
Mit der Verteilung der täglichen Dax-Renditen, die Abbildung 2 zeigt, ist
es ähnlich wie mit großen und kleinen Männern: Extremwerte sind selten. Die empirische Verteilung der mehr als 4.500 täglichen Dax-Renditen von Januar 1988 bis April 2006 hat die Eigenschaft, dass extreme
Renditeausschläge, wie beispielsweise Renditen von +5 Prozent oder -5
Prozent, seltener sind als tägliche Renditen von zum Beispiel +1 Prozent.
Der Durchschnitt ist mit etwa 0,05 Prozent pro Tag leicht positiv. Aufgrund der langen Zeitreihe und der Konstanz dieser Daten in der Vergangenheit ist zu vermuten, dass die Renditeverteilung des Dax künftig
ähnlich aussehen wird. Abbildung 2 gibt nur einen Überblick über die
Verteilung der tatsächlichen vergangenen Eintagesrenditen des Dax
und nicht über deren zeitliche Abfolge.
Es bleibt die Frage, ob eventuell die heutige Rendite eines Papiers etwas
über die Rendite von morgen aussagt. Steigt eine Aktie am nächsten Tag
eher, wenn sie auch heute steigt? Dieser Frage widmen wir uns im Folgenden.
„Vertrauen Sie niemandem ...“
95
10,00 %
5,00 %
0,00 %
-5,00 %
Januar 2006
Januar 2005
Januar 2004
Januar 2003
Januar 2002
Januar 2001
Januar 1999
Januar 1998
Januar 1997
Januar 1996
Januar 1995
Januar 1994
Januar 1993
Januar 1992
Januar 1991
Januar 1990
Januar 1989
Januar 1988
-15,00 %
Januar 2000
-10,00 %
Abbildung 3: Zeitreihe der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006
Abbildung 3 zeigt die entsprechende Zeitreihe der täglichen Dax-Renditen von Januar 1988 bis April 2006. Aus ihr wird ersichtlich, ob auf
positive Renditen eher wieder positive Renditen folgen oder doch eher
negative. Die Zeitreihe ähnelt einer Kurszeitreihe, allerdings gibt sie
nicht das Kursniveau, sondern die Veränderungen (sprich Renditen) wieder. Ein Blick auf die Zeitreihe vermittelt den Eindruck, dass die Abfolge
der Renditen völlig zufällig ist. Es sind keine Regelmäßigkeiten zu entdecken. Eine Rendite heute lässt keine Schlüsse über die Rendite morgen zu. In den erfassten 18 Jahren sind etwa 2.450 Tagesrenditen positiv
und etwa 2.150 Tagesrenditen negativ. Dies bedeutet, dass der Dax eher
gestiegen als gefallen ist. In etwa 1.300 Fällen folgt auf eine positive Rendite eine weitere positive Rendite. In 1.150 Fällen folgt dagegen eine
negative Rendite. Der Umstand, dass es im Betrachtungszeitraum etwas
mehr positive als negative Tagesrenditen gab, lässt den folgenden
Schluss zu: Die nächste Rendite wird völlig zufällig, quasi per Münzwurf
mit gleicher Wahrscheinlichkeit, aus dem Topf mit den 2.450 positiven
Tagesrenditen und dem Topf mit den 2.150 negativen Tagesrenditen
gezogen. Das Verhältnis von 2.450 zu 2.150 entspricht auch in etwa dem
von 1.300 zu 1.150.
Wenn also Aktien hin und wieder einige positive Renditen in Folge aufweisen und damit eine sogenannte Kursrallye hinlegen, so ist dies reiner Zufall. Die dargestellten empirischen Gesetzmäßigkeiten gelten
nicht nur für Aktien und andere Wertpapiere, sondern auch für die Entwicklung der Preise von Rohstoffen wie Gold oder Schweinebäuche.
96
„Vertrauen Sie niemandem ...“
Wieso glauben wir trotzdem an Vorhersagbarkeit?
Erkenntnisse aus der Psychologie
„Zu wissen, dass wir nur wissen, was wir wissen, und dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen“, bemerkte bereits Konfuzius. Weitverbreitet ist diese Erkenntnis allerdings nicht, wie zahlreiche Untersuchungen von Psychologen nahelegen. Individuen scheinen permanent zu überschätzen, was sie eigentlich wissen. Und auch
im Vergleich mit anderen halten sie sich meistens für besser. „Wie
schätzen Sie Ihr Fahrkönnen ein?“, fragte man Autofahrer. Rund 80 Prozent der Befragten wähnten sich unter den besten 30 Prozent. Im Rahmen von Entscheidungssituationen kann eine solche Überschätzung
von Kenntnissen oder Fähigkeiten dazu führen, dass wir Menschen von
einer zu hohen Erfolgswahrscheinlichkeit unserer Entscheidung ausgehen.
Amerikanischen Unternehmensgründern wurde die Frage gestellt:
„Wird Ihr Unternehmen in fünf Jahren noch existieren?“ 81 Prozent der
Befragten glaubten, eine Überlebenschance von mindestens 70 Prozent
zu haben. Tatsächlich aber liegt ihre Überlebenschance nur bei 25 Prozent, wie eine entsprechende empirische Studie belegt. Eine ähnliche
Selbstüberschätzung, was die Prognose ihrer Ergebnisse betrifft, findet
sich bei Fondsmanagern und anderen Finanzmarktprofis. Dieses Phänomen der Selbstüberschätzung wird in der Psychologie als Overconfidence Bias bezeichnet.
Im Finanzmarktkontext führt der Overconfidence Bias dazu, dass viele
Investoren bei ihren Aktienkursprognosen von einer zu engen Schwankungsbandbreite ausgehen. Wenn sie obendrein in maßloser Selbstüberschätzung auch noch glauben, die Zukunft ziemlich präzise vorhersagen zu können, kommen objektiv falsche Anlageentscheidungen
zustande. Wir haben gesehen, dass die Aktienkursverläufe von einer
schier unbeherrschbaren Informationsfülle beeinflusst werden. Die
meisten Privatanleger glauben aber, dass sie in der Lage sind, diese Informationen besser als andere Finanzmarktteilnehmer auszuwerten und
folglich diejenigen Aktien zu identifizieren, die sich in Zukunft am
besten entwickeln werden. Leider überschätzten sie sich an diesem
Punkt. Profis haben bessere Karten. Wenn es darum geht, an gute Informationen heranzukommen, sind sie Privatanlegern voraus. Obendrein
gibt es kursrelevante Ereignisse wie den 11. September, die von keinem
Menschen prognostiziert werden können. Diese Ereignisse treffen Profis und Private gleichermaßen.
Dass die Profis besser informiert sind, lässt sich nicht leugnen. So haben
die Heerscharen von Aktienhändlern bei den Großbanken Zugang zu
„Vertrauen Sie niemandem ...“
97
aktuellsten Datenbanken mit allen nur erdenklichen Informationen,
dazu arbeiten sie mit Super-Computern, die diese Informationen auswerten können. Obendrein werden sie von einer Armada von Aktienanalysten unterstützt, die auch kleine Nebenwerte intensiv analysieren,
zum Teil mit Besuchen vor Ort, bei denen sie sich Fabrikhallen ansehen
oder mit dem Management reden. Wenn Aktienkurse tatsächlich prognostiziert werden könnten, dann wären dazu mit Sicherheit eher die
Profis in der Lage als die Kleinanleger, die mit Anlegermagazin und
Internetanschluss laborieren. Ein Privatanleger ist der Finanzwelt, die
mit einem Informationsvorsprung gesegnet ist, hoffnungslos unterlegen. Glaubt er dies nicht, dann haben wir es mit einem weiteren Fall von
Overconfidence zu tun.
Aber wieso kommen Privatanleger auch dann nicht zu dieser Einsicht,
wenn sie sich geraume Zeit mit Misserfolgen herumgeschlagen haben?
Der Grund liegt in einem weiteren Phänomen, das die Psychologie den
Hindsight Bias nennt. Gemeint ist die Neigung vieler Menschen, das zu
überschätzen, was sie vor einem Ereignis darüber gewusst oder geahnt
haben. „Das habe ich doch genau so kommen sehen!“, hört man allzu
häufig. Doch erinnert sich der Kandidat noch genau an das, was er
damals gedacht hat? Schauen Sie sich das folgende Beispiel an. Es zeigt
den Kursverlauf der BASF-Aktie im Jahre 2001.
Deutlich zu sehen ist der Einbruch des Kurses nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Etwa zehn Tage danach erreichten die deutBASF-Chart 2001: Was war Ihre Prognose?
60
50
40
30
20
10
11. September 2001
01.12.2001
01.11.2001
01.10.2001
01.09.2001
01.08.2001
01.07.2001
01.06.2001
01.05.2001
01.04.2001
01.03.2001
01.02.2001
01.01.2001
0
Abbildung 4: Chart der BASF-Aktie im Jahr 2001
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„Vertrauen Sie niemandem ...“
schen Aktien, auch die BASF-Aktie, ihren Jahrestiefststand. Bis zum Jahresende jedoch erholten sich die Papiere wieder nahezu vollständig.
Haben Sie damals erwartet, dass deutsche Aktien so schnell wieder steigen? Haben Sie wirklich gedacht, dass die Terroranschläge nur einen
derart kurzfristigen Effekt auf die Wirtschaftswelt haben werden? Oder
andersherum gefragt: Haben Sie kurz nach dem 11. September 2001
massiv Aktien gekauft? Oder fürchteten Sie nicht vielmehr – wie viele
andere Menschen auch – weitere Anschläge und Krieg? Das Beispiel
zeigt, dass wir im Nachhinein den Verlauf der Aktien nach dem 11. September für gar nicht so unplausibel und überraschend halten. Aber
kurz nach dem 11. September 2001 sah das noch anders aus – wir erinnern uns nur nicht mehr richtig daran.
Der Hindsight Bias ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir aus der
Vergangenheit zu wenig lernen. Überspitzt formuliert könnte man
sagen, dass wir noch nicht einmal die Notwendigkeit sehen, aus der Vergangenheit zu lernen, denn wir glauben ja, es ohnehin gewusst zu
haben. Dieses Phänomen paart sich mit der Tatsache, dass wir uns eher
an vergangene Erfolge erinnern als an Misserfolge. Es ist intuitiv einleuchtend und durch zahlreiche Untersuchungen belegt, dass wir
unsere Erfolge eher den eigenen Fähigkeiten als äußeren Einflüssen
zuschreiben, während wir die Verantwortung für Misserfolge anderen
Faktoren zuschieben. Dies dient der Aufrechterhaltung unseres Selbstbewusstseins. Hinzu kommt, dass wir oft unsere Möglichkeiten überschätzen, auf das Ergebnis einer Entscheidung Einfluss zu nehmen. Die
Psychologen nennen diese Einstellung „Kontrollillusion“. Wie daraus
Overconfidence entstehen kann, zeigt das Beispiel eines Unternehmers,
der ein neues Multimedia-Handy entwickelt hat und dieses nun am
Markt einführen will.
Ob aus der Produkteinführung ein Erfolg oder ein Flop wird, hängt zum
einen von den Fähigkeiten und dem Einsatz des Entrepreneurs ab, zum
anderen aber von weiteren Faktoren, wie etwa dem Verhalten der Konkurrenz oder von Nachfrageschwankungen. Überschätzt nun der Unternehmer seinen Einfluss auf den Markterfolg, unterliegt er der Kontrollillusion: Sein hoher Arbeitseinsatz bringt nicht so viel, wie er glaubt.
Und gleichermaßen überschätzt er die Erfolgschancen der Produkteinführung.
Im Zeitablauf kann daraus zusätzlich Overconfidence entstehen. Stellen
Sie sich vor, die Einführung des Handys würde zum Flop, der sich zumindest teilweise auf die mangelnden betriebswirtschaftlichen Kenntnisse
des Unternehmers zurückführen lässt. Schreibt er diesen Misserfolg zu
100 Prozent externen Faktoren zu, wird er zuversichtlich an sein nächstes Projekt gehen und dessen Erfolgschancen wieder überschätzen.
„Vertrauen Sie niemandem ...“
99
Der gleiche Effekt wird sich einstellen, wenn der Unternehmer einen
Erfolg zu 100 Prozent seinen vermeintlich guten betriebswirtschaftlichen Kenntnissen zuschreibt. Hat er ein paar Mal nacheinander Erfolg
gehabt, glaubt er, dass seine Kenntnisse viel weiter reichen, als dies
tatsächlich der Fall ist.
Wer die Ursachen für Erfolge oder Misserfolge nicht richtig erkennt,
läuft Gefahr, dem Overconfidence Bias zu unterliegen. Besonders groß
dürfte diese Gefahr sein, wenn Menschen ein relativ ungenaues Feedback dazu bekommen, ob der Erfolg einer Entscheidung nun eher auf
ihren eigenen Fähigkeiten oder aber eher auf externen Einflüssen
beruht. Investitionen am Aktienmarkt spielen sich unter genau solchen
Bedingungen ab.
Betrachten wir wiederum ein Beispiel und nehmen wir einen Anleger,
der weder Zeit noch Kosten gescheut und eine Unternehmensanalyse
der Firma XY erstellt hat, weil er demnächst XY-Aktien kaufen will. Nun
wird eine Nachricht veröffentlicht, die seine Recherchen bestätigt. In
solchen Situationen überschätzt der Mensch die Qualität seiner
ursprünglichen Einschätzung. Auch unser Investor fühlt sich sicher
und kauft. Widersprechen dagegen die neuen Informationen seiner
ursprünglichen Einschätzung, so neigt der Mensch dazu, diese Meldungen zu ignorieren oder zumindest stark herunterzuspielen. Höchstwahrscheinlich wird unser Anleger trotzdem kaufen.
Auch diese Verhaltensweise dient der Motivation sowie der Selbstbestätigung. Sie kann von einem Menschen aktiv verstärkt werden. Wie
häufig beobachtet wird, suchen Individuen nämlich eher nach Informationen, die ihre ursprüngliche Meinung bestätigen, als nach solchen,
die diese widerlegen. Die Überschätzung der eigenen Meinung ist die
Folge. Wer zum Beispiel einen Asien-Fonds hält, registriert jede schöne
Meldung über Wachstumsmärkte. Die langweiligen Unternehmenspleiten hingegen werden lieber ignoriert.
Eine weitere Ursache für Overconfidence ist die fehlerhafte Informationswahrnehmung und -verarbeitung. Beispielsweise neigen Menschen
dazu, eine erste Information oder Einschätzung als „Anker“ zu nehmen,
dann aber die mögliche Variation dieses Ausgangswertes im Lichte weiterer Informationen nicht genügend zu berücksichtigen.
Doch viel tiefer als der Overconfidence Bias und seine Ursachen liegt
beim Menschen die Abneigung gegen alles Zufällige verborgen; und
damit auch die Verdrängung der Tatsache, dass die Entwicklung von
Aktien zufällig ist. Der banale Spruch „Die Zukunft ist unsicher“ bleibt
zeitlos chic, aber niemand will ihn wahrhaben. Nehmen wir das Wetter
von morgen. Wird es regnen oder nicht? Das können wir nicht wissen.
100
„Vertrauen Sie niemandem ...“
Die Meteorologen behelfen sich mit Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen:
„Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es regnet, beträgt 10 Prozent.“ Was
nun? Wird es regnen oder nicht? Werden Sie einen Schirm mitnehmen
oder nicht? Das hängt von Ihren Vorlieben ab.
Die Zukunft ist unsicher, das ist nicht zu ändern. Wir Menschen können
nur lernen, den Umgang mit der Unsicherheit zu beherrschen. Und dies
geht nur, wenn wir lernen, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Kommen wir zu unserem Regenbeispiel zurück: Der Meteorologe macht es
richtig. Er wertet die aktuellen Wetterdaten anhand von Parametern wie
Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Windrichtung aus. Aus der Analyse vergangener Daten weiß er, dass es bei der gegebenen Konstellation im
Durchschnitt nur in einem von zehn Fällen am nächsten Tag zu Regenfällen gekommen ist. Damit beträgt die aktuelle Regenwahrscheinlichkeit für den Folgetag 10 Prozent.
Empirische Untersuchungen belegen, dass Wetterexperten Regenwahrscheinlichkeiten perfekt vorhersagen können – besser als Ärzte Heilungschancen von Patienten oder Aktienanalysten den Erfolg von
Aktien. Bei einer Regenwahrscheinlichkeit von beispielsweise 70 Prozent regnet es tatsächlich in sieben von zehn Fällen.
Doch was heißt das für uns? Schirm, ja oder nein? Das hängt von uns
persönlich ab. Selbst bei einer Regenwahrscheinlichkeit von nur 10 Prozent können wir nicht ausschließen, dass wir nass werden. Haben Sie
also eine teure Frisur wie die amerikanische Politikerin und Ex-Präsidentengattin Hillary Clinton und darüber hinaus einen wichtigen Termin am Abend, dann sollten Sie den Schirm sicherheitshalber mitnehmen. Haben Sie eher eine Haarpracht wie der ehemalige Tennisspieler
und Steffi-Graf-Gatte Andre Agassi und zudem keine Lust, einen Schirm
mit sich herumzutragen, können Sie ihn zu Hause lassen. Und wenn es
doch regnen sollte, ist es auch kein Beinbruch.
Aktionäre gehen mit Ungewissheit und Wahrscheinlichkeiten nicht so
unbefangen um. Am Aktienmarkt versuchen Menschen vielmehr, die
Unsicherheit zu verdrängen, oder glauben gar, sie zu beherrschen.
Allein schon vor diesem Hintergrund haben Prognosen wie „Ich sehe
den Dax zum Jahresende bei 7.000 Punkten“ Konjunktur. Anleger vertrauen solchen Prophezeiungen und treffen deshalb irrationale und
suboptimale Investmententscheidungen.
„Vertrauen Sie niemandem ...“
101
Fazit
Wir haben gesehen, dass die Kursverläufe von Aktien oder Aktienindizes einem Zufallspfad folgen. Aktienkurse werden durch Ereignisse
beeinflusst, die nicht vorhersagbar sind. Teilweise werden sie sogar
durch völlig irrelevante Begebenheiten bestimmt. Eine Folgerung ist,
dass Kursverläufe kein Gedächtnis haben. Die früheren Renditen einer
Aktie sagen nichts darüber aus, ob das Papier morgen steigt oder fällt.
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die Kursverläufe von Aktien und Aktienindizes sind nicht prognostizierbar.
Dies hat wesentliche Konsequenzen für den Erfolg der Chartanalyse, die
auf der Idee beruht, man könne den Kurs eines Wertpapiers durch
geschicktes grafisches Aufarbeiten vergangener Kursverläufe vorhersagen. Das aber ist logischerweise nicht möglich, denn wie soll ein Chart,
der die Vergangenheit abbildet, zum Beispiel Informationen über Terroranschläge oder über Todesfälle im Zusammenhang mit Medikamenten antizipieren?
Es ist für Anleger wichtig zu wissen, dass dies vor allem für einzelne
Aktien gilt. Auf der Portfolioebene, also für eine Gruppe von hundert
oder mehr Aktien, besteht doch eine minimale Möglichkeit der Vorhersage. Dies liegt daran, dass sich die Wirkungen guter und schlechter
Nachrichten auf eine große Gruppe von Aktien untereinander aufheben. Eine Aktie wird durch ein unvorhergesehenes Ereignis positiv
beeinflusst, eine andere durch ein anderes negativ. Das aber gilt nur,
solange wir systematische Risiken ausschließen. Oder umgekehrt
gesprochen: Ein Terroranschlag oder eine Naturkatastrophe lassen oft
den ganzen Markt abstürzen, da rettet auch die Diversifikation in mehrere Papiere nicht.
Kaum minder verbreitet und genauso unsinnig wie die Chartanalyse
sind Punktprognosen oder Kursziele für Aktien. Solche Vorhersagen
haben sich allerdings – der Vernunft zum Trotz – bei vielen Bankern und
Analysten eingebürgert. Eine Prognose muss aber immer die Unsicherheit über die zukünftige Kursentwicklung zum Ausdruck bringen. Beispielsweise kann dies geschehen durch die Angabe von Intervallen, in
denen der Kurs mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem zukünftigen
Zeitpunkt landen wird. Ein mögliches Intervall ist die historische
Schwankungsbreite des Kurses. Beispielsweise lagen die täglichen DaxRenditen in der Vergangenheit mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit,
also in neun von zehn Fällen, ungefähr zwischen -2 Prozent und +2 Prozent. Liegt der Dax also heute bei 5.000 Punkten, so müssten wir ein vernünftiges Intervall, in dem der Dax morgen mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit stehen wird, mit 4.900 bis 5.100 Punkten angeben. Wohlgemerkt: Dies ist die Intervallprognose für den Dax mit einem Zeitho102
„Vertrauen Sie niemandem ...“
rizont von nur einem Tag! Ein entsprechendes Intervall für den Dax in
einer Woche würde deutlich breiter ausfallen. Wer glaubt, den Dax präziser vorhersagen zu können, überschätzt sich. Bedenken Sie stets, dass
am Aktienmarkt nur ein Denken in Schwankungsbreiten sinnvoll ist.
Führen Sie sich stets vor Augen, dass eine Aktie unerwartet fallen oder
steigen kann, was sich durch ein ausreichend breites Intervall der Kursprognose ausdrücken lässt.
Auflösung zu Abbildung 1: Die letzte der drei Zeitreihen zeigt den Dax, die beiden
anderen wurden per Zufall generiert.
Fußnoten
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um das zweite Kapitel in dem Buch von Martin
Weber, Genial einfach investieren. Mehr müssen Sie nicht wissen – das aber unbedingt!
Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York, 2007, S. 26–44. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Campus Verlags.
„Vertrauen Sie niemandem ...“
103
Abbildung 15: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust I
Abbildung 16: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust II
Trust: A Concept Too Many*
Timothy W. Guinnane
Abstract
Research on „trust“ now forms a prominent part of the research
agenda in history and the social sciences. Although this research has
generated useful insights, the idea of trust has been used so widely and
loosely that it risks creating more confusion than clarity. This essay
argues that to the extent that scholars have a clear idea of what trust
actually means, the concept is, at least for economic questions,
superfluous: the useful parts of the idea of trust are implicit in older
notions of information and the ability to impose sanctions. I trust you
in a transaction because of what I know about you, and because of what
I can have done to you should you cheat me. This observation does not
obviate what many scholars intend, which is to embed economic action
within a framework that recognizes informal institutions and social
ties. I illustrate the argument using three examples drawn from an area
where trust has been seen as critical: credit for poor people.
… I maintain that trust is irrelevant to commercial exchange and that reference to
trust in this connection promotes confusion.
Oliver Williamson1
„Trust“ now forms a central part of the research program in many social
science, history, and related disciplines. Foundations have programs on
trust, scholars meet for conferences on trust, and efforts to build trust
now feature as part of policy proposals in rich and poor countries alike.
Analytically, trust is closely related to the concept of social capital, and
the two ideas play similar political roles. In some policy circles trust is
viewed as a sort of magic bullet: governments can allegedly ameliorate
social problems with little or no money if they can foster the development of trust.
Some scholars have cast a more critical eye on this enterprise. Sheilagh
Ogilvie (2004a) argues that early-modern guilds used social capital to
enhance the well-being of their members at the expense of a vulnerable
Trust: A Concept Too Many
105
group of outsiders: women. Ogilvie (2004b) argues that the trust
embodied in guilds impeded the development of institutions that might
have benefited all. Others have pursued a line of critique that doubts the
efficacy of concepts such as trust and social capital. In this essay I argue
Williamson’s point: whatever its usefulness in other contexts, „trust“
adds nothing to the analysis of commercial or more broadly economic
problems. At best, talking about trust requires the introduction of new
and redundant terminology; at worst it impedes understanding by
replacing a clearly worked-out body of theory with something else.
Orthodox economics, according to Williamson, already contains the
notions implied by trust. This is not to say those notions are perfect or
adequate, it is just to claim that the use of the term trust in commercial
contexts is a best unnecessary re-labeling and at worst the willful
introduction of confusion.
Many approving discussions of trust use empirical materials, but thus
far most doubting discussions focus on conceptual issues, relying on
empirical examples mostly to illustrate a point. Here I use a concrete set
of empirical situations to argue my point that trust adds nothing that
is both useful and new. I use the example of credit for poor people in the
19th and early 20th centuries in three circumstances: Germany, Ireland,
and the United States. Credit institutions and credit problems have
figured heavily in many discussions of social capital and trust. This is
only natural. Most clear-headed discussions of trust stress that the
concept only makes sense when one party risks something (eg, Gambetta pp.218-219). I lend you money today, and I hope that you will repay
in the future. The very words used to describe lending imply trust. The
Latin root of „credit“, credere, means, among other things, to trust, while
the German Gläubiger is literally one who trusts. Many transactions take
place as X for Y, almost simultaneously. The seller receives payment in
one hand while giving over the goods with the other. Credit, by its
nature, cannot take place this way. The creditor gives over funds today,
and in so doing places himself at risk that the funds will not come back.
The first section below briefly reviews some conceptions of trust. This
discussion cannot exhaust the voluminous literature. The aim is to focus
the discussion and provide some frames of reference for comparing
„trust“ as it is used in the (primarily sociology) literature. We then turn
to a discussion of credit for poor people in general, why it has been
viewed as an important social problem, and why this type of credit is
more problematic than credit for, say, publicly-traded firms. I then
consider three examples of institutional approaches to the problem.
One of them is Germany’s very successful credit cooperatives, first formed in the mid 19th century. The second is the unsuccessful attempt to
transplant those credit cooperatives to Ireland at the end of the 19th
106
Trust: A Concept Too Many
century. The third example is the United States in the same period,
where similar institutions were weak, and leading reform organizations
promoted an entirely different approach to the problem.
Credit for poor people forms an especially useful example because of the
tie to modern micro-lending institutions, enterprises that use novel
approaches to lend to poor people in developing countries (and less
often, in wealthy countries). Scholars disagree over the extent to which
these institutions work, and if so, why. The connections to the German
credit cooperatives are indirect but clear, and the role of trust and social
capital in small-scale credit permeates the scholarly literature.2
Conceptions of trust
Our aim here is to focus the notion of trust enough to show that it is, for
our purposes, fully achieved with ideas already current in economics
and other social-science disciplines.3 We can usefully lean on Hardin’s
very clear discussions. Hardin notes that „encapsulated interest“
accounts of trust, which include Williamson’s, are fundamentally
different from discussions of trust in two other situations. First, trust is
not an interesting concept in situations where the person I trust views
my welfare as important to her own. (that is, where my utility is a highlyweighted argument in her utility function). In such situations treating
her well cannot be distinguished from treating myself well. Second,
some individuals always do the right thing because in their mind not
doing so risks the wrath of God. Again, if this is the case then the
individual behaves honorably simply out of fear for his own future, be
that earthly or in the afterlife.
Trust implies a three-part relationship involving at least two actors and
one act: I trust specific individuals or specific institutions to do specific
things. I might trust my friend with $100 but not $1.000; there are other
people I would trust with more, and some I would not trust with
anything. A claim that I would trust any individual with everything
borders on absurd, as does the claim that I would trust everyone with
any one thing. An assumption to this effect underlies much of the
empirical work done in this area, however, and renders meaningless
some of the claims about patterns of trust today. Mackey (2001), for
example, makes much of the responses to the following Eurobarometer
question: „I would like to ask you a question about how much trust you
have in people from various countries. Please tell me whether you have
a lot of trust, some trust, not very much trust, or no trust at all.“ No
statistical analysis of this question can produce a useful result. Are the
French being asked whether they trust the Germans not to invade, or to
Trust: A Concept Too Many
107
be polite on the Autobahn? Which German are the French being asked
to trust – Joschka Fischer, or some composite football lout?4 Much of the
literature on trust that talks about declining trust in institutions misses
this simple point. Consider the idea of trust in government. I trust my
government with my tax money but not my son’s life, both because I
care less about my money than about my son, and because the
institutions that prevent government corruption appear to function better than those that prevent my government from starting wars. Asking
someone whether she „trusts the government“ can only elicit a
meaningless answer.
Many discussions of trust confuse or conflate trust with trustworthiness.
There is an important analytic difference. In our context what we really
want to know is not whether the lender is a trusting person, but whether
the borrower can be counted upon to repay. Most of what observers call
problems of trust are actually problems in the trustworthiness of
specific actors. Not trusting someone who is untrustworthy is not pathological, it is simply rational. Hardin gives the illuminating example of
the medical professional. Many discussions presume that declining
trust in doctors reflects some general and pernicious process in the
society at large. Perhaps this is so. But perhaps doctors have simply
become less trustworthy, or, more likely, they were never so trustworthy
but now we know more about them.
Trust as a moral or psychological problem
Most of the accounts of trust to which I object share the feature of
treating trust as a moral or psychological issue, and the lack of trust as
a moral or psychological failing.5 This essay should not be read to deny
any moral or psychological component to the issue, or to issues closelyrelated to the commercial sense of „trust.“ But we must avoid erring on
the side of locating what is essentially an institutional failure within the
heads of actors whose own views may well be irrelevant. Muldrew
(1988)’s discussion of commercial transactions in early-modern England
makes a powerful argument that the framing notions of commercial
trust grew out of a more strictly moral vocabulary. His closely-reasoned
and deeply-research work has few counterparts, unfortunately. Most5
empirical studies fail to distinguish between the lack of trust as a
problem of what goes on inside people’s heads and a problem concerned
with the institutional context within which one acts. Modern credit
institutions lend millions of dollars to entities whose moral qualities are
to them opaque; the lenders count on an institutional structure of
information-gathering and legal enforcement to make even „immoral“
borrowers repay.
108
Trust: A Concept Too Many
A simple example illustrates how empty the „trust as sentiment“
approach can be. Consider a large financial institution in the United
States that can lend domestically or to firms in several different
countries. We might observe that it simultaneously lends in situations
where one might think trust was very high (eg, Germany) and very low
(eg, Russia). Presumably the Russian loans have higher interest rates and
might be structured differently. But the key issue is that the bank does
not care about Russian personalities or whether Russia is a „high-trust“
society. The bank cares only that the loans can be structured and secured
in such a fashion that it is likely to get its money back. The bank, that
is, cares only about the specifics of institutions related to commercial
loans. The sort of question Mackie (1991) analyzes might show that
American banks are simultaneously lending in countries Americans
find trustworthy and in countries whose people Americans trust very
little.
Trust as information and sanctions
Suppose you and I have entered into a joint venture. We each made nonreversible investments in the project, and before it can pay off, we each
have to make more investments. Along the way each of us has chances
to act opportunistically („fink“) with respect to our venture.
Opportunistic behavior here means that we take some action that is in
our private interest but harms the eventual value of the venture. If one
or both of us takes too many opportunistic actions, the venture will fail,
and be worth nothing. As I have described it, trust is clearly central to
the success of this venture.
Yet I entered into this arrangement, which suggests I thought you would
uphold your end. Why? Because I thought you would find it better,
according to your own interest, to act honorably rather than opportunistically. This is adherence to Williamson’s dictum: psychological
and cultural claims may not be irrelevant to commercial transactions,
but rarely are they specific enough to tell us the answer to question of
interest in our context. Invoking them at the outset tends to crowd out
more useful lines of thought.
Two simple notions get us very far: information and sanctions. How hard
is it to learn that my partner did in fact fink on me? That is, how can I
be sure we experienced a bad outcome because of his conduct, and not
because of the weather or some other force beyond his control?6
Information is also related to sanctions. How can I punish you if you
fink, which is to say deter you from finking in the first place? Is there a
legal system capable of detecting and punishing bad conduct? Can I go
Trust: A Concept Too Many
109
to some less formal authority – perhaps a village elder, or the leader of
a kin group – and threaten a larger group for the conduct of its single
member? This is one way to understand Ben-Porath (1980)’s observations
about the importance of family connections in commerce, even in quite
developed societies. Family members have multiple channels through
which to collect information about one another, and can sanction each
other effectively and cheaply in ways that might not affect the business
connections directly, but which would be useful nonetheless. Perhaps
my business partner does not care if I think badly of him, but does care
if others think badly. That is, the most useful sanction might not be
something I impose directly, or cause to be imposed directly (such as a
court order), but my ability to damage his ability to carry on other
commercial relationships that he values.
Now take a step back. Both my partner and I know the situation in which
we operate. That is, we both know the conditions under which our venture
will succeed or fail, and we both know the institutional context in which
we operate. We know what the court system is, whether there are nonlegal forms of sanctions, the state of the information environment, etc. I
know (and he knows that I know …) what I can do if he finks. The fact that
we have entered into such an agreement shows that we both think it will
work. This understanding might just reflect the general environment. But
it might reflect specific features that we have written into our agreement
to make finking unattractive. If I find the potential punishments insufficient to deter my partner’s bad conduct, for example, I might demand in
advance, as a condition of setting up the deal, additional guarantees. That
is, I might ask him, as a condition of our venture, to increase the penalties
he has to pay to me if he finks. I might not really want the penalties. I just
want him to have the right incentives to act honorably. I might ask him,
for example, to post a cash bond that he forfeits in case of bad behavior.
This has the effect of raising the cost of bad behavior.
Note that this analytical approach can also account for the role of
reputation. Suppose I ask my partner to pledge a bond of $100.000 when
the most he can gain from finking on me is $25.000. He has little reason
to fink; forfeiting the bond costs him more than he can gain, in my
example. Now forget the bond, but assume we live in a situation where
I can easily communicate his dishonesty to many or all potential future
business partners, and where he cannot do business without a partner.
If he finks on me then he loses his reputation for correct conduct and
cannot work in this line of business again. Forfeiting his reputation is
like forfeiting the bond.
This approach does not rule out all bad behavior, but does limit finking
to two very clear situations. One is where the institution itself is insuffi-
110
Trust: A Concept Too Many
cient, most likely because of new circumstances that make the old
arrangements powerless to deter finking. This situation is implicit in
many accounts where a traditional institution breaks down in the face
of social changes that promote mobility or a more anonymous form of
society. Another circumstance is simple bad luck. Suppose my partner
has posted a $5.000 bond, and can only gain $1.000 through dishonest
conduct. If he finks then I know it was beyond his control – given the
parameters, it would never be in his interest to fink if he could avoid it.
One uncomfortable implication of many game-theoretical models is
that the principal must punish the agent for not performing correctly,
even though the principal knows the agent only fails when failure is beyond the
agent’s control.7 If the principal refrains from such punishment, then all
other agents may stop performing. Note the implication of this for the
„trust“ analysis. If some of the economic world is beyond the control of
any actor, then we may observe „punishments“ even when the
institutions deter bad conduct as much as they can. We should not
equate the finding that there are some examples of finking with the
claim that the institutions fail to generate honest conduct.
Now consider these issues in the context of a credit transaction. Suppose
Smith lends Jones $100 for a year at 5 percent interest. Smith risks the
opportunity cost of his money. The question is not whether Smith trusts
all potential borrowers or would trust Jones with his children, his house,
or his life. Smith just needs to think that Jones will come up with $105
in a year. Thus the interesting questions here are mostly about Jones and
the institutional environment in which the two work. What is the
chance that Jones will have the money? What legal sanctions can be
applied, and at what cost, should Jones refuse to repay? What reason
does Jones have to fear Smith’s bad opinion, should the debt go unpaid?
What sanctions can Smith and Jones agree to, prior to the loan, that give
Jones the right incentives to repay the debt?
All of this is implicit, and sometimes explicit, in the game theory and
information economics that now dominates most related discussions
in economics. Given my argument it is curious that some of the most
famous uses of such theory are often labeled parts of the „trust“
literature when, as noted here, they have little in common with it. This
is true, for example, of Avner Greif’s analysis of the „coalition“ formed
by Maghribi traders in the Mediterranean region in the 10th–12th
centuries (Greif 1989, 1994). The point of the coalition is to make
information more available and sanctions more effective, thus encourage honest behavior. Greif actually explicitly denies an interpretation
that would stress the moral qualities of those involved (1989, pp.862–
863).
Trust: A Concept Too Many
111
Note what we have not assumed. Our hypothetical partners care about
the institutional context in which they live. They may be atoms, as in all
orthodox economic theory, but the social context still matters. And
nothing in what we have said requires perfect information about each
other or anything else.8
The problem of credit for poor people
To see what „trust“ can or cannot tell us about credit for people, we
explore three different settings in the second half of the 19th century
and early 20th centuries. The first, Germany, is justly famous for an institutional solution to the problem of providing credit for the poor.
Germany’s credit cooperatives thrived in that country and became the
model for similar institutions in many other places. In the second, rural
Ireland, reformers tried to transplant German credit cooperatives
without success. Although based on the German model and supported
by a variety of private and governmental organizations, Irish credit
cooperatives stagnated after their inception in 1894. Third, we turn to
the United States, where institutional attempts to provide credit to poor
people have been based on different models and have never worked as
well as advocates hoped. In each circumstance our purpose is to ask what
trust can teach us about the success or failure of an institution that the
economics of sanctions and information cannot.
The idea that credit in particular, or financial services more generally,
is a serious part of the problem of poverty goes back at least to the late
18th and early 19th centuries. At that time social reformers in Europe
began to advocate specialized savings institutions for poor people. The
twin motivations were to inculcate in the poor habits of thrift, which
were thought to promote a more forward-looking, settled lifestyle, and
to encourage poor people to build up savings as buffers against the
irregular incomes and vicissitudes that were their lot. The larger
motivation was to reduce the fiscal burden of poverty by helping the
poor to help themselves. One outgrowth of this thinking was the
savings-bank movement that started in many European countries in the
early 19th century.9
By the mid-19th century reformers in several European countries had
identified credit as a more serious and vexing issue. Today economists
and others tend to stress poor people’s need for credit as a way to manage
irregular incomes and shocks such as unemployment and illness. Most
19th-century advocates stressed instead productive loans, implicitly
accepting the view that loans for consumption purposes were to be
avoided. Low-cost credit, it was thought, would reduce the operating
112
Trust: A Concept Too Many
costs of enterprises such as farm, small producers, and shops, and also
allow working-class people to acquire their own independent means.
Credit for poor people was and remains problematic because the information and sanctioning mechanisms used to support other loans do not
work as well for loans to the poor. Most loans to poor people are relatively
small, meaning that any fixed costs of investigation, monitoring, or
enforcement are large relative to the loan. Poor people may also be
problematic borrowers for other reasons, such as an unsettled lifestyle
and irregular incomes. But the basic reason is that most poor people lack
assets that are useful collateral to a lender. Collateral serves as an information device. Individuals who risk their own assets will not apply for a
loan if they do not expect to be able to repay it, and once they have a
loan, will take care to make payments. Collateral also serves as a way to
enforce loan terms. If the borrower does not repay, then the lender can
seize the collateral. Most lending institutions require collateral that the
poor, by definition, lack. Pawnshops, which have long been reviled for
their high interest rates, amount to an effort to lend on the basis of the
only collateral that most poor people own: clothing, simple household
articles, etc.10
Germany’s credit cooperatives
The stress on credit issues was not confined to Germany, but Germany
witnessed the first large-scale, institutional flowering of this concern.11
The credit cooperatives that thrive in Germany today owe their origins
primarily to three groups in the 19th century. The mid-19th century was
a period of rapid economic change in Germany. Occupational freedom
and increasing intra-German and international competition meant new
challenges for farmers, artisans and small trades people. Two of the first
branches of German cooperatives owe their existence to efforts to deal
with these challenges. Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) founded
several primarily urban cooperative associations during the 1840s and
1850s. Friedrich Raiffeisen (1818–1888) operated in rural areas, and was
at first an imitator of Schulze-Delitzsch. He later broke with SchulzeDelitzsch over ideological and organizational issues. The number of
Raiffeisen cooperatives at first grew rapidly, but was later eclipsed by
cooperatives affiliated with a group formed by Wilhelm Haas in the
1870s. Both the Raiffeisen and Haas cooperatives were primarily rural.
The several groups of credit cooperatives advocated differences in internal organization and practice. But in many respects Germany’s credit
cooperatives were all similar, in part because they were organized under
common incorporation rules. After 1889 all new cooperatives were
Trust: A Concept Too Many
113
registered under a Reich law. Each had to have two management organs,
an Aufsichtsrat and a Vorstand. Both organs were elected by the
membership. The Vorstand made credit decisions and supervised the
treasurer. The treasurer (Rechner or Rendant) was formally a bookkeeper
but by virtue of his position often assumed a leading role in the
organization.
Most individual institutions held loans to members as their major asset.
The nature of their liabilities constitutes one source of institutional
variation. Rural cooperatives tended to have nominal member shares
and at least at first funded their loan portfolios almost entirely from
deposits. Depositors could be members, but many were not. Urban credit
cooperatives tended to have larger member shares and were thus less
reliant on external sources of finance.
Cooperatives had the right to accept or reject new members. Similarly,
the Vorstand could and did reject loan applications, or require better
security or other changes in terms. Loan terms were a matter of discretion for each local institution. Rural cooperatives thought it was
important to provide long-term credit, and usually did so, offering loans
with durations of 10 years, 20 years, and even longer. Urban credit
cooperatives were more concerned about liquidity and did not see their
members as needing this kind of finance. Most urban cooperatives
offered shorter loans, and in fact discounting bills of 30–60 days’
maturity was a common means of providing credit. Nearly all loans
required some form of security. The most common form of security for
rural credit cooperatives was at first simply a co-signer, although for
larger loans it could be real property.12
The rural cooperatives especially amassed what seems like an astounding record of lending successfully to borrowers that other institutions
had spurned. Default on individual loans was rare, and the failure of an
entire credit cooperative was extremely rare. The credit they provided
was as cheap as it was convenient: most credit cooperatives charged at
most 1 percent more than the Reichsbank’s Lombard rate. Some charged
fees in addition to interest, but these fees were always modest. For many
of their borrowers, alternative sources of credit were either non-existent
or limited to moneylenders and others who would demand much higher
interest rates and shorter loan durations.
This record has, not surprisingly caused some to invoke trust as an
explanation. In fact, in a nice twist, Ute Frevert has interpreted my own
writings on these cooperatives as a situation evincing trust.13 The fact
that Germany’s credit cooperatives could make small loans that were
secured by co-signers (who in most cases would not have been acceptable
security to other lenders) invites this kind of interpretation. Rural credit
114
Trust: A Concept Too Many
cooperatives saw it as important to deal only with people the managers
and other members could know well. Some groups had formal rules that
limited a single cooperative’s operations to a small district (such as a
parish). Depositors, too, came mostly from the same area as the other
members. This meant the institution was less well-diversified than it
might want to be, but in return, it had another set of stakeholders who
were both well-informed and interested in the institution’s future. Even
in the absence of such a rule most members lived in or near a small
village or perhaps a group of nearby villages. This ensured that actual
and potential members knew each other well, and that all were easily
cognizant of each other’s social and economic activities. This seems like
precisely the environment that would evince high degrees of social
capital.14
But is „trust“ the right way to think of the cooperatives’ success? Many
of their practices suggest that the members did not trust each other.
Consider the lending decision. The manuscript business records I have
consulted suggest that the Vorstand considered all security with a
jaundiced eye. Real property was sometimes judged to be too hard to
sell to make useful security. More interestingly, proposed co-signers
were sometimes rejected or deemed inadequate. An applicant might be
instructed to keep one co-signer but get another one as well. Another
example concerns the cooperatives’ internal management and recordkeeping. Far from a simple reliance on each other’s goodwill, the credit
cooperatives demanded elaborate, formal internal controls. Just as in
the very largest corporations of the day, the functions of the Aufsichtsrat and Vorstand were strictly separated, with the former acting
as a sort of internal auditor for the latter, among other things. The most
serious controls surround the activities of the treasurer. Most had some
sort of financial bond, posted either by themselves or another member
of the cooperative. They had to present summaries of their books at the
monthly meetings of the Vorstand as well as to the Aufsichtsrat when it
met, which was less often.
None of this sounds like a situation in which everything worked fine
because the good folk all shared the same values. In fact, it sounds like
the sort of auditing and control systems that would make a large corporation proud – which was precisely what the cooperatives wanted. The
external institutional controls were even more elaborate. In addition to
the internal auditing and supervision, each credit cooperative had to
undergo external audits. These had been a feature of some cooperative
federations since the 1860s, but became mandatory with the 1889 law.
Most cooperatives joined a special cooperative auditing association that
hired and trained specialist auditors to inspect the cooperatives. These
inspections were thorough and the reports sometimes harsh.15
Trust: A Concept Too Many
115
Pointing out these formal controls is not meant to deny that these
institutions functioned differently from formal lenders, and were able
to lend successfully in situations where other lenders could not. But the
focus should be on the institutions, and how the institutions induced
the behaviors that were needed for success. We could stand back and just
say „trust,“ but this would teach us little about the cooperatives, the
context, or how credit really works.
Why did they work? My argument echoes a growing literature on the
development of micro-lending in developing countries today. The credit
cooperatives were not the same as most micro-lenders now. Today’s
micro-lenders are usually not mutual organizations, as were the
cooperatives, and modern micro-lenders usually offer different loan
terms. The common theme, however, is that the cooperatives operated
in environments where people (1) knew a great deal about each other
and (2) could cheaply and easily impose sanctions on borrowers who
might default on a loan or otherwise endanger the institution’s health.
The information made it simple to determine who was a good risk (that
is, who was a careful borrower) and to evaluate the quality of the cosigner(s), who were often the only security offered. The ability to rely on
co-signers was especially important. Few loan applicants had assets
suitable for a loan from a more formal financial institution, so being
able to tell which borrower’s co-signer would ensure repayment was
important to the cooperative’s ability to reach its clientele. The sanctions
capability meant that borrowers thought carefully about taking a loan
and were more cautious with its use. This saved the cooperative the
expense of legal proceedings to enforce repayment. The cooperatives
used this information and this capability to make low-cost loans to
people who might otherwise be denied credit.
Here we see precisely Williamson’s point: the cooperative members did
not trust each other in the sense of feeling assured each would do the
right thing just because they were good people. Far from it: they
demanded explicit, written guarantees, formal bonds, and multiple controls as a condition of operating. Credit decisions were based on meaningful security (although, perhaps, security different from that usually
acceptable to banks). This apparent paradox raises two questions in the
context of the trust literature. First, would we characterize these credit
cooperatives as operating in „high trust“ or „low trust“ environments?
Their success might justify the former claim. But why then did they
insist on all the institutional checks? Those checks could just as easily
suggest a lack of „trust,“ if we followed much of the literature. But then
it would be awkward to explain their lending patterns and success at
difficult lending. We will return to this theme in the conclusion, but for
now it is worth registering the sense that this apparent paradox reflects
116
Trust: A Concept Too Many
a problem in the meaning of „trust“ as it is used – not in our understanding of the cooperatives.
Second, do we learn anything by talking about „trust“ in the context of
these loan contracts? Suppose Müller takes a loan from the cooperative,
with Schmidt as his co-signer. The members of the cooperative Vorstand
that made the credit decision have probably known Müller all their lives,
and know his farm equally well. They can form judgements about his
abilities as a farmer, and the likelihood of success for the project he
wants to finance, based on that knowledge and their own knowledge of
local conditions. They know just as much about Schmidt. Müller knows
that if he defaults on his loan he will annoy Schmidt and likely be
ejected from the cooperative, which would annoy the rest of his neighbors and be a bad public signal. Knowing all this, the cooperative makes
the loans to people who it thinks will use the credit wisely and who will
repay it, if for no other reason than out of fear for ruining their relationships with their neighbors.
What more do we learn about the cooperative’s operations if we say the
cooperative trusts Müller, or that Müller is „trustworthy“? Why not just
say that the cooperative leaders know a great deal about Müller, and has
structured the loan contract such that it is in Müller’s interest to repay?
Raiffeisen’s cooperatives in Ireland
We now turn to an environment in which the credit cooperatives did not
work well, at least not at first.16 In 1894 Horace Plunkett’s Irish Agricultural Organization Society (IAOS) introduced German-style credit
cooperatives into rural Ireland. They received a great deal of advice from
German and other cooperative leaders. Some aspects of German cooperative practice could not be transplanted for legal reasons, but it is fair
to say that on the whole, the IAOS credit cooperatives were accurate,
even slavish, imitations of Raiffeisen’s rural credit cooperatives in
Germany. Plunkett and his circle had high hopes for the credit cooperatives in Ireland, and their expectations did not seem unreasonable. The
credit cooperatives in Germany thrived among an energetic and commercially-minded rural population who were not able to secure reasonable credit from banks and other financial institutions. Irish farmers
complained bitterly about their treatment at the hands of Ireland’s
banks, and seemed prepared to put less expensive credit to good use.
Almost from the first there were signs of trouble. Most credit cooperatives had little trouble attracting members and borrowers, and the
number of institutions grew at a healthy clip. But by other measures
they were doing badly. Many rural German credit cooperatives gathered
Trust: A Concept Too Many
117
significant excess deposits, and had to find some place to invest those
deposits safely. The Irish cooperatives never did. The near absence of
depositors harmed the Irish cooperatives in two ways. First, it meant
that the Irish cooperatives were essentially re-lending money they had
borrowed from a government agency, the Department of Agriculture
and Technical Instruction (DATI). This degree of state involvement was
unknown in Germany, and obviated, in least in the eyes of their critics,
the cooperatives’ entire claim to being „self-help“ institutions.17 Perhaps
more importantly, the inability to gather deposits showed that most
rural Irish people thought their money was safer in other depository
institutions. The specifics of management also suffered badly in Ireland.
German auditors complained about sloppy bookkeeping or poor attendance at the annual meeting of members, but these were complaints
about departures from a very high standard. Irish inspectors found that
books were hardly kept at all in some cooperatives, and that annual
meetings did not even take place.
Why was the Irish experience so disappointing? My study of the Irish
cooperatives was limited by lack of sources. Unlike the German case, I
was unable to locate manuscript business records for individual cooperatives or for the IAOS itself. To some extent I was forced to rely on the
IAOS’s own criticisms, or on those of outsiders such as the officials of
DATI. But three problems are clear. First, rural Ireland had a number of
depository institutions, including for-profit banks, savings banks, and
the ubiquitous Post Office Savings Bank. The latter especially was convenient and perfectly safe. Every Post Office was in effect a banking
office, and the Post Office Savings Bank’s assets consisted nearly entirely
of British government debt. This was in contrast to much of rural
Germany, where the nearest depository institution could be quite some
distance. Raiffeisen and other cooperative leaders had to convince
people that their deposits were safe in credit cooperatives, but these
people had few alternatives. His Irish counterparts had a much harder
case to make. As a result, the Irish institutions lacked a set of local stakeholders that were important in Germany. Second, the IAOS never
developed the formal external auditing structures that the Germans
had. The reasons for this are many, but in the end it meant that Irish cooperative leaders could not count on the training, inspection, and
discipline that came from well-informed, hard-nosed outsiders.
A third explanation for Irish credit cooperatives’ problems was favored
by many contemporaries, and while harder to evaluate, it was clearly an
issue. German cooperative leaders were perfectly willing to enforce loan
terms, even when they knew that their actions meant damage to a recalcitrant borrower. Problems in the German cooperatives were rare, but
their records contain instances of members ejected from the cooperative
118
Trust: A Concept Too Many
for failure to repay, as well as threats of court action. Several sources
claimed that Irish cooperatives were not, on average, willing to force
recalcitrant borrowers to repay; that rural Irish people were too easygoing and sympathetic to their neighbors. The IAOS itself complained
that the „natural kindliness“ of Irish people led them to a „mistaken
kindness to unthrifty borrowers“. One former cooperative treasurer
advocated enlarging the area of a credit cooperative’s operations on the
grounds that a borrower’s immediate neighbors could never bring
themselves to forcing a debtor to repay.18 This amounts to saying that the
cooperatives could not enforce loan terms unless they gave up on the
information advantages that made the entire institution work in the
first place. At one level this lack of toughness is connected to the deposits
question. Borrowers were not risking their neighbor’s savings, as in
Germany. A faulty borrower was only risking the cooperative’s ability to
repay a loan to a government he and his neighbors did not much like.
The only real consequence was the possible failure of the cooperative,
which would be the end of cheap credit.19
All of these issues were problems, and my own view is that the first, the
competition from alternative depository institutions, is, if not the most
important, then the easiest to overlook. None of them have anything to
do with trust as the idea is used in the literature. The Post Office Savings
Bank was simply another institution that got there first. The lack of
external auditing institutions has more to do with the IAOS’s own
failings, and perhaps the small size of the movement overall.
The final observation, that Irish cooperatives could not work because
rural Irish people were too kind-hearted, is worth a close look because
it illustrates the vagueness of the idea of trust. There are several ways to
understand this claim, and all of them presume that Irish people valued
other aspects of their ties to one another more than the repayment of
any given loan. What can „trust“ tell us about this behavior? There is
some sense in which rural Irish people had less information on one another than did their German counterparts. Rural houses in Ireland
tended to be spread about the countryside instead of arranged in
nucleated settlements, which means people saw less of each other and
had a less clear sense of who their neighbors were. But the salient difference seems to be the capacity to enforce loan terms. Suppose a cooperative lends to Murphy, with O’Brien as the co-signer. If Murphy thinks
the cooperative leaders would be unwilling to take steps to force him to
repay, then he will see the loan as a form of grant, and O’Brien will view
his co-signatory role as a formal matter rather than anything that
entails potential obligations on his part. The cooperative would probably not, as already suggested, be making such loans at all were it not
for the DATI credit. But how do we interpret this situation in the light
Trust: A Concept Too Many
119
of trust? In Germany cooperative members trusted each other to repay
loans. In Ireland they trusted each other not to be too adamant about repaying
loans. Trust in one circumstance led to a financial institution that worked,
while in the other it led to nearly the same financial institution’s virtual
failure. We learn nothing from labeling one or the other of these
societies „high trust“ or „low trust“. And if we did so we would miss an
essential lesson: the wrong kind of trust, as in the Irish case, can doom
a valuable institution. What matters are the incentives to act in particular ways.20
Small-scale credit in the United States
Our third example comes from a context where cooperative credit
institutions did not work very well either.21 The situation was not so
dramatic as in Ireland, but the credit union movement in the US, which
was modeled indirectly on the German credit cooperatives, never grew
to have anything like the relative importance of cooperatives in
Germany. There are, again, reasons that do not bear directly on our subject. One is the long history of unit banking and general incorporation
statutes for US banks. The US had many, many small banks, some of
whose customers would be among the more prosperous credit cooperative members in Germany. The other reason has to do with competition
between two foundations, the Twentieth Century Fund (which pushed
credit unions) and the Russell Sage Foundation (which advocated an
alternative approach detailed below).
The few successful credit unions that were formed in the US in the early
twentieth century shared a number of features that imply a restricted
potential. They tended to be associated with a firm or an industry,
instead of serving all those who lived in a locale, as was the case in
Germany. In some cases this limitation reflected the requirements of
enabling laws, but it also reflected deliberate choices within the movement. The credit unions were also over-represented among the employees of governments – local, state and federal. The literature gives several
explanations for this fact, but perhaps the most important reason was
that these people had a steady paycheck.
The Russell Sage Foundation (RSF), which from its inception in 1907 was
very interested in the issue of credit for poor people, at first pushed the
idea of credit unions but then concluded they had only limited usefulness. The RSF thought that credit unions would never work for the
urban poor and working classes who were most in need of reasonable
loan terms. The Foundation thought it better to alter the legal environment to encourage the entry of for-profit lenders. To this end the RSF
120
Trust: A Concept Too Many
pushed its Uniform Small Loan Law (USLL), succeeding in getting the law
passed in about 2/3 of the 48 states by 1940, when the Foundation lost
interest in the issue.
Uniform laws were and remain a vehicle in the United States for achieving near-uniformity in legal codes across states. After some preliminary
research in the first decade of the 20th century, the Foundation came
to the view that credit conditions for poor people were unsatisfactory
because the loans they sought were, by their very nature, expensive to
make. Most states had usury laws that capped legal interest rates at levels
much lower than those charged by lenders dealing with the poor,
usually not more than 6 percent per annum. As a result, the only lenders
operating in this market used a variety of stratagems to conceal the total
cost of their credit from the law and sometimes from borrowers. Others
operated outside the legal framework entirely. The USLL has several
features, but all can be summarized in two phrases: transparency and
the uncapping of interest rates. The law established a new class of lender,
a so-called small-loan broker, who had the right to lend small amounts
(less than $300 in most versions of the law) at rates that far exceeded
most state usury limits. The RSF recommended a rate of 3.5 per cent per
month. In return for this higher rate, the lender had to adhere to strict
standards governing the simplicity of charges (no fees, that is), disclosure of terms, etc.
The law was successful in that in every state that passed it, brokers
quickly set up new small-loan businesses and issued thousands of loans.
The law even led to the creation of extensive chain operations, some of
which (like Household Finance) became large, publicly-traded companies. But the USLL embroiled the RSF in a range of disputes, most of
which centered on its somewhat startling notion that the way to help
poor people was to allow lenders to charge them more. Credit-union
leaders were scathing in their criticism of the RSF on this point, and a
wider public grew to know the Russell Sage Foundation as the „3 and
one-half percent foundation“.
Whatever the merits of the Foundation’s arguments, underlying its proposals was an intellectually coherent analysis of the relevant credit market prior to the enactment of the USLL. According to the RSF’s leading
researcher, Rolf Nugent, providing small loans was an inherently expensive business. The USLL was motivated by the view that the only sensible
way to proceed was to recognize the high costs inherent in the business,
and relax the legal constraints that made it impossible to make small
loans honestly and profitably.
The RSF’s analysis bears careful consideration. Although it paid lip service to rural areas, most of its discussions pertain to urban areas of the
Trust: A Concept Too Many
121
United States. In Nugent’s view, the central problem was the fluid, anonymous social context of these cities. People moved to and from the city,
and changed jobs frequently. Lenders knew little about borrowers (most
business was generated by advertisements placed in newspapers), and
the sanctions a lender could apply to a borrower were weak or expensive. Some lenders restricted their business to „salary loans“, which
means loans to men earning salaries. Employment could be verified, but
beyond that lenders knew little about their customers. Most loans were
secured only by the borrower’s future income, or by household property.
This security might be very effective – many employers would fire
someone for taking a loan from such lenders, so the mere threat to
attach the borrower’s wages could be effective – but in any case it was
typically expensive to collect. The entire idea of the USLL was to allow
„honest capital“ to earn a return sufficient to bring sound business practices into the field.
Too little is known about credit conditions for poor people in this period
in US economic history to make firm statements about why the credit
unions did so poorly, or whether the USLL was the right approach. But
let us consider the Russell Sage Foundation’s analysis, which is clear
enough from the various internal reports and memos we have been studying. In their view, lending was expensive because the social environment implied that lenders knew little about borrowers, and could not
cheaply apply the sanctions that supported repayment in the rural German case. The Foundation’s pessimism about credit unions implied that
it was not convinced urban Americans could form themselves into financial institutions that could have better information or better sanctioning mechanisms than for-profit lenders.
If we wanted, we could claim that US cities had little social capital, or
that lenders were operating in a „low-trust environment“. But this
would (if we adopt the ways of the trust literature) be difficult to square
with the overall success of the American economy in this period. More
directly, this is precisely the society and period that features as the central success case in the entire trust parable: before Americans started to
bowl alone, they lived in dense networks of civic associations that generated large amounts of social capital. There is an empirical literature on
trust that thinks it has devised ways of measuring trust and characterizing societies in this way. But would such claims enhance our understanding of how credit markets worked, or why certain lending institutions were never very successful in the US?
122
Trust: A Concept Too Many
Conclusions
For the past ten years or so, scholars have discussed and applied the concepts of social capital and trust. Much of this literature is theoretical,
trying to define and refine these concepts and decide when they are relevant. But much is empirical: the authors of these studies hold that labeling some societies or contexts „high trust“ or „low trust,“ or arguing that
they had a great deal or very little social capital, is analytically useful.
Williamson argues that in commercial contexts, trust is at best a new
label for something that has long been understood. This practice is not
always pernicious in itself. Many intellectual movements are, at least in
part, a re-discovery of something older, and sometimes giving something a new name and trying to apply it to a broader range of social
phenomena stimulates scholars to see connections that might otherwise be lost. Something like this has probably happened in the recent
literatures on trust and social capital, and essays like Frevert (2003)
make up in breadth much of what they might lack in analytical rigor.
Before accepting this kind of logic, however, we must balance any gains
against the two costs implicit in literatures built around buzzwords.
Over-use of terms can amount to unintentional obfuscation, as the terminology implies connections that have never been demonstrated. And
buzzwords can crowd out more specific research aimed at understanding the particulars of institutions or a society. We would better understand some institutions and societies if scholars pushed harder to
appreciate the concrete details of life in the past, and worried less about
fitting their research into trendy paradigms.
This paper has argued that in the context of lending to poor people, and
by extension in commercial matters more generally, the concept of trust
is at best superfluous. There is no useful sense in which we can label
something a „high trust“ situation, or someone a „trustworthy“
borrower. There are only social contexts in which lenders know and can
cheaply acquire information on potential borrowers, and social contexts
in which lenders have effective ways to enforce the repayment of loans.
The mechanisms of information and enforcement may be as banal as credit registries and lawsuits, or as complex as kinship ties and the adjudication of disputes by village elders. Borrowers may repay because they
fear the law or because they fear alienating the community in which
they work, live, and worship. The trust literature would have it that credit registries and lawsuits are evidence of the lack of trust, while reliance
on kinship ties or village elders is trust incarnate. But this illegitimate
distinction just illustrates my point: the very term „trust“ has been
hijacked to make warm noises about certain types of institutions and
interactions, and has been robbed of much of its analytical value.
Trust: A Concept Too Many
123
More worryingly, focus on „trust“ can obscure a crucial question raised
in the Irish case: trust to do what? An institution that worked in one
place was done-in by the rural Irishman’s well-placed confidence that
his neighbors would not pressure him to repay loans. This attitude
might promote some types of collective action, but it undermined the
very basis of the credit cooperatives. Trying to figure out whether
Ireland was a „high trust“ society would tell us nothing. Understanding
the incentives built into the German credit cooperatives as they appeared in Ireland tells us a great deal. The importance of information
and enforcement, which is the core of the useful notion of trust, has
been recognized in economics for decades. Giving it another name, as
Williamson argues, will not accomplish anything.
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Trust: A Concept Too Many
125
Notes
*
Dieser Beitrag wurde zuerst im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2005/1, S. 77–92
veröffentlicht. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des
Akademieverlags.
1 Williamson (1993, p.469). For the title of my own paper I apologize to D.C. Coleman
(1983).
2 For surveys on micro-lending, see Ghatak and Guinnane (1999) and Morduch (1999).
3 Although I do not follow him fully, I am much indebted to Hardin (2001, 2002) for my
thinking on this issue. I am also very sympathetic to Coleman (1990)’s effort to construct a rational-choice interpretation of „trust“.
4 Mackie’s Table 8 also 1 relies on the illegitimate assignment of cardinal values to a question that does not have a natural metric. Fukuyama (1995) illustrates a different problem common in much of this literature: „trust“ in his view is inferred in any situation he finds admirable.
5 Ogilvie (2004b) calls this definition „trust as sentiment“, which might be a better term.
6 As later discussion makes clear, there are two complicating issues. One is that there are
general forces, such as the weather, that are beyond either partner’s control. This fact does
not pose a problem so long as the weather and its consequences for the venture are entirely observable. The second complication arises if the weather is not observable or if the
weather’s impact on the venture cannot be determined. In this latter case, one party might
blame the other for problems that are really due to the weather, while a guilty party might
shirk his responsibility by blaming the weather. We return to this issue below.
7 This is a clear implication of my paper with Miller (Guinnane and Miller 1996), which
is actually contract theory rather than game theory. In that model, the only circumstance in which a tenant would not pay his rent is where he has had bad luck and cannot pay. The landlord knows this is the only circumstance – that is, the landlord knows
that all non-payment reflects bad luck rather than shirking – but the landlord still has
to eject non-paying tenants to keep the incentives right. Put differently, in these models
sometimes the principal has to punish people he knows are innocent to, as Voltaire said
of Viscount Torrington’s hanging, „encourage the others“.
8 Our account is implicit in DasGupta (1988), which is a clear-headed application of the
ideas of economics to the problem of trust.
9 Guinnane (2002a) discusses this issue in the German case.
10 There is little economic analysis of pawnshops in the 19th century, and not much more
for these institutions today. See Guinnane (2002b) for some thoughts on pawnshops in
our period.
11 This section summarizes material found in Guinnane (2001).
12 These lending practices created liquidity problems. The cooperative „Central banks“
were one institutional response to this problem (Guinnane 2004).
13 Frevert (2003) is a wide-ranging survey of the contexts in which trust might be relevant.
She cites Guinnane (2001). Her paper is a stimulating and thought-provoking effort, but
also illustrates the qualms that lie at the heart of the present essay: any concept that
can be relevant to as many issues as she mentions cannot be of much use to understanding any of them.
126
Trust: A Concept Too Many
14 Put differently, German villages had all four of the features that are held to generate
trust among network members: shared norms, swift information transmission, effective sanctioning, and efficient collective action in pursuit of the shared norms. See Ogilvie (2004b).
15 Guinnane (2003) details the cooperative’s management and auditing systems. The cooperatives never did find a perfect solution to one continuing problem, which was embezzlement by cooperative treasurers.
16 This section draws on Guinnane (1994).
17 State assistance to German credit cooperatives prior to World War I was not significant.
The urban cooperatives complained that the Prussian Central Cooperative Bank, a state
institution, was a significant source of state aid to rural credit cooperatives. This claim
has also appeared in the scholarly literature. At best the claim is badly exaggerated
(Guinnane 2004).
18 The IAOS’ remark is in their annual report for 1902, quoted in Guinnane (1994, p.56).
The treasurer was testifying before a Parliamentary inquiry, quoted in Guinnane (1994,
p.57).
19 Members in Irish credit cooperatives had unlimited liability, which was also the practice in most rural cooperatives in Germany. I cannot say what happened when DATI
did not get its money back, but most cooperative members must have found it implausible that the government would seize their holdings to satisfying liabilities arising
from cooperative membership.
20As Ogilvie (2004b) argues, social capital can be put to bad uses as well as good. One
might say, in this case, that the Irish used their social capital to agree – effectively –
not to pressure each other to repay loans.
21 This section is based on a project with Bruce Carruthers. The project is still in its early
stages, and there is little extant work on this issue to date, so the discussion here is
more tentative. For more detail on the matters raised here, see Carruthers and Guinnane (2003).
22 Or so Putnam (2000) says.
Trust: A Concept Too Many
127
Abbildung 17: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur I
Abbildung 18: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur II
Die Hausbank –
Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
Josef Zimmermann
Deutschlands Bankensystem unterscheidet sich in wesentlichen Elementen nach wie vor deutlich von dem anderer Länder. Merkmale wie
Universalbanken und die Parallelität von privaten, öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Banken sind historisch gewachsene
Eigenheiten der deutschen Kreditwirtschaft. Die Hausbank als ein spezielles Modell langfristig angelegter Geschäftsbeziehungen zwischen
Banken und Unternehmen ist ein weiteres Merkmal.
Was macht eine Hausbank aus? Bietet eine Hausbankbeziehung Vorteile
gegenüber der Abdeckung der Finanzbedarfe in Unternehmen mit
jeweils neuer Lieferantenentscheidung im Bedarfsfall? Fallen die Antworten hierauf unterschiedlich aus, je nachdem, ob aus Sicht einer
Bank oder aus Sicht eines Unternehmens argumentiert wird? Hat eine
Hausbankbeziehung Auswirkungen auf den zentralen Bereich der Kredite?
Das sind die Fragen, deren Erörterung das Hausbank-Modell transparent
machen und in seiner komplexen Struktur verdeutlichen soll. Wichtige
Erkenntnis daraus sollte sein, ob und unter welchen Bedingungen dieses Modell aktuell und künftig seine Existenzberechtigung hat, ja möglicherweise aufgrund besonderer Leistungsfähigkeit zu einem Hoffnungsträger in der Beziehung zwischen Banken und Unternehmen werden kann. In diesem Fall wäre die Hausbank dann durchaus bedenkenswert für Finanzmarktstrukturen anderer Länder.
Was macht eine Hausbank aus?
Als Hausbank wird ein Kreditinstitut dann angesehen, wenn ein Unternehmen mit diesem Institut in einer dauerhaften Geschäftsbeziehung
seine Bankgeschäfte ausschließlich oder überwiegend abwickelt. Charakterisierende Elemente sind also Langfristigkeit und die Exklusivität
im Leistungsaustausch. Damit werden zwei Dinge deutlich: Zum einen
erfordert eine Hausbankbeziehung Zeit. Über die Wiederholung von
Einzelgeschäften aufgrund positiver Erfahrungen entsteht und wächst
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
129
die Erwartung, auch künftig werde ein beide Seiten zufriedenstellender
Leistungsaustausch zwischen den Geschäftspartnern gewährleistet.
Andererseits muss das Kreditinstitut mit seinem Leistungsspektrum in
der Lage sein, den jeweiligen finanzwirtschaftlichen Bedarf des Unternehmens vollständig oder weitgehend abzudecken. Damit erfordert die
Fähigkeit zur Hausbank Universalbanken, wie sie sich gerade in
Deutschland historisch entwickelt haben und anhaltend die Bankenszene prägen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Hausbank ein
vor allem deutsches Phänomen ist und in anderen Ländern – speziell in
denen mit angloamerikanisch geprägten Finanzsystemen – in dieser
Form kaum oder gar nicht angetroffen wird. Typisch in der Lieferbeziehung ist das Angebot und die Abnahme des ganzen Universalbanksortiments im Gegensatz zu transaktionsorientierten und produktbezogenen Geschäftsabschlüssen.
Der Zeit beanspruchende Aufbau einer solch exklusiven Geschäftsverbindung führt nun zu einer Reihe von Wirkungen, die ihrerseits wiederum als wichtige Charakteristika einer Hausbank gelten:
1. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis. Dieses gilt zunächst für die Beziehung der interagierenden Personen, zuvorderst der Finanzverantwortlichen auf Seiten
der Unternehmen und der Firmenkundenbetreuer auf Seiten der
Bank. Je nach Größe der Partnerorganisationen agieren allerdings auf
beiden Seiten situationsbezogen oft eine Mehrzahl von Personen
unterschiedlicher Hierarchieebenen und Fachkompetenzen. Auch für
diese gilt es, die zum Aufbau von Vertrauensbeziehungen notwendigen Voraussetzungen zu erfüllen.
Vertrauen setzt zum einen bestimmte Verhaltensweisen der handelnden
Personen voraus. Als wechselseitig wichtig erwiesen sich hier
• der angemessene Einsatz für die Belange der jeweils anderen Seite,
• die wahrgenommene Fairness in der Nutzung besonderer Informationen und Machtpositionen,
• die Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit im Hinblick auf die Einhaltung
von Absprachen und Zusagen,
• eine offene, zeitgerechte und Transparenz schaffende Kommunikation,
• die verlässliche Diskretion im Allgemeinen und in abgesprochenen
Themen im Besonderen.
Darüber hinaus muss sich Vertrauen in die Sachkompetenz des Partners
aufbauen und immer wieder bestätigen. Neben den persönlichen Kennt130
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
nissen und Erfahrungen der direkt kommunizierenden Personen kommen hier zusätzlich die nachvollziehbare Leistungsfähigkeit von Bank
und Kundenunternehmen als institutionelle Einheiten zur Geltung.
Voraussetzung für einen gegenseitigen Vertrauensaufbau auf dieser
Ebene ist das Zusammenpassen der Bedarfs- und Anspruchsniveaus auf
beiden Seiten, geprägt vor allem durch Faktoren wie Unternehmensgröße, Organisationsstruktur und Marktradius (Internationalität, regionale Ausrichtung).
Hier wird deutlich, dass Vertrauen, obwohl als solches zunächst ein personenbezogenes Konstrukt, auch auf die Wahrnehmung und Beziehung
von und zu Organisationen übertragen wird. In Hausbankbeziehungen
kommt dieser Ausprägung eine besondere Bedeutung zu, da die Faktoren Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit über die interagierenden Personen gerade in wichtigen Fragen repräsentativ beziehungsweise stellvertretend für die jeweiligen Organisationen eingebracht werden.
In Geschäftsbeziehungen zwischen Banken und Unternehmen spielt das
Kreditgeschäft regelmäßig eine herausragende Rolle. Die Klassifizierung als Hausbank postuliert zuvorderst eine stimmige Kreditbeziehung. Während wir bisher einzelne Einflussfaktoren des Vertrauens
betrachtet haben, werden Kredit und Vertrauen oft als unmittelbar
zusammenhängend, als quasi symbiotische Begriffe angesehen. So formuliert zum Beispiel L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute bereits
Mitte des 19. Jahrhunderts: „Als Kredit im subjektiven Sinne bezeichnet
man das einer Person entgegengebrachte Vertrauen, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllen wird.“ Dies entspricht dem Sinngehalt von „Credere“ als zugrunde liegendem Begriff im Sinne von „Glauben, Vertrauen
schenken“. Im Kredit wird anderen Geld (oder eine Sache) überlassen,
im Vertrauen, es wieder zurückzuerhalten.
Verlässlichkeit als Element der Hausbankbeziehung erfordert nun
gerade auch Verlässlichkeit im Kreditgeschäft, das heißt eine entsprechende Kredit- und Risikobereitschaft beziehungsweise eine adäquate
Risikoeinschätzung von Kreditgeber und Kreditnehmer. Dass die Hausbank hier regelmäßig in einer im Vergleich zu anderen Banken speziellen Ausgangslage ist und andererseits mit besonderen Anforderungen
und Erwartungen konfrontiert wird, wird noch im Einzelnen zu zeigen
sein.
2. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht eine besondere Vertrautheit. Diese Vertrautheit ist das Ergebnis eines regelmäßigen und
systematischen Informationsaustauschs mit der Folge, sowohl im
Zeitablauf wie auch in der breiteren Durchdringung den Kenntnisstand über den Geschäftspartner auszuweiten, zu komplettieren und
auf diese Weise ein hohes Maß an Transparenz für beide Seiten zu
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
131
schaffen. Fokussiert ist die Vertrautheit in den Personen der direkten
Kommunikation, wo neben den institutionell erfassten Informationen ein zunehmendes informelles Wissen das gegenseitige Bild präzisiert und erweitert.
3. Die Geschäftsbeziehung zwischen Hausbank und Unternehmen
umfasst ein besonderes Leistungsspektrum. Wie bereits angesprochen,
liegt dem Hausbank-Modell die Lieferfähigkeit in grundsätzlich allen
finanzwirtschaftlichen Leistungsbereichen zugrunde. Hausbank
kann insofern nur eine Universalbank sein. Zugleich wird nur ein Kreditinstitut zur Hausbank werden, das in Größe und (oft damit einhergehender) Leistungsbreite den normalen Bedarf des Unternehmens abdecken kann. Dies muss nicht in allen Fällen aus eigener
Kapazität möglich sein. Kooperationen zwischen Banken oder die
Zusammenarbeit in Bankenverbünden ermöglichen die Deckung
auch singulären und/oder außergewöhnlichen Bedarfs in professioneller Weise. Durch die Koordination externer Expertise über die
Hausbank kommen deren Wirkungselemente auch in diesen Fällen
im Wesentlichen zum Tragen.
4. Der Aufbau einer Hausbankbeziehung erfordert regionale Nähe. Trotz
aller Kommunikationsmedien ist die regelmäßige persönliche Begegnung anhaltend eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen und
Vertrautheit. Die zur Pflege der Verbindung erforderlichen Treffen
kommen häufiger zustande, wenn der Wegeaufwand gering ist.
Zugleich vergrößert eine gemeinsame gesellschaftliche Alltagsumgebung die Kontaktflächen der Gesprächspartner und unterstützt die
informelle Kommunikation.
Entwicklungsphasen des Hausbank-Modells
Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Aktienbanken sind
eine Antwort auf den zunehmenden Kapitalbedarf der Industrialisierung, zu deren Deckung sie im Gegensatz zu den bis dahin vorherrschenden Privatbankiers auch Kundeneinlagen aufnehmen konnten.
Damit etablierten sich die Banken als Bindeglied zwischen Anlegern
und Kapitalsuchenden. Das Leistungsspektrum dieser Aktienbanken
umfasste in der Folge dann mit dem Einlagengeschäft und dem Kreditgeschäft sowie dem Emissionsgeschäft die Kernelemente einer Universalbank, die im Laufe der Zeit noch durch das Transaktionsgeschäft (im
Wesentlichen Zahlungsverkehr) und das Handelsgeschäft ergänzt wurden.
Mit dieser Leistungspalette war eine Aktienbank in der Lage, allen
Finanzbedarf eines Unternehmens zu decken. Es entstanden intensive,
132
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
langfristig angelegte Hausbankbeziehungen (untermauert oft auch
über wechselseitige Aufsichtsratsmandate) mit dem Ergebnis einer
engen und klar strukturierten Verflechtung von Großbanken, Industrie
und Handel.
So erfolgreich diese Struktur für Großunternehmen bis zum Ersten
Weltkrieg war, so vernachlässigte sie doch große Teile des in dieser Zeit
ebenfalls an Bedeutung gewinnenden gewerblichen Mittelstands. Regional ausgerichtet boten sich hier für unterschiedliche Kundengruppen
die ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken an. Auch sie hatten (abgesehen vom Emissionsgeschäft) die Grundstruktur von Universalbanken. Damit war auch für
mittelständische Unternehmen der Weg zur Hausbankbeziehung offen
und vorgezeichnet.
Ausgehend von diesen Wurzeln sollte das Hausbank-Prinzip als Ausdruck einer umfassenden und langfristigen Verbindung zwischen Banken und Unternehmen bis heute ein charakteristisches Element des
deutschen Bankensystems bleiben. Allerdings zeigten sich im Zeitverlauf deutliche „Wellenbewegungen“ in der gesamtwirtschaftlichen
Bedeutung dieses Modells. Herrschte anfangs das Bewusstsein vor, eine
Hausbank betreue ein Unternehmen von der Entstehung bis zur Auflösung als exklusiver Finanzpartner, so sorgten der aufkommende Wettbewerb unter den Banken und das zunehmende Selbstbewusstsein und
Unabhängigkeitsstreben vor allem der größeren Industrieunternehmen
schon vor dem Ersten Weltkrieg für eine Aufweichung der ursprünglich
fest geordneten Beziehungsstrukturen. Ab Mitte der zwanziger Jahre traten zunehmend auch ausländische Banken im Wettbewerb um deutsche
Großunternehmen auf, mit der Konsequenz von Konditionen- und Margenverfall, leichterer Kreditvergabe und unzureichender oder wenig
konsequenter Kreditkontrolle. Während der Mittelstand nach wie vor
auf feste Bankbeziehungen angewiesen war, nutzten Großfirmen diese
Situation über Parallelbeziehungen zu Banken mit Vorteilsentscheidungen im einzelnen Geschäft und damit quasi der „Kündigung“ des
Hausbank-Modells.
Im Ergebnis lassen sich aus dieser Entwicklung die Wettbewerbsintensität zwischen Banken, das Ausmaß der im Finanzsektor insgesamt verfügbaren Liquidität und schließlich die (gerade auch finanzielle) Stärke
der Unternehmen als wesentliche Einflussfaktoren für die Art der
Kunde-Bank-Beziehung festhalten.
Dies bestätigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wo in einer ersten
Phase von Kapitalknappheit, eher schwachen, weil im Aufbau befindlichen Unternehmen und einem auch qua Regulierung geringen Bankenwettbewerb das Hausbank-Modell eine Renaissance erlebte. In der
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
133
folgenden Entwicklung zeigte sich erneut, dass mit dem einsetzenden
Wettbewerb unter Banken, einer zunehmenden Liquidität im Markt
und erfolgreichen Unternehmen als Kunden die zuvor engen Hausbankbeziehungen zunehmend aufgeweicht wurden. Mit dem Fall des
Habenzins-Abkommens 1967 entstand der Wettbewerb um Einlagen; die
Kreditinstitute konkurrierten zunehmend um die reichliche Liquidität.
Dadurch sinkende Margen machten die Kreditfinanzierung zusammen
mit staatlichen Begünstigungen für Unternehmen immer attraktiver.
Auch für weniger ertragreiche Investitionen fand sich bei Zögern der
Hausbank problemlos ein anderer Financier. Dies wurde begünstigt
durch die gegenseitige Durchdringung der ursprünglich relativ separiert betreuten Firmensegmente und damit der „Auflösung der Arbeitsteilung“ zwischen den privaten Filialbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Im Verbund mit ihren jeweiligen Landes- beziehungsweise Spitzeninstituten konnten auch kleinere Sparkassen und
Genossenschaftsbanken anhaltend die beispielsweise mit Auslands- oder
Kapitalmarktgeschäften erweiterte Leistungspalette einer Universalbank
selbst größeren Unternehmen anbieten. Großbanken umwarben andererseits zunehmend den Mittelstand in allen Abstufungen. Das forcierte
Auftreten ausländischer Banken bei größeren Firmen verschärfte den
Wettbewerb, der aufgrund fehlender oder nur geringer Leistungsunterschiede in der Regel über Konditionen ausgetragen wurde.
Mit dieser Entwicklung standen die überkommenen Hausbankbeziehungen zunehmend unter Druck. Das in der Preispolitik auf kalkulatorischen Ausgleich angelegte Geschäftsmodell der Hausbank sah sich mit
Einzelangeboten konkurrierender Anbieter konfrontiert, die auf Dauer
und in der Breite der Leistungspalette keine rentable Verbindung mehr
erlaubten. Aufgrund geringer Eigenkapitalanforderungen konnten sich
die Banken dieses Marktverhalten lange Zeit erlauben; im Kreditgeschäft verdiente bei genauerem Hinsehen allerdings kaum ein Institut
mehr Geld. Dieses Problem wurde besonders offenkundig, als mit Einführung des Basel-II-Abkommens differenzierte und in der Summe
strengere Anforderungen an das Eigenkapital der Banken bei der Kreditvergabe gesetzt wurden.
Auf Unternehmensseite wurde die Zahl der Bankverbindungen mit dem
Ziel ausgeweitet, für die verschiedenen Leistungen immer mehrere
Anbieter ansprechen und dabei die Konditionen günstiger gestalten zu
können. Die Banken definierten ihre Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen über die Quoten am jeweiligen Leistungsbereich. Größere
Unternehmen ersetzten den bilateralen Dialog mit ihren zahlreichen
Banken durch Meetings, in denen möglichst alle Institute vertreten und
gemeinsam über die Lage und Entwicklung des Unternehmens informiert werden sollten. Die Charakteristika einer Hausbankbeziehung
134
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
sind in diesem Modell nicht mehr erfüllt. Der Lieferbeitrag der Banken
für ein Unternehmen wird ein rein rechnerischer und lässt sich allenfalls mit der Unterscheidung von Kernbanken und Nebenverbindungen
klassifizieren.
Das Hausbank-Modell aus Sicht einer Bank
Universalbanken müssen ein nachhaltiges Interesse haben, Hausbank
stabiler Unternehmen zu sein. Bei gut funktionierenden Beziehungen
sind es vor allem zwei positive Wirkungen, die eine solche Position mit
sich bringt:
1. Deutliche Vorteile im Wettbewerb mit anderen Banken.
2. Imagegewinn im Wirtschaftsumfeld und bedingt auch in der allgemeinen Öffentlichkeit durch die wahrgenommene Verbindung zu
renommierten Firmen.
Wettbewerbsvorteile beruhen zum einen auf einer besseren Informationsversorgung. Eine langfristige Geschäftsverbindung führt durch systematische Informationsaufnahme und Dokumentation im Laufe der Zeit
zu einem quantitativ und qualitativ überlegenen Informationsstand. Bei
den regelmäßig eingereichten Geschäftszahlen werden Vergleiche aussagefähiger und Beurteilungen fundierter. Entwicklungen im Zeitablauf
ermöglichen Trend- und Wirkungsanalysen; unternehmerische Entscheidungen lassen sich längerfristig verfolgen und beurteilen.
Die breite Leistungspalette als Hausbank mit ihren vielfältigen Anknüpfungsstellen in die Unternehmen hinein führt zu einem erweiterten
Informationsstand über die Produktions- und Leistungsstruktur der
Unternehmen. Beispielhaft sei hier der Kenntnisstand über Umfang
und Erfahrung im Auslandsgeschäft genannt, der gerade auch über die
tägliche Abwicklung von Auslandstransaktionen genährt wird. Aber
auch die gemeinsame Erarbeitung von Förderanträgen bringt detaillierte Einblicke in die Forschungs- und Entwicklungsstrukturen und
damit die Innovationskraft eines Unternehmens.
Von wesentlicher Bedeutung ist das Zeit beanspruchende Kennenlernen
der handelnden und kommunizierenden Personen auf Seiten der
Geschäftspartner. Hausbanken mit einer stabilen Betreuungsstruktur
erreichen in der Regel einen hohen personenbezogenen Informationsstand mit der Konsequenz von persönlicher Vertrautheit und Vertrauen.
Dies sorgt für eine permanent leichtere Informationsbeschaffung als Basis
für die Erhaltung des privilegierten Informationsniveaus. Der so etablierte Firmenkundenbetreuer einer Bank hat die Möglichkeit, seine
Gesprächspartner beim Kunden jederzeit zu erreichen und so InformaDie Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
135
tionen zeitnah und vertieft zu erhalten. Über regelmäßige Besuche der
Kunden eröffnet sich zugleich die Chance, tiefere Einblicke in die Unternehmensabläufe zu bekommen. Ein aufmerksamer Firmenkundenbetreuer kann auf diesem Wege gerade auch im Zeitverlauf ein mitunter
wichtiges Bild über Produktionsabläufe und Mitarbeiterstimmungen
bekommen. Auch der Besuch des Kunden auf Fachmessen liegt bei einer
Hausbankverbindung nahe und vermittelt dann regelmäßig Eindrücke
über Branchenzusammenhänge und Firmenpositionierungen.
Neben diesen geschäftsbezogenen Kommunikationsanlässen sorgen
aber gerade auch informelle Treffen und Austausche der Geschäftspartner für einen Auf- und Ausbau von Vertrautheit und Vertrauen. Die
gegenseitige Wahrnehmung und Begegnung in anderen gesellschaftlichen (auch ehrenamtlichen) Funktionen und bei privaten Vorlieben, die
aufgrund der gegebenen regionalen beziehungsweise lokalen Nähe
möglich ist, erweitert das Personenbild maßgeblich.
In der Folge dieser Kommunikationsstrukturen ist die Hausbank
grundsätzlich die Primäradresse für finanzwirtschaftlich relevante
Informationen eines Unternehmens. Der damit einhergehende Transparenz- und Zeitvorsprung bietet Handlungs- und speziell auch Beratungsmöglichkeiten vor allen anderen Konkurrenten.
Neben der Informationsversorgung ist ein weiterer Vorteil im Wettbewerb die Chance der Hausbank auf eine breitere und differenziertere Leistungsstruktur in der Geschäftsverbindung mit einem Unternehmen. Ein
professioneller Firmenkundenbetreuer sorgt für bedarfsgerechte Leistungs-, Beratungs- und Informationsangebote. Sein Engagement öffnet
die Wege zu einem nachhaltigen Cross-Selling, das heißt der umfassenden Wahrnehmung der Leistungspalette der Bank durch den Kunden.
Sein Know-how und seine Kundenkenntnis kann eine weiterführende
Beratung an der jeweils richtigen Stelle ansetzen. Das Vertrauen in seine
Person ermöglicht den Austausch sensibler Informationen und die
Sicherheit der Diskretion. Diese umfassende Leistungsbeziehung
ermöglicht es der Hausbank zugleich, in ihren Konditionen flexibler zu
agieren und im Hinblick auf das Ziel einer dauerhaften Rentabilität der
ganzen Kundenverbindung intertemporale und zwischengeschäftliche
Ertragsverschiebungen im Sinne eines kalkulatorischen Ausgleichs einzusetzen.
Ein entscheidender Wettbewerbsvorteil einer Hausbank ist aber vor
allem auch ihre bessere Ausgangsbasis im Kreditgeschäft. Neben dem bereits
dargestellten Informationsvorsprung bei gerade auch für Kredite relevanten Informationen sorgen Kreditgeschäfte im Verlauf einer längerfristigen Beziehung regelmäßig für einen bevorzugten Sicherheitenbestand. In der Zeit frei gewordene Teile sowie eine weniger aufwendige
136
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
aktuelle Bewertung schaffen regelmäßig Spielräume bei einer Neuvergabe von Krediten. So hat eine Hausbank als wesentlichen Vorteil die
Möglichkeit, Kreditentscheidungen schneller, fundierter und mit angemessenen Auflagen zu treffen und damit auch in Krisenzeiten eines
Unternehmens sicherer zu agieren.
Letztlich sorgt auch ein Imagegewinn aus stabilen Hausbankbeziehungen mit
imageträchtigen Unternehmensadressen für einen Wettbewerbsvorteil.
Die (abgestimmte) Berufung auf derartige Referenzverbindungen ist
regelmäßig ein nützliches Argument der Banken in der Werbung um
Nichtkunden und im Ausbau von Nebenverbindungen.
Den dargestellten Vorteilen einer Hausbank im Geschäft mit Unternehmen stehen allerdings auch einige besondere Risiken gegenüber. Eine im
Zeitverlauf wachsende persönliche Nähe und Vertrautheit birgt die
Gefahr einer Übergewichtung der subjektiven Wahrnehmung und der
sogenannten „weichen“ Faktoren (z.B. Fähigkeiten und Persönlichkeit
des Unternehmers) und einer Untergewichtung der objektiven, „harten“
Faktoren (z.B. Finanz- und Effizienzkennziffern). Wenn dann noch das
Vertrauen gezielt missbraucht wird (z.B. hinsichtlich Richtigkeit, Relevanz und Vollständigkeit der gegebenen Informationen), schlägt dieser
ursprüngliche Vorteil in ein gravierendes Problem um.
Ein zentraler Aspekt mit dem Potential für Enttäuschungen sind andererseits die Erwartungen, die mit einer Hausbankbeziehung bei den
Unternehmenskunden aufgebaut werden. Dies beginnt mit Erwartungen in den Leistungsumfang und in die Qualität der verschiedenen Leistungen eines als Hausbank in Frage kommenden Instituts. Hier haben
speziell kleinere und regional agierende Universalbanken strukturelle
Nachteile gegenüber internationalen Großbanken einerseits und Spezialbanken andererseits, die je nach Bedarfslage des Unternehmens aufgrund seiner eigenen Ausrichtung und Größe unterschiedlich bedeutsam werden. Ausgleichschancen werden hier regelmäßig durch Kooperationen, zum Beispiel innerhalb des Sparkassen- und Genossenschaftssektors, wahrgenommen. Gerade im Kreditgeschäft zeigt sich oft
die Notwendigkeit, in einer syndizierenden Aufteilung des erforderlichen Gesamtvolumens Leistungen über mehrere Banken darzustellen.
Hier gilt es für eine Hausbank, sich im Kreis der Syndizierungspartner
führend zu positionieren.
Erwartungen werden vor allem aber auch in das Verhalten der Hausbank aufgebaut. Während sich der Anspruch an die Verlässlichkeit von
Aus- und Zusagen noch leichter überprüfen lässt, ist die Einschätzung
von Fairness immer wieder subjektiv geprägt und erfordert auch Vorstellungen von den Handlungsspielräumen und -maßstäben des jeweiligen Partners. So ist beispielsweise die Erwartung einer fairen KondiDie Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
137
tionengestaltung von Seiten der Hausbank ein wesentlicher Anspruch
des Unternehmenskunden, wobei hier in der Regel kein „besser-als“, sondern ein „nicht-schlechter-als“ gefordert wird. Dass eine Hausbank im
Einzelgeschäft dabei durchaus besondere Spielräume hat, wurde bereits
dargestellt.
Schließlich richten sich Erwartungen von Unternehmen gerade auch
auf das Kreditgeschäft mit ihrer Hausbank. Von ihr fordern sie in erster
Linie, Kredit im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer
und zu akzeptablen Bedingungen erhalten zu können. Darüber hinaus
setzen die Kreditnehmer regelmäßig auf Dauerhaftigkeit der Kreditbereitstellung, selbst wenn ihnen die zumindest jährlichen Prolongationsentscheidungen auf Seiten der Banken bewusst sind. Immer wieder wird
die Diskussion über bestehende Kredite oder gar Kürzungsüberlegungen
als Enttäuschung dieser Erwartungen und als Vertrauensbruch gewertet.
Besonders hoch ist die Sensibilität in Krisenzeiten, wo an erster Stelle
von den Hausbanken gefordert wird, bei Krediten stillzuhalten oder
zusätzliche Kredite zu vergeben. Das wird für diese Institute dort problematisch, wo es nicht nur um eine Überbrückung von Liquiditätsengpässen mit berechtigter Aussicht auf späteren Ausgleich geht, sondern quasi eine „Nibelungentreue auf Gedeih und Verderb“ erwartet
wird. Gerade hier wird deutlich, welche Risiken in der sich aufbauenden
Erwartungsstruktur gegenüber einer Hausbank für diese liegen können
und wie weit der Anspruch auf Loyalität und Verlässlichkeit reichen
kann.
Das Hausbank-Modell aus Sicht eines Unternehmens
Bei der Frage der Vorteilhaftigkeit einer Hausbankverbindung soll nun
die Sicht eines Unternehmens eingenommen und dessen Kundensituation im Einzelnen geprüft werden. Vor allem drei Argumente sprechen
für Hausbankverbindungen:
1. Die geringeren Kosten der finanzwirtschaftlichen Bedarfsdeckung.
2. Die größere Bedeutung und damit Machtposition eines Unternehmens als Kunde für die Bank.
3. Die Berechtigung besonderer Erwartungen an eine Hausbank.
Geringere Kosten entstehen zum einen bei der Informationsbereitstellung.
Das bei der Hausbank vorhandene kulminierte Informationsniveau
macht in diesen Beziehungen bei aktuellen Anlässen die Vergabe lediglich von neuen Informationen notwendig. Auf die Aufbereitung einer
138
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
Informationshistorie, wie sie regelmäßig für fallweise hinzutretende
Banken erforderlich wird, kann hier verzichtet werden.
Bereits die Aufnahme jeder neuen Kommunikationsrunde gestaltet sich
einfacher. Die Ansprechpartner sind bekannt und gezielt erreichbar. Die
gegenseitige Vertrautheit sorgt für niedrige Schwellen einer Gesprächsaufnahme. Die so in unkomplizierter Weise zunächst bilateral führbaren Gespräche und Verhandlungen erbringen schnell einen Maßstab
für Machbarkeit, Bedingungen und Preise angefragter Leistungen, ein in
der Diskussion mit anderen Anbietern nützlicher Bezugsrahmen. Der
gegenseitige Kenntnisstand bei Hausbankverbindungen bietet darüber
hinaus die Chance für passgenaue Problemlösungen in kürzest möglicher Zeit. Wichtig ist dabei oft, dass bestehende Sicherheiten und die
Nutzung hier freier Teile regelmäßig für Kostenvorteile speziell im Kreditgeschäft sorgen.
Das Gewicht als Kunde wirkt sich in einer Hausbankbeziehung auf die Verhandlungsmacht in konkreten Geschäftsverhandlungen aus. Dies
beruht zum einen auf der Bedeutung als Abnehmer eines großen Teils
der Leistungspalette der Hausbank. Die Bank will bei einem Neuabschluss die laufenden Geschäfte in den anderen Leistungskanälen nicht
gefährden. Zum anderen kann ein Unternehmen mit Hinweis auf die
Beziehungshistorie den in der Vergangenheit erbrachten Nutzen als
Kunde ins Spiel bringen. Auch der höhere Kenntnisstand über die Entscheidungsstrukturen der Bank sowie die dort beteiligten Personen und
deren Verhandlungsspielräume führen zu einer präziser einschätzbaren und damit gezielter einsetzbaren Verhandlungsposition eines Unternehmens gegenüber seiner Hausbank.
Der Bezug auf die Kundenhistorie führt nach den dargestellten Vorteilen
bei Kosten und Verhandlungsmacht zum dritten Argument für Hausbankbeziehungen. Wie bereits aus Sicht einer Bank bauen sich auch auf
Seiten eines Kundenunternehmens im Laufe der Geschäftsverbindung
zunehmende Erwartungen in das Verhalten des Bankpartners auf, die eine
besondere Berechtigung haben. Die Erfahrung der Vergangenheit bei Art,
Umfang und Qualität der Leistungen bilden den Anspruchsrahmen bei
jedem neuen Geschäft. Die Fokussierung der Anforderungen an Schnelligkeit, Genauigkeit, geringe Fehlerquote, Beratungsumfang und -qualität sowie allgemeiner Informationsbereitstellung und Unterstützung
auf die Hausbank spiegeln dabei regelmäßig auch die Erfahrung mit
anderen Banken wider und ermöglichen so den Aufbau eines hohen
Erwartungsdrucks in der Kernpartnerschaft. Das bestehende Vertrauen in
die persönlichen Gesprächs- und Verhandlungspartner kommt hier mit
der Erwartung von Fairness und Verlässlichkeit, aber auch einer uneingeschränkten Diskretion in verstärkender Weise zur Geltung.
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
139
Von herausragender Bedeutung sind zweifellos die Erwartungen im Kreditgeschäft. Gerade hier wird von Seiten der Kunden Verlässlichkeit erwartet im Sinne von dauerhafter und ausreichender Kreditbereitschaft. Wie
bereits dargestellt, müssen Kredite im erforderlichen Umfang, in der
notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen Bedingungen erhältlich
sein. Oft wird dann eine in diesem Sinne funktionierende Kreditverbindung als Argument für die Wertschätzung des Unternehmens und
seiner Aktivitäten auch in der Außenkommunikation genutzt. Dies geht
mitunter so weit, dass eine positive Kreditentscheidung von Unternehmen oft als positive Wertung des zu finanzierenden Projekts und des
Unternehmens insgesamt gesehen wird. Im Vertrauen in die Urteilskraft
der Bank wird Krediterhältlichkeit damit zu einem Qualitätssiegel des
Unternehmens.
Eine Hausbank sollte aus Sicht des Kundenunternehmens auch dann
noch mit Kredit bereitstehen, wenn andere Institute zögern. Diese
Erwartung gründet sich auf die Summe der dargestellten Faktoren der
im Zeitverlauf gewachsenen Hausbankverbindung, wie Informationsund Kenntnisstand, Sicherheiten, Geschäftshistorie und persönliche
Beziehungen. Speziell in kritischeren Unternehmensphasen überlagert
der hier bestehende existentiell begründete Erwartungsdruck alle anderen Geschäftsbereiche und dominiert entscheidend das Verhältnis zwischen Hausbank und Unternehmen.
So berechtigt diese Erwartungen des Unternehmenskunden in einer
langfristigen Hausbankbeziehung sind, so sehr werden an dieser Stelle
auch die Risiken enttäuschter Erwartungen deutlich. Eine enge Bindung zur
Nutzung der dargestellten Vorteile führt zu Abhängigkeiten. Bei fehlender paralleler Pflege von Alternativanbietern ist ein schneller Wechsel des Lieferanten von Bankleistungen selbst bei grundsätzlich bestehenden Möglichkeiten kaum oder nur mit Nachteilen möglich. Zum
einen erfordert der Wechsel zu einer neuen Bank Zeit, die gerade bei
anstehendem Finanzbedarf oft zum Engpassfaktor wird. Zum anderen
entstehen Kosten durch einen erhöhen Informationsaufwand und gegebenenfalls Sicherheitenübertragungen. Generell sorgt der Verzicht auf
in einer Hausbankverbindung aufgebaute Verhandlungsmacht für eine
ungünstigere Ausgangsbasis bei der Suche nach Lieferalternativen.
Fast programmiert ist die Enttäuschung von Erwartungen in einer
Unternehmenskrise. Wird mit der Sicherung der finanziellen Basis bis
in die Phase der Liquiditätskrise gewartet, dann sorgt der existentielle
und zeitliche Druck für oft nicht erfüllbare Erwartungen, die sich zentral auf die vorrangig geforderte Hausbank fokussieren.
Besonders schwierig wird es, wenn die Hausbank selbst in einer schwachen wirtschaftlichen Lage sein sollte. Dann sind deren Spielräume in
140
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
allen Lieferentscheidungen, vorrangig in der Bereitstellung von Kredit,
der Flexibilität bei Konditionen und auch dem Angebot von Informations- und Beratungsleistungen, eingeengt. Die in einer solchen Hausbank
ablaufenden internen Maßnahmen und Veränderungen sorgen zudem
regelmäßig für Beeinträchtigungen oder Unterbrechungen in der Kontinuität bei den Beratungsstrukturen und damit für eine Reduzierung
der aufgebauten Hausbank-Vorteile.
Das Hausbank-Modell als Hoffnungsträger
Die dargestellten Vorteile und Risiken von Hausbankbeziehungen
sowohl aus Sicht einer Bank wie auch aus Sicht eines Unternehmenskunden machen deutlich, dass auf beiden Seiten Abwägungen vorzunehmen sind. Für beide Partner bietet eine solche Geschäftsverbindung
Vorteile, die diese auf Bankenseite einer produktorientierten Absatzstrategie und auf Unternehmensseite einem fallweise festgelegten
System von Lieferantenbanken überlegen machen. Voraussetzung ist
allerdings, dass die bestehenden Risiken beherrschbar gemacht werden, das heißt, die Risiken müssen durch entsprechende Informationen
transparent und kalkulierbar und durch angemessene Absprachen und
Vertragsbedingungen tragbar gemacht werden.
Die Ambivalenz von Vorteilen und Risiken ist Kern der Auseinandersetzung um das Hausbank-Modell, das in Krisenzeiten ob seiner mangelnden Tragfähigkeit im Kreditgeschäft oft heftig kritisiert wird, zugleich
aber mit seinem regelmäßigen Wiedererstarken in Rekonvaleszenz- und
Aufbauphasen seine Robustheit zum Vorteil der Geschäftspartner
immer wieder unter Beweis stellt.
Aus der vorliegenden Analyse lassen sich nun zwei Ansätze ableiten, die
zur Beherrschbarkeit der Risiken und damit zur Nutzung der Vorteile
des Hausbank-Modells führen:
1. Der Aufbau und die regelmäßige Bestätigung realistischer Erwartungen auf beiden Seiten (Erwartungsmanagement).
2. Die Vermeidung von Abhängigkeiten und starken Ungleichgewichten
in der Partnerschaft (Machtmanagement).
Im Brennpunkt der Erwartungen eines Unternehmens an seine Hausbank
steht deren Kreditbereitschaft. Wie festgestellt sollte Kredit im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen
Bedingungen erhältlich sein. Realistisch werden diese Erwartungen,
wenn der Kreditnehmer ein klares Bild von den Kriterien und Parametern der Kreditentscheidungen bei den Banken allgemein und bei seiner
Hausbank im Speziellen hat. An den so gesetzten Anforderungen ist die
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
141
eigene Situation zu spiegeln und in den Bewertungen wechselseitig
abzustimmen.
Diesem grundlegenden Anspruch lässt sich seit Einführung der bankinternen Ratingsysteme sehr viel präziser und umfassender Rechnung
tragen als in der Vergangenheit. Hier werden die Informationen des Kreditnehmers durch die Bank systematisch zusammengestellt, bewertet
und zu einem Krediturteil zusammengeführt.
An dieser Stelle soll nicht in einer Auflistung auf die differenzierten
Kataloge mit einer Vielzahl quantitativer und qualitativer Kriterien
eingegangen werden. Auf einige Punkte mit besonderem Potential für
Missverständnisse und Einschätzungsdifferenzen soll gleichwohl hingewiesen werden. So ist es wichtig, sich neben der bilanziellen Kapitalstruktur ergänzend Klarheit über bestehende Kapitalreserven zu verschaffen. Hierzu gehören mobilisierbare Reserven beim Eigenkapital
wie auch freie Kreditlinien. Der Kreditnehmer sollte sich bewusst sein,
dass der Kontokorrentkredit aus Sicht der Bank der variablen Inanspruchnahme dient. Feste Kreditsockel sollten laufzeitkongruent refinanziert werden.
Regelmäßig zu Meinungsverschiedenheiten führt die Bewertung von
Vermögensgütern. Sorgen bei den Sachanlagen die steuerlichen AfATabellen noch für eine auf beiden Seiten in der Regel akzeptierte Diskussionsbasis, so sind die Wertansätze bei den Warenbeständen und Forderungen oft von geringerer Konsequenz und vielfach von Hoffnungen
geprägt. Banken machen entsprechende Erfahrungen dann im Verwertungsfall, wo meist nur geringe Quoten zu erzielen sind. Kreditnehmer
sollten wahrnehmen und akzeptieren, dass dieses Worst-Case-Szenario
regelmäßig den Hintergrund für die Bewertung von Sicherheiten auch
bei gut laufenden Unternehmen im Normalgeschäft bilden muss.
Wichtige Informationen ergeben sich im Übrigen aus der Transparentmachung substantieller sonstiger Verpflichtungen des Unternehmens,
die nicht in der Bilanz erscheinen. Sich über latente Risiken aus abgegebenen Bürgschaften und Garantien sowie vertragliche Verpflichtungen aus Gewährleistungen, Produkthaftungen und Leistungsvereinbarungen im Klaren zu sein und diese systematisch zu verfolgen und zu
begrenzen, muss ureigenstes Interesse eines Unternehmens sein. Hierbei sind gerade auch die organschaftlichen Verflechtungen innerhalb
einer Unternehmensgruppe umfassend zu berücksichtigen.
Hinzuweisen ist schließlich auf die Bedeutung einer Reihe von qualitativen Faktoren wie Branche und Positionierung des Unternehmens
darin, Mitarbeitersituation und -struktur, vor allem aber auch Besetzung und Kontinuität in der Unternehmensführung. Hier ist eine Objek-
142
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
tivierung – wenn auch in unterschiedlichem Maße – immer wieder
schwierig. Verbindliche Bewertungen mit der Chance auf intersubjektive Belastbarkeit und auf Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmen
erfordern neben nachvollziehbaren Informationen ein hohes Maß an
gegenseitigem Verständnis und Fairness. Allerdings muss sich ein Kreditnehmer darüber im Klaren sein, dass auch dann, wenn diese Parameter nicht detailliert besprochen und bewertet werden, die Bank diese
Beurteilungen intern nach eigenem bestehenden Wissen vornimmt und
dabei naturgemäß eher vorsichtig vorgeht.
Realistische Erwartungen der Kunden an die Kreditbereitschaft einer
Bank setzen also die differenzierte Kenntnis deren Kreditentscheidungsund Kreditnehmer-Beurteilungssysteme voraus. Im Sinne dieses Eigeninteresses sind die gestellten Anforderungen der Banken auf Seiten der
Unternehmen ernst zu nehmen, Begründungen für die Einschätzungen
abzufordern und nachzuvollziehen, wo nötig, ergänzende Informationen bereitzustellen und schließlich eigene Einschätzungen einzubringen, aber auch zu überprüfen. Über einen solchen Dialog ist es möglich,
Fehler zu korrigieren und Urteile zu schärfen, gegebenenfalls aber auch
Veränderungsspielräume zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen abzustimmen. Für die Verlässlichkeit empfiehlt sich eine
schriftliche Protokollierung der Gespräche, für die Aktualität eine regelmäßige Überprüfung der Einschätzungen.
Es ist offensichtlich, dass ein solcher Dialog aufwendig ist. Als Kosten der
Finanzierung macht er sich aber bezahlt und ist dann am zweckmäßigsten grundlegend zu starten, wenn kein aktueller Finanzierungsdruck vorliegt. Bei später auftretendem Bedarf ist eine Bestätigung
oder Aktualisierung dann immer wieder schnell und kostengünstig
möglich.
Vor dem aufgezeigten Hintergrund führen Aversionen gerade auch mittelständischer Unternehmer gegen einen solchen Aufwand regelmäßig
zur Enttäuschung von Erwartungen. Allgemeine Aussagen wie „Wir
brauchen das Vertrauen der Banken, dass wir unser Geschäft beherrschen“ oder „Wir würden gerne investieren, aber das notwendige Geld
wird uns von der Bank nicht gegeben“ begründen keine Kreditbereitschaft von Banken.
Ebenfalls offensichtlich ist, dass eine Hausbankbeziehung mit ihren
charakteristischen Elementen deutliche Vorteile für solche Dialoge und
damit für realistische Erwartungen an die Geschäftspartner bietet. Dies
gilt gerade auch in einer Unternehmenskrise. In dieser Situation sind
Hausbanken regelmäßig in einer Schicksalsgemeinschaft mit ihren
Kunden. Insolvenzen zerstören Werte auf beiden Seiten. Geht es um die
Überbrückung von Liquiditätsengpässen, kann dies vor allen anderen
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
143
von der Hausbank erwartet werden. Wird das Unternehmen andererseits als nicht überlebensfähig eingestuft und Kredit in dieser Situation
abgelehnt, sollte eine Hausbank zumindest zweierlei leisten:
1. Eine klare Analyse und deren schnelle und offene Kommunikation.
2. Das Nachdenken über Bedingungen, wie es eventuell doch weitergehen könnte: „Wenn so nicht, wie dann?“ Dies kann gegebenenfalls
auch harte Einschnitte wie Teilverkäufe und Diversifizierungen beinhalten.
Letztlich wird es aber je nach Stadium der Krise immer wieder die Entscheidung auch einer Hausbank geben, nicht mehr weiter mit Kredit zur
Verfügung zu stehen. Hier greift die Verantwortung der Banken für
ihnen anvertrautes, fremdes Geld, die Kredit nur erlaubt im Vertrauen
und in der Überzeugung, diesen wieder zurückzuerhalten. Bei klar
absehbarer Wertevernichtung sind Erwartungen auf eine Krediterhältlichkeit nicht realistisch.
Berechtigterweise erwarten dürfen Unternehmen von ihren Hausbanken allerdings einen anhaltend fairen Umgang mit der notwendigen
Empathie. Zu Recht sind Stil, Offenheit und Klarheit der Kommunikation sowie Verlässlichkeit der Aussagen sensibel wahrgenommene Elemente einer derartigen Geschäftsverbindung.
Erwartungen von Banken richten sich demgegenüber in besonderer
Weise auf:
a. Informationen von Seiten des Kundenunternehmens,
b. dessen unternehmerische und finanzielle Führung sowie
c. Abschluss- und Erfüllungstreue bei den Finanzgeschäften.
Die Informationsvergabe des Kunden steht im Zentrum der Erwartungen einer Hausbank an eine derartige Geschäftsverbindung. Grundsätzlich ist die Bank an allen Informationen über das Kundenunternehmen
interessiert. Wenn dann noch die üblichen Anforderungen wie zeitnah,
vollständig, offen und zuverlässig und dabei für die Hausbank bevorzugt
genannt werden, wird deutlich, dass ein solcher diffuser Generalanspruch eher „absicherungstechnisch“ motiviert ist, einem belastbaren
Informationsmanagement und den darauf gerichteten Erwartungen
aber nicht gerecht werden kann. Erfüllbarkeit erfordert Präzisierung.
Ohne sich bis ins letzte Detail festlegen zu müssen, erscheinen hier zwei
Unterscheidungen nützlich:
1. Regelmäßig anfallende und erwartbare Geschäftsinformationen versus fallweise auftretende, nicht erwartbare Neuigkeiten.
144
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
2. Im Unternehmen vorhandene, weil im Eigeninteresse erstellte Informationen versus für Banken wünschbare, aber speziell zu erstellende
Auswertungen.
Bei 1. kann von den Banken erwartet werden, dass sie den ersten Teil so
genau wie möglich und in gegenseitiger Absprache definieren. Bei den
zweitgenannten Informationen muss eine Hausbank dann wiederum
verlässlich eine bevorzugte, zeitnahe und inhaltlich umfassende und
korrekte Kommunikation erwarten dürfen.
Bei 2. zeigt sich erneut, dass eine belastbare Bankbeziehung ein gewisses Maß an Know-how und Aufwand im Unternehmen mit sich bringt.
Anspruch an die Hausbank ist allerdings, als zumutbar akzeptable Anforderungen zu stellen. Dabei spielt eine große Rolle, inwieweit spezielle Ausarbeitungen auch für das Unternehmen selbst in dessen Führung genutzt werden können oder nützlich sind. Generell verschafft die
Rückmeldung über Inhalt und Bewertung gegebener Informationen
eine breitere Akzeptanz bestehender Erwartungen der Bank.
Ein sensibler Bereich im Dialog mit der Hausbank ist regelmäßig die
Kommunikation über die unternehmerische und finanzielle Führung des Unternehmens. Gerade bei kleineren und inhabergeführten Betrieben ist dieses Thema immer wieder emotional geprägt. So notwendig die Zurückhaltung bei schnellen Ratschlägen im Kern-Know-how der Unternehmensleitung ist, so berechtigt ist oft die Hilfestellung in finanziellen Fragen. Nicht umsonst wird dann von der Hausbank und gut ausgebildeten
Firmenbetreuern als einer quasi externen finanzwirtschaftlichen Stabsstelle des mittelständischen Unternehmers gesprochen. Dies übergeht
aber mitunter dessen anhaltende Verantwortung, selbst für eine tragfähige Liquiditätssteuerung und auch Finanzplanung mit rechtzeitiger
Deckung von Bedarf beziehungsweise dem Aufbau finanzieller Reserven
zu sorgen.
Hier nicht erst in der Liquiditätskrise zu reagieren, sondern vor der vorangehenden Ertragskrise und davor den strategischen Marktproblemen
nicht die Augen zu verschließen und gegenzusteuern, ist wiederum
ureigenste Fähigkeit einer guten Unternehmensführung. Dass dann in
der Krise Kreditgeber den Mut und die Konsequenz zu auch harten Einschnitten und Änderungen erwarten, ist nur folgerichtig.
Wenn schließlich Hausbanken eine bevorzugte Ansprache und Angebotsprüfung bei interessanten Neugeschäften erwarten, dann steht dem
naturgemäß die Erwartung des Unternehmens gegenüber, im Wettbewerb der Banken hier bei Leistung und Preisen zumindest nicht schlechter gestellt zu werden. Leistungsabstriche oder höhere Preise verträgt
eine Hausbankverbindung nur in begründbaren Ausnahmen. Anderer-
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
145
seits sollte eine etablierte Verbindung am ehesten auch die gegenseitigen Positionen glaubwürdig und nachvollziehbar machen und so zum
Beispiel den Anspruch „Banken brauchen ein rentables Kreditgeschäft“
nicht zum vordergründigen Verhandlungsargument um Zinsen degradieren.
Die breite Erörterung von Erwartungen auf beiden Seiten der Hausbankverbindung und die Betonung der Wichtigkeit, mit diesen Erwartungen offen und aktiv umzugehen, begründet sich letztlich in einer
fokussierenden Feststellung:
Vertrauen entsteht durch Glaubwürdigkeit, Glaubwürdigkeit durch
Nichtenttäuschung von Erwartungen. Über den realistischen Umgang
mit den wechselseitigen Erwartungen wird die wesentliche Grundlage
für eine dauerhafte, positiv wirkende Hausbankverbindung gelegt und
gepflegt: das gegenseitige Vertrauen.
Ein zweites Element einer partnerschaftlichen Geschäftsbeziehung soll
abschließend noch in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden: die Ausgewogenheit, die Balance in den gegenseitigen Abhängigkeiten.
Abhängigkeiten beschneiden die unternehmerischen Handlungsspielräume; im Extrem dominieren sie wesentliche Entscheidungen.
Sorge von Unternehmen ist vor allem die Abhängigkeit von der Kreditbereitschaft der Banken im Generellen und der Hausbank im Speziellen.
Wirksames Vorgehen ist hier vor allem, die eigene Kreditfähigkeit und
deren Spielräume und Einflussfaktoren zu kennen und im Sinne der
Banken richtig einzuschätzen. Gerade in – branchenbedingt und noch
mehr konjunkturbedingt – volatilen Märkten gibt eine (speziell im Branchenvergleich) hohe Eigenkapitalquote die Sicherheit der Unabhängigkeit. Bei den andererseits regelmäßig notwendigen und auch ökonomisch sinnvollen anteiligen Kreditfinanzierungen empfiehlt es sich für
Unternehmen, sich Alternativen bei Kern-Kreditgebern aufzubauen.
Hierzu gehört auch, auf die Verfügbarkeit und Fungibilität von Sicherheiten zu achten.
Dieser Ansatz gilt aber auch für die anderen Leistungselemente der Banken wie das Transaktionsgeschäft, das Fremdwährungsgeschäft und das
Einlagengeschäft. Leistungsalternativen sorgen hier für den notwendigen Wettbewerb mit der Konsequenz adäquater Leistungen und Preise.
Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass die ausschließliche Ausrichtung auf eine einzige Bankverbindung auch bei einem guten Erwartungsmanagement für ein Unternehmen immer noch substantielle Risiken beinhaltet. Die Etablierung von Alternativen in Form von zwei gleichberechtigten Verbindungen reduziert diese Probleme. Bei überschaubar erhöhtem Aufwand lassen sich die charakteristischen Elemente einer
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Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
Hausbankbeziehung in offener Kommunikation der Partner auch auf
zwei Banken übertragen und deren Vorteile vom Unternehmenskunden
nutzen. Das so praktizierte Zwei-Banken-Modell erscheint im Sinne
eines effizienten Machtmanagements das überlegene Hausbank-Modell
aus Sicht eines Unternehmens. Es verträgt im Kreditgeschäft – wenn
nötig – auch durchaus die Einbeziehung weiterer Banken in die Aufteilung und Deckung auftretenden Kreditbedarfs. Allerdings sollte in diesen Fällen die besondere Verantwortung der zwei Hausbanken herausgestellt und im Finanziererkreis berücksichtigt werden.
Für eine Reduzierung von Abhängigkeit sorgt schließlich auch eine
gewisse Balance in der Bedeutung eines Unternehmens als Kunde einer
Bank. Ein zu geringes Gewicht sorgt für die Gefahr einer niedrigen Aufmerksamkeit im Eingehen auf Kundenwünsche und -bedarf. Ein zu
hohes Gewicht führt zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Bank
bei neuen Entscheidungen aufgrund deren starken Wirkung auf das
eigene Geschäft. Die Verlagerung ertragreicher Geschäfte durch den
Kunden hinterlässt in diesem Fall besondere Spuren in der G+V der
Bank. Speziell im Kreditgeschäft bedeutet dies aber nicht nur das potentielle Wegfallen künftiger Erträge, sondern in Unternehmenskrisen
auch die Gefahr von einschneidenden Vermögensverlusten. Je größer
die Bedeutung eines Kreditkunden für eine Bank ist, umso stärker steht
diese dann unter einem Stillhalte- beziehungsweise Prolongationsdruck
bis hin zur Abwägung, mit zusätzlichen Krediten ein bestehendes Engagement zu sichern oder zu retten.
Die hier dargestellten Zusammenhänge spielen im Bewusstsein der
Geschäftspartner in der Praxis eine große Rolle. Nicht umsonst wird von
Unternehmen im Rahmen ihrer Finanzierung auch bei gut funktionierenden Beziehungen immer wieder die Unabhängigkeit von Banken als
Ziel genannt. Bei Banken kommt in dem Begriff der Schicksalsgemeinschaft mit Kreditkunden das Eingeständnis der hier nur bedingt gegebenen Entscheidungsfreiheit zum Ausdruck. Mit dem Zwei-BankenModell verteilen sich die Lasten in einer am besten tragbaren Weise auf
die Partner. Es erscheint unter Würdigung von Vorteilen und Risiken am
ehesten belastbar und tragfähig und könnte somit durchaus die Qualität eines zukünftigen Hoffnungsträgers im Geschäft zwischen Banken
und Unternehmen bieten.
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
147
Literatur
Ashauer, Günter: Entwicklung der Sparkassenorganisation ab 1924, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983.
Born, Karl Erich: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der Weimarer Republik (1914–1933), in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am
Main 1983.
Eckert, Christian: L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute, 55. Auflage, Leipzig 1912.
Elsas, Ralf: Die Bedeutung der Hausbank, Wiesbaden 2001.
Eschenbach, Sebastian: Wenn Kunden ihrer Bank vertrauen, Wien 1997.
Fischer, Klaus: Hausbank-Beziehungen als Instrument der Bindung zwischen Banken und
Unternehmen, Bonn 1990.
Pohl, Manfred: Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in:
Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982.
Pohl, Manfred: Festigung und Ausdehnung des deutschen Bankwesens zwischen 1870 und
1914, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982.
Pohl, Manfred: Die Entwicklung des privaten Bankwesens nach 1945. Die Kreditgenossenschaften nach 1945, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983.
Segbers, Klaus: Die Geschäftsbeziehungen zwischen mittelständischen Unternehmen und
ihrer Hausbank, Frankfurt 2007.
Stegmann, Johannes: Funktionen der Hausbank bei der Unterstützung von Unternehmensgründungen, Lohmar/Köln 2006.
Weber, Martin: Bankbetriebslehre, Berlin 2004.
148
Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
Abbildung 19: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken I
Abbildung 20: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken II
Vertrauen in der Krise?
Das ewige Karussell des Wertezerfalls
Stefanie Unger
„Eher schätzt man das Gute nicht, als bis man es verlor“, soll der Dichter Johann Gottfried Herder gesagt haben. Und er sollte recht behalten.
Zumindest im öffentlichen Raum erklingen Klagen über das Fortschreiten des Werteverfalls, der, angeführt durch die „Abzockermentalität“ in den Chefetagen der Banken, die Gesellschaft beinahe in den
Abgrund geführt hätte.
Vor wenigen Jahren ging die Wirtschaft nur bergauf, mehr Risiko
brachte mehr Gewinn. Nichts schien unmöglich. Und nun soll man sich
zurückbesinnen auf eine Zeit, in der noch alles anders war, die freie
Marktwirtschaft noch den Geboten der Rücksichtnahme und Angemessenheit folgte. Am besten sollte über staatliche Regularien gleich der
Zwang zur Huldigung dieser Gebote zementiert werden, um eine nachhaltige Marktwirtschaft auf immer zu sichern.
Kennen wir dieses Schauspiel nicht allzu gut, das Auf und Ab der Wirtschaft, der antizyklische und gleichsam iterative Schrei nach mehr oder
weniger Staat? War zur Zeit der New Economy nicht ein ähnlicher Verlauf zu beobachten? Mit dem Unterschied, dass die aktuelle Krise –
zumindest in Deutschland – noch stärker eingeschlagen hat. Das wissen
die Experten.
Doch wie konnte es nur so weit kommen? Diese Frage stellen sich nun
alle. Wenn wir die Unternehmensleitbilder unterschiedlichster Unternehmen studieren, fällt eines auf: Alle behaupten, ähnliche Werte zu
leben. Alle halten Werte hoch, die auf eine erfolgreiche Firma mit
gepflegtem Umgang im Hinblick auf interne und externe Ansprechgruppen schließen lässt. Alle wollen sie nachhaltig sein – sozial, ökologisch und ökonomisch versteht sich. Doch nachhaltig ist vor allem eines
– die Krise. Bereits die Ähnlichkeit der Unternehmensleitbilder – neben
gewissen Branchenspezifika: Banken sind diskret, Technologiefirmen
sind innovativ – sollte einen nachdenklich stimmen. Kann es sein, dass
alle Firmen derart ähnliche Werte leben? Und werden die großgeschriebenen Werte in den Hochglanzbroschüren überhaupt gelebt, oder
sind es doch nur Marketing-Slogans?
Vertrauen in der Krise?
151
Wir alle kennen die Antwort. Die kommunizierten und gelebten Werte
klaffen oft weit auseinander. Auch wenn die gelebten Werte für den
Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens ausschlaggebend sind, stehen
sie oft nicht im Fokus der Chefetagen. Gelebte Werte tragen jedoch zur
Steigerung der Reputation eines Unternehmens bei den verschiedenen
Stakeholdern bei und treiben den Aktienwert in die Höhe.
Kulturelle Werte schaffen ökonomischen Wert und vice versa. Dies
scheint jungen Führungskräften verstärkt bewusst zu werden, wie eine
Studie der Wertekommission kürzlich gezeigt hat. Werte seien aus ihrer
Sicht kein „Soft Fact“ mehr, sondern ein hartes Kriterium zur Unternehmensbewertung. Dies lässt Hoffnung aufkommen. Hoffnung, dass
Unternehmer und Manager wieder verstärkt die Unternehmenswerte in
den Analysefokus nehmen und einen verstärkten Wertedialog über die
Zukunft des Unternehmens führen. Denn dies ist gerade in Zeiten der
Krise und des Umbruchs von zentraler Bedeutung. Wie Molière einst
sagte: „Die Dinge haben nur den Wert, den man ihnen verleiht.“ Das gilt
auch für die Werte selbst.
Werte in der Krise oder Krise der Werte?
Vor sechs Jahren habe ich die erste Auflage des Buches „Vertrauen ist
gut“ veröffentlicht. Den Anstoß dafür hatte mein persönliches Erleben
um den Enron-Skandal gegeben, in den mein damaliger Arbeitgeber
Arthur Andersen hautnah involviert war. Die erste Auflage trug daher
die Frage als Untertitel: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“
Mit dieser Frage begab ich mich auf eine Reise, um mit Deutschlands
Führung über die Ursachen und potentielle Lösungsansätze zu sprechen. Antworten fand ich im Dialog mit den Führungskräften der Unternehmen darüber, wie sie ihren Alltag, ihr Umfeld und ihre täglichen
Konflikte erleben und bewältigen. Dabei habe ich festgestellt, dass auch
in den Führungsetagen ein großes Interesse an werteorientiertem und
nicht allein wertorientiertem Unternehmertum besteht. Unabhängig
von der Position in der Unternehmenshierarchie liegt es jedoch an
jedem Einzelnen, einen Beitrag zu einer vertrauensvollen Unternehmenskultur zu leisten. Gerade in einer Zeit des Vertrauensverlustes
muss man aber auch gemeinsam daran arbeiten, dieses wiederherzustellen. Dabei sind Führungskräfte besonders gefragt, da sie sowohl im
Positiven als auch im Negativen eine Vorbildfunktion haben.
Mit dem Leitsatz „Menschen bewegen“ habe ich gemeinsam mit Persönlichkeiten aus der Wirtschaft die Initiative „Wertedialog“ ins Leben
gerufen, in der es darum geht, Diskussionen über Werte anzustoßen,
werteorientiertes Handeln zu fördern und in Unternehmen zu veran152
Vertrauen in der Krise?
kern. Wenn die Menschen an der Unternehmensspitze ihrer Vorbildfunktion gerecht werden und das vorleben, was sie von ihren Mitarbeitern erwarten, dann – davon bin ich überzeugt – können werteorientierte Unternehmen entstehen, die langfristig auch eine höhere Wertschöpfung erzielen.
In den vergangenen sechs Jahren hat sich in der Welt vieles verändert,
nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft und
in der politischen Landschaft. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass kurzfristiges Streben nach Profit die globale Wirtschaft an den Rande eines
Abgrunds führt und wir intelligentere und wirksamere Mechanismen
der Regulierung benötigen. Der Staat sollte die Unternehmen dabei
unterstützen, Anreize so zu setzen, dass Vergütung und Verantwortung
in der Unternehmenswelt zusammengeführt werden. Leistung sollte
honoriert werden, aber Honorar und Verantwortung für das unternehmerische Risiko müssen zusammen auf der Unternehmerseite liegen.
In der gesellschaftlichen Entwicklung ist es vor allem das Internet und
der Boom des Social Networking, das den Menschen neue Perspektiven
in der Bildung und im Austausch bietet. Früher einem kleinen Kreis vorbehaltene Harvard-Vorlesungen sind schon heute für jedermann kostenlos zugänglich. Lernen bedeutet in Zukunft mehr Eigenverantwortung.
Gleichzeitig kann man über den Großteil der arbeitenden Bevölkerung,
insbesondere über selbständig Tätige, Informationen im Internet finden. In Zukunft werden diejenigen Menschen unternehmerisch erfolgreich sein, die als Freunde und zuverlässige Partner gelten. Hier bieten
die Möglichkeiten des Internet eine neue Form der gesellschaftlichen
Selbstkontrolle.
Die weltweite Resonanz auf die Wahlen in den USA hat gezeigt, dass
Menschen sich Veränderung wünschen und dass sie dabei Vorbilder und
Leader brauchen. Menschen sind bereit, für eine gute Sache zu kämpfen.
Letztlich sind es auch die vielen Veränderungen in Deutschlands Chefetagen, die großen Einfluss auf die Entwicklung unseres Landes haben.
In der aktuellen Wirtschaftskrise sind verschiedene Unternehmenstypen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Börsennotierte Unternehmen sehen sich zum Teil einer Kehrtwende des bewährten Modells der Privatisierung ausgesetzt. Angeschlagene Unternehmen
wurden verstaatlicht oder können nur mit Staatsgarantien überleben.
Die Privatunternehmen und insbesondere die traditionsreichen deutschen Familienunternehmen gehorchen seit jeher eigenen Gesetzen
und sind weniger stark an das Prinzip des Shareholder Value gebunden.
Sie verfolgen eine langfristige, wachstumsorientierte Strategie, haben
sich im Einklang mit ihrem Umfeld über lange Zeit etwas erarbeitet und
nehmen in der deutschen Wirtschaft eine Vorbildfunktion ein. Eine
Vertrauen in der Krise?
153
Sorge der Privatunternehmen ist die durch die Finanzkrise ausgelöste
Kreditklemme, die manche Privatunternehmen in die Insolvenz geführt
hat. Die Global Players müssen sich dem mit der Globalisierung einhergehenden Wettbewerbsdruck stellen.
Die Frage, die ich an den Anfang der ersten Auflage meines Buches
gestellt habe: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“, kann ich heute
mit einem klaren „Ja“ beantworten. Die fehlende Kontrolle sehe ich
jedoch nicht auf Seiten des Staates. Letztlich sind wir es selbst, die in
unserem Umfeld Verantwortung übernehmen und auch mal ungefragt
die Initiative ergreifen können oder mal nicht weggucken, wenn etwas
nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich glaube, wir als Gesellschaft, jeder
Einzelne, kann unser Land und unsere Wirtschaft voranbringen, jeder
auf seine Art.
Erleben wir eine Krise der Werte oder erleben wir Werte in der Krise?
Leben wir Werte in der Krise!
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Vertrauen in der Krise?
Abbildung 21: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken I
Abbildung 22: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken II
Markenbildung und die Gewinnung des
öffentlichen Vertrauens
Markenführung als ethisches Prinzip –
oder: Warum Vertrauen verpflichtet
Frank Merkel
Das Mittelalter scheint bis zum heutigen Tag tief in uns nachzuwirken:
Haben wir doch ein gehöriges Misstrauen allzu lauten Anpreisungen
gegenüber. Wir vermuten sehr schnell, dass uns clevere Verkäufer übers
Ohr hauen wollen, und sehnen uns nach dem ehrbaren Kaufmann, dem
wir fast blindlings vertrauen können.
Der Jahrmarktsverkäufer, der nicht nur lautstark ist, sondern auch
Preise wie auf dem Basar gestaltet, wirkt bis zum heutigen Tag in uns
nach – und hat über Generationen die Erde verbrannt. Der ehrbare – am
besten noch hanseatische – Kaufmann hingegen ist das Urbild für
Unaufdringlichkeit, Zuverlässigkeit und Qualität, für die der gute Name
bürgt.
Jahrmärkte gibt es immer noch – und ihnen haftet weiterhin der Geruch
des Unseriösen an. Aber wie steht es mit den ehrbaren Kaufleuten? Sind
sie industriell wegrationalisiert worden?
Folgt man den hartgesottenen Konsumkritikern, sollte man alle kommerziellen Angebote möglichst misstrauisch betrachten und lieber das
Geld für „weiße Ware“ ausgeben, ohne optische Verführung und mit
nichts anderem auf der Verpackung und dem Angebot als der reinen
Funktionsbezeichnung.
Aber nehmen wir doch einfach mal an, dass menschliche Wesen nicht
nur funktionieren, sondern Freude am Leben haben wollen. Akzeptieren wir, dass es nicht nur den Homo sapiens und den Homo oeconomicus, sondern auch den Homo ludens gibt. Dass wir also einen schwer
berechenbaren Mix aus Verstand, Berechnung und Spielerischem darstellen, uns aber gleichzeitig die Transparenz fehlt, um bei einem unüberschaubaren Angebot mit sicherem Gefühl zu wissen, was eine gute
Entscheidung ist. Was wir herbeisehnen, ist Orientierung.
Wie wäre es dann, wenn der sogenannte ehrbare Kaufmann sich in dem
ganzheitlichen Konzept des Markenartikels wiederfindet?
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
157
„Markierung“ – eine jahrtausendealte Idee
Die Idee des markierten Produktes, das für Qualität steht und dem Kunden ein beruhigendes Gefühl vermittelt, gab es schon im alten Rom –
bei Dachziegeln. Die Zunftzeichen des Mittelalters standen für handwerkliche Exzellenz, und die gekreuzten Schwerter des Meißner Porzellans bürgen seit 1731 für allerbeste Porzellanqualität.
Wir können also bis hierher einmal festhalten: Hinter Markierungen
durch Signets steht weit mehr als eine optische Kennzeichnung. Es
geht um materielle und immaterielle Werte, um Versprechen, die eingelöst werden müssen. Geschieht dies nicht, folgt die Enttäuschung
auf dem Fuße. Oder es entsteht Misstrauen, das nicht mehr schwindet.
Wer bereit ist, ein Angebot – gleichgültig ob Ware oder Dienstleistung –
kenntlich zu machen, gibt ein Bekenntnis ab. Er versteckt sich nicht in
der Anonymität, sondern ist identifizierbar und damit kritisierbar. Oder
ignorierbar.
Homogene Massenprodukte waren die ersten der modernen Wirtschaftswelt, die sich an die Öffentlichkeit als Marken wandten – Beispiele hierfür sind Persil, Erdal, Nivea. Ihr Versprechen war eine
gleichbleibende Qualität, Korrektheit im Angebot – und Preiswürdigkeit. Sie wurden bereits von unseren Urgroßeltern gekauft und
werden es wohl auch schaffen, die nächsten Generationen zu überzeugen.
Im Jahr 1939 veröffentlichte Hans Domizlaff sein Buch „Die Gewinnung
des öffentlichen Vertrauens“. Es kann mit Fug und Recht als erstes Standardwerk zur systematischen Entwicklung von Marken verstanden werden und gilt heute immer noch als höchst relevant. Domizlaff gibt keine
pure Gebrauchsanweisung, sondern vermittelt die Philosophie, die hinter jeder echten Marke steht.
Natürlich kann man sich daran reiben, wenn Domizlaff von massenpsychologischen Grundsätzen schreibt. Und nicht jedem mag es behagen, wenn er martialisch von „Kampfmethoden“ spricht. Letztendlich
können seine Gedanken aber auch bei der Stiftung Warentest Gnade finden, plädiert er doch in seinen Grundsätzen für eine konsequente Qualitätspolitik, ein faires Preis-Leistungsverhältnis, einen seriösen Umgang
mit Versprechungen und eine hohe Stilsicherheit in jeder Form der
Kommunikation. Domizlaff selbst verurteilte in höchstem Maße hard
selling – wie es vom marktschreierischen Jahrmarktsverkäufer praktiziert wird. Oder von allen, bei denen es „20 Prozent Rabatt auf alles,
außer Tiernahrung“ gibt.
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Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
Manches Unternehmen, das sich heute selbst hochtrabend als Marke
bezeichnet, verstößt gegen die Prinzipien der Markentechnik auf Schritt
und Tritt.
Im Folgenden soll erläutert werden, warum der Gedanke der Marke eine
höchst ethische Angelegenheit ist und warum wir uns als Kunden über
jedes Unternehmen freuen sollten, das sich dem Gedanken der Markenführung konsequent verschreibt.
Ohne bedingungsloses Qualitätsverständnis keine Marke
Der ehrbare hanseatische Kaufmann bürgte mit seinem Namen und
stand persönlich für alles ein, was nicht korrekt war: Dies schuf Vertrauen und Loyalität. Die weltweiten Produkt- und Dienstleistungsangebote lassen sich nur noch schwer mit einer einzelnen Kaufmannspersönlichkeit in Verbindung bringen. Daher sind es inzwischen Unternehmen, die als Garanten für ihr Angebot stehen. Meistens mit Kunstnamen ausgestattet, die aber konsequent mit einer Qualitätsphilosophie aufgeladen wurden.
Beispiele hierfür sind Caterpillar, die dafür sorgen, dass bei einem technischen Problem ihrer hochkomplexen Maschinen innerhalb von 24
Stunden jedes Ersatzteil an jedem Ort der Erde ist. Oder IBM, die sich
immer noch ihrem Gründer Thomas Watson Jr. verpflichtet fühlen, der
seine Qualitätsphilosophie in ein einziges Wort packte: „Think“. Nicht
umsonst ist IBM, laut Interbrand, seit Jahren eine der wertvollsten Marken der Welt und hat alle Stürme bestens überstanden. Der gerne kolportierte Satz „You never get fired by choosing IBM“ drückt aus, was es
bedeutet, in den Köpfen von Menschen – auch wenn es um MillionenInvestments geht – Vertrauen aufzubauen.
Aber es gibt sie auch noch, die Unternehmerpersönlichkeiten, die mit
ihrem guten Namen bürgen: Seien es die Herren Hipp, Stiehl, Miele;
oder Traditionsunternehmen wie Bosch, die auf eine Gründerpersönlichkeit zurückzuführen sind, deren Credo „das Billigste, was du verlieren kannst, ist Geld, das Teuerste ist dein Name“ heute noch in diesem
global agierenden Unternehmen gelebt wird.
Qualität hat viele Facetten. Und sie muss immer aus dem Blickwinkel
des Kunden gesehen werden. Wenn Mon Chéri im Sommer seine Produkte aus den Regalen räumt, dann ganz einfach deshalb, weil ab einer
bestimmten Temperatur die Konsistenz des Produktes nicht mehr den
hohen Erwartungen des Verbrauchers entspricht. Wenn Hilti eine Bohrmaschine auf den Markt bringt, erwartet der Handwerker, dass sie sich
durch alles wie durch Butter bohrt. Und wenn Nivea ein neues Produkt
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
159
anbietet, erwartet der Konsument vor allem eins: dass es pflegt. Und
zwar zu einem extrem fairen Preis.
Was allerdings Daimler dazu bewogen hat, den Satz „das Beste oder
nichts“ des alten Gründers auszugraben und in den Mittelpunkt seiner
aktuellen Kampagne zu stellen, bleibt ein Rätsel. Versprechen müssen
eingelöst werden, und wie ein Massenhersteller diesen Satz konsequent
mit Leben füllen will, darf abgewartet werden.
Damit kommen wir zu einer wichtigen Facette der echten, vertrauenswürdigen Marke – sie verspricht nie mehr, als sie halten kann. Vertrauen entsteht nur, wenn Erwartung und Erlebtes übereinstimmen.
Selbstbewusstsein ist sicher ein wichtiges Merkmal einer starken Marke,
denn der Kunde möchte sich, wenn auch nur symbolisch, anlehnen können. Überheblichkeit ist etwas, was keine Marke auf Dauer unbeschadet
überstehen wird. Auch wenn sie eine lange Tradition wie das Haus Mercedes-Benz hat.
Marken sind Persönlichkeiten und haben Charakter
Im Konzept der modernen Markenführung hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Marken wie Persönlichkeiten zu verstehen und zu behandeln sind. Sie haben klar erkennbare äußere Merkmale, anhand derer
man sie identifizieren kann. In der Übertragung auf Produkte können
das Designmerkmale sein wie die BMW-Niere, die seit Jahrzehnten das
Gesicht der gesamten Fahrzeugfamilie prägt.
Oder es ist das gesamte Design an sich. So wie Apple es geschafft hat, mit
einer schnörkellosen, puristischen Produktgestaltung Kultstatus zu
erreichen. Und zwar weltweit. Steve Jobs, der Gründer von Apple, hat es
aber nicht bei Äußerlichkeiten bewenden lassen. Er hat Apple als wichtigstes Charaktermerkmal „Einfachheit“ mitgegeben. Vom ersten Apple
Macintosh bis zum aktuellsten i-Pad ist jedes Produkt ohne zentimeterdicke Gebrauchsanleitungen benutzbar. Diese Philosophie der Einfachheit wurde bei Apple konsequent auf Software und Dienstleistungen
übertragen. Ob mit iTunes Musik, Spiele, Videos geladen werden oder
mit den Apps das Leben in tausendfacher Form einfacher wird: Apple
bleibt sich konsequent treu und ist damit ebenfalls eine der wertvollsten
Marken der Welt geworden.
Kritiker bemängeln bereits die Dominanz von Apple und das monopolhafte Gehabe. Unter gesellschaftspolitischen Aspekten mögen sie recht
haben. Aus dem Blickwinkel der Markenführung bestätigen sie die
erreichte Vision der Monopolstellung in der Psyche des Verbrauchers.
Wie weit das führt, kann man im Berufsleben ausprobieren, wenn man
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Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
einem Art-Direktor den Apple Computer wegnehmen und durch einen
PC ersetzen möchte. Auch wenn in beiden Rechnern ein Intel-Chip steckt
und die Software vergleichbar ist – das Gefühl ist ein anderes. Im
Extremfall würde man die Kündigung eines hochgeschätzten Mitarbeiters riskieren.
So wie beim Menschen seine Grundanlagen in den Genen stecken und
die Umwelt im Verlauf der Jahre die Gesamtpersönlichkeit formt und
beeinflusst, so haben auch starke Marken einen genetischen Code, der
sie prägt. Er entstand nicht im luftleeren Raum, sondern durch Herkunft, Wurzeln, Überzeugungen.
Miele wollte der Hausfrau das Leben leichter machen und durch Zuverlässigkeit und robuste Qualität überzeugen. So entstanden die besten
Waschmaschinen, Trockner, Herde der Welt. Gleichzeitig verschloss
man sich nicht technologischen Entwicklungen und integrierte sinnvoll und zuverlässig Elektronik in die Funktionen – wiederum mit dem
Ziel, das Leben einfacher zu machen. Je komplexer aber die Technik
wurde, desto größer wurde das Risiko von Störungen und Pannen.
Ganz im Sinne des Basischarakters wurde ein zuverlässiger und schneller Kundendienst aufgebaut, der Pannen umgehend behebt. Das Ergebnis dieser wertegeprägten Marke ist ein über Generationen treuer Kundenstamm – weltweit. Vertrauen wurde geschaffen und nie enttäuscht.
Das Negativbeispiel für eine Markenerosion durch Zerstörung von Vertrauen ist die Armaturenmarke Grohe. Nachdem die Inhaber sie an eine
Venture-Capital-Gesellschaft verkauft hatten und dieser Prozess mehrmals wiederholt wurde, landete Grohe letztendlich bei einem chinesischen Eigentümer, den zwar das Logo interessierte, nicht aber die inhaltliche Substanz. Qualitätsmängel, Lieferengpässe mit Frustrationen bei
den Handwerkern waren die Folge. Ein beispielloser Niedergang und
Wertverlust der Marke waren das Ergebnis.
„Nobody is perfect“ – auch eine noch so starke Marke, die geprägt ist von
Werten und positiven Charaktereigenschaften. Pannen können immer
passieren. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Eine
starke Marke hat einen emotionalen Kredit beim Kunden. Er lässt sich
schlagartig abheben oder im vertretbaren Maße beanspruchen.
Als Mercedes-Benz bei der Einführung der A-Klasse mit dem Elchtest ein
massives Sicherheitsproblem hatte, verstieß die Marke gegen einen
Wert, der im genetischen Code festgelegt ist. Die umgehende Reaktion
mit einem Auslieferungsstopp und dem mehrkostenfreien Einbau eines
Stabilisierungssystems begrenzte den Imageschaden und brachte wieder das Vertrauen in sie zurück.
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
161
Anders ist das Verhalten von BP im Zusammenhang mit der Umweltkatastrophe am Golf von Mexiko, verursacht durch das Sinken der Ölplattform Deepwater Horizon, zu sehen. Nachdem das Unternehmen sich
jahrelang ein grünes Mäntelchen umgehängt, aber bei Sicherheitsstandards geschludert hat, darf man getrost von einem Totalschaden der
Marke sprechen. Hier werden keine noch so aufwendigen Imagekampagnen helfen, um das zerstörte Vertrauen wieder herzustellen. Insbesondere in den USA dürfte die Marke BP als verbrannt gelten. Ausgelöst
wurde das Desaster von einer Führung, die Marke als Imagefaktor ohne
Substanz betrachtete.
Starke Marken schreien nicht – und sind ihren Preis wert
Was macht den Unterschied zwischen Reklame und Markenkommunikation aus? Richtig: Erstere ist die Nachfolgerin des Marktschreiers –
laut, aufdringlich, unsympathisch. Dass sie trotzdem Gehör findet, liegt
an Menschen, denen das, was eine echte Marke ausmacht, nicht so wichtig ist. Anders würden sich nicht die Erfolge mancher „Billigmarken“
erklären lassen, deren Versprechen nicht Substanz, sondern schnelle
Bedürfnisbefriedigung ist.
Starke Marken sind eher leise, unterhaltsam, stellen einen konkreten
Nutzen in den Mittelpunkt, gewinnen durch Überzeugung, ein Lächeln,
verführen auf sanfte Art.
Wirtschaftlich schwierige Zeiten scheinen eher die Marktschreier zu
begünstigen, die ihren Kunden vor allem das Wort „billig“ ins Ohr brüllen. Sie finden sich zuhauf in Rundfunkwerbung oder grellbunten Prospekten der Handelsketten. Hierin werden auch häufig vermeintliche
Markenartikel verramscht.
An dieser Stelle sei noch ein weiteres wichtiges Kennzeichen einer soliden Marke aufgeführt: der verlässliche Preis. Legionen von Marken sind
durch falsche Preispolitik zerstört worden. Wer mit zweistelligen Rabatten für seine Produkte und Dienstleistungen wirbt, signalisiert Unseriosität der Kalkulation. Und schafft damit sicher kein Vertrauen. Marken, die sich durch Überkapazitäten selbst in Drucksituationen begeben, rauben sich die Grundlage für Nachhaltigkeit, ohne die keine echte
Marke langfristig existieren kann.
Bewundernswert ist, was Aldi als Handelsmarke weltweit geschafft hat:
Nahezu ausschließlich durch Eigenmarken wurde bei allen Bevölkerungsschichten eine Akzeptanz sowohl für Massenprodukte wie Waschmittel und Grundnahrungsmittel als auch für Luxusprodukte wie
Champagner oder High-Tech-Produkte wie PCs erzielt.
162
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
Das Geheimnis? Eine durch und durch auf Qualität bedachte Einkaufspolitik, die strengste Maßstäbe an die Lieferanten anlegt. Harte, aber
faire Einkaufskonditionen, die eine Qualitätsproduktion zulassen, Verzicht auf Unübersichtlichkeit mit 100 Varianten und eine schlichte,
aber effiziente Kommunikation. Der Aldi-Kunde betritt das Geschäft
mit dem Vertrauen, dass alles, was ihm geboten wird, streng auf seine
Qualität getestet wird. So übernimmt die Dachmarke Aldi quasi die Verantwortung für das gesamte Sortiment und entlastet den Kunden in seiner Entscheidung. Rabattschlachten sucht man bei Aldi vergebens –
man ist immer preiswert.
Ein weiteres Positivbeispiel für eine gelungene, vertrauenswürdige Handelsmarke ist Manufactum. Gestartet als Versender mit überschaubarem Angebot, hat sich das Sortiment inzwischen immer mehr erweitert
und wird mittlerweile in großen Städten auch in eigenen Läden angeboten. Manufactum setzt nicht auf High-Tech und Abgehobenheit, sondern auf Bodenständigkeit und Solidität. Man sucht extrem qualitätsorientierte Lieferanten im Premiumbereich aus und bietet die Produkte
auf eine ästhetisch ansprechende, leise Art und Weise an. Dabei überzeugt man mehr und mehr Kunden – die selbst als Botschafter fungieren und im Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das untrügliche Kennzeichen einer starken Marke.
Härteste Wettbewerbe, verursacht durch Überkapazitäten, beschädigten
in den vergangenen Jahren massiv das Ansehen von Marken im Automobilbereich. Wurde früher maximal noch die Fußmatte spendiert,
werden heute selbst im gehobenen Bereich zweistellige Rabatte gewährt.
Im Jahr 2009 – auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise – war die Automobilwerbung die lauteste. Dem Urvertrauen in die Markenführung hat
das sicher nicht geholfen, selbst wenn BMW, Mercedes, Audi und Co
immer noch über beträchtliche Markenwerte verfügen. Es bleibt abzuwarten, wer bei der nächsten Krise als Gewinner hervorgeht.
Starke Marken achten auf Glaubwürdigkeit in jeder Form
Seit einigen Jahren wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben: kurz
„CSR“, lang „Corporate Social Responsibility“. Es gibt kein Unternehmen, das sich nicht in irgendeiner Form mit diesem Thema beschäftigt.
Da werden Kinderspielplätze eingeweiht, in Afrika ein Brunnen
gebohrt, man trinkt Bier zum Schutz des Regenwaldes, die Berliner
Symphoniker werden gesponsert. Und alles wird medienwirksam vermarktet. Als Grundhaltung ist häufig nichts davon im Unternehmen
wirklich verankert. Sondern es geht um Kosmetik, damit man nach
außen gut aussieht.
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
163
Anders, wenn gesellschaftliche Verantwortung, nachhaltige Produktion, soziales Engagement wirklich zum genetischen Code eines Unternehmens gehören. Wie bei der Firma Hipp, bei denen ökologischer
Anbau für ihre Produkte ein Muss ist. Oder wie bei der weltweiten
Kette „Body-Shop“, die erstmals Kosmetikprodukte anbot, die gänzlich
ohne Tierversuche hergestellt sind und nur aus natürlichen Inhaltsstoffen bestehen. Die inzwischen verstorbene Gründerin Anita Roddick vertrat die Ansicht, „dass Firmen, die nicht moralisch, sondern
nur aus Profitgier handeln, dem Geschäft schaden“. Anita Roddick
publizierte Kampagnen gegen Gewalt und Kinderarbeit, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzung. Beeindruckend, dass eine solche Haltung nicht bei einer kleinen, verträumten Boutique endete,
sondern mittlerweile in einem höchst erfolgreichen Konzern mit
2.000 Läden in 54 Ländern. Ihr Leitsatz sollte allen Pseudo-CSR’lern ins
Stammbuch geschrieben werden: „Unternehmen haben die Kraft,
Gutes zu tun“.
Wie Millionen in den Sand gesetzt werden, wenn Pseudo-CSR betrieben
wird, hat eindrucksvoll der Energiekonzern RWE bewiesen. Mit einem
sehr emotionalen TV-Spot zum Thema grüne Energie, ausgestrahlt
zur besten Sendezeit, wollte man Umweltverantwortung demonstrieren. Greenpeace griff diesen Spot auf und verbreitete ihn über YouTube. Allerdings in einer modifizierten Desaster-Version. Die Glaubwürdigkeit von RWE wurde damit bei sehr relevanten Zielgruppen
deutlich gestört. Ein Übriges zu dem nicht konsistenten Markenbild
trägt der Verhandlungspoker um die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bei.
Fazit: Marken sind die größte Verpflichtung,
die Unternehmen eingehen können
Gelegentlich trifft man auf recht naive Vorstellungen zum Thema Markenführung. Motto: Man nehme ein Logo, ein bisschen clevere Werbung, und dann wird das Ganze schon erfolgreich werden. Dem ist mitnichten so. Kurzfristig mag das klappen – so wie der Marktschreier auch
immer wieder kurzfristigen Erfolg hatte.
Wer aber ein langfristiges Geschäft betreiben möchte und sich dem
Markengedanken wirklich verschreibt, hat eine lebenslange Aufgabe vor
sich. Täglich muss er sich fragen: Tue ich alles, damit meine Glaubwürdigkeit gewahrt wird? So wie der ehrbare hanseatische Kaufmann in
allem darauf bedacht war, seinen Ruf nicht zu beschädigen.
Marken sind in einer unübersichtlich gewordenen Angebotsvielfalt auf
allen Märkten eine Hilfe. Sie sind wertvoll für Konsumenten, genauso
164
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
wie für industrielle Entscheider. Sie reduzieren das Risiko, begrenzen
den Suchaufwand und verschaffen ein gutes Gefühl. Man schenkt ihnen
gerne Vertrauen und bleibt ihnen treu – wenn sie diese Treue rechtfertigen und alles tun, damit Erwartungen immer erfüllt werden.
Insofern sind echte Marken die kundenfreundlichste Erfindung, die es
gibt.
Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens
165
Abbildung 23: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen I
Abbildung 24: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen II
Vertrauen als Intervention –
funktioniert so Innovation?
Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, oder direkter nach Lenin: „Vertraue, aber prüfe nach“ – das fällt mir zunächst ein, wenn es um einen
Text gehen soll zum Thema „Kredit und Vertrauen“.
Mir persönlich sind meine privaten Kredite unangenehm – für andere
können Kredite ein lukratives Abwägen bedeuten, das ganz einfach
zum geschäftlichen Alltag gehört. Vertrauen hingegen gehört zu einer
eigenen Kategorie. Vertrauen legt einen Teil der Kräfte in andere
Hände.
Wenn ich das Begriffspaar „Kredit und Vertrauen“ auf mich wirken
lasse, fasziniert mich nicht nur die Auflösung der Gegensätzlichkeit von
Messbarem und Unmessbarem. Vielmehr fordert mich die Frage nach
„Kredit und Vertrauen“ heraus, über Glaubenssätze nachzudenken, wie
zum Beispiel über: „Kredit geht nur mit Sicherheiten“, oder „Vertrauen
in andere zu bemühen, zeigt doch nur, nicht vollständig vorbereitet zu
sein“. Ich möchte überprüfen, ob solche Gedanken mich in der Realität
überhaupt noch weiterbringen.
In den folgenden Überlegungen geht es mir um die Arbeit zwischen
Kunst und Wirtschaft. Diese Bereiche werden meist als getrennt verstanden. Meine These versucht, Kunst und Wirtschaft als Bilder einzuführen, zur wechselseitigen Korrektur. Korrektur im Wahrnehmen des
Andersartigen bedeutet für mich eine Chance auf Entwicklung. Die
jeweiligen Eigenarten sind dabei zu respektieren, das Thema Vertrauen
ist hierfür essentiell. Wie kann ich mehr, eventuell auch widerstreitende
Dimensionen meiner Persönlichkeit bergen, um auch die Komplexitäten der Welt um mich umfassender deuten zu können? Im Loslassen des
vermeintlich Eigenen, im vorläufigen Verabschieden des immer schon
Gewussten – was könnte Vertrauen anderes sein – öffnen sich die Schleusen zur Selbstreflexion wie zur Innovation.
Seit 2005 lerne ich als Kurator des „Bronnbacher Stipendium(s)“ des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI Stipendiaten und Stipendiatinnen kennen, denen es ähnlich geht. Zwei zitiere ich hier exemplarisch, um dem Begriff des Vertrauens in der Bronnbacher Praxis
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
167
näher zu kommen. Zwei weitere kommen im zweiten Teil des Beitrags
ausführlich zu Wort.
Gunnar Ullrich, Unternehmensberater, Uni-Mannheim-Alumnus des
4. Bronnbacher Jahrgangs:
„Durch das Stipendium hat sich meine Offenheit gegenüber neuen – und
manchmal auch sehr ungewöhnlichen – Dingen weiterentwickelt. Ich habe
gelernt, dass es unerlässlich ist, sich vollständig auf etwas einzulassen und
Neues komplett an mich heranzulassen. Das Jahr hat mir geholfen, kreative Prozesse – auch innerhalb einer Gruppe – besser zu verstehen.“
Oliver G. Spalt, Assistant Professor of Finance, Uni-Mannheim-Alumnus
des 3. Bronnbacher Jahrgangs:
„Das Bronnbacher Stipendium bietet den Stipendiaten die Möglichkeit,
sich in der Beschäftigung mit kreativen Prozessen ganzheitlich weiterzuentwickeln, und fördert so die individuelle Positionierung und Verortung. Eine eigene Position, das Sich-Einlassen auf Neues sowie die
Fähigkeit, das Neue zu reflektieren und in den eigenen Wirkbereich produktiv zu übersetzen, sind nicht zuletzt für kommende Führungskräfte
und Unternehmer essentiell.“
Gunnar und Oliver verbinden kreative Prozesse mit spielerischer Selbstbewusstheit und Unmittelbarkeit der Erlebnisse: Vertrauen und Selbstvertrauen sind hier also wichtige Parameter.
Meine (persönliche) Haltung
Erlauben Sie mir, dies zunächst zu sagen, quasi als den Versuch einer vertrauensbildenden Maßnahme: Ich möchte wachsen. Meine Umstände
nutze ich, um mehr Anknüpfungspunkte zu erreichen – für mich, für
meine Gemeinschaft, für meine Umstände. Das bedeutet auch, mich einzulassen, mich auf unsicherem Terrain zu bewegen, in gewissem Sinn
auch, mich zu verändern. Dazu möchte ich mich in Zusammenhänge
stellen, also meine Entwicklung nicht selbstgenügsam an mich binden,
sondern meine Erfahrungen von mir lösen, durch andere und möglichst
auch als „Leistung“ für andere.
Kredit fordert Intuition
Kredit zu gewähren ist ein besonderes Geschäft. Schon Heraklit sagte:
„Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt“ (Fragment B18 nach Clemens Alexandrinus).
168
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Vieles in unserer Alltagswelt erscheint geregelt über Ziele und Wege,
diese zu erreichen. In diesen benennbaren Zielen und Wegen steckt, dass
wir sie kennen und alternativlos wissen, dass wir das so wollen. Das
wiegt uns sicher. Sicherheit erfordert erfahrungsbezogene Regeln, die
für Ungewöhnliches kaum gelten können. Da, wo Sicherheit feststellbar
ist, besteht die Gefahr, die Offenheit und Neugierde auf Neues zu verlieren. Das Alte darf ja nicht zur Vermeidungsstrategie für Neuerungen
verkommen. Gelegentlich wird von Bauchgefühl gesprochen, wenn es
um große Entscheidungen geht, die die Zukunft und das Überleben
betreffen. Daher möchte ich ergänzend eine andere als die gängige Definition versuchen: Zukunftsorientierter Kredit fordert Intuition. Wie
reflektiert bin ich in meiner Intuition? Da, wo ich zunächst nur Ungewissheit erkenne, kann Neues auf mich warten. Im Ungewissen stecken
vielleicht Potentiale. Wie spüre ich die Signale? Und wenn: Will ich mich
wirksam für Neues engagieren? Dann würde ich ein Risiko eingehen. So
funktionieren Alleinstellungsmerkmale. Habe ich den Mut dazu? Wie
traue ich mich, diese ungewöhnliche Geschichte ernst zu nehmen, und
wie erzähle ich anderen davon? Wie ich höre, kommt es immer mehr
auf neue Erzählungen für kommende Hausausforderungen an. Die alten
Geschichten, wie Ruhm und Ehre zu erreichen sind, ziehen kaum noch.
Mir erscheint ein Kredit wie ein Auftrag zum Wandel. In der Vereinbarung eines Kredits treffen sich grundsätzlich unterschiedliche Bedürfnisse. Die Kreditvergabe fordert daher meine Glaubenssätze als Kreditgeber heraus – nicht erst seit der Finanzkrise. Halte ich die vorgezeichnete Entwicklung für plausibel? Will ich diese überhaupt fördern? Passt
dieser Entwurf zu meinen Werten? Wie weit muss ich dafür von meinen
bisherigen Gewissheiten lassen? Jede Kreditverhandlung kennt dieses
Dilemma. Bin ich hier der Richtige für dieses Vorhaben? Gleichzeitig
liegt es in meiner Hand als Kreditgeber, Verantwortung zu übernehmen.
Will ich dieses Unsichere und Verdeckte mit einem Kredit fördern? Wie
investiere ich sinnvoll in dessen Zukunft? Und nun auch noch spirituell: Kann ich mich und mein eigenes Tun mit meinem Investment neu
überprüfen? Würde ich also mit meinem Kredit tatsächlich auch in
meine eigene Zukunft investieren? Dann wäre ich schon mit dem Kredit selbst verändert. Die Idee, dass mit einem Kredit finanzieller Gewinn
zu machen sei, wandelt sich, als ginge es um das „Andere“, um das
„Fremde, nicht um das schon Bekannte an mir. Das wäre eine Perspektive auf Innovation, denn Innovation ist doch nicht das, was ich vorher
schon weiß.
Für Vertrauen brauche ich ein Menschenbild, Imagination. Hier ist die
These nun, dass Vertrauen im Zutrauen mich und mein Tun bilde. Im
Folgenden möchte ich Vertrauen als künstlerische Intervention vorstellen. Dazu eine persönliche Geschichte.
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
169
Vertrauen als Intervention –
Fallbeispiel „7000 Eichen“ von Joseph Beuys
Seit 1982 wächst ein Kunstwerk stetig weiter. Es ist ein Zeichen für Generationen. Es ist auch eine Geschichte von harten Kreditverhandlungen
zur Finanzierung und vor allem von Vertrauensvorschüssen auf Machbarkeit.
1982 war ich mit meinen Motorradfreunden zum ersten Mal auf der
documenta in Kassel. Wir interessierten uns für die neue Malerei, von
der es einiges zu sehen gab. Wir fühlten uns selbst wie die „Jungen
Wilden“.
Doch vor der Kunsthalle Fridericianum, dem Hauptgebäude der documenta 7, lagen unendlich viele Basaltsteine, ein aufgetürmtes Feld von
natürlichen Stelen. In meiner Erinnerung waren sie je circa 40 Zentimeter im Durchmesser und wahrscheinlich mehr als 1,5 Meter lang.
An der unteren Seite dieses Steinfeldes sah ich Beuys, den Künstler mit
dem Hut, von dem ich schon gehört hatte. Ich traute mich nicht, zu
ihm zu hinzugehen. Er stand da bei einem lächerlich kleinen Baumpflänzling, lächerlich klein, angesichts der schieren materiellen Steinmasse direkt daneben. Für mich war klar: Dieses kleine Bäumchen
würde nicht überleben können, angesichts dieser unendlich toten
Masse.
Die erste Basaltstele hatten sie, aufrecht wie eine Grabsäule, neben diesen relativen Winzling in die Erde eingegraben. Wie ich mich erinnere, wirkte der Stein übergroß neben dem einzelnen Bäumchen. Das
Ziel sei, wie ich damals hörte, in einer Verdopplung des Kasseler Baumbestandes auch die restlichen Basaltstelen in den fünf Jahren bis zur
kommenden documenta 8, 1987, in ähnlichen Pflanzaktionen im
Stadtgebiet Kassel aufzustellen. Dieses Vorhaben erschien mir unglaublich, erschütternd, naiv. Ohne die Teilnahme Hunderter Menschen war so ein ungeheuerliches Ansinnen nicht zu schaffen. „Das
geht doch nicht. Das klappt nie. Zu teuer. Da macht keiner mit.“ Meine
Art von Realismus wurde spontan löchrig. Ich wollte keine Sekunde
daran glauben, obwohl ich seither auch nicht mehr davon weggekommen bin. Sicher kennen Sie selbst auch solche fast beklemmenden Phänomene. Ich ertappte mich in meinem eigenen Sicherheitsdenken, das
diese Idee nur würde ausbremsen, unmöglich machen können.
1987 wurde dann der letzte der 7.000 Bäume neben den ersten Baum
gepflanzt, mit seinem Stein. Der Kassler Friedrichsplatz war damit wieder leer – nicht leerer denn je, einfach anders seither, für mich, als ob
es unter bestimmten Umständen ein Materie-Zeitloch geben könne.
170
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Klassisch-künstlerisch lässt sich zu dieser Kunstaktion sicher einiges
sagen. Allein die doppelte Proportionalverschiebung der Skulptur
„7.000 Eichen“ als Ganzes betrachtet, ist beachtlich: Erst lagen die 7.000
Steinstelen in Form eines übermächtigen Keils auf dem Platz. Die
gestreckte Hackenform erkannte ich, wegen der Gesamtgröße der
ruhenden Skulptur, erst später in Gesprächen mit dem Künstler Johannes Stüttgen und dann auch auf Fotos. An der Spitze stand der erste aufgerichtete Basaltpfahl mit seinem Baumfrischling. Über die fünf Jahre
wandelte sich die erste Skulptur in eine zweite, die die erste vergessen
machte. In der Verdopplung des damaligen städtischen Baumbestandes
entfaltet sich seit 1987 die zweite Skulptur im Stadtgebiet Kassel an
dezentralen Orten. Altenheime, die Hochschule, Privatleute, Stadtteilinitiativen, die Städtische Kommune Kassel nahmen teil und nahmen
Anteil an dieser zweiten Skulptur. Genau diese Bäume, aus diesem
Zusammenhang sollten vor ihre Häuser, an ihre Straße, auf ihren Platz.
Unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ erlebten die
Kasseler zunehmend, um was es ging – es geht bei Kunst um mitgestaltende Souveränität. Mittlerweile sacken die Steine immer tiefer in die
Erde ein. Die anfängliche materielle Übermacht der Stelen gegenüber
den Jungbäumen ist nicht mehr glaubhaft. Nun bringen in Kassel an
7.000 Orten in der Stadt über zwanzigjährige Bäume zusätzlich ihren
Nutzen. Am Fuß ihres Stammes scheinen sie eine Art kleiner werdenden
Rammstein als Zeichen mit sich zu führen. Das Kunstwerk hat sich in
seiner Wirksamkeit eingelöst. „7.000 Eichen“ funktioniert damit heute
als zitierbare Referenz für kunst- und gesellschaftshistorische Initiative.
Eine weitere Proportionalverschiebung findet seither in mir statt. Dabei
geht es mir um Vertrauen in die Kraft der Kunst. Diese Kraft der Kunst
besteht meiner Erfahrung nach aus Vertrauen in Menschlichkeit und
aus Skepsis in (wohlbegründete) Systeme.
Was mich daran anzieht, fand ich auch bei Robert Musil und seinem
„Der Mann ohne Eigenschaften“:
„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz,
nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und
niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann
muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“
Musil spricht im Weiteren vom konditionalen Denken in öffnenden
Alternativen und unterstreicht die schöpferische Anlage dieser Haltung.
Er betont allerdings auch, wie Menschen, die so leben – „Möglichkeitsmenschen“ nennt sie Musil – marginalisiert werden als „Phantasten,
Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler ...“
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
171
In der Annäherung an die Frage nach Kredit und Vertrauen helfen mir
also Vorgängerkategorien. Was bieten mir das „Wissen“ und das „Verstehen“?
Wissen – Nichtwissen
Skepsis bedeutet Prüfung und kritische Untersuchung. Wir können
nicht wissen. So werden schon die Erkenntnisse der alten Griechen
übermittelt. Die skeptische Distanz bewahrt uns zu begehren, was doch
nur strebsame Unwissenheit in unsicherer Erkenntnis bleiben kann.
Diese wirklichkeitskritischen Befragungen wurden in der neueren Zeit
in der Zusammenführung von sinnlichen Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalten immer wieder bestätigt. Aktuell kann das Aufgeben
des Wissensdogmas auch wieder verbunden sein mit dem Attribut der
schon von den „Alten“ gesuchten Seelenruhe (Andreas Urs Sommer).
Wird damit die Praxis der Kreditvergabe noch mehr zur Spekulation
und der persönliche Akt des Vertrauens zum kläglichen Versuch der spirituellen Rückbesinnung (Religion) auf das „Eigentliche“ umdefiniert?
Hilft hier meine kurze Besinnung auf den Begriff des Verstehens weiter?
Verstehen – Nichtverstehen – Übersetzen
Beim Verstehen wie auch bei seinem Gegenüber, dem Nichtverstehen,
geht es um Gewissheiten wie Kontrolle und Sicherheit. Stecken wir
damit gleich wieder fest in der Kreditkrise der Wirtschaft und in der Vertrauenskrise der Politik? Umgekehrt verlangt es uns geradezu übermenschliches Vertrauen ab, am Neuen gerade das Unerklärliche zu
schätzen. Die Kunst fordert uns auf, mit etwas Vertrauen im Ungesicherten den schieren Reichtum zu erleben – im Rätsel, im Geheimnis,
im Verborgenen, im Unbekannten. Stefan Weidner macht das Phänomen des „sich assoziativ im Verborgenen bewegen zu können“ exemplarisch fest an der Kunst des Übersetzens:
„Ich halte es für einen totalitären Charakterzug unserer Zeit, dass wir
das Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Toleranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ja ausrotten, wo
wir nur können. Dass wir – und da sind die Übersetzer noch die harmlosesten – aus dem Verstanden-werden-Wollen, Verstanden-werden-Müssen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben, deren krasseste Auswirkung der Raubbau an allem ist, was im medialen Diskurs eventuell
schwierig und nicht allgemeinverständlich daherkommt.“ Erklärungen
überfordern uns. Wir wollen alles einfach und verständlich, postuliert
der Islamforscher und Übersetzer Stefan Weidner. „Und wenn wir das oft
172
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
genug tun, wenn uns ständig alles als bereits Verstandenes vorgeführt
wird, werden wir naturgemäß unleidlich gegenüber allem Unverstandenen, sei es ein Wort in einem alten Text, sei es eine Frau, die eine Kleidung trägt (zu wenig oder zu viel, es nimmt sich nichts!), die uns befremdet.“
Weidner verführt mich in seinem Artikel, im Unerklärlichen nach dem
Quellartigen zu horchen. Ich fühle mich durch ihn aufgefordert, das
Fremde nicht als entstellt darzustellen, sondern als wundersamen
Reichtum: „... Genau das ist es, was mich mit dem Verstehenwollen und
Übersetzen am Ende versöhnt: Es hat diese bohrende Eigenlogik, es ist
nie zufrieden, es findet selbst im verstanden Geglaubten immer noch
Unverstandenes, im Übersetzten immer noch Unübersetztes. Die übersetzerische Kritik ist daher das Urbild aller Kritik. Sie verfällt nicht so
leicht in den Glauben, etwas richtig verstanden zu haben, und sieht an
Texten – und der Welt – vor allem das Unverstandene und Unsagbare,
das Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das die Übersetzer wahren, indem
sie es immerfort aufs Neue enthüllen.“1
Die Intervention durch Vertrauen zielt darauf, in ihrem Dazwischengehen in die unüberbietbare Vielfältigkeit hineinzugreifen. Es geht also
auch hier um Entscheidungen zu mehr Zutrauen in der Kommunikation. Wie selbstregulierend bin ich in zugegebenermaßen störungsanfälligen Umständen? Kann ich mir da selbst vertrauen?
Ernüchterung
Die leidenschaftliche Erfahrung meiner vergangenen 30 Lebensjahre
zeigt mir: Das Anliegen, Künstler mit anderen Menschen, beispielsweise
Menschen aus der Wirtschaft, zusammenzubringen, funktioniert eher
selten. Selbst Kulturmenschen scheuen einen wirksamen und tatsächlichen Kontakt mit Künstlern. Beide Seiten spüren das schon im Vorfeld:
Jede/r kann seine Angelegenheiten besser für sich plausibel tun und erleben. Zusammen passiert zunächst gar nicht so viel. Schnell langweilen
sich die „Partner“ miteinander. Inspiration oder Motivation, geistige
Kraftquellen, scheinen sich bei dieser Art Treffen sogar zu verflüchtigen.
Man kennt sich selbst schon zu gut. Man hat Vorstellungen und Erwartungen. Das soll reichen. Ein Austausch darüber kommt eher selten
zustande.
Das Neue als Korrektur
Es braucht eine Hebamme, ein drittes Element. Es braucht etwas, das die
beiden in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit liebt und zulassend abwarVertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
173
ten kann. Es braucht etwas Staunen, sonst funkt es nicht. Das geht nicht
ohne Erschütterungen und nicht ohne Hinwendung.
Welche Haltung führt zu einem aufmerksamen Herzen, das den beiden
einiges zumutet. Die mögliche Interaktion der beiden soll keine fade
Ablenkung werden.
Ich möchte damit sagen, dass es etwas braucht, das sich anfühlt, als ob
es außenstehend wäre, und das gleichzeitig nicht locker lässt. Diese Haltung müsste sich das Zusammenkommen der zunächst durch Vorurteile
zementierten Gegensätzlichkeit wirtschaftlicher Berechnung und
künstlerischer Intuition als Transit ehrlich wünschen. Es braucht etwas,
das keine frontale Furcht vor der Begegnung der beiden menschlichen
Gewissheiten hat, sondern etwas, das dieses Erfahrungsfeld schon mit
sich trägt, vielleicht zunächst nur für die Kraft von übergreifenden
Momentaufnahmen. Denn es geht um die jeweiligen schöpferischen
Eigenarten.
Wie wird ein Zusammenkommen produktiv? Meiner Erfahrung nach
entzünden sich die beiden Perspektiven der Kunst und der Wirtschaft
an Fragen, die sie zulassen, explizit und auch implizit. Es geht darum,
sich aneinander zu überprüfen, oder es geht um nichts. Damit beide
Partner sie selbst sein können, braucht es diese Art von dritter Instanz.
Das erst macht das Zusammenkommen effektiv wirksam.
Der Künstler Till Velten konkretisiert: „Es braucht vor allem unermessliches menschliches Vertrauen.“
Kredit und Vertrauen im Bronnbacher Stipendium –
eine Betrachtung von Iria Budisantoso und Christoph Sextroh
Das Wort „Kredit“ ist abgeleitet vom lateinischen credere, „glauben“, und
creditum, „das auf Treu und Glauben Anvertraute“. Damit ist zumeist die
Gebrauchsüberlassung von Geld oder vertretbaren Sachen auf Zeit
gemeint. Daneben gibt es aber auch Sprachwendungen wie beispielsweise „bei jemandem Kredit haben“ oder auch „etwas gut haben“ im
Sinne von Vertrauen genießen, dass man zahlungsfähig und damit kreditwürdig sei, womit eine wirtschaftliche Wertschätzung und die
Geschäftsehre ausgedrückt werden. Bereits aus diesen Erläuterungen
wird deutlich, welch wichtige Rolle Vertrauen bei Kreditnehmen und
Kreditgeben spielt.
Vertrauen begegnet uns auch im Bronnbacher Stipendium. Wir Stipendiaten genießen einen Vertrauensvorschuss von Seiten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, unseres Kurators Konstantin Adamopolous und auch immer von Seiten der Künstler, denen wir begegnen.
174
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Alle gerade genannten Personen sind auf gewisse Weise Kreditgeber in
der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass über die Erfahrungen und
Inhalte des Bronnbacher Stipendiums etwas gesät wird, das sich in der
Zukunft entfalten und über unser Engagement den Bereichen Kunst,
Kultur und Gesellschaft zurückgegeben wird. An dieser Stelle möchten
wir Stipendiaten des 6. Jahrgangs gerne näher auf das Bronnbacher Stipendium eingehen und folgende Fragen beantworten: Was ist die Bronnbacher Idee? Und welche Rolle spielt Vertrauen darin?
Verflechtungen der Sphären Kunst, Kultur, Wirtschaft, Politik
und Gesellschaft
Auf den ersten Blick bietet das Bronnbacher Stipendium die Möglichkeit, Kunstschaffende kennenzulernen und darüber einen Zugang zu
Kunst und Kultur zu erhalten oder diesen zu erweitern. „Kulturelle
Kompetenz für künftige Führungskräfte“ lautet so auch das Motto des
Stipendiums. Im Rahmen des Stipendiums nähern sich die Stipendiaten
dabei auch den komplexen Interdependenzen zwischen den Sphären
Kunst, Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein gutes Beispiel ist
unser Besuch im Oktober 2009 beim Künstler Merlin Bauer in Köln und
die Auseinandersetzung mit seinem Kampf um die Erhaltung des Kölner Opern- und Schauspielhauses, wo sich uns diese existierenden Spannungen und Wechselwirkungen innerhalb der gesellschaftlichen Wirkungssphären von Kunst bis Gesellschaft sehr klar gezeigt haben.
Das „Mehr“ des Bronnbacher Stipendiums
Das Bronnbacher Stipendium ist jedoch viel mehr als „nur“ das Kennenlernen und Erfahren von Kunst. Der Zugang zu den genannten
Sphären geht über das reine Faktenwissen weit hinaus. Doch was genau
ist dieses „Mehr“? Bereits am Beispiel unserer Begegnung mit Merlin
Bauer lassen sich zwei Schlagwörter zu diesem „Mehr“ beschreiben: Perspektive und Engagement.
Wir haben nicht nur gelernt, uns mit Perspektiven auseinanderzusetzen – was alleine schon ein immens wichtiger Effekt ist –, sondern wir
haben gelernt, Perspektiven und Standpunkte zu erkennen. Dies klingt
zunächst so selbstverständlich. Wenn man sich jedoch einmal bewusst
in seinem Umfeld und Zeitgeschehen umsieht, dann wird schnell klar,
wie schwierig und gleichzeitig wichtig dieses Erkennen ist. Darüber hinaus haben wir erlebt, mit welchem Feuer und mit welchem Aktionismus
viele Künstler eine Idee formen und für diese eintreten. Dieses tiefe und
offene Engagement für eine bestimmte Sache ist nicht nur beeindruckend, sondern auch etwas, von dem wir für unseren Alltag nur lernen können.
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
175
Risiko und Vertrauen
Tatsächlich bietet das Stipendium eine einzigartige Möglichkeit, sich
für Neues zu öffnen, sich darauf einzulassen, es zu erfahren – und dies
alles in einem relativ geschützten Raum. Einem Raum, in dem jeder nur
ein sehr geringes persönliches Risiko eingeht. Wo in unserem Alltag, im
Studium oder im Berufsleben können wir uns öffnen und Neues geschehen lassen, ohne dabei ein Risiko einzugehen – sei es ein Risiko, zu viel
von sich preiszugeben, oder ein geschäftliches Risiko. Dieser geschützte
Raum kann nur durch Vertrauen entstehen. Vertrauen, das die Stipendiaten bei jeder Bronnbacher Veranstaltung sich selbst, gegenseitig,
aber auch ihrem „Kurator Konstantin“ und jedem einzelnen Künstler
entgegenbringen. Vertrauen, das uns im Verlauf des Stipendienjahres
umgekehrt auch immer wieder von Seiten Konstantins und der Künstler begegnet. Vertrauen, das unbezahlbare Erfahrungen ermöglicht. Der
Versuch, diese Erfahrungen weiter zu konkretisieren, führt im Speziellen zu den Begriffen Wahrnehmung, Diskussionskultur, Verantwortung, Persönlichkeit und Bewusstsein. Im Folgenden möchten wir näher auf diese
Inhalte eingehen, die wir im vertrauensvollen Rahmen des Bronnbacher
Stipendiums erleben und weiterentwickeln durften.
Wahrnehmungsänderung
Der bereits genannte Begriff der Perspektive ist schon stark verknüpft
mit dem Begriff der Wahrnehmung. Wir haben Kunst erleben dürfen
an Orten, welche uns im Alltag nicht als Kunst aufgefallen wären.
Dinge, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, wurden
auf einmal aus einer ganz anderen Sicht beleuchtet. Alte Wahrnehmungen wurden verschoben, hin- und hergerückt, und neue Wahrnehmungen kamen hinzu. In diesen Prozessen spielte gerade unser
Kurator Konstantin eine bedeutende Rolle. Er half uns, aus unseren
vertrauten Wahrnehmungsmustern auszubrechen, und sorgte dafür,
dass wir uns immer wieder selbst hinterfragten. Mit jedem Wochenende wurde unsere Wahrnehmung so immer wieder auseinandergebrochen, neu zusammengesetzt und hat sich auf diese Weise stetig
weiterentwickelt. Begleitet wurde dieser individuelle Prozess eines
jeden Stipendiaten von Verwirrung, Verwunderung, Unverständnis
und ganz besonders von einer stetigen inneren Unruhe – jedoch im
positiven Sinn. Diese Unruhe ist ein Kernelement des Stipendiums, völlig individuell und daher schlussendlich leider nicht vollkommen zu
erfassen, zu begreifen oder eben auch zu erklären. Wenn man aber mit
einem Bronnbacher spricht und einem dabei eine Neugier oder gar ein
Brodeln und Lodern auffällt, dann ist dies sicherlich diese positive
Unruhe, von der wir hier sprechen.
176
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Diskussionskultur
Diese innere Unruhe beziehungsweise der innere Konflikt führt so auch
zu einem regen Austausch untereinander und zu vielfältigen Diskussionen in der Gruppe. Altes, Bekanntes, Vertrautes wird einem bei jeder
Begegnung in gewisser Weise weggenommen – entfremdet durch Perspektivverschiebungen. Der Kontakt mit den Künstlern hilft zwar, sich
dem „Entfremdeten“ immer wieder anzunähern, allerdings bleibt das
Verständnis zunächst in einer Form des Zwischenstadiums: Es gibt kein
schnelles Zurück zur alten Perspektive, doch auch das Neue fühlt sich
noch nicht ganz erreicht an. Trotz oder eben gerade wegen dieser Spannung zwischen vertraut und verändert ergeben sich aufreibende Fragen,
denen man sich in der Gruppe versucht, immer weiter und mit den verschiedensten Ansätzen zu nähern.
Verantwortung
Über die Konfrontation mit dem „anderen“ und dem Rütteln an unseren bisherigen Weltbildern fordert das Stipendium von jedem sich selbst
zu hinterfragen und dabei insbesondere auch Verantwortung für sich
und sein Handeln zu übernehmen. Die Auseinandersetzung mit der
eigenen Person und dem eigenen Handeln wurde vielen von uns vielleicht am Malerei-Wochenende mit Carsten Fock am deutlichsten vergegenwärtigt. Jeder Pinselstrich hatte eine Auswirkung auf das Endergebnis. Dies mag wieder zunächst so einfach klingen. Wenn man
jedoch versucht, sich in die Situation der Schaffenden zu versetzen,
dann wird schnell klar, warum jeder einzelne Pinselstrich eine potentielle Krise beinhaltet. Und es wird auch deutlich, warum es so viel Überwindung und Mut kostet, aktiv zu gestalten und dabei zu wissen, dass
das eigene Handeln in einer direkten Verbindung mit der möglichen
Konsequenz des Scheiterns steht. Eine Folge, für die jeder Einzelne seine
Verantwortung zu tragen hat. Verantwortung ist damit ein weiterer
Kernbaustein des Bronnbacher Stipendiums. Ein Baustein, der uns bei
vielen Wochenenden begegnete, sei es die Persönlichkeit eines Thomas
Hirschhorn, der sich mit politischer Kunst engagiert, oder auch nur die
organisatorischen Fragen des „Wohin“, „Wann“ und „Wem werden wir
begegnen“? an den einzelnen Wochenenden.
Bewusstsein
Das Bronnbacher Stipendium regt an, nicht alles als gegeben und selbstverständlich hinzunehmen, sondern stattdessen die Dinge kritisch zu
hinterfragen sowie Perspektiven zu wechseln, zu diskutieren und zu
reflektieren. In den Begegnungen des Stipendiums haben wir aber auch
erfahren, wie wir die entstehenden Reibungen und die Unruhe in uns
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
177
positiv in die Entwicklung neuer Visionen und Lösungsmöglichkeiten
umsetzen und in unser Handeln einfließen lassen können. Es erweitert
somit in gewissem Maße unser Bewusstsein.
Das Bronnbacher Stipendium hat uns bewegt – nicht nur, dass wir physisch an verschiedenen Orten waren, um Kunst zu sehen und uns damit
zu beschäftigen –, sondern es hat auch etwas in uns bewegt. Es sind einzigartige und unnachahmliche Erfahrungen, die in einem Jahr Bronnbacher Stipendium auf einen warten. All diese sind nun unsere persönlichen Schätze, mit denen wir in die Berufswelt gehen, um dort Dinge
aktiv und bewusst zu gestalten und uns zu engagieren, immer in dem
Bewusstsein, dies für unsere Umwelt, für die nächste Generation, vor
allem aber auch für uns und unsere Visionen zu tun.
Die Bedeutung des Bronnbacher Stipendiums
Was können wir also zusammenfassend über das Bronnbacher Stipendium nach einem Jahr Bronnbacher sagen? Es ist die wahrscheinlich wichtigste Initiative des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.
Warum aber sollte nun dieses Stipendium so wichtig sein? Um mit den
Worten der Wissenschaft zu sprechen: Studien haben gezeigt, dass die
größten Lerneffekte für Führungskräfte nur zu einem geringen Teil
aus formalem Unterricht bestehen. Stattdessen sind es vor allem Erfahrungen, harte Anstrengungen verbunden mit der Erfahrung des Scheiterns und Mentoren, die Führungskräfte prägen. Genau diese Punkte
vereint das Bronnbacher Stipendium: Es bietet jedem einzelnen Stipendiaten ganz besondere und wertvolle Erfahrungen, in denen jeder
mit viel Mut und Anstrengungen immer wieder den eigenen Standpunkt und die persönliche Haltung hinterfragt. So beinhaltet das Stipendium eben auch Erlebnisse des Scheiterns. Erlebnisse, die vielleicht erst durch die geschützte Atmosphäre des Stipendiums möglich
werden und an denen jeder Einzelne wachsen kann. Diese Atmosphäre
ist es, die das Bronnbacher Stipendium so einzigartig und förderungswürdig macht. Diese Atmosphäre, die durch ein hohes Maß an Vertrauen geprägt ist, um sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, um
Neuem zu begegnen, sich anderen Perspektiven zu öffnen und sich
anderen Haltungen zu nähern.
Die Bronnbacher Idee und Vertrauen
Zum Abschluss möchten wir noch einmal unsere Anfangsfrage aufgreifen: Was ist die eigentliche Idee des Bronnbacher Stipendiums? In der
Konfrontation mit dem Unbekannten hat sich jeder von uns selbst besser kennengelernt, hat jeder von uns die Welt besser kennengelernt. Es
hat in jedem von uns eine Unruhe geschaffen, die darauf wartet, in der
178
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Zukunft freigesetzt zu werden. Eine Energiequelle, welche die meisten
Stipendiaten vor dem Stipendium vielleicht gar nicht erahnen konnten.
Und so lässt die wahre Idee des Stipendiums – sofern sie sich überhaupt
in wenige Worte fassen lässt – annähernd zusammenfassen als die Suche
und die Konfrontation mit dem Neuen, mit dem vermeintlich Unbekannten, um dabei die eigene Denkstruktur aufzubrechen, sich selbst
neu zu erfahren und das Unbekannte zu Bekanntem und die Konfrontation zu neuen Perspektiven zu machen.
Den vertrauensvollen Rahmen, der diesen Prozess ermöglicht, verdanken wir unseren „Kreditgebern“. Allen Förderern möchten wir für ihren
Vertrauensvorschuss danken. Auch danken wir Frau Prof. Dr. Kehnel für
Ihre Einladung zur Zusammenarbeit im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kredit und Vertrauen“, worüber wir uns sehr gefreut haben. Wir
hoffen, dass das Projekt „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ als Forum
für grenzüberschreitende Gespräche aus den Bereichen Wirtschaft und
Kultur und das Bronnbacher Stipendium auch in Zukunft viele weitere
Gelegenheiten zur Kooperation finden werden.
Fußnoten
1 Stefan Weidner, „ÜBERSETZUNG – Vom Lesen heiliger Bücher“, Rheinischer Merkur,
18.2.2010, http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?id=40312.
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
179
Anmerkung des Künstlers Thomas Hirschhorn
auf einem Evaluierungsbogen nach seiner
Beteiligung als Referent eines Bronnbacher
Workshops
Mit Merlin Bauer („Liebe deine Stadt“) auf den
Spuren urbaner Interventionen
Bronnbacher Stipendiatinnen bei einem Work- Der Choreograf Georg Reischl mit Bronnbachershop mit dem Maler Carsten Fock
Innen im Ludwigforum Aachen
Harun Farocki während seines Filmworkshops
mit den BronnbacherInnen an der Universität
Mannheim
Filmausschnitt beim Farocki-Filmwochenende
180
Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation?
Abbildung 25: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches I
Abbildung 26: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches II
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
Über Vertragstreue und Vertragsbindung*
Marc-Philippe Weller
Einführung: Die drei Elemente der Vertragstreue
„Pacta sunt servanda: without this principle which grounds respect for the
pledged word, the contract would never have become the abstract universal that is
the pride of modern jurists.“ (Alain Supiot, Homo Juridicus (2007), S. 86).
Das Prinzip der Vertragstreue – auch pacta sunt servanda genannt – gilt
heutzutage als so selbstverständlich, dass manche meinen, „seine
Begründung ruhig der Rechtsphilosophie überlassen zu können“1. In
der Tat wurden in der deutschen Jurisprudenz monografisch bislang
nur – wenn auch wesentliche – Teilaspekte der Vertragstreue beleuchtet.2 Dagegen fehlt eine der Vertragstreue als solche gewidmete Untersuchung. Dementsprechend findet sich in der Literatur die Einschätzung, „dass trotz mehrerer Vorarbeiten die für die Privatrechtsordnung
wohl wichtigste Fragestellung nach Grund und Reichweite der Vertragstreue eine weitere umfängliche Monographie verdient hat“3. Diese
scheint umso mehr angezeigt, als die Schuldrechtsmodernisierung
2001 den Grundsatz der Vertragstreue aufgewertet hat, wie insbesondere zwei der ihr zugrunde liegenden Leitprinzipien – der Primat der
Erfüllung und das Recht zur zweiten Andienung – erhellen.
Vor diesem Hintergrund geht das Hauptziel der Arbeit dahin, den dogmatischen Bedeutungsgehalt der Vertragstreue im heutigen Bürgerlichen Recht zu ermitteln. Eine Ende des 19. Jahrhunderts anzutreffende
Auffassung, dass Verträge in allen Kulturen gehalten werden müssen,
hilft hier nicht weiter:
„So alt als die Unterscheidung von Recht und Schlecht ist der Glaube, dass Verträge
gehalten werden sollen. In allen Cultursprachen ward ‚solch teure Wahrheit verfochten‘ und in anderen nur darum nicht, weil auch nicht bestritten.“4
Dass die Vertragstreue gilt, sagt nämlich noch nichts darüber aus, was
mit ihr gemeint ist, wie sie ausgestaltet ist und welche konkreten Wirkungen von ihr ausgehen. In der Rechtspraxis muss die Vertragstreue
häufig als ein Passepartout herhalten, das in den verschiedensten Argumentationszusammenhängen eingesetzt wird. Die Rechtswissenschaft
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
183
hat insoweit noch keine ordnenden Leitlinien herausgearbeitet. Sie begnügt sich vielmehr mit dem Befund, der Grundsatz pacta sunt servanda
erscheine in seiner „Herkunft und Standortbestimmung letztlich nicht
ganz fassbar“5.
Dabei sind Standortbestimmung, Konturierung und Konkretisierung
der Vertragstreue und damit zugleich ihre Einbettung im Privatrechtssystem immer dann von Relevanz, wenn der Vertragstreue-Begriff im
wissenschaftlichen oder rechtspraktischen Diskurs ins Feld geführt
wird – was häufig geschieht. Hinzu kommt die rechtspolitische Bedeutung des Vertragstreuegehaltes. Letzterer spielt beispielsweise bei der
Ausgestaltung des auf EU-Ebene in Vorbereitung befindlichen Gemeinsamen Referenzrahmens für das Vertragsrecht (= Common Frame of
Reference, CFR) oder für ein etwaiges zukünftiges EU-Zivilgesetzbuch
eine Rolle. (…)
Insgesamt lassen sich drei Elemente isolieren, die dem Begriff der Vertragstreue zugeschrieben werden: (1.) Die Vertragsbindung, (2.) der
Grundsatz der Naturalerfüllung, (3.) die Leistungstreue. (…)
Die Vertragsbindung
Die erste Kernbedeutung der Vertragstreue liegt in der Vertragsbindung.
Exemplarisch für dieses Verständnis sei Bydlinski angeführt, der die „Vertragstreue“ „im Sinne einer in der Wurzel ethischen Bindung an das gegebene Wort“ beziehungsweise als „ethische Bindung an das Versprechen“6
begreift. Die Vertragsbindung hält beide Parteien am Vertrag fest, und
zwar ungeachtet dessen, ob der Vertrag beiden Seiten eine Leistungspflicht auferlegt (gegenseitiger Vertrag) oder nur einer Partei eine Leistungspflicht aufbürdet (einseitiger Vertrag).7 Die Vertragsbindung ist
mithin die ohne rechtlichen Grund nicht unilateral lösbare Unterwerfung einer Partei unter alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote.
Rechtsvergleichend betrachtet ist sie – anders als das Prinzip der durchsetzbaren Naturalerfüllung – weitgehend unumstritten. In Art. II.-1:103
Draft Common Frame of Reference ist sie ausdrücklich kodifiziert („A
valid contract is binding on the parties“), ebenso in Art. 1.3 UnidroitPrinciples sowie in Art. 1434 Civil Code Québec, in Art. 1134 Abs. 1 des
französischen Code Civil („Les conventions légalement formées tiennent
lieu de loi à ceux qui les ont faites“) und nicht zuletzt in Art. 8 Contract
Law of the People’s Republic of China. Im modernen islamischen Recht
gilt das Prinzip der Vertragsbindung ebenfalls, soweit dem Vertragsinhalt keine Regeln der sharia entgegenstehen.8 So lautet beispielsweise
Art. 147 des ägyptischen Zivilgesetzbuches in der französischen Übersetzung: „Le contrat fait la loi des parties.“
184
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
Legitimation der Vertragsbindung
Die Vertragsbindung erweist sich für die Institution des obligatorischen
Vertrages als unabdingbar. Sie bezieht ihre Legitimation nicht nur aus
rechtsethischen Erwägungen, sondern auch aus der den verpflichtenden Schuldvertrag kennzeichnenden Zukunftsdimension sowie den
Prinzipien der Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) und der Vertragsgerechtigkeit. Im Einzelnen:
1.
Zukunftsdimension des Vertrages
Charakteristikum des verpflichtenden Schuldvertrages ist dessen
räumliche und zeitliche Unabhängigkeit von der späteren Vertragserfüllung. Lorenz bezeichnet den Schuldvertrag treffend als „Zukunftsregelung“9. Dabei kommt in einem vom Trennungs- und Abstraktionsprinzip geprägten Rechtssystem selbst dem sofortigen Güteraustausch insofern ein Zukunftsbezug zu, als das Verpflichtungsgeschäft
gedanklich noch einer hiervon zu unterscheidenden (mangelfreien)
Erfüllung bedarf.
Die „geniale Leistung bei der Erfindung der Obligation“10 liegt darin,
sich vom sofortigen Güteraustausch Zug um Zug und damit vom aktuellen Güterbestand, der denknotwendig endlich sein muss, zu lösen und
Güterverteilungen aufzuschieben. Der Vertrag bietet damit die Möglichkeit, über Vermögenstransfers, die erst später stattfinden sollen,
schon heute zu entscheiden. Indem über Güterbewegungen in der
Zukunft disponiert wird, wird selbst Individuen, deren aktueller Güterbestand null beträgt, ermöglicht, mit dem Verteilungsmodell des
Schuldrechts zu arbeiten, weil sie sich zu zukünftiger (zu beschaffender)
Leistung verpflichten können. Hinzu kommt, dass Verträge als Willensschöpfungen anders als die ihnen zugrunde liegenden realen Leistungen beliebig generierbar und reproduzierbar sind.
Die Zukunftsdimension des Vertrages macht eine Bindung der Parteien an den Vertragsschluss erforderlich. Gäbe es diese nicht, wäre die
den Individuen eröffnete Kompetenz, qua Vertrag Vermögensdispositionen für die Zukunft festzulegen, eine wirkungslose und damit sinnentleerte Befugnis. Vermutlich wäre die Privatrechtsordnung ohne
die Vertragsbindung in einem System des sofortigen Leistungsaustausches durch Bar- beziehungsweise Handgeschäfte verhaftet geblieben.
Eine Vertragserklärung könnte nämlich kein Funktionsäquivalent für
die reale, sofortige Leistungserbringung bilden. In den Worten v. Jherings:
„Das Versprechen ist die Entbindung des Vertrages von den Fesseln der Gegenwart.
(…) Damit aber das Wort die Leistung vertrete, muss die Sicherheit bestehen, dass
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
185
es seiner Zeit gegen die Leistung eingetauscht (…) werde. (…) Die Garantie dieser
Erfüllung beruht auf dem Zwange. (…) Der juristische Ausdruck für diese Wirksamkeit des Versprechens ist die bindende Kraft der Verträge.“11
Nach alledem erweist sich die Bindungswirkung für die Zukunftsdimension des Vertrages als unabdingbar.
2.
Rechtssicherheit
Die Vertragsbindung verwirklicht ferner eine „idée directrice“ des
Rechts,12 die Rechtssicherheit. Im Einzelnen:
Vertrauensschutz
Die Vertragsbindung stellt sicher, dass jeder Vertragspartner für sein vertragliches Versprechen einsteht und bildet hierdurch den rechtlichen
Nährboden für das Vertrauen der Vertragspartner in das jeweils vom
anderen gegebene Wort. Dieses Vertrauen – dies zeigen nicht zuletzt die
ökonomischen Lehren vom Vertrauensspiel und der Rationalitätenfalle
(„Gefangenendilemma“) – darf jedoch nicht auf einer bloßen vagen
Hoffnung beruhen, wenn es bei der statistischen Mehrheit von Rechtsgeschäften, also gleichsam typisiert, vorliegen soll. Vielmehr muss das
Vertrauen auf einem rechtlichen Tatbestand aufbauen können, der das
in ihn gesetzte Vertrauen schützt. Der Tatbestand, in den die Parteien
Vertrauen investieren, ist der Vertragsschluss. Die an diesen von der
Rechtsordnung geknüpfte Bindungswirkung sorgt dafür, dass das Vertrauen der Vertragsparteien in die Beständigkeit der Einigung
grundsätzlich nicht enttäuscht wird.
Ohne den Vertragsbindungsbefehl der Rechtsordnung würde sich ein
Vertrauen in den Vertragsschluss gar nicht erst bilden. Bei den Geschäften, die mit einer Vorleistung oder Leistungsvorbereitung verbunden
sind, hätte das (mangels Schutzes) fehlende Vertrauen typischerweise
zur Folge, dass der Sachleistungsschuldner auf einer Vorkasse oder anderen kostspieligen Sicherungsmaßnahmen bestünde. Eindrücklich formuliert v. Jhering:
„Wäre das Versprechen nicht bindend, so würde das Darlehn im Geschäftsverkehr
so gut wie beseitigt sein, nur dem Freund würde man dann noch Geld leihen;
Dienstvertrag und Miethe wären von der Liste der Verträge gestrichen, denn wer
würde thöricht genug sein, seine Dienste zu leisten oder dem Andern den Gebrauch
seiner Sache einzuräumen, wenn er nicht sicher wäre, dass er den Lohn und Miethzins erhielte? Wer thöricht genug, letzteren im voraus zu entrichten, wenn er
gewärtigen müsste, dass die versprochene Gegenleistung ausbliebe? Nur Kauf und
Tausch würden noch möglich sein in der äußerst beengenden Form der Erfüllung
Zug um Zug.“
186
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
Basis für Freiheitsverwirklichung
Die Vertragsbindung bildet zum anderen die Basis für die Freiheitsverwirklichung des Individuums, weil sie ihm die für seine Zukunftsplanung
notwendige Zuverlässigkeit vermittelt. Das Bundesverfassungsgericht
führt hierzu aus:
„Freiheit meint vor allem die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist, dass die Umstände und
Faktoren, die die Gestaltungsmöglichkeiten solcher Entwürfe und ihren Vollzug
nachhaltig beeinflussen können, (…) möglichst zuverlässig eingeschätzt werden können.“14
Erst die Vertragsbindung erlaubt einem Individuum die für seine Persönlichkeitsentfaltung unabdingbare Möglichkeit der eigenständigen
Planung im beruflichen und persönlichen Bereich, indem sie seinen
Erwartungen in Bezug auf das vom Vertragspartner versprochene Verhalten eine unverrückbare Grundlage gibt. Mit der Vertragsbindung entspricht das Vertragsrecht somit der dem Recht generell zugewiesenen
Aufgabe, welche nach Schelsky primär darin besteht, „die Zukunft festzulegen. Es [= das Recht] ist die Planungsmacht schlechthin, die dem
Menschen zur Gestaltung seiner sozialen Beziehungen zur Verfügung
steht.“15 Vertragsbindung bedingt also Zuverlässigkeit der Planung und
damit Rechtssicherheit, und zwar zunächst für das kontrahierende Individuum selbst.
Verkehrssicherheit
Das Recht hat als Sozialtechnik die Funktion, eine verlässliche Basis für
die Einrichtung des Menschen in der Gesellschaft zu bilden und Erwartungen der anderen Verkehrsteilnehmer zu sichern.16 Dies geschieht,
indem für menschliches Verhalten Rechtsgesetzlichkeiten in Form von
Wenn-Dann-Relationen festlegt werden, welche Orientierung schaffen
und Konsequenzen aus einem bestimmten Verhalten „mit Sicherheit“
erwartbar machen. Die Erwartbarkeit ist freilich nur gewährleistet,
wenn die Rechtsgesetzlichkeiten beständig und verbindlich sind.
Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Beziehungen müssen insbesondere
die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs nach Klarheit, Planungs- und
Tauschsicherheit bedient werden. Damit ist die Verkehrssicherheit angesprochen, die spezifisch zivilrechtliche Ausprägung der Rechtssicherheit.
Den Anforderungen der Verkehrssicherheit wird das Vertragsrecht nur
gerecht, wenn es eine Rechtsgesetzlichkeit dergestalt aufstellt, wonach
jeder Vertragsschluss eine Bindungswirkung nach sich zieht. Erst hierdurch kann ein übersteigertes Misstrauen des Rechtsverkehrs, das dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen würde, vermieden und die
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
187
Grundlage für das Vertrauen in das Wort der Vertragsparteien geschaffen werden.
3.
Vertragsgerechtigkeit
Mit der Rechtssicherheit ist der Bogen zur Vertragsgerechtigkeit, einem
zentralen Anliegen jeder Privatrechtsordnung, als einem weiteren
Grund für die Vertragsbindung geschlagen. Der Gedanke der Vertragsgerechtigkeit basiert auf dem die Privatautonomie kennzeichnenden
Umstand, dass das Privatrecht – dem Prinzip formal-abstrakter Gleichheit entsprechend – alle Rechtssubjekte grundsätzlich als frei und
gleichwertig betrachtet. Freiheit und Gleichwertigkeit machen es möglich, dass sich die Selbstbestimmung im vertraglichen Einigungsprozess
auf den gerechten Interessenausgleich hin entfalten kann.17 Jede Partei
nimmt bei den Vertragsverhandlungen ihre Interessen wahr, oder stellt
sie in freier Selbstbestimmung hintenan.
Dabei muss man zwar nicht so weit gehen und mit der „Richtigkeitstheorie“ Schmidt-Rimplers allein schon aufgrund des verfahrensmäßigen
Zusammenwirkens der Parteien beim Vertragsschluss18 eine Gewähr für
die Richtigkeit des Vertrages im Sinne einer material gerechten Ordnung
der Einzelinteressen sehen. Den auf Basis von Gleichwertigkeit und
Selbstbestimmung ausgehandelten Verträgen wohnt mit Blick auf den
darin geregelten Interessenwiderstreit aber doch eine „ausgleichende
Gerechtigkeit“19, eine „immanente Vertragsgerechtigkeit“20 oder zumindest eine „Richtigkeitschance“21 inne.
Von einer so verstandenen Vertragsgerechtigkeit kann man ausgehen,
wenn beide Vertragsparteien entweder tatsächlich in freier Selbstbestimmung kontrahiert haben oder zumindest die reale Möglichkeit hatten, ihre berechtigten Interessen im Vertrag zur Geltung zu bringen.
Letzteres setzt wiederum voraus, dass die Rechtsordnung ein gewisses
„Gleichgewicht der Kräfte“ gewährleistet, da nur so ein fairer Machtausgleich möglich ist, ohne den ein „gerechter“ Interessenausgleich
nicht gelingen kann.22 Anders gewendet: Vertragsgerechtigkeit ist nur
denkbar, wenn auf keiner der beiden Seiten ein „Raum verdünnter Freiheit“23 vorliegt. Der Vertrag ist gerecht beziehungsweise „,richtig‘, weil
und soweit er von der beiderseitigen Selbstbestimmung der Vertragschließenden getragen ist.“24
Sieht man im Vertragsschluss einen im Regelfall gerechten Interessenausgleich, müssen sich die Parteien dann aber auch darauf verlassen
können, dass Verhandlungsergebnisse – mithin die im Vertrag in ein
Gegenseitigkeits- beziehungsweise funktionelles Äquivalenzverhältnis
gesetzten Leistungen – nicht durch spätere Interessenänderungen einseitig in Frage gestellt werden können. Die ausgehandelte Risikovertei188
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
lung muss fixiert, die verhandelte Vertragsgerechtigkeit über den
Moment des Vertragsschlusses hinaus aufrechterhalten werden.
Gäbe man einem Vertragspartner demgegenüber die Möglichkeit, den
Vertrag nachträglich einseitig aufzuknüpfen, würde man die zum
Zeitpunkt des Vertragsschlusses gegebene Gleichwertigkeit und Risikoverteilung zu Lasten einer Seite modifizieren und damit der Vertragsgerechtigkeit ihre Grundlage entziehen.25 Dem „Prinzip dezentralisierter Risikoverteilung“26, wonach die Risiken im Moment des
Vertragsschlusses unter dem Gesichtspunkt individueller Zurechenbarkeit und Beherrschbarkeit den Parteien zugeordnet werden, würde
der Boden entzogen. Die Rechtsordnung hat also, wenn sie dem Institut des Vertrages gerecht werden will, die im Vertragsschlussmoment
gegebene Vertragsgerechtigkeit für die Zukunft zu konservieren. Das
Mittel, um die Äquivalenz der vertraglichen Leistungen gegen
nachträglichen Sinnes- und Interessenwandel zu immunisieren, ist
die Vertragsbindung. Prägnant beschrieben wird dieser Zusammenhang von v. Jhering:
„Die Anerkennung der bindenden Kraft der Verträge (…) heißt nichts als Sicherung
des ursprünglichen Zweckes gegen den nachtheiligen Einfluss einer späteren Interessen-Verschiebung oder veränderter Interessen-Beurtheilung in der Person des
anderen Theils oder: rechtliche Einflusslosigkeit der Interessenänderung.“
Diese Feststellungen haben bis heute Gültigkeit: Die Vertragsbindung,
so der BGH, stelle „eine wesentliche Grundlage für ein funktionierendes,
die Äquivalenz gegenseitiger Leistungen sicherndes Vertragsrechtssystem“ dar.
Inhalt der Vertragsbindung
Als Inhalt der Vertragsbindung lassen sich zwei Facetten unterscheiden:
der Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit und die Rechtsgebotsunterwerfung der Parteien. Bei letzterer kann man weiter danach differenzieren, ob der Schuldner oder der Gläubiger den vertraglichen
Rechtsgeboten unterworfen wird.
1.
Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit
Indem die Parteien ihr beiderseitiges Verhältnis durch den Vertragsschluss und den daran anknüpfenden Vertragsbindungsbefehl der
Rechtsordnung (§§ 311 Abs. 1 i.V.m. 241 Abs. 1 BGB) auf ein verbindliches
Fundament in Form der lex contractus stellen, kann sich keine Vertragspartei ohne rechtlich anerkannten Grund unilateral vom Vertrag
lösen, insbesondere nicht durch willkürliche einseitige Erklärung.
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
189
Anders gewendet: Jede Lösung vom wirksam zustande gekommenen Vertrag bedarf einer besonderen, vom Gesetzgeber anerkannten Rechtfertigung.
Störungen, die aus der eigenen Sphäre des Risikoträgers stammen, eröffnen prinzipiell keine Möglichkeit des Abgehens von der Vertragsbindung. Denn „Bindung“ beinhaltet „Unverbrüchlichkeit, Unumstößlichkeit dessen, was gesagt wurde“29. Dies gilt auch und gerade für den Fall,
dass eine Partei das Eingehen des Vertrages nachträglich bereut. In ihrer
Konsequenz meint die Vertragsbindung demnach „die schärfste Ablehnung promissorischer Lügen wie auch jedes egoistischen Nützlichkeitsstandpunktes“30.
2.
Bindungswirkung durch Rechtsgebote
Von einer Bindungswirkung des Vertrages kann nur die Rede sein, wenn
der Vertrag für beide Parteien in irgendeiner Form mit einer Verpflichtung einhergeht. Würde eine Partei nur begünstigt, könnte man im Hinblick auf diese nicht von einer Bindung sprechen.
Selbst der „einseitige Vertrag“, welcher nur der einen Partei eine Leistungspflicht auferlegt, ist für die andere Partei bindend. Dies deshalb,
weil sich die Bindungswirkung nicht nur in einer Leistungspflicht
äußern kann. Vielmehr sind alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote geeignet, die Bindungswirkung zu begründen. Zu diesen Rechtsgeboten gehören primäre und sekundäre Leistungspflichten (und zwar
sowohl Sachleistungs- als auch Geldleistungspflichten), Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) und Obliegenheiten. Zwei Aspekte sollen
dabei besonders gewürdigt werden:
Gläubigerbegünstigende Seite der Vertragsbindung
Das prominenteste Rechtsgebot, das einem Vertrag entspringt, ist die
Naturalerfüllungspflicht des Sachleistungschuldners, welcher der Naturalerfüllungsanspruch des Gläubigers gegenübersteht. Anknüpfend an
den Vertragsschluss besteht bei verpflichtenden Schuldverträgen die
von der lex lata vorgesehene Regelfolge darin, dass der Sachleistungsschuldner zur Naturalerfüllung und der Geldleistungsschuldner zur
Zahlung verpflichtet wird, §§ 311 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB.
Die Naturalerfüllungspflicht ist zwar keine conditio sine qua non für
das Vorliegen der Vertragsbindung (vgl. § 311a Abs. 1 BGB), geht aber typischerweise mit dieser einher. Dementsprechend erblickt der Rechtsverkehr auch einen gleichsam natürlichen Zusammenhang zwischen der
vertraglichen Bindungswirkung und der Naturalerfüllungspflicht. Erst
durch den Zwang zur Erfüllung, so Repgen, verwirkliche sich die Vertragsbindung.
190
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
Schuldnerbegünstigende Seite der Vertragsbindung
Die Vertragsbindung tritt unabhängig davon ein, ob der Vertrag einer
Partei eine Leistungs- oder eine Gegenleistungspflicht auferlegt. Somit
ist auch der Sachleistungsgläubiger gerade in seiner Funktion als Gläubiger der Leistung (und nicht nur als Schuldner der Gegenleistung) an
den Vertrag gebunden. Hiervon profitiert der Schuldner, der den Vertrag
durchführen möchte. Dem Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit
entsprechend kann der Gläubiger vom Vertrag erst abrücken, wenn zu
seinen Gunsten der Tatbestand eines Vertragslösungsrechts gegeben ist.
Mit Henssler: Allein der Hinweis des Gläubigers, „er habe es sich anders
überlegt, rechtfertigt keine Durchbrechung des auch insoweit [d.h. für
den Gläubiger] gültigen Gebotes der Vertragstreue“32.
Die Bindung des Sachleistungsgläubigers kann sich in erzwingbaren
Abnahmepflichten (§§ 433 Abs. 2, 640 BGB) oder schadenersatzbewehrten Rücksichtspflichten, insbesondere Leistungstreuepflichten (§ 241
Abs. 2 BGB), äußern. Im Hinblick auf die Leistungsannahme manifestiert
sich für den Gläubiger die Last der Bindung nach herrschender Meinung
ferner in einer Leistungsannahmeobliegenheit, nach hier vertretener
Ansicht sogar in einer Leistungsannahmepflicht.
Ende der Vertragsbindung
In zeitlicher Hinsicht besteht die Vertragsbindung grundsätzlich so
lange, bis alle vertraglichen Haupt- und Nebenleistungspflichten erfüllt
(§ 362 BGB) und darüber hinaus etwaige nachwirkende Rücksichtspflichten erloschen sind. Von diesem Grundsatz gibt es drei Ausnahmen, welche zu einem früheren Ende der Bindungswirkung führen:
1. Zum einen können die Parteien die Bindungswirkung durch entsprechende Bestimmungen im Vertrag selbst einschränken, indem sie
etwa Voraussetzungen für ein vertragliches Rücktrittsrecht (§ 346 Abs.
1 1. Alt. BGB) vereinbaren.
2. Zum anderen können die Parteien den Vertrag nachträglich durch
einen neuen Vertrag aufheben oder ändern. Aufhebungs- beziehungsweise Modifikationsvoraussetzung ist das beiderseitige Einvernehmen.
3. Schließlich normiert die Rechtsordnung in besonderen Tatbeständen, wann ein Abgehen vom Vertrag gerechtfertigt ist. Beispielhaft zu
nennen sind die rechtsvernichtenden Einwendungen, insbesondere
die Rücktrittsgründe in §§ 323, 326 Abs. 5 BGB. Diesen Vertragslösungsgründen ist ihr Ausnahmecharakter gemeinsam. Jener kommt
darin zum Ausdruck, dass die Berechtigung zur Vertragslösung nicht
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
191
jederzeit und nicht im freien Belieben einer Partei, sondern nur bei
Vorliegen fest umrissener Tatbestandsvoraussetzungen erwächst, in
denen die Rechtsordnung die Interessen an der Vertragslösung höher
bewertet als die Vertragstreue. Dabei gestatten die Vertragslösungsgründe einer Partei regelmäßig dann kein Abgehen vom Vertrag,
wenn ihr lediglich die eigene Leistungserbringung ohne Rücksicht auf
eine Störung der Gegenleistung lästig wird.
Zusammenfassung
1. Die Vertragsbindung lässt sich definieren als die ohne rechtlichen
Grund nicht einseitig lösbare Unterwerfung einer Partei unter alle
einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote (primäre und sekundäre
Leistungspflichten, Rücksichtspflichten, Obliegenheiten).
2. Die Vertragsbindung hält jede Partei nicht nur in ihrer Rolle als
Schuldnerin, sondern auch in ihrer Funktion als Gläubigerin am
Vertrag fest. Den Parteien ist damit eine einseitige Revidierung des
Vertragsschlusses grundsätzlich verwehrt; sie haben kein „Reuerecht“.
3. Die Vertragsbindung bezieht ihre Legitimation aus der dem verpflichtenden Schuldvertrag immanenten Zukunftsdimension, aus der
Rechtssicherheit sowie aus der Vertragsgerechtigkeit. Ohne die Bindungswirkung bildeten die Vertragserklärungen der Parteien kein Funktionsäquivalent für die reale, sofortige Leistungsbewirkung. Die Vertragsbindung macht es möglich, Vereinbarungen über einen zukünftigen Leistungsaustausch zu treffen, welcher die Grundlage moderner
Marktwirtschaften bildet.
Fußnoten
*
Überarbeiteter Zweitabdruck aus Weller, Marc-Philippe, Die Vertragstreue – Vertragsbindung, Naturalerfüllungsgrundsatz, Leistungstreue, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2009 (Schriftenreihe: Ius Privatum Nr. 142). Im Folgenden werden die Einführung
(S. 1 f.) und das 7. Kapitel zur „Vertragsbindung“ (S. 274 ff.) auszugsweise wiedergegeben. Fußnoten und Überschriften wurden gekürzt bzw. abgeändert.
1 So Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S.
173 ff.
2 Vgl. z.B. Teubner, Gunther, Gegenseitige Vertragsuntreue, Tübingen 1975.
3 Roth, Herbert, Rezension: Mankowski, Beseitigungsrechte, in: JZ 14 (2004), S. 725.
4 Hofmann, Franz, Die Entstehungsgründe der Obligationen, insbesondere der Vertrag,
Wien 1874.
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Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
5 So Stern, Klaus, Zur Grundlegung einer Lehre des öffentlich-rechtlichen Vertrages, in:
VerwArch 49 (1958), S. 106–157.
6 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden
Rechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967.
7 Flume, Werner, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band – Das Rechtsgeschäft,
Berlin u.a. 1979.
8 Krüger, Hilmar, Law of Contract in Arab States, in: Studi Magrebini, Volume II, Napoli
2004, S. 217 ff.
9 Lorenz, Stephan, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, München 1997.
10 Schmidt, Jürgen, Einleitung zu §§ 241 ff., Rn. 122, in: Julius v. Staudinger (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Berlin 1995, S. 1–198.
11 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.
12 Arnauld, Andreas v., Rechtssicherheit, Tübingen 2006.
13 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.
14 BVerfG, Urt. v. 20.4.1982, 2 BvL 26/81, NJW 1982, 2425.
15 Schelsky, Helmut, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler
Ansatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie,
Band 1, Bielefeld 1970, S. 37–89.
16 Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, Reinbek 1972.
17 Canaris, Claus-Wilhelm, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner
„Materialisierung“, in: AcP 200 (2000), S. 273–364; ders., Äquivalenzvermutung und
Äquivalenzwahrung im Leistungsstörungsrecht des BGB, in: FS Wiedemann, München
2002, S. 3–33: Vertragsgerechtigkeit mit „primär ‚prozeduralem‘ Charakter“, verwirklicht durch ein „faires“ Vertragsschlussverfahren und „nur ergänzend durch die Festlegung bestimmter inhaltlicher Wertungen.“
18 Schmidt-Rimpler, Walter, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP
147 (1941), S. 130–197: „Der Vertrag ist ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willen
herbeizuführen, weil immer der durch die Ungünstigkeit Betroffene zustimmen
muß.“
19 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963.
20 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden
Rechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967.
21 Wolf, Manfred, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, Tübingen 1970: „Das Institut des Vertrages schafft wohl die besten Voraussetzungen dafür, dass die Parteien durch ihr Aushandeln in Ausübung in Selbstbestimmung den gerechten Interessenausgleich finden.“
22 Drexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, Tübingen 1998.
23 Raiser, Ludwig, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 101–134.
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
193
24 Flume, Werner, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 135–238.
25 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963.
26 Siehe Dauner-Lieb, Barbara, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, Berlin 1983.
27 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.
28 BGH, Urt. v. 21.12.1983, VIII ZR 195/82, BGHZ 89, 206, 211.
29 Larenz, Karl, Richtiges Recht – Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979.
30 Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S. 173 ff.
31 Repgen, Tilman, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1994.
32 Henssler, Martin, Risiko als Vertragsgegenstand, Tübingen 1994.
194
Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?
Abbildung 27: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier I
Abbildung 28: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier II
Vertrauen statt Wissen
Qualität im Wissenschaftsjournalismus1
Matthias Kohring
Der Begriff Qualität meint, dass bestimmte Erwartungen an den Wissenschaftsjournalismus von diesem erfüllt werden. Die Frage ist bloß,
welche das eigentlich sind. Wer formuliert diese Erwartungen, und wie
werden sie begründet? Viele sagen, das kläre sich dadurch, dass wir es
dabei mit Wissenschaftsberichterstattung zu tun haben, und da sei ja
bekannt, worum es geht. Also könne man dann aus dieser Warte über
die Qualitätsfrage entscheiden. Das klingt plausibel – sofern wirklich
geklärt ist, wozu Wissenschaftsjournalismus eigentlich da ist. Gerade
über diese Frage der Funktion des Wissenschaftsjournalismus scheint
aber noch einige Unklarheit zu herrschen, oder besser: eine nur vermeintliche Klarheit, vor allem bei Wissenschaftlern, aber auch bei Journalisten. Das hängt damit zusammen, dass in Deutschland die Vorstellung tief verwurzelt ist, Wissenschaftsjournalisten hätten damit zu tun,
wissenschaftliche Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu „transportieren“ und solchermaßen in Zeiten knapper Finanzen für die notwendige
– angeblich gefährdete – Akzeptanz „der“ Wissenschaft zu sorgen. Auch
heute noch hört man aus dem Wissenschaftsbereich die larmoyante
Klage über eine sogenannte Laien-Bevölkerung, die einfach nicht versteht und einsieht. In solchen Reden findet sich der Wissenschaftsjournalist dann unversehens zusammen mit dem Wissenschaftler oder dessen Öffentlichkeitsarbeiter „im gleichen Boot“ oder „am gleichen Tisch“
wieder, um von hier den Nutzen „des“ wissenschaftlichen und technologischen „Fortschritts“ und den kulturellen Wert „der“ Wissenschaft
zu propagieren.
Diese Vorstellung prägt die Diskussion über den Wissenschaftsjournalismus schon seit dessen Anfängen. Sie hat allerdings noch nie dazu
getaugt, die real existierende Wissenschaftsberichterstattung adäquat
zu beschreiben. Insofern ist diese normative Vorstellung vom Wissenschaftsjournalismus, zuallererst als Vermittler wissenschaftlichen Wissens an die breite Öffentlichkeit zu fungieren, ein interessantes Beispiel
für die kontrafaktische Kraft von Normen, die als Erklärungen dienen
sollen, und für die beharrliche Resistenz der Diskutanten, aus gesellschaftlichen Veränderungen und empirischen Erkenntnissen etwas
Vertrauen statt Wissen
197
dazuzulernen. Dem entspricht das Konzept eines öffentlichen Wissenschaftsverständnisses oder Public Understanding of Science, das die Akzeptanz von Wissenschaft anscheinend immer noch durch die Vermittlung
wissenschaftlichen Wissens an eine angeblich unzureichend aufgeklärte Bevölkerung sicherstellen will.
Dass diese Vorstellung viel zu schlicht ist, um der heutigen Komplexität
des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft gerecht zu werden,
mag man noch dahingehen lassen. Kritisch wird es allerdings, wenn
diese Diagnose mit der Aufgabenbestimmung des Wissenschaftsjournalismus gekoppelt wird, dergestalt, dass dieser es nun richten soll,
sozusagen kraft seiner medialen Möglichkeiten. Das Akzeptanz- und
Kommunikationsproblem der Wissenschaft wird damit kurzerhand
zum Kommunikationsproblem des Wissenschaftsjournalismus erklärt,
der sich nun stellvertretend daran abarbeiten darf. Dieser Diskurs
nimmt – teilweise durchaus auch infolge der großen Förderprogramme
zur Wissenschaftskommunikation – bis heute einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Qualitätsvorstellungen zum Wissenschaftsjournalismus. Ich halte diese Vorstellung vom Wissenschaftsjournalismus
als Wissensvermittler allerdings – um es gelinde auszudrücken – für
stark verkürzt. Ich bin nicht der Ansicht, dass sie als oberste Leitlinie
taugt, um Qualitätsmaßstäbe für den Wissenschaftsjournalismus zu formulieren.
Warum ist Vertrauen ein besseres Konzept als Qualität?
Was heißt nun also „Qualität des Wissenschaftsjournalismus“? Es ist
scheinbar banal zu sagen, dass Qualität notwendig ist. Sofern man sich
nicht damit begnügt zu sagen, dass es gut ist, dass etwas gut ist – wofür
ist dann Qualität im Wissenschaftsjournalismus eigentlich notwendig?
Und reicht es aus zu sagen, dass journalistische Texte eine bestimmte
Qualität aufweisen? Ist es nicht viel wichtiger, dass sie als Qualität wahrgenommen wird? Die traditionelle Qualitätsforschung gewinnt ihre Kriterien vor allem aus dem Medienrecht, das sich mit der Interpretation
der öffentlichen Aufgabe der Medien beschäftigt. Diese Kriterien heißen
dann zum Beispiel Relevanz, Richtigkeit, Transparenz, Sachlichkeit,
Ausgewogenheit, Vielfalt und Verständlichkeit. Diese Begriffe sind
natürlich nicht unsinnig, es ist bloß die Frage, worauf sie sich beziehen.
Auch wissenschaftliche Publikationen sollten relevant, richtig, transparent, sachlich und verständlich sein, und in der Regel auch ausgewogen und vielfältig, was den Stand der Forschung angeht. Was unterscheidet also die journalistische Qualität von der wissenschaftlichen
Qualität?
198
Vertrauen statt Wissen
Wenn Qualität attestiert wird, ist damit genau genommen gemeint, dass
bestimmte Erwartungen erfüllt wurden. Aber welche Erwartungen?
Und wessen Erwartungen? Der Begriff Erwartung verweist darauf, dass
es hierbei um eine dynamische Beziehung geht zwischen einem Akteur,
der etwas erwartet, und einem Akteur, der diese Erwartung erfüllt.
Diese Akteursbeziehung kann nicht willkürlich konstruiert werden. Ich
kann nicht von einem Schuhmacher Brötchen verlangen und darüber
enttäuscht sein, dass er sie nicht im Regal liegen hat. Woher weiß ich
dann also, was ich vom Wissenschaftsjournalismus verlangen kann? Der
Qualitätsbegriff scheint mir vor allem nicht in der Lage zu sein, diese,
sagen wir „Beziehungsdynamik“ zu berücksichtigen. Daher möchte ich
diesen Begriff durch ein aussagekräftigeres Konzept ersetzen, und zwar
durch das Konzept der Vertrauenswürdigkeit.
Auch Vertrauen misst sich an der Erfüllung bestimmter Erwartungen.
Der Begriff des Vertrauens ist aber weitaus anschlussfähiger, wenn es
um das Nachdenken über die Lebensbedingungen in unserer modernen
Gesellschaft geht. Während Qualität bloß meint, dass etwas gut gemacht
wird, kann man mit der Theorie des Vertrauens darauf kommen, was
denn überhaupt gut gemacht werden muss. Der Begriff des Vertrauens
erlaubt es mir zudem – in Einheit mit einer Theorie des Journalismus –,
das Problem des Vertrauens in den Wissenschaftsjournalismus mit der
ebenso vorhandenen Problematik des Vertrauens in die Wissenschaft
selbst zu verknüpfen.
Vertrauen in andere wird da notwendig, wo das eigene Wissen unvollständig ist und man auch nicht über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen verfügt, um andere gesellschaftliche Bereiche selbst zu
überblicken oder sogar zu kontrollieren. Das wird mich dann, um dies
schon einmal anzudeuten, zu der etwas unvertrauten Schlussfolgerung
führen, dass Wissenschaftsjournalismus primär kein Wissensvermittler, sondern ein Vertrauensvermittler ist (was übrigens auch Misstrauen
einschließt, das ja ebenfalls sinnvoll sein kann). Da aber Vertrauen dazu
dient, fehlendes Wissen über einen komplexen Handlungsbereich zu
kompensieren, hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus,
der sich mit dem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unserer
Gesellschaft beschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung im
traditionellen Sinn zu tun.
Was ist die Funktion von Vertrauen?
Der Begriff des Vertrauens ist seit den neunziger Jahren in aller Munde.
Das hat etwas zu tun mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen wie
zum Beispiel dem Wegfall des Ost-West-Konflikts, der ja auch eine
Vertrauen statt Wissen
199
bestimmte Weltsicht und damit Sicherheit garantierte. Wenn Stabilität
und Kontinuität verlorengehen, entsteht aber Unsicherheit, und mit dieser die Frage, wie so etwas wie gesellschaftliche Ordnung hergestellt und
abgesichert werden kann. In einer Gesellschaft wie der unsrigen gibt es
hierfür keine herausragende Instanz mehr (wie es früher z. B. die Religion war), die eine solche Einheit für alle stiften könnte. Eine solche
multiperspektivische oder pluralistische Gesellschaft ist stattdessen
gerade dadurch geprägt, dass verschiedene Realitäts- und Problemsichten und Werthaltungen existieren und miteinander konkurrieren.
Diese sind für Außenstehende überwiegend undurchschaubar: Jeder ist
zwar Experte für einen bestimmten, kleinen Bereich, aber Laie für den
großen Rest. Nach welchen allgemeinen Prinzipien und konkreten
Gründen und Interessen die Akteure außerhalb meines eigenen
Bereichs handeln, kann ich allenfalls vermuten – wissen tue ich es nicht.
Mein Handeln in einer solchen pluralistischen Gesellschaft wird für
mich so zu einem prinzipiellen Risiko, da sein Erfolg immer abhängig
ist vom „Mithandeln“ meiner sozialen Umwelt. Mit dem prinzipiellen
Risiko meine ich vor allem die arbeitsteilige Übernahme von Handlungen, die für einen selbst wichtig sind, durch andere: So fahre ich mit dem
Taxi zum Bahnhof, um noch pünktlich zu einem Kongress anreisen zu
können (aber woher weiß ich, dass der Fahrer den Weg rechtzeitig findet?). Ich überreiche mein Geld zwecks Vermehrung einer Bank (aber
woher weiß ich, dass deren Experten nicht selbst vom Markt überrascht
werden?). Ich lese einen Bericht zum radargestützten Sicherheitssystem
der neuen S-Klasse (aber woher weiß ich, dass der Journalist sauber gearbeitet hat?).
Kein einziger sozialer Akteur wäre auf der Basis nur seines Wissens und
nur seiner Fähigkeiten in der Lage, sich in auch nur einigermaßen komplexen Handlungszusammenhängen zu bewegen. Er muss sein Handeln daher mit dem Handeln anderer sozialer Akteure verknüpfen und
abstimmen. Auf der einen Seite wird so sein Handlungsradius enorm
erweitert. Auf der anderen Seite entsteht das Problem, wie er mit dem
Risiko umgeht, dass andere Akteure nicht seinen spezifischen Erwartungen gemäß handeln könnten, also als Taxi-Fahrer den rechten Weg
finden, als Banker die Marktentwicklung überschauen oder als Journalist alle wichtigen Informationsquellen kennen und sie auch nutzen.
Es ist diese riskante Situation, in der Vertrauen in andere seine Bedeutung gewinnt. Vertrauen ist ein Mechanismus, um trotz ungewisser
beziehungsweise riskanter Zukunft handeln zu können. Man verlässt
sich auf andere und gründet sein jetziges Handeln auf dieses Vertrauen,
obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht gewiss ist, dass diese anderen tatsächlich gemäß meinen Erwartungen handeln. Diese Vertrauenserwartun-
200
Vertrauen statt Wissen
gen an andere sind in zumindest rudimentärer Weise untereinander
ausgehandelt, das heißt, der Vertrauensadressat weiß zum Ersten, dass
ich ihm vertraue, und er akzeptiert zum Zweiten die Erwartung an ihn.
Andernfalls (wie im Falle der Brötchen beim Schuhmacher) handelt es
sich um bloße Hoffnung, mit der man sich auch lächerlich machen
kann. Eine Vertrauenshandlung ist weder kalkuliert, noch ist sie rechtlich sanktionierbar. Das macht sie riskanter als zum Beispiel ein Handeln, das nur auf die eigenen Fähigkeiten baut, oder als ein Handeln mittels Verträgen. Nur Vertrauensbeziehungen ermöglichen aber die Vielfalt unserer Gesellschaft.
Wenn ich vertraue, überlasse ich mich also einem anderen, obwohl das
Risiko, dass er mich enttäuscht, weiterhin besteht. Ich tue dies, weil ich
selbst nicht über genügend Wissen oder über die Fertigkeiten verfüge,
um ein bestimmtes Problem allein anzugehen. Mit Vertrauen überbrücke ich mein Defizit. Dabei wird ein ganz besonderes Charakteristikum von Vertrauen sichtbar: Ich kann nicht beurteilen, ob der andere
Akteur, dem ich vertraue, mein Problem lösen kann, da mein Problem
ja gerade darin besteht, nicht über dieses Beurteilungswissen zu verfügen.
Wann ist ein anderer Akteur für mich vertrauenswürdig? Er ist dann vertrauenswürdig, wenn er – auch als Rollen-Inhaber wie zum Beispiel als
Redakteur – sich an die untereinander ausgehandelten Vertrauenserwartungen hält. Wenn dieser andere Akteur sich dadurch als vertrauenswürdig erweist, dass er bestimmte Erwartungen an seine Berufsrolle
erfüllt, könnte man genauso auch sagen, dass seine Arbeit Qualität
„hat“. Ob jemand vertrauenswürdig ist, erweist sich aber erst im Nachhinein und nur durch Erfahrung. Vertrauen kompensiert die eigene
Unsicherheit, oder anders ausgedrückt: Vertrauen ersetzt fehlendes Wissen. Man kann Vertrauen folglich nicht durch Wissensvermittlung
erzeugen, im Gegenteil: Je mehr Wissen jemand über ein gesellschaftliches Thema erhält, desto komplexer und damit unsicherer erscheinen
ihm seine Entscheidungsgrundlagen, und umso mehr Vertrauen
benötigt er. Es ist typisch für unsere moderne Gesellschaft, dass ihre
Komplexität nicht nur mehr Handlungsmöglichkeiten bietet, sondern
zugleich dem Individuum immer mehr den Überblick und den Einblick
verwehrt.
Statt Wissen brauche ich daher andere Handlungsorientierungen,
sofern es nicht um meinen eigenen Spezialbereich geht. Die Vertrauenswürdigkeit des anderen ist eine solche Orientierung. Sie beruht aber
nicht auf dem Nachvollzug des Wissens, das von anderen Akteuren
erzeugt wurde, sondern sie gründet auf dem mehr oder weniger symbolischen Wissen über diese Akteure. Symbolisch heißt, dass dieses Wis-
Vertrauen statt Wissen
201
sen über Akteure zum Stellvertreter für das tatsächliche Wissen dieser
Akteure wird, auf das es mir ja eigentlich ankommt. Wer sich einem
Zahnarzt schon beim ersten Besuch für eine Wurzelbehandlung überlässt, hat nicht das geringste sachspezifische Wissen, um diese Handlung zu legitimieren. Sein Vertrauen gründet sich auf saubere Kittel,
Diplome an der Wand, ein freundliches Wort und auf die Beobachtung,
dass da ja auch noch andere Patienten sind, die entspannt in der Zeitschrift blättern – streng genommen eine jämmerliche Informationsbasis. Die Alternative wäre allerdings zeitraubend: ein Studium der Zahnmedizin. Nach dem ersten Besuch kommt dann die eigene Erfahrung als
Kriterium hinzu, nach dem Motto: Was einmal klappte, muss doch beim
nächsten Mal auch gutgehen (das Ganze ist natürlich auch im Negativen denkbar). Ich glaube übrigens, dass sich das Verhältnis von Wissenschaft und sogenannter Laien-Bevölkerung nicht groß von diesem Szenario unterscheidet.
Wovon die Vertrauenswürdigkeit abhängt, ist von Profession zu Profession unterschiedlich. Man kann also nicht einfach nur nach „der“ Vertrauenswürdigkeit fragen, ohne sich zu überlegen, worauf sich das Vertrauen eigentlich bezieht. Vertrauen in den Schuhmacher, Vertrauen in
den Bäcker, Vertrauen in den Zahnarzt oder aber Vertrauen in den Wissenschaftsjournalisten – jedes Mal ist etwas völlig anderes gemeint. Aus
dieser Argumentation ergibt sich, dass die Qualität des Wissenschaftsjournalismus davon abhängt, ob er die spezifischen Vertrauenserwartungen erfüllen kann, die an ihn gerichtet werden. Welche spezifischen
Erwartungen dies sind und wessen Erwartungen dies sind, das kann man
aus der Funktion ableiten, die Journalismus für die Gesellschaft erfüllt.
Worauf bezieht sich Vertrauen in Journalismus?
Vertrauen in Journalismus bezieht sich auf die angemessene Erfüllung
der Funktion, die Journalismus für die gesamte Gesellschaft innehat.
Was ist aber nun diese „eigentümliche“ Perspektive des Journalismus,
die anscheinend so bedeutend für seine Publika ist? Um dies zu erläutern, muss man sich wie beim Vertrauen noch einmal die pluralistische
Struktur unserer modernen Gesellschaft vor Augen führen. Die arbeitsteilige Organisation der Gesellschaft hat dazu geführt, dass die einzelnen Handlungsbereiche oder Systeme miteinander konkurrierende
Sachlogiken und Fachsprachen ausgebildet haben: Was in der Wissenschaft wahr ist, bringt in der Politik vielleicht zu wenig Stimmen, was
moralisch verwerflich ist, bringt für sich genommen die Wirtschaft
nicht dazu, davon abzulassen. Hinzu kommt, dass die einzelnen
Systeme zwar in einer Hinsicht sehr spezialisiert sind (man denke nur
an die Wissenschaft), aber gerade deshalb in allem anderen umso abhän202
Vertrauen statt Wissen
giger von ihrer Umwelt. Dies gilt sowohl für negative als auch für positive „Störungen“ der eigenen Handlungen: Neue Erkenntnisse der Wissenschaft können der Wirtschaft zur Entwicklung eines lukrativen Produkts verhelfen (Beispiel Krebsforschung), genauso aber auch die Wirtschaftlichkeit bestimmter Güter gefährden (Beispiel Kanzerogenität von
Asbest). Man kann mit vielen weiteren Beispielen belegen, dass unsere
Gesellschaft durch komplexe gegenseitige Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnisse charakterisiert ist. Kein Akteur bleibt unberührt
von dem, was andere tun. Zumindest kann er nicht davon ausgehen –
was für ihn eine prinzipielle Unsicherheit bedeutet.
In solch einer Situation ist jeder Akteur, ob Person oder Organisation,
genötigt, Erwartungen über seine gesellschaftliche Umwelt auszubilden, auf deren Grundlage er dann sein spezifisches Handeln planen
kann. Ohne die Ausbildung dieser Erwartungen würde zum Beispiel
eine Organisation immer wieder überrascht werden von dem, was aus
ihrer Umwelt auf sie einströmt. Unter diesen Bedingungen muss jeder
gesellschaftliche Akteur also folgendes Problem lösen: Wie kann er
Erwartungen ausbilden, die ihm eine Orientierung in einer pluralistischen
Gesellschaft ermöglichen, das heißt in einer Gesellschaft, die von konkurrierenden und durchaus auch inkompatiblen Perspektiven und
Interessen geprägt ist? Kurz gefasst: Wie kann er sich rechtzeitig darauf
einstellen, was andere tun?
Genau diese Orientierungsfunktion übernimmt der Journalismus. Journalismus informiert stets über solche Ereignisse, die über den Bereich hinaus, in dem sie passiert sind, Bedeutung erlangen könnten. Über ein Ereignis wird also nicht schon deshalb berichtet, weil es in einem bestimmten
gesellschaftlichen System wie zum Beispiel der Wissenschaft oder der
Politik stattfindet, sondern weil es in mindestens einem zusätzlichen
System, idealerweise (aus journalistischer Sicht zumindest) in möglichst
vielen, Resonanz auslösen, also Erwartungshaltungen verändern
könnte. Wenn Journalismus also zum Beispiel ein Ereignis beobachtet,
das er dem Rechtssystem zurechnet (z. B. das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zur Anbringung von Kreuzen in bayerischen Schulräumen), wird er es jeweils aus der Perspektive anderer ihm
bekannter Akteure auf seine Neuigkeit und seine Relevanz hin prüfen.
Er wird dann feststellen, dass dieses Urteil im System Religion sowohl
einen hohen Neuigkeitswert besitzt, als auch relativ stabile Erwartungen über die gesellschaftliche Stellung der großen Kirchen in Frage
stellt, also für diese Akteure hochrelevant ist. Journalismus wird zudem
aus seiner Kenntnis politischer Kommunikation die Vermutung ableiten, dass zumindest Teilbereiche der Politik (die christlichen Parteien,
vor allem die CSU) höchstwahrscheinlich auf diese höchstrichterlichen
Irritationen reagieren werden. Er wird also dieses Ereignis als journaVertrauen statt Wissen
203
listisches Thema kommunizieren. Nach den gleichen Kriterien wird er
auf die Reaktionen achten, sowohl auf die im eigenen System (z. B. Leserbriefe, Anrufe) als auch auf die aus Politik und Religion sowie natürlich
aus dem Rechtssystem, das durch die teilweise scharfen Angriffe auf
seine Autonomie ebenfalls erheblich tangiert wurde.
Man kann diese Funktionsbeschreibung für Journalismus auch anders
formulieren: Journalismus liefert seinen Lesern, Hörern und Zuschauern Informationen, damit diese über ihre Vertrauensverhältnisse zu
anderen Akteuren in der Gesellschaft entscheiden können. Ein Bericht
über verdeckte Geldzuwendungen an einen Politiker? – Das Vertrauen
in die betreffende Partei, schlimmstenfalls sogar in die Politik, sinkt. Ein
Artikel über ein neues wirksames Medikament gegen AIDS? – Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der medizinischen Wissenschaft steigt.
Mit Informationen dieser Art, die natürlich in der Regel viel weniger
spektakulär sind, trägt Journalismus dazu bei, dass sich seine Publika
einen Eindruck von der Vertrauenswürdigkeit gesellschaftlicher
Akteure machen können, auf die sie sich tagaus tagein verlassen. Das
kann auch – Stichwort „Gammelfleisch“ – bedeuten, dass Journalismus
den Anstoß zum Vertrauensentzug gibt.
Entscheidend ist hierbei, dass der Journalismus diese Selektionsentscheidungen autonom durchführt, das heißt nicht nach der Maßgabe
anderer gesellschaftlicher Perspektiven. Journalismus hat seine eigene
Perspektive. Die Funktion des Journalismus erlaubt damit nicht, die
Berichterstattung auf die Erwartungen nur eines Systems auszurichten,
weil dies den Erwartungen anderer Gesellschaftsbereiche zuwiderlaufen könnte. Würde Journalismus seine eigene Perspektive zugunsten
einer anderen aufgeben, müsste man von Korruption sprechen. Die
Relevanz journalistischer Themen bemisst sich allein nach journalistischen Relevanzkriterien, und das heißt mit Bezug auf die Erwartungen
des orientierungsbedürftigen Publikums. Anders ausgedrückt: Die
Funktion des Journalismus ergibt sich allein aus seiner Beziehung zu
seinem Publikum. Das macht es wiederum – warum sollte es hier anders
sein? – prinzipiell riskant, sich auf Journalismus zu verlassen. Aber
gerade deshalb reden wir ja über seine Vertrauenswürdigkeit respektive
Qualität – weil sie potentiell immer auch gefährdet ist. Von hier aus ist
es nun nur noch ein kleiner Schritt zur Vertrauenswürdigkeit beziehungsweise zur Qualität des Wissenschaftsjournalismus.
Was bedeutet Vertrauen in Wissenschaftsjournalismus?
Wissenschaftsjournalismus ist „auch nur“ Journalismus. Das heißt, er
unterscheidet sich in seiner grundsätzlichen Funktion nicht von ande-
204
Vertrauen statt Wissen
ren Bereichen des Journalismus. Dies wurde ja lange anders gesehen.
Für die Funktion des Wissenschaftsjournalismus heißt das zum einen:
Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in der
Wissenschaft, die über diesen Bereich hinaus Bedeutung erlangen könnten.
Beispiel: eine neue Krebstherapie. Das heißt zum anderen aber auch:
Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in der
Gesellschaft, die für die Wissenschaft Bedeutung erlangen könnten. Beispiele: ein Gesetz zu Studiengebühren; eine neue Esoterikwelle. Tatsächlich liegt der Schwerpunkt wohl auf dem ersten Aspekt, dass nämlich
die Folgen der Wissenschaft für die Gesellschaft thematisiert werden. Es
wäre zu diskutieren, ob das für das Publikum nicht von Nachteil ist, da
es so vielleicht zu wenig über den Einfluss der Gesellschaft auf die Wissenschaft erfährt. Das Risiko besteht hier im Bild einer quasi-autarken
Wissenschaft, so als habe man sich diese isoliert von mannigfaltigen
gesellschaftlichen Einflüssen vorzustellen. Ich beschränke mich im Folgenden auf den ersten Aspekt, die Beobachtung der Wissenschaft für die
Gesellschaft.
Diese Beobachtung führt Wissenschaftsjournalismus nach seinen Kriterien durch, und das heißt vor allem: eng an den Erwartungen seiner
Publika orientiert. Entscheidend ist: Er führt sie nicht nach den Relevanzkriterien der Wissenschaft durch. Gerade dies wurde aber oft als
Qualitätsnachweis erachtet. Wissenschaftsjournalismus nach journalistischen Kriterien erzeugt gewiss auch ein „public understanding of
science“, aber eben auf seine Weise. Nur so kann die Öffentlichkeit sich
ein Bild über ihr Vertrauensverhältnis zur Wissenschaft machen. Diese
kann natürlich selbst per Öffentlichkeitsarbeit dazu beitragen. Sie sollte
sich dabei aber nicht zu sehr an den ihr fremden Erfolgskriterien öffentlicher Aufmerksamkeit ausrichten.
Ich hatte beim Beispiel vom Vertrauen in den Zahnarzt gesagt, dass die
Alternative zum Vertrauen ein Studium der Zahnmedizin wäre. Das
stimmt natürlich nicht ganz, denn es gibt noch eine weitere Option:
Man kann auch andere fragen, die schon Erfahrungen mit diesem Zahnarzt gesammelt haben. Nun hat man nicht für jedes Thema, erst recht
nicht für die größeren gesellschaftlichen Probleme, eigene Kontaktleute und auch gar nicht die Zeit, ständig nach solchen Ausschau zu halten. In diesem Fall wird man sich an solchen Informanten orientieren,
die sich das Über-die-Bedeutung-von-Ereignissen-für-andere-Reden zur
Profession gemacht haben – also Journalisten. Von diesen kann man
dann Vertrauensinformationen erhalten, das heißt solche Informationen, mit deren Hilfe man beurteilen kann, ob man sich bestimmten
gesellschaftlichen Akteuren anvertrauen kann, und wie weit man hierbei gehen sollte.
Vertrauen statt Wissen
205
Meine These ist, dass auch der Wissenschaftsjournalismus in erster Linie
ein solcher Vertrauensinformant oder Vertrauensvermittler ist. Er liefert
seinen Lesern Informationen, die diese benötigen, um über ihr Vertrauensverhältnis zur Wissenschaft entscheiden zu können. Das hat
nichts mit Akzeptanz zu tun, wie man im ersten Moment denken
könnte. Es geht in einem viel umfassenderen Sinne darum, wie ich
mich als Bürger zu den Professionen verhalte, die zwar Einfluss auf
mein Leben ausüben, dabei aber so spezialisiert sind, dass ich nicht in
der Lage bin, das alles selbst nachzuhalten. Die Wissenschaft ist einer
dieser spezialisierten Bereiche, dessen Produkte sowohl positive als auch
negative Folgen für mich haben können.
Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass es ja eher selten um
Wissenschaft „an sich“ geht, sondern immer um Wissenschaft im Kontext: Wissenschaft im Kontext von Technologie, Wissenschaft im Kontext von Ökonomie, Wissenschaft im Kontext von Politik und so weiter.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist daher besser zu
konzipieren als eine Vielzahl sozialer Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Akteuren und der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund rückt die Qualität dieser Beziehungen in Form gegenseitiger Vertrauensverhältnisse in den Mittelpunkt. Die Vertrauenswürdigkeit der
Wissenschaft erweist sich natürlich auch in der Nützlichkeit ihres Wissens. Aber auch diese Wissensvermittlung findet nach den Bedürfnissen
potentieller Publika statt: Die Komplexität wissenschaftlicher Argumentationen wird hierbei in einfache Ist-Aussagen transformiert und
gleichzeitig mit dem Relevanzkontext des Laien-Anwenders verknüpft:
Eine neue Technologie hilft Heizenergie sparen, ein bestimmtes Medikament ist riskant für eine bestimmte Patientengruppe und so weiter
und so fort. Darüber hinaus kann Wissenschaftsjournalismus natürlich
zusätzlich auch komplexes Wissen an seine Publika vermitteln. Der
Umfang dieser Publika ist aber eher beschränkt, weil die Anforderungen
an Auffassungsaufgabe und Engagement doch recht voraussetzungsreich sind. Dies ist wohl auch mit ein Grund, warum es der Wissenschaftsjournalismus immer so schwer hatte, als eigenes Ressort zu reüssieren: Für eine vornehmlich an der Wissenschaft orientierte Wissensvermittlung ist das potentielle Publikum einfach zu klein. Leisten konnten sich dies zum Beispiel nur Zeitungen, die eine Leserschaft mit sehr
hoher Bildung hatten.
Es gibt daneben auch Formen der Wissenschaftskommunikation, in
denen es tatsächlich um die Wissenschaftsvermittlung an sich zu gehen
scheint oder wo die Vermittlung von Wissen doch stark im Vordergrund
steht. Hier scheinen mir die Grenzen zu Wissenschaftskommunikation
als Bildung (im Sinne von Schule und Hochschule) und zu Wissenschaftskommunikation als Unterhaltung fließend zu sein. Ich bin mir
206
Vertrauen statt Wissen
zum Beispiel nicht schlüssig, wo ich die sogenannten Wissensmagazine
verorten soll. Zu diskutieren wäre, ob wir es in den Medien nicht generell mit Tendenzen einer Re-Mythifizierung von Wissenschaft zu tun
haben, bei der – übrigens ähnlich wie bei den beliebten Quiz-Sendungen – Wissenschaft als Garant von Sicherheit im Vordergrund steht.
Zumindest im aktuellen Journalismus geht es aber vor allem um Informationen, mit deren Hilfe über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft entschieden werden kann und mit deren Hilfe man das eigene
Handeln auf die Konsequenzen wissenschaftlicher Handlungen einstellen kann. Das wissenschaftliche Wissen selbst ist hierfür viel zu
komplex und kann nur in seiner Nützlichkeit für außerwissenschaftliche Zusammenhänge beurteilt werden, wiewohl man sich ja gern die
Illusion erhalten würde zu wissen, worum es geht. Statt um den Nachvollzug des Wissens von Wissenschaftlern geht es für den Leser, Hörer
und Zuschauer aber erst einmal darum, Wissen über diese Akteure zur
Verfügung gestellt zu bekommen. Dieses dient ihm dazu, über den
Grad ihrer Vertrauenswürdigkeit zu entscheiden. Dieses Vertrauen
hilft ihm wiederum, das eigene nicht vorhandene Wissen über einen
überaus komplexen gesellschaftlichen Handlungsbereich wie die Wissenschaft zu kompensieren. Erst dann ist man so weit, deren Wissen
auch für sich zu nutzen.
So hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus, der sich mit
dem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unserer Gesellschaft
beschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung im traditionellen Sinn zu tun. Qualität im Wissenschaftsjournalismus bedeutet vielmehr, den gesellschaftlichen Akteuren ein unabhängiges Bild der Wissenschaft zu vermitteln, um ihnen so eine informierte Vertrauensbeziehung zu ermöglichen. Qualität im Wissenschaftsjournalismus
bedeutet zugleich, der Wissenschaft ein unabhängiges Bild der Gesellschaft „da draußen“ zu vermitteln, damit sich auch Wissenschaftler
über die gegenseitigen Vertrauensbeziehungen informieren können.
Qualität im Wissenschaftsjournalismus meint also eine doppelte Vertrauensvermittlung – zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und
zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass diese Beziehung stets riskant ist. Vertrauensvermittlung
schließt damit immer auch ein, die Berechtigung des Vertrauens kritisch zu hinterfragen und bestimmten Entwicklungen auch mit Misstrauen begegnen zu können. Es dürfte klar sein, dass dies nur ein Wissenschaftsjournalismus leisten kann, der von allen normativen Bindungen an Konzepte der Wissenschaftsvermittlung befreit ist. Qualität
im Wissenschaftsjournalismus bedeutet daher zuallererst auch Autonomie des Wissenschaftsjournalismus von wissenschaftlichen Relevanzkriterien.
Vertrauen statt Wissen
207
Die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus liegt so betrachtet viel
weniger in der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen als in der
Vermittlung von Vertrauensinformationen über die Wissensproduzenten. Wenn Wissenschaftsjournalismus also vor allem damit beschäftigt
ist, sein Publikum über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft zu
orientieren, dann erweist sich seine Vertrauenswürdigkeit respektive
Qualität eben darin, dass er diese Orientierung seinen Rezipienten auch
tatsächlich ermöglicht, oder genauer: dass sie glauben, dass er sie ihnen
ermöglicht. Zum Richter über die Qualität des Wissenschaftsjournalismus wird damit die Meinung des Laien-Publikums. Ein Wissenschaftler
mag damit seine Probleme haben, für einen Journalisten ist dies die alltägliche Sorge um sein Publikum.
Ich hatte zu Anfang von der notwendigen Zielvorgabe für die Diskussion um die Qualität des Wissenschaftsjournalismus gesprochen.
Meine These ist, dass die Qualität des Wissenschaftsjournalismus
nicht primär an der Zielvorgabe der Wissensvermittlung von der Wissenschaft in die Gesellschaft zu messen ist, sondern an der Zielvorgabe
der Vertrauensvermittlung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft.
Dies schließt natürlich die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit ein, da es ja gerade Ziel der Wissenschaft ist, der Gesellschaft
ein geprüftes Orientierungs- und Prognosewissen und ein Deutungswissen für gesellschaftliche Ereignisse und Vorgänge anzubieten.
Diese Vermittlung von Erkenntnissen findet aber mit Bezug auf die
Bedürfnisse des Publikums statt, und das unterscheidet sie deutlich von
den alten Konzepten einer hierarchischen Wissenschaftskommunikation. Es geht nicht um das wissenschaftliche Wissen an sich, sondern
es geht um das wissenschaftliche Wissen im jeweiligen Lebenszusammenhang seiner nicht wissenschaftlichen Nutzer. Hierüber weiß man
für den Fall des Wissenschaftsjournalismus so gut wie gar nichts.
Wenn man sich entsprechende Umfragen ansieht, zum Beispiel die
Eurobarometer der EU-Kommission, wird dort Schulbuchwissen abgefragt, nach dem Motto: „Haben Tomaten Gene?“ oder „Dreht sich die
Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde?“. Im Vordergrund
steht die Frage nach der Akzeptanz der Wissenschaft. Diese kann aber
bei aller Hochachtung für die Wissenschaft nicht als Gradmesser für
die Qualität des Wissenschaftsjournalismus fungieren. Die Qualität
des Wissenschaftsjournalismus bemisst sich vielmehr daran, inwiefern er seinem Publikum eine von der Perspektive der Wissenschaft
unabhängige Orientierung über das Verhältnis von Gesellschaft und
Wissenschaft ermöglicht.
208
Vertrauen statt Wissen
Fußnoten
1 Wiederabdruck von Matthias Kohring, Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissenschaftsjournalismus. In: Kienzlen, Grit/Lublinski, Jan/Stollorz, Volker (Hg.) (2007): Fakt,
Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz: UVK, S. 25–38.
Vertrauen statt Wissen
209
Abbildung 29: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten I
Abbildung 30: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten II
Unsicherheit und Vertrauen:
Eine sozialpsychologische Perspektive
Jana Janssen, Christine Schoel und Dagmar Stahlberg
Der Wunsch nach Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. In
Zeiten von Terrorismus, Umweltkatastrophen und Weltwirtschaftskrisen ist unsere Welt häufig geprägt von Unsicherheit, Verwirrung und
Angst. Aber auch schon der verwehrte Gruß eines Kollegen kann verunsichern, weil man nicht weiß, ob man bewusst ignoriert wurde, oder
ob der Kollege einfach in Gedanken war. Unsicherheit kann in diesem
Sinne verstanden werden als Zweifel darüber, wie man sich selbst oder
die Welt, in der man lebt, einschätzen und bewerten soll.1 Wird man mit
Unsicherheit konfrontiert, entsteht ein starker Wunsch danach, Dinge
wieder als kontrollierbar zu erleben und die unangenehmen Gefühle
von Unsicherheit zu reduzieren.2
Unsere eigenen Arbeiten im Bereich der Sozialpsychologie beschäftigen
sich mit zwei Kernstrategien, um Gefühle von Unsicherheit zu reduzieren: sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anzuschließen oder sich in
die Obhut einer starken (autoritären) Führungsperson zu begeben. In
diesem Beitrag stellen wir einige unserer Forschungsbefunde zu beiden
Strategien vor.3
Sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anschließen
1.
Vertrauen in andere Menschen reduziert Unsicherheit
Wenn Menschen unsicher sind, wenden sie sich häufig Gruppen zu.4
Sich mit einer Gruppe zu identifizieren schafft soziale Identität, die
helfen kann, die eigene Unsicherheit zu reduzieren. Man fühlt sich
einer sozialen Gruppe zugehörig und misst dieser Mitgliedschaft
einen bestimmten emotionalen, meist positiven Wert bei. Deutlich
wird die Relevanz der sozialen Identität, wenn man Personen bittet,
sich selbst zu beschreiben. Neben Persönlichkeitseigenschaften werden dann häufig Gruppenzugehörigkeiten genannt, wie zum Beispiel
„ich bin weiblich“, „ich spiele im Fußballverein“, oder „ich lebe in
einer Partnerschaft“. Soziale Identität vermittelt uns ein Gefühl
davon, wer wir sind, welche Werte wir vertreten, wie wir fühlen und
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
211
wie wir denken sollten.5 Dieses Wissen kann unsere Unsicherheit über
uns selbst verringern.
Sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren hat aber nicht nur positive Konsequenzen. So birgt die Interaktion und Kooperation mit anderen Personen oder Gruppen auch das Risiko, ausgenutzt zu werden. Man
läuft Gefahr, dass man selbst mehr investiert als der Interaktionspartner beziehungsweise dass der Interaktionspartner mehr nimmt, als er
gibt. Im Extremfall kann solch eine Ungleichverteilung von Investitionen bedeuten, ausgebeutet zu werden. Auch steigt, wenn man sich mit
einer Gruppe identifiziert und sich ihr anzuschließen versucht, das
Risiko, zurückgewiesen oder ausgeschlossen zu werden. Das Bedürfnis
nach sozialer Identität wird dadurch möglicherweise verletzt und die
eigene Unsicherheit kann sogar steigen anstatt zu sinken.
Menschen sind also mit einem „fundamentalen sozialen Dilemma“6
konfrontiert: Sie müssen entscheiden, ob sie mit einer Gruppe interagieren, sich ihr anschließen oder nicht. Auf der einen Seite lockt die
soziale Identität durch die Gruppenzugehörigkeit, die Unsicherheit
reduzieren kann. Andererseits erhöhen sich die oben beschriebenen
Risiken der Ausbeutung und erlebten Ausgrenzung.
Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu lösen, ist Informationen über die
Gruppe einzuholen. Zentral ist dabei die Frage, ob eine Gruppe (oder
eine Person dieser Gruppe) vertrauenswürdig ist.7 Vertrauensrelevante
Informationen dienen als Signal dafür, ob man mit der Gruppe interagieren sollte oder nicht. Die Risiken von Ausbeutung und Ausgrenzung
sind bei vertrauenswürdigen Gruppen sehr viel geringer als bei Gruppen, denen man nicht vertrauen kann. Ist eine Gruppe vertrauenswürdig, kann man sich darauf verlassen, von der Gruppe gerecht und wohlwollend behandelt zu werden. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass
man ausgebeutet oder ausgeschlossen wird. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppenzugehörigkeit die Entwicklung einer
positiven sozialen Identität ermöglicht und dadurch Unsicherheit reduziert. Umgekehrt bleiben Personen auf der sicheren Seite, wenn sie einer
Gruppe, die nicht vertrauenswürdig erscheint, fernbleiben. In diesem
Sinne sollte selbst die Information, dass einer Gruppe zu misstrauen ist,
Sicherheit erhöhen, zumindest dann, wenn eine Person frei entscheiden
kann, ob sie Mitglied dieser Gruppe werden oder mit ihr interagieren
möchte.
Ob die Identifikation mit einer Gruppe tatsächlich Sicherheit vermittelt, hängt also entscheidend davon ab, ob man der Gruppe vertrauen
kann oder nicht. Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einer
Gruppe (oder Personen dieser Gruppe) sind daher entscheidend, und
zwar besonders für Personen, die ihrer selbst unsicher sind bezie212
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
hungsweise sich in Situationen befinden, die von Unsicherheit geprägt
sind. Insbesondere für diese Personengruppe können vertrauensrelevante Informationen bewirken, dass Kontrolle und Sicherheit zurückerlangt werden.
Diese Annahmen haben wir in einer Reihe von Studien untersucht. Die
Studien in diesem und dem nächsten Abschnitt wurden überwiegend
im organisationalen Kontext durchgeführt, da Unsicherheit hier oft
von hoher Relevanz ist. Unternehmen können hierbei als soziale Gruppen angesehen werden, und Bewerberbende als Individuen, die sich der
Gruppe der Organisation anschließen wollen.
Betrachten wir zunächst die naheliegende Annahme, dass die Information, eine Gruppe sei vertrauenswürdig, beim Kontakt mit ihr tatsächlich zu höherer Sicherheit führt. In einer ersten Studie mit Bewerbern
bei einem großen deutschen Unternehmen konnten wir zeigen, dass
Bewerber, die das Unternehmen als vertrauenswürdig einschätzten,
während des Auswahlprozesses von weniger Unsicherheit berichteten
als Bewerber, die dem Unternehmen nicht gleichermaßen vertrauten.
Zum Bespiel waren sich Personen, die das Unternehmen als vertrauenswürdiger einschätzten, sicherer darüber, wie sie das Unternehmen
bei einer Einstellung in Zukunft behandeln würde. Dieser Zusammenhang zeigte sich insbesondere dann, wenn die Personen zuerst nach Vertrauenswürdigkeit und anschließend nach ihrer Sicherheit/Unsicherheit befragt wurden, also wenn Überlegungen zur Vertrauenswürdigkeit besonders verfügbar waren. Diese Ergebnisse bestätigten sich ferner
an einer Gruppe von Studierenden, die an einem simulierten Auswahlverfahren teilnahmen. Sie erhielten zufällig entweder die Information,
dass andere Bewerber dieses Unternehmen als vertrauenswürdig eingeschätzt hätten, oder aber keine entsprechenden Informationen. Die
erste Gruppe erwartete, sich in dem anstehenden Auswahlverfahren viel
sicherer zu fühlen als die Gruppe ohne Vertrauensinformation. Wie
erwartet, zeigte sich also in beiden Studien, dass Bewerber die Interaktion mit einer Organisation, die grundsätzlich als vertrauenswürdig eingeschätzt oder beschrieben wurde, als weniger Unsicherheit erzeugend
beurteilten.
Kann aber allein das Wissen um die Vertrauenswürdigkeit einer
Gruppe/Organisation, unabhängig davon, ob dieses Urteil positiv oder
negativ ausfällt, Unsicherheit reduzieren? Wie schon ausgeführt, sollte
Misstrauen signalisieren, dass man mit der Gruppe besser nicht interagieren sollte, da man mit solch einer Interaktion riskieren würde, ausgebeutet oder ausgeschlossen zu werden. Dieses Wissen schützt vor
möglichen negativen Konsequenzen, die potentiell die eigene Identität
bedrohen und Unsicherheit erhöhen können. Um diese Annahme zu
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
213
prüfen, nahmen Studierende an einem sogenannten Trustgame8 teil. Im
Trustgame spielen zwei Personen (A und B) miteinander. Im ersten
Schritt bekommt Person A einen bestimmten Geldbetrag (z.B. 10 Euro)
und darf frei wählen, wie viel sie davon an Person B schicken will. Im
zweiten Schritt entscheidet dann B, wie viel von dem erhaltenen Geld
sie an A zurückschicken möchte. Um das Interesse an einer solchen
finanziellen Transaktion zwischen A und B für beide interessant zu
machen, wird dabei der Betrag, den A im ersten Schritt überweist, mit
einem bestimmten Faktor multipliziert (z.B. mit vier; B würde in diesem
Fall also 40 Euro bekommen, was für sie den Anreiz erhöhen sollte,
tatsächlich etwas von dem Geld an A zurückzuschicken). Der Betrag, den
A im ersten Schritt an B schickt, zeigt nun an, wie sehr Person A Person
B vertraut (also erwartet, fair behandelt, d.h. am Gewinn von B gerecht
beteiligt zu werden).
Das Trustgame in dieser Studie war ein fiktives Spiel, bei dem sich die
Teilnehmenden vorstellen sollten, sie seien in der Position von A. Nachdem die Regeln des Spiels erklärt wurden, sollten die Teilnehmenden
je nach Untersuchungsbedingung entweder aufschreiben, warum
man dem Empfänger in dem Spiel vertrauen sollte (Vertrauensbedingung), warum man dem Empfänger misstrauen sollte (Misstrauensbedingung) oder was einem allgemein zu dem Spiel einfalle (neutrale
Bedingung). Anschließend gaben alle Teilnehmenden an, wie unsicher sie sich während des Spiels fühlen würden und wie unsicher sie
in Bezug auf den Empfänger wären. Es zeigte sich, dass Personen in der
Vertrauensbedingung weniger unsicher waren als Personen in der
neutralen Bedingung. Interessanterweise gaben aber auch Personen in
der Misstrauensbedingung an, weniger unsicher zu sein als Personen
in der neutralen Bedingung. Das bedeutet also, dass Unsicherheit
nicht nur durch Informationen über die Vertrauenswürdigkeit reduziert wird, sondern dass auch Misstrauen eine wichtige Information
in sozialen Beziehungen darstellt, durch die Unsicherheit verringert
werden kann – zumindest dann, wenn die handelnde Person sich frei
entscheiden kann, etwas in eine soziale Beziehung zu investieren oder
nicht.
2.
Unsicherheit erhöht die Sensibilität für vertrauensrelevante
Informationen
Basierend auf dem Befund, dass vertrauensrelevante Informationen
Unsicherheit verringern, kann man annehmen, dass solche Informationen für unsichere Personen (bzw. in unsicheren Situationen) wichtiger sind als für sichere Personen (bzw. als in sicheren Situationen). Wenn
Personen sich unsicher fühlen, sollten sie besonders motiviert sein, ihre
Unsicherheit zu reduzieren. Da Informationen über die Vertrauens214
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
würdigkeit von anderen – wie oben gezeigt – eine Möglichkeit zur Unsicherheitsreduktion darstellen, sollten Personen unter Unsicherheit verstärkt auf vertrauensrelevante Informationen achten und auf diese
Informationen stärker reagieren. Mit anderen Worten nehmen wir an,
dass Unsicherheit Personen für vertrauensrelevante Informationen sensibilisiert. Im Gegensatz dazu sollten Personen, die sich sicher fühlen,
weniger motiviert sein, Unsicherheit zu reduzieren, da dies für sie weniger wichtig oder nicht notwendig ist. Unter Bedingungen von Sicherheit
sollten Personen daher weniger auf vertrauensrelevante Informationen
reagieren. Auch diese Annahmen wurden in mehreren Feldstudien mit
Bewerbern, die sich in einem realen Bewerbungsverfahren für eine Position in einem großen deutschen Unternehmen befanden, sowie einem
kontrollierten Laborexperiment getestet.
In den Online-Studien im Feld wurden Bewerber dazu befragt, wie sehr
sie dem Unternehmen, für das sie sich beworben hatten, vertrauten
und wie attraktiv sie das Unternehmen als potentiellen zukünftigen
Arbeitgeber bewerteten. Außerdem gaben sie je nach Studie an, wie
unsicher sie sich während des Auswahlverfahrens des Unternehmens
gefühlt hatten, wie sehr sie sich im Allgemeinen mit anderen Personen
vergleichen (ein Indikator für persönliche Unsicherheit) und wie unsicher sie sich generell fühlen (emotionale Unsicherheit). In allen Studien zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Vertrauen,
das die Bewerber dem Unternehmen entgegenbrachten, und der Attraktivität des Unternehmens als möglichem Arbeitgeber: Je vertrauenswürdiger das Unternehmen eingeschätzt wurde, desto eher wollten die
Personen dort auch arbeiten. Die Unsicherheit der Teilnehmenden
spielte bei diesem Zusammenhang allerdings eine entscheidende Rolle.
Fühlten sich die Bewerbenden unsicher, so war der positive Zusammenhang zwischen Vertrauen und der eingeschätzten Attraktivität des
Unternehmens sehr viel stärker ausgeprägt, als wenn sie sich sicher
fühlten. Mit anderen Worten reagierten unsichere im Vergleich zu
sicheren Personen positiver auf hohe und negativer auf geringe Vertrauenswürdigkeit. Unsicherheit sensibilisiert Personen also für vertrauensrelevante Informationen.
In einem Laborexperiment wurde anschließend überprüft, ob sich die
gefundenen Effekte auch unter kontrollierten experimentellen Bedingungen zeigen lassen. Studierende wurden zufällig in verschiedene Versuchsbedingungen aufgeteilt. Je nach Gruppe sollten sie aufschreiben,
welche Gefühle und welche körperlichen Reaktionen Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit bei ihnen hervorrufen. Damit wurde variiert,
ob sich die Teilnehmenden während der Studie sicher oder unsicher
fühlten. Anschließend sollten sie sich in die Situation eines Bewerbers
versetzen. Sie lasen einen Text, in dem das Unternehmen, bei dem sie
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
215
sich bewarben, entweder als vertrauenswürdig oder nicht vertrauenswürdig dargestellt wurde. Am Ende gaben die Teilnehmenden dann an,
wie gern sie bei dem Unternehmen arbeiten wollten. Wie in den oben
beschriebenen Studien zeigte sich auch hier, dass der positive Zusammenhang zwischen der Vertrauenswürdigkeit und der Attraktivität des
Unternehmens stärker war für Personen, die sich unsicher fühlten, als
für diejenigen, die sich sicher fühlten. Unsichere Personen zogen also
die vertrauensrelevante Information stärker für die Beurteilung des
Unternehmens als möglichen Arbeitgeber heran als sichere Personen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Unsicherheit die Sensitivität für
vertrauensrelevante Informationen erhöht. Nun könnte man annehmen, dass dies nicht spezifisch für vertrauensrelevante Informationen
ist, sondern dass Personen unter Unsicherheit auf jegliche Art entscheidungsrelevanter Informationen stärker reagieren. Allerdings
zeigte sich in weiteren Studien, dass unsichere Personen auf andere
entscheidungsrelevante Informationen nicht sensibler reagierten als
sichere Personen (z.B. auf Angaben zur Entfernung zwischen Wohnort
und Arbeitsplatz). Unsicherheit scheint also die Sensibilität ganz spezifisch für solche Informationen zu erhöhen, die über die Qualität
sozialer (Austausch-)Beziehungen Auskunft geben. Damit kommt
Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder Gruppe eine besondere Rolle zu. Man könnte sagen, dass Unsicherheit als
eine Art Katalysator agiert, der die positiven Reaktionen auf Vertrauen
und die negativen Reaktionen auf Misstrauen verstärkt. Unter Unsicherheit ist es also besonders wichtig, Vertrauen zu etablieren beziehungsweise zu stärken, da mögliche negative Konsequenzen von mangelndem Vertrauen unter solchen Umständen besonders gravierend
sind.
Die vorherigen Abschnitte haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Vertrauen in eine Gruppe oder vertrauensrelevante Informationen über
eine Gruppe (hier: ein Unternehmen) die Unsicherheit von Individuen
(hier: z.B. Bewerbende) reduzieren kann. Es ging also um die Beziehung
zwischen einer Person und einer sozialen Gruppe. Aber auch innerhalb
einer bestehenden Gruppe spielen Unsicherheit und Vertrauen eine
zentrale Rolle. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit Strukturen
und Beziehungen innerhalb von Gruppen und mit der Frage, welche Art
von Führung Personen unter Unsicherheit bevorzugen oder für erfolgreich halten.9
216
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
Sich einer autoritären Führungsperson unterordnen
1.
Unsicherheit und die Bewertung demokratischer und autoritärer
Führung
Gruppen sind geprägt durch eine innere Struktur, die mehr oder weniger hierarchisch ist. In den meisten Gruppen gibt es jedoch eine oder
mehrere Personen, die die Führung in Bezug auf die Gruppenziele übernehmen. Wie geführt wird und wer in welchem Ausmaß zu Entscheidungen beiträgt, hängt jedoch vom jeweiligen Führungsstil ab. In der
Führungsforschung werden häufig zwei verschiedene Arten der
Führung unterschieden: demokratische und autoritäre Führung.10
Demokratische Führungspersonen ermutigen ihre Gruppenmitglieder,
eigene Ideen einzubringen, und lassen dadurch einen hohen Grad an
Initiative zu. Sie berücksichtigen die Meinungen der Gruppenmitglieder bei wichtigen Entscheidungen, setzen Vorschläge der Gruppe um
und geben den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit, Probleme nach
eigenem Ermessen zu lösen. Autoritäre Führungspersonen hingegen
geben genau vor, was getan und wie es getan werden soll. Sie weisen den
Gruppenmitgliedern ihre Aufgaben zu und bestehen auf die Einhaltung
von Regeln und Vorschriften. Ihre Entscheidungen treffen sie, ohne die
Gruppe zu konsultieren.
Eine Analyse von 30 experimentellen Studien zu demokratischer und
autoritärer Führung ergab fünf Dimensionen, die zwischen den beiden
Führungsstilen differenzieren: Partizipation, Motivation, Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt.11 Während demokratische Führung
durch hohe Partizipation und Motivation auf Seiten der Gruppenmitglieder und niedrige Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt auf
Seiten der Führungsperson gekennzeichnet ist, zeichnet sich autoritäre
Führung durch ein genau gegenteiliges Muster aus. Struktur, Kontrolle
und Entscheidungsgewalt liegen bei der Führungsperson, und Partizipation und Motivation der Gruppenmitglieder fallen gering aus.
Heutzutage scheinen die Vorteile demokratischer Führung in vielen
Gesellschaften außer Frage zu stehen, denn die Wahrscheinlichkeit,
dass einzelne Führungspersonen bei komplexen Fragestellungen über
die notwendigen motivationalen, informativen und kognitiven Voraussetzungen verfügen, um allein die richtigen Entscheidungen zu treffen,
ist gering. Der Vorteil, Informationen von anderen einzuholen und diese
auch in die Entscheidung mit einzubeziehen, ist deshalb naheliegend.
Dennoch kann das Phänomen autoritärer Führung weiterhin in vielen
politischen und ökonomischen Kontexten beobachtet werden. Während
in sicheren Zeiten demokratische Führung in den meisten Fällen klar
befürwortet wird, scheinen Menschen gerade in bedrohlichen und unsicheren Zeiten (wie zum Beispiel nach den Terroranschlägen des 11. SepUnsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
217
tembers 2001) bereit zu sein, Einschränkungen ihrer Mitsprache widerspruchslos hinzunehmen.12
In unserer eigenen Forschung beschäftigen wir uns mit der Frage,
warum Menschen, die eigentlich demokratische Grundüberzeugungen
und Werte haben, unter Unsicherheit dazu neigen, autoritäre Führung
für erfolgreich zu halten. Dabei stützen wir uns auf bisherige Forschungsergebnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen äußeren
Bedrohungen und autoritären Einstellungen und Verhaltensweisen hinweisen. So waren die amerikanischen Präsidentschaftswahlen in Jahren
von Krisen und ökonomischen Bedrohungen mehr durch die wahrgenommene Stärke und Macht der Kandidaten beeinflusst als in weniger
bedrohlichen Zeiten.13 Und auch heute, in Zeiten der aktuellen Finanzkrise, wird der Ruf nach einer starken Führung wieder laut. Während
äußere Bedrohungen jedoch ganz unterschiedlicher Natur sein können
und beim Einzelnen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen, fokussieren wir in unseren Arbeiten auf die subjektiv empfundene Unsicherheit und ihre Auswirkung auf die Bewertung von demokratischer und
autoritärer Führung.
Bereits Kant hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum sich Menschen freiwillig einer illegitimen Kontrolle unterwerfen und einen
Zustand der Abhängigkeit gegenüber einem Zustand individueller Autonomie bevorzugen.14 Doch obwohl es sich dabei um eine alte Frage handelt, sind die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse dieses Phänomens noch nicht zufriedenstellend geklärt. Oesterreich15 postuliert
in seinen Arbeiten, dass eine mögliche Reaktion auf bedrohliche Situationen die Suche nach und Hinwendung zu Sicherheit und Schutz bietenden Autoritäten ist. Er nimmt an, dass diese Flucht in die Sicherheit
eine basale menschliche Reaktion ist, die früh im Kindesalter erworben
wird. So bieten Eltern und andere Verantwortliche in bedrohlichen
Situationen Sicherheit, und die Flucht in ihren Schutz ist eine unausweichliche und notwendige Reaktion. Während ihrer Sozialisation
erlernen Individuen dann Bewältigungsstrategien, um diese „autoritäre
Reaktion“ zu überwinden und selbst ihre Unsicherheit zu reduzieren.
In Situationen, in denen Bedrohungen jedoch emotional überfordern
und eigene Bewältigungsbemühungen scheitern, kann es auch bei
Erwachsenen vorkommen, dass sie sich in den Schutz von Personen
begeben, von denen sie annehmen, dass sie die Macht und Stärke haben,
mit der Bedrohung umzugehen und dadurch Gefühle von Unsicherheit
und Angst reduzieren können.
Wir gehen davon aus, dass es bestimmte Persönlichkeitseigenschaften
gibt, die das Risiko erhöhen, sich von bedrohenden Situationen überfordert zu fühlen und eine autoritäre Reaktion bei empfundener Unsi-
218
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
cherheit zu zeigen. Menschen mit einem niedrigen und täglich schwankenden Selbstwert haben ein negatives Selbstbild, zweifeln an ihren
Fähigkeiten und trauen sich selbst wenig zu. Ihnen fehlt es an Selbstvertrauen und deshalb suchen sie in unsicheren Situationen nach anderen, auf die sie vertrauen können. Bei Entscheidungen versuchen sie
ihren eigenen Anteil zu minimieren und die Verantwortung an andere
abzugeben. Dabei ist vor allem die Überzeugung wichtig, dass diese
anderen die empfundene Unsicherheit erfolgreich reduzieren können.
Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen haben ein
positives Selbstbild und glauben an ihre eigenen Fähigkeiten. In unsicheren Situationen vertrauen sie deshalb mehr auf sich selbst als auf
andere. Ihr Ziel ist es, ihren eigenen Anteil bei Entscheidungen zu maximieren und diese dadurch aktiv beeinflussen zu können. Während die
Entscheidungsgewalt bei autoritärer Führung hauptsächlich bei der
Führungsperson liegt, lässt ein demokratischer Führungsstil den Einfluss der Gruppenmitglieder zu.10
In unseren Forschungsarbeiten9 haben wir deshalb die folgende These
untersucht: Wenn Menschen sich sicher fühlen, bevorzugen sie unabhängig von ihrem Selbstwert demokratische gegenüber autoritärer
Führung. Unter Unsicherheit trauen sich Personen mit einem niedrigen
und schwankenden Selbstwert jedoch selbst nicht zu, die Unsicherheit
aufzulösen, und wollen deshalb die Verantwortung an andere abgeben,
die für sie die Entscheidungen treffen. Entsprechend nimmt ihre Präferenz für demokratische Führung zugunsten autoritärer Führung unter
Unsicherheit ab. Im Folgenden bezeichnen wir dies als autoritäre Reaktion. Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen vertrauen in unsicheren Situationen auf sich selbst und wollen deshalb
ihren Beitrag zur Unsicherheitsreduktion maximieren. Entsprechend
steigt ihre Präferenz für demokratische Führung in unsicheren gegenüber sicheren Situationen. Im Folgenden bezeichnen wir dies als demokratische Reaktion.
Bezüglich dieser Hypothesen machen wir zwei Zusatzannahmen. Zum
einen halten wir es für wichtig, zwischen Werturteilen (angenehm –
unangenehm) und Erfolgsurteilen (erfolgreich – erfolglos) zu unterscheiden. Wir gehen nicht davon aus, dass autoritäre Führung von Personen mit einem niedrigen und instabilen Selbstwert unter Unsicherheit als angenehmer beurteilt wird. Wer mag schon eine autoritäre
Führungsperson? Wir nehmen aber an, dass sich der zugeschriebene
Erfolg autoritärer Führung erhöhen sollte. Entsprechend haben wir in
unseren Studien sowohl Wert- als auch Erfolgsbeurteilungen erfasst.
Zum anderen gehen wir davon aus, dass offen ausgesprochene Urteile
über autoritäre Führung durch soziale Erwünschtheit beeinflusst werden. Wer gibt schon offen zu, dass er/sie autoritäre Führung für erfolgUnsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
219
reich hält? In unseren Studien haben wir deshalb neben direkten, expliziten Fragebogenmaßen auch indirekte, implizite Maße erfasst. Implizite Maße sind Verfahren, mit denen Einstellungen gemessen werden
können, über die sich die Versuchsteilnehmenden entweder selbst nicht
bewusst sind oder über die sie keine offene Auskunft geben wollen. Im
konkreten Fall haben wir einen „Impliziten Assoziationstest“ verwendet.16 Dabei handelt es sich um ein Verfahren am Computer, das die
Reaktionszeiten der Versuchsteilnehmenden bei einer Zuordnungsaufgabe erfasst. Verschiedene Wörter wie zum Beispiel teamfähig oder
dominant oder Gelingen oder Versagen müssen so schnell und akkurat
wie möglich den Kategorien demokratisch oder autoritär beziehungsweise Erfolg oder Misserfolg per Tastendruck zugeordnet werden. Die
Reaktionszeiten bei dieser Aufgabe geben Auskunft darüber, wie stark
für eine Person demokratische oder autoritäre Führung mit Erfolg beziehungsweise Misserfolg verbunden ist.
Um unsere Hypothesen zu testen, haben wir eine Reihe von Studien
durchgeführt, bei denen Unsicherheit experimentell induziert wurde.
Die Probanden und Probandinnen wurden aufgefordert, sich möglichst
intensiv in eine Situation zu versetzen, in der sie sich ihrer selbst sicher
oder unsicher waren. Im Anschluss wurden sie aufgefordert, ihre
Gefühle und körperlichen Reaktionen in dieser Situation zu beschreiben. Wie oben bereits beschrieben, sollte dies Gefühle der Sicherheit
beziehungsweise Unsicherheit hervorrufen. Danach erfassten wir die
expliziten und impliziten Einstellungen gegenüber demokratischer und
autoritärer Führung und den Selbstwert der Teilnehmenden. Die Ergebnisse stützen unsere Hypothesen: Während Personen mit einem hohen
und stabilen Selbstwert demokratische Führung unter Unsicherheit
noch stärker befürworteten als unter Sicherheit, nahm bei Personen mit
niedrigem und instabilem Selbstwert die Präferenz für demokratische
Führung zugunsten autoritärer Führung ab. Diese demokratischen und
autoritären Reaktionen waren spezifisch für den zugeschriebenen
Erfolg und zeigten sich wie erwartet nur auf den impliziten Maßen.
Unsere Forschungsergebnisse deuten daraufhin, dass in unsicheren und
bedrohlichen Zeiten vor allem Personen mit einem niedrigen und instabilen Selbstwert dazu neigen anstatt auf sich selbst eher auf andere zu
vertrauen und die Verantwortung abzugeben.
2.
Vermeidung der autoritären Reaktion durch Vertrauen
in die eigenen Führungskompetenzen
Im vorherigen Abschnitt ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen Personen autoritäre Führung für erfolgreich halten. Dabei stand
die Sicht der Geführten im Vordergrund. Führung ist jedoch immer ein
zweiseitiger Prozess: Auf der einen Seite stehen die Personen, die geführt
220
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
werden, auf der anderen Seite die Person, die führt. Wir haben uns deshalb gefragt, wie Personen in einer Führungsposition auf Unsicherheit
reagieren.9 Um dieser Frage nachzugehen, haben wir wie in den vorhergehenden Studien Personen zunächst gebeten, sich in eine sichere
beziehungsweise unsichere Situation hineinzuversetzen. Im Anschluss
haben wir wieder die impliziten und expliziten Einstellungen zu demokratischer und autoritärer Führung gemessen. Neu war dieses Mal
jedoch die Perspektive, die die Probanden bei der Bewertung einnehmen
sollten. So forderten wir eine Hälfte der Teilnehmenden auf, sich bei der
Bewertung der Führungsstile vorzustellen, einer anderen Person
gegenüber in einer Führungsposition zu sein. Die andere Hälfte der
Befragten stellte sich eine andere Person vor, die ihnen gegenüber in
einer Führungsposition war. So war es möglich zu untersuchen, ob sich
die Reaktionen auf Unsicherheit in Abhängigkeit davon unterschieden,
ob man selbst in der Führungs- oder der geführten Position war. Die
Ergebnisse zeigten, dass allein diese verschiedenen Perspektiven deutliche Unterschiede hervorriefen. Personen in der geführten Position zeigten wie in den oben beschriebenen Studien eine demokratische oder
autoritäre Reaktion auf Unsicherheit, je nachdem, ob sie einen hohen
und stabilen oder einen niedrigen und instabilen Selbstwert hatten. Personen, die sich in die Führungsposition hineinversetzten, wiesen hingegen keine veränderten Einstellungen unter Unsicherheit auf. Sie
befürworteten demokratische Führung in gleichem Ausmaß unter
Sicherheit wie unter Unsicherheit.
In einer Führungsposition zu sein, bedeutet Macht und Einfluss zu
haben. Deshalb lässt sich dieser Befund mit Ergebnissen aus der Machtforschung erklären. Diese zeigt, dass allein das Empfinden von Macht
Selbstvertrauen und ein Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln kann.
Personen, die Macht haben, verlassen sich deshalb eher auf ihre Grundeinstellungen und werden dabei weniger von der jeweiligen Situation
beeinflusst. Übertragen auf unser Experiment heißt das: Personen, die
sich vorstellten, in einer Führungsposition zu sein, hatten dadurch das
Gefühl, mehr Macht zu haben, und ließen sich in der Folge nicht von
empfundener Unsicherheit bei der Bewertung der Führungsstile beeinflussen. Sie hielten stattdessen an ihren standarddemokratischen Überzeugungen fest. Führungspersonen scheinen sich also weniger von unsicheren Situationen in ihren Führungsstilpräferenzen beeinflussen zu
lassen als geführte Personen.
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
221
Fazit
In diesem Beitrag ging es darum, die Reaktionen auf Unsicherheit und
die Rolle von Vertrauen in diesem Zusammenhang aus sozialpsychologischer Perspektive zu beleuchten. Wir haben zwei mögliche Strategien
im Umgang mit Unsicherheit vorgestellt: sich einer Gruppe anzuschließen oder auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen.
Beide Strategien haben ihre Vorteile, bergen aber auch Gefahren.
Sich einer Gruppe anzuschließen kann sich positiv auf die eigene Identität auswirken und einem dadurch die Sicherheit zurückgeben, die
unter Unsicherheit bedroht wird. Gleichzeitig besteht aber auch die
Gefahr, dass man von der Gruppe zurückgewiesen oder ausgenutzt wird.
Es ist deshalb wichtig und sinnvoll, zunächst Informationen darüber
einzuholen, wie vertrauenswürdig eine Gruppe ist. Tatsächlich zeigen
unsere Studien, dass Informationen über die Vertrauenswürdigkeit
einer Gruppe Unsicherheit reduzieren können. Ein interessanter Aspekt
in diesem Zusammenhang ist, dass auch Informationen darüber, dass
andere nicht vertrauenswürdig sind, Unsicherheit verringern kann. Es
ist scheinbar nicht nur wichtig zu wissen, dass man jemandem vertrauen kann, sondern auch, ob man jemandem vertrauen kann. Da vertrauensrelevante Informationen Unsicherheit reduzieren können und
sie daher unter Unsicherheit besonders wichtig sind, ist anzunehmen,
dass unsichere Personen sensibler für solche Informationen sind und
besonders stark darauf reagieren. Diese Überlegungen werden in unseren Studien bestätigt: In unsicheren Situationen haben Menschen eine
höhere Sensibilität für vertrauensrelevante Informationen als in sicheren Situationen.
Die zweite diskutierte Strategie, mit Unsicherheit umzugehen, besteht
darin, auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen und die
Verantwortung für Entscheidungen abzugeben. Sie erscheint vor allem
dann erfolgversprechend, wenn man wenig Selbstvertrauen hat und nicht
daran glaubt, die empfundene Unsicherheit selbst auflösen zu können.
Man möchte dann den eigenen Einfluss minimieren und flüchtet sich in
die Sicherheit der Autorität. Ob dies zielführend ist, hängt allerdings
davon ab, ob die Führungsperson die notwendigen Voraussetzungen hat,
um die richtigen Entscheidungen zu treffen. In komplexen Situationen
verfügen Einzelne jedoch oft nicht über alle relevanten Informationen
und die Fähigkeiten, fundierte Entscheidungen zu treffen. Daher würde
es in der Regel einer optimalen Entscheidungsfindung dienen, wenn sich
Personen in der Rolle der Führungsposition – wie in unseren Studien
gezeigt – weniger von der Situation beeinflussen lassen und auch unter
Unsicherheit einen demokratischen Führungsstil befürworten.
222
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
Fußnoten
1 Van den Bos, Kees/Lind, Allan, The social psychology of fairness and the regulation of
personal uncertainty, in: Handbook of the uncertain self, hg. v. Robert M. Arkin/Kathryn C.
Oleson/Patrick J. Carrol, New York 2010, S. 122–141.
2 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psychology 39 (2007) S. 69–126.
3 Janssen, Jana/Müller, Patrick/Van den Bos, Kees/Stahlberg, Dagmar, Uncertainty increases sensitivity to trust, Manuscript under review, 2010.
4 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psychology 39 (2007) S. 69–126.
5 Tajfel, Henri, Cognitive aspects of prejudice, in: Journal of Social Issues 25 (1969) S. 79–97.
6 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in organizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Russell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88.
7 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in organizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Russell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88.
8 Berg, Joyce/Dickhaut, John/McCabe, Kevin, Trust, reciprocity, and social history, in: Economic Behavior 10 (1995), S. 122–142.
9 Schoel, Christiane/Bluemke, Matthias/Mueller, Patrick/Stahlberg, Dagmar, Leadership
success in the eye of an uncertain self, Manuscript under review, 2010.
10 Bass, Bernard M., Bass & Stogdill’s handbook of leadership: Theory, research, and managerial applications. (3rd ed.), New York 1990.
11 Neuberger, Oswald, Experimentelle Untersuchung von Führungsstilen, in: Gruppendynamik 3 (1972) S. 192–219.
12 Sullivan, John L./Hendriks, Henriët, Public support for civil liberties pre- and post-9/11,
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13 McCann, Stewart J. H., Threatening times, „strong“ presidential popular vote winners,
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16 Greenwald, Anthony G./McGhee, Debbie E./Schwartz, Jordan L. K., Measuring individual differences in implicit cognition: The implicit association test, in: Journal of Personality and Social Psychology 74 (1998) S. 1464–1480.
Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive
223
Abbildung 31: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen I
Abbildung 32: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen II
Vertrauen und soziale Präferenzen:
Die Sicht der experimentellen Wirtschaftsforschung
Klaus M. Schmidt
Der historisch einmalige Wohlstand, den viele Industriegesellschaften
heute erreicht haben, beruht auf einem sehr komplexen System der
Arbeitsteilung, in dem die Aktivitäten der Beteiligten durch zahlreiche
explizite Verträge und durch mindestens ebenso viele vertrauensbasierte Absprachen und Versprechungen koordiniert werden. Dieses
System kann nur funktionieren, wenn die Beteiligten damit rechnen
können, nicht ständig betrogen und ausgebeutet zu werden. Als die
Menschen noch als Jäger und Sammler lebten, wurden Vertrauen und
Kooperation durch wiederholte Interaktion und soziale Kontrolle in
kleinen Gruppen gewährleistet. Heute stehen wir in vielfältigen Tauschbeziehungen und Interaktionen mit zahlreichen anderen Menschen, die
wir häufig nie zuvor gesehen haben und nie wieder sehen werden. Ein
wichtiger Schutz gegen Betrug und Ausbeutung sind Verträge, die von
den Gerichten durchgesetzt werden. Wenn ein vollständiger Vertrag
ohne große Kosten geschrieben werden kann, ist der Vertrag tatsächlich
besser als Vertrauen. Aber viele Beziehungen lassen sich nur teilweise
oder gar nicht vertraglich regeln. Wie kann unter diesen Bedingungen
Kooperation und Vertrauen funktionieren?
Die traditionelle ökonomische Theorie kann diese Frage nicht beantworten. Sie beruht auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus,
eines vollständig rationalen Wesens, das ständig bestrebt ist, seinen
eigenen, materiellen Nutzen durch optimale Wahl seiner Entscheidungsvariablen zu maximieren. Der Homo oeconomicus würde Vertrauen nicht honorieren, sondern immer nur auf den eigenen Vorteil
bedacht sein. In den letzten beiden Jahrzehnten ist das Vertrauen in
die Nützlichkeit dieses Paradigmas jedoch stark erschüttert worden,
und seit einigen Jahren gibt es erste Versuche, neue Modelle zu entwickeln, die von einem realistischeren Menschenbild ausgehen. Dazu
gehören die Modelle der „intentionsbasierten Reziprozität“ (Rabin,
1993; Dufwenberg und Kirchsteiger, 2004) und der „Ungleichheitsaversion“ (Fehr und Schmidt, 1993; Bolton und Ockenfels, 2000), die
annehmen, dass viele Menschen nicht nur eigennützige, sondern auch
soziale Präferenzen haben.1
Vertrauen und soziale Präferenzen
225
Es scheint offensichtlich zu sein, dass der Homo oeconomicus eine Karikatur wirklicher Menschen ist. Wir alle wissen, dass viele unserer Entscheidungen nur beschränkt rational sind, dass wir uns oft von Emotionen leiten lassen und dass nicht alle Menschen nur eigennützig handeln.
Dennoch hat sich dieses Konstrukt für lange Zeit als außerordentlich
nützlich erwiesen. Das gilt insbesondere für die Analyse von Wettbewerbsmärkten, die bis in die siebziger Jahre im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der Wirtschaftswissenschaften standen. Zahlreiche
empirische und experimentelle Studien belegen, dass die „neoklassischen“ Marktmodelle, die alle auf dem Homo oeconomicus aufbauen, das
tatsächliche Marktgeschehen recht gut beschreiben und verlässliche Vorhersagen für das Marktergebnis liefern (siehe z.B. Vernon Smith, 1962).
Darum fiel es den Ökonomen leicht, Zweifel am Homo oeconomicus mit
dem Argument beiseitezuschieben, dass einzelne Menschen sich zwar
manchmal anders verhalten, als es die Theorie vorhersagt, dass diese
„Fehler“ aber unsystematisch sind und sich im Aggregat wechselseitig
ausgleichen, so dass die Modelle das Verhalten im Durchschnitt sehr gut
vorhersagen. Wenn Wirtschaftssubjekte systematisch vom optimalen
Verhalten des Homo oeconomicus abweichen würden, dann könnten sie
langfristig auf dem Markt nicht bestehen, weil sie von anderen, effizienteren und erfolgreicheren Wirtschaftssubjekten verdrängt würden.
Zwei Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre haben das Vertrauen in
das Modell des Homo oeconomicus jedoch erschüttert. Da ist zum einen
der Siegeszug der Spieltheorie, die es erlaubt, ökonomische Situationen,
in denen wenige Wirtschaftssubjekte strategisch miteinander interagieren, zu analysieren. Dadurch wurde es den Ökonomen möglich,
nicht nur Wettbewerbsmärkte, sondern auch alle anderen Formen ökonomischen Verhaltens zu analysieren, sei es in Oligopolmärkten, in
bilateralen Verhandlungssituationen, in innerbetrieblichen Entscheidungssituationen, in Situationen mit asymmetrischer Information etc.
Allerdings wurde bald deutlich, dass die Spieltheorie, die auch auf dem
Menschenbild des Homo oeconomicus basiert, in bestimmten Situationen systematische Fehlprognosen liefert. Diese Erkenntnis geht vor
allem auf die zweite Entwicklung zurück, die experimentelle Wirtschaftsforschung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vorhersagen der
Wirtschaftstheorie unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedingungen empirisch zu überprüfen.
Eine wichtige Erkenntnis der experimentellen Wirtschaftsforschung
ist, dass das Verhalten vieler Menschen bei der Interaktion in kleinen
Gruppen durch soziale Präferenzen geprägt ist. Sie interessieren sich
nicht nur für das eigene materielle Einkommen, sondern auch dafür,
was die anderen Mitglieder ihrer Referenzgruppe bekommen. Ihr Ver-
226
Vertrauen und soziale Präferenzen
halten ist durch „Fairness“ und „Reziprozität“ geprägt, und sie sind
bereit, freundliches, vertrauensvolles oder kooperatives Verhalten ihrer
Gegenspieler zu belohnen und unfreundliches, misstrauisches oder
unkooperatives Verhalten zu bestrafen, auch wenn das für sie selbst mit
Kosten verbunden ist. Die experimentelle Wirtschaftsforschung zeigt
aber auch, dass dieses Verhalten unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
Für manche Menschen spielen soziale Präferenzen eine sehr wichtige
Rolle, während es für andere eher unwichtig zu sein scheint.
Dieser Aufsatz gibt einen kurzen Überblick über einige der wichtigsten
Experimente zu sozialen Präferenzen, die zeigen, wie vertrauensbasierte
Kooperation funktionieren kann.
Das Ultimatum-Spiel
Das wohl bekannteste Experiment zu fairem Verhalten ist das sogenannte „Ultimatum-Spiel“, das von Güth et.al. (1982) in die Literatur eingeführt wurde und seitdem in unzähligen Varianten getestet wurde. Das
Ultimatum-Spiel ist eine stilisierte Verhandlungssituation, in der zwei
Spieler einen festen Geldbetrag von zum Beispiel 10 Euro untereinander
aufteilen müssen. In der ersten Stufe des Spiels darf Spieler A einen Aufteilungsvorschlag machen. In der zweiten Stufe muss Spieler B entscheiden, ob er diesen Vorschlag annimmt oder ablehnt. Wenn B
annimmt, wird die vorgeschlagene Aufteilung verwirklicht, wenn er
ablehnt, bekommen beide Spieler nichts.
Dieses Spiel lässt sich leicht experimentell implementieren. Im Experiment werden die Versuchspersonen zufällig auf die Rollen von Spieler
A und Spieler B verteilt und müssen ihre Entscheidungen anonym fällen, ohne ihren Gegenspieler jemals zu Gesicht zu bekommen. Die Spieltheorie liefert eine eindeutige Vorhersage, was in diesem Spiel passieren
wird: Spieler B wird jede Aufteilung, die ihm mehr als null Cent anbietet, annehmen, denn selbst ein sehr kleiner Betrag ist besser als gar
nichts. Spieler A wird dieses Verhalten voraussehen und darum einen
Aufteilungsvorschlag machen, der ihm selbst fast alles (9,99 Euro) und
Spieler B fast nichts (0,01 Euro) anbietet.
Die Ergebnisse der Experimente sehen jedoch völlig anders aus. Fast 40
Prozent aller Versuchspersonen in der Rolle von Spieler A bieten ihrem
Gegenspieler die 50:50-Aufteilung an. Nur ein Drittel überlässt der
Gegenseite weniger als vier Euro und nur etwa 10 Prozent der Versuchspersonen bieten ihrem Gegenüber weniger als zwei Euro. Wenn
dennoch niedrige Angebote gemacht werden, so werden sie von Spieler
B häufig abgelehnt, wobei die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung steigt,
je niedriger das Angebot ist.
Vertrauen und soziale Präferenzen
227
Überraschend ist vor allem, dass so viele positive Angebote abgelehnt
werden, obwohl Spieler B dadurch ja eigenes Geld wegwirft. Das widerspricht eindeutig dem Homo oeconomicus. Weniger eindeutig zu interpretieren sind die großzügigen Angebote der Spieler A. Nicht nur ein
„fairer“ Spieler A wird der Gegenseite die Hälfte des Kuchens anbieten,
auch ein eigennütziger Spieler A könnte das tun, wenn er befürchtet,
dass ein niedrigeres Angebot von Spieler B abgelehnt wird. Wenn man
wissen will, welche Spieler A „fair“ und welche „eigennützig“ sind, muss
man Spieler B die Möglichkeit nehmen, das Angebot abzulehnen. In diesem sogenannten „Diktator-Spiel“ kann Spieler A allein entscheiden, wie
der Betrag aufgeteilt werden soll. Tatsächlich gibt es jetzt signifikant
weniger großzügige Angebote, aber noch immer schlägt fast ein Viertel
der Versuchspersonen die 50:50-Aufteilung vor.
Die Ergebnisse des Ultimatum-Spiels sind bemerkenswert robust. Es gibt
nur geringfügige Verhaltensunterschiede zwischen männlichen und
weiblichen Versuchspersonen, zwischen Studenten und Nicht-Studenten, zwischen Amerikanern, Japanern und Israelis. Auch die Größe des
aufzuteilenden Kuchens scheint kaum eine Rolle zu spielen. In Indonesien wurde das Ultimatum-Spiel mit Beträgen gespielt, die etwa drei
Monatseinkommen der Versuchspersonen entsprachen, ohne dass sich
an den Ergebnissen viel geändert hätte. Sie verändern sich auch nicht,
wenn die Versuchspersonen das Spiel mehrfach (aber gegen jedes Mal
wechselnde Gegenspieler) spielen oder wenn man Spieler B explizit darauf hinweist, dass er Geld verschenkt, wenn er ein positives Angebot
ablehnt (siehe Camerer, 2003, für einen Überblick über diese Literatur).
All das deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen keinen Fehler
machen, sondern sehr genau wissen, was sie tun. Offenbar wollen viele
Versuchspersonen in der Rolle von Spieler B „unfaire“ Aufteilungsangebote der Spieler in Rolle A dadurch bestrafen, dass sie den Anteil von
Spieler A vernichten, selbst wenn ihr eigener Anteil dadurch ebenfalls
vernichtet wird. Einige Versuchspersonen in der Rolle von Spieler A
sind offenbar freiwillig bereit, den Geldbetrag mit einem Fremden zu
teilen. Völlig eigennützige Individuen würden das nie tun.
In jüngster Zeit haben Anthropologen in Zusammenarbeit mit Psychologen und Ökonomen das Ultimatum-Spiel-Experiment bei 15 verschiedenen Naturvölkern durchgeführt (Henrich et. al., 2001). Während das
Verhalten in fast allen entwickelten Industriestaaten nahezu identisch
ist, zeigen sich hier deutliche Unterschiede, wenn auch bei keinem der
Naturvölker der Homo oeconomicus gefunden wurde. Versuchspersonen aus dem Machiguenga-Stamm im Amazonasbecken machen deutlich niedrigere Angebote (im Durchschnitt nur 26 Prozent des aufzuteilenden Geldbetrages im Vergleich zu 45 Prozent in Industriestaaten),
und niedrige Angebote werden nur selten abgelehnt. Dagegen schlagen
228
Vertrauen und soziale Präferenzen
fast alle Mitglieder des Lamelara-Volkes in Indonesien die Gleichaufteilung vor. Die Lebensumstände dieser Naturvölker deuten an, dass die
Bedeutung von Fairness kulturell bedingt ist. Die Machiguenga leben als
Sammler und Fischer fast völlig autark in kleinen Familienverbänden.
Auf der Ebene des Stammes gibt es praktisch keinen Handel und keine
gemeinsame Produktion. Die Lamelara sind dagegen Walfänger, die mit
mehreren großen Kanus mit jeweils bis zu zwölf Mann Besatzung
gemeinsam auf die Jagd gehen. Für sie ist enge Kooperation und absolute Verlässlichkeit aller Stammesmitglieder überlebenswichtig. Das
könnte erklären, warum sich bei den Lamelara „kooperatives“ und „faires“ Verhalten durchgesetzt hat, während dieses Verhalten bei den
Machiguenga kaum Vorteile bietet und sehr viel weniger verbreitet ist.
Fairness-Normen scheinen selbst im Tierreich eine gewisse Rolle zu spielen. Brosnan und de Waal (2003) haben in Experimenten mit KapuzinerAffen gezeigt, dass Vertreter dieser Spezies „unfaire“ Futterangebote
ablehnen. Allerdings ist dieser Effekt nur für weibliche Kapuziner-Affen
signifikant.
„ … Alle …?!“
Vertrauen und soziale Präferenzen
229
Soziale Dilemma-Spiele
Fairness und Reziprozität können eine wichtige Rolle spielen, wenn es
darum geht, soziale Dilemma-Situationen zu überwinden. Solche Situationen liegen vor, wenn es für eine Gruppe von Individuen optimal ist,
dass jeder einen Beitrag zu einem gemeinsamen Gruppenprojekt leistet,
wenn aber jeder Einzelne einen Anreiz hat, selbst nichts beizutragen
und sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. Ein einfaches Beispiel ist das
sogenannte „Öffentliches-Gut-Spiel“. Vier Spieler müssen gleichzeitig
entscheiden, wie viel sie zu einem öffentlichen Gut beitragen. Wenn ein
Spieler einen Euro beiträgt, steigt der Nutzen jedes Spielers um 50 Cent.
Diese Investition bringt der Gruppe als Ganzes also einen Ertrag von
4 x 0,5 Euro = 2 Euro. Der einzelne Investor macht jedoch ein Verlustgeschäft, weil er selbst nur 50 Cent bekommt, aber einen Euro zahlen
muss. Also würde der Homo oeconomicus nichts zu dem öffentlichen
Gut beitragen, auch wenn es für die Gruppe als Ganzes effizient wäre,
wenn alle möglichst viel beitragen würden.
Wenn die Spieler nicht nur eigennützig sind, sondern auch durch Fairness und Reziprozität motiviert werden, ist das Ergebnis nicht eindeutig.
Wenn alle anderen zu dem öffentlichen Gut beitragen, ist es für einen fairen Spieler optimal, ebenfalls beizutragen, weil er darunter leiden würde,
wenn er als Trittbrettfahrer auf Kosten der anderen einen Vorteil für sich
selbst herausschlagen würde. Wenn also alle Individuen fair sind, ist es ein
Gleichgewicht, das alle zu dem öffentlichen Gut beitragen. Es ist aber
auch ein Gleichgewicht, wenn niemand zu dem öffentlichen Gut beiträgt,
denn wenn alle anderen nichts tun, will auch ein fairer Spieler nicht der
„Dumme“ sein, der als Einziger seinen Beitrag leistet.
Etwas komplizierter wird es, wenn nicht alle Versuchspersonen fair
sind, sondern einige sich eigennützig verhalten. Dann ist zu erwarten,
dass das kooperative Gleichgewicht auf Dauer nicht aufrechterhalten
werden kann. Auch wenn die fairen Spieler in den ersten Perioden zu
dem öffentlichen Gut beitragen, werden sie ihre Beiträge zurückfahren,
wenn sie sehen, dass sich andere auf ihre Kosten als Trittbrettfahrer verhalten. Langfristig wird sich also das ineffiziente Gleichgewicht, in dem
niemand zum öffentlichen Gut beiträgt, durchsetzen.
In der Tat wird diese Prognose von zahlreichen Experimenten, in denen
Versuchspersonen wiederholt zu einem öffentlichen Gut beitragen müssen, bestätigt. In den ersten Runden des Experiments wird im Durchschnitt etwa die Hälfte des maximal möglichen Betrages in das öffentliche Gut investiert. Hinter diesem Durchschnitt verbergen sich aber
einige Spieler, die sehr viel, und andere, die gar nichts beitragen. Im Zeitlauf reduzieren die kooperativen Spieler ihren Beitrag und nach zehn
Runden ist der durchschnittliche Beitrag minimal.
230
Vertrauen und soziale Präferenzen
Dieses Verhalten ändert sich dramatisch, wenn man den Versuchspersonen die Möglichkeit gibt, nach jeder Runde ihre Mitspieler zu bestrafen. Die Bestrafung ist jedoch kostspielig und verringert nicht nur die
Auszahlung des Spielers, der bestraft wird, sondern auch die des Bestrafenden. Also würde eine rationale und eigennützige Versuchsperson niemals bestrafen, weil für sie nur Kosten entstehen, die mit keinem unmittelbaren Gewinn verbunden sind.
Viele Versuchspersonen sind dennoch bereit, das Trittbrettfahren ihrer
Mitspieler zu bestrafen (siehe Fehr und Gächter, 2000). Die potentiellen
Trittbrettfahrer antizipieren das und tragen darum ihren fairen Anteil
zum öffentlichen Gut bei. Wenn es Bestrafungsmöglichkeiten gibt,
genügen einige wenige reziproke Spieler, um die eigennützigen Spieler
zu disziplinieren und kooperatives Verhalten durchzusetzen (siehe Fehr
und Schmidt, 1999).
Vertrauensspiele
Die Bereitschaft zu vertrauen und Vertrauen zu honorieren wird in
einem klassischen Experiment von Berg, Dickhaut und McCabe (1995)
untersucht. Sie betrachten die folgende experimentelle Situation mit
zwei Versuchspersonen, die jeweils eine Anfangsausstattung von zehn
Euro bekommen. Person 1 kann entscheiden, welchen Betrag X sie an
Person 2 abgeben will. Der abgegebene Betrag wird vom Versuchsleiter
verdreifacht, so dass bei der zweiten Person 3X Euro ankommen. Nun
muss Person 2 entscheiden, welchen Betrag sie an Person 1 zurückgibt.
Dieses „Trust Game“ beschreibt eine Situation, in der es effizient ist,
wenn Person 1 Person 2 vertraut und ihr möglichst viel Geld abgibt, in
der sich dieses Vertrauen aber nur dann lohnt, wenn sich Person 2 als
vertrauenswürdig erweist und wieder etwas zurückgibt.
Im Experiment ist das Verhalten breit gestreut. Einige Versuchspersonen
in der Rolle von Person 2 behalten alles Geld für sich, andere teilen den
Effizienzgewinn fair auf und geben doppelt so viel zurück, wie sie
bekommen haben. Im Durchschnitt wird ungefähr so viel zurückgegeben, wie von Person 1 geschickt wurde. Im Erwartungswert sollte Person 1 also fast indifferent sein, ob sie vertraut oder nicht. Bohnet et al.
(2009) haben aber gezeigt, dass einige Versuchspersonen in der Rolle von
Person 1 nicht allein auf den Wert ihrer erwarteten Auszahlung
schauen, sondern selbst dann nicht vertrauen, wenn sich Vertrauen im
Erwartungswert lohnen würde. Diese Versuchspersonen scheinen
zusätzlich darunter zu leiden, dass sie mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit von anderen ausgebeutet werden. Um diese Ausbeutung
auszuschließen, sind sie nicht bereit zu vertrauen. Diese Versuchsper-
Vertrauen und soziale Präferenzen
231
sonen schneiden in Experimenten schlechter ab als Versuchspersonen,
die bereit sind, das Vertrauensrisiko einzugehen. Die Bereitschaft zu vertrauen steigt mit dem Einkommen, mit dem Bildungsgrad und ganz allgemein mit dem „Lebenserfolg“ eines Menschen. Es ist also nicht nur so,
dass Vertrauen die Voraussetzung zur Schaffung von Wohlstand ist.
Wohlstand ist auch eine Voraussetzung für Vertrauen.
„ … oder keiner !?
Arbeitsverträge
Arbeitsverträge sind typischerweise hochgradig unvollständig. Sie
regeln den zu zahlenden Lohn, die Arbeitszeit und die Art der Tätigkeit
des Arbeitnehmers, aber sie können unmöglich festlegen, was genau der
Arbeitnehmer in welcher Situation zu tun hat. Darum kann ein Arbeitsverhältnis nur dann funktionieren, wenn der Arbeitnehmer bereit ist,
sich auch über die im Vertrag festgelegten Pflichten hinaus für sein
Unternehmen zu engagieren und nicht bloßen „Dienst nach Vorschrift“
zu leisten. Eine gängige Praxis, mit der Unternehmen versuchen, dieses
232
Vertrauen und soziale Präferenzen
Engagement zu motivieren, ist, dass sie übertarifliche, das heißt freiwillige Leistungen zahlen. Damit appellieren sie an die Reziprozität
ihrer Arbeitnehmer und hoffen, dass diese sich durch einen besseren
Arbeitseinsatz revanchieren. Nur so ist zu erklären, warum viele Unternehmen auf der einen Seite über zu hohe Löhne klagen, auf der anderen Seite aber freiwillig übertarifliche Leistungen zahlen. Die Unternehmen würden zwar gerne alle gemeinsam die Löhne senken (durch
einen moderaten Tarifabschluss), jedes einzelne Unternehmen befürchtet aber, dass eine Lohnsenkung in der eigenen Firma die Mitarbeiter
demotivieren und ihre Produktivität so stark reduzieren würde, dass
sich die Lohnsenkung letztlich nicht auszahlt.
Diese Situation ist von Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993) experimentell
untersucht worden. In ihrem „Gift Exchange Experiment“ kann ein
Arbeitgeber einem Arbeitnehmer nur einen fixen Lohn anbieten.
Danach muss der Arbeitnehmer entscheiden, welche Arbeitsleistung er
wählt. Eine höhere Arbeitsleistung verursacht Kosten für den Arbeitnehmer, erhöht aber den Gewinn des Arbeitgebers. Ein eigennütziger
Arbeitnehmer sollte immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen.
Darum sollte der Arbeitgeber auch nie einen höheren Lohn zahlen als
unbedingt nötig. Im Experiment zeigt sich aber, dass viele Arbeitnehmer bereit sind, sich für einen höheren Lohn mit einer freiwillig höheren Arbeitsleistung zu bedanken. Die Arbeitgeber sehen dieses Verhalten voraus und zahlen zum Teil sehr großzügige Löhne.
Fehr, Klein und Schmidt (2007) zeigen, dass die Effizienz der Beziehung
erheblich verbessert werden kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer für einen hohen Arbeitseinsatz mit einer freiwilligen Bonuszahlung honoriert. Auch diese Bonuszahlung basiert auf dem Vertrauen
der Arbeitnehmer, dass die Arbeitgeber den Bonus tatsächlich zahlen
werden. Obwohl viele Arbeitgeber den Bonus nicht zahlen, gibt es insgesamt doch genug vertrauenswürdige Arbeitgeber, so dass die meisten
Arbeitnehmer bereit sind, eine hohe Arbeitsleistung zu erbringen.
Vertrauensbeziehungen funktionieren sehr viel besser, wenn die Versuchspersonen eine „Reputation“ aufbauen können. Das gilt insbesondere, wenn die Parteien über viele Perioden hinweg interagieren. Brown,
Falk und Fehr (2004, 2008) haben gezeigt, dass hier fast vollständige
Kooperation erreicht werden kann. Aber selbst wenn die Parteien nur
einmal miteinander interagieren, reicht schon ein imperfektes Signal
über vergangenes Verhalten, das von zukünftigen Partnern beobachtet
werden kann, um Vertrauen zu stützen und Kooperation zu ermöglichen. Ein gutes Beispiel ist der Kauf eines gebrauchten Artikels bei Ebay.
In der Regel kommen hier Käufer und Verkäufer nur einmal zusammen.
Der Käufer muss darauf vertrauen, dass die vom Verkäufer beschriebene
Vertrauen und soziale Präferenzen
233
Qualität des Artikels den Tatsachen entspricht und dass der Artikel
nach Bezahlen der Ware auch tatsächlich geliefert wird. Wenn der Käufer nichts über den Verkäufer wüsste, würde er sich wohl kaum auf dieses Risiko einlassen. Wenn der Verkäufer von anderen Käufern aber positiv bewertet wurde und sich eine gute Reputation aufgebaut hat, sind
viele Käufer bereit, sich auf diese Vertrauensbeziehung einzulassen.
Einen ähnlichen Effekt gibt es auf dem Arbeitsmarkt. Bartling, Fehr und
Schmidt (2010) betrachten ein Experiment, in dem der Arbeitgeber
erfährt, welche Arbeitsleistung der Arbeitnehmer in seinen letzten drei
Beschäftigungsverhältnissen erbracht hat. Viele Arbeitgeber konditionieren ihre Lohnangebote auf die Reputation des Arbeitnehmers und
zahlen Arbeitnehmern, die in der Vergangenheit hohe Arbeitsleistungen erbracht haben, deutlich höhere Löhne, als Arbeitnehmern, die in
der Vergangenheit wenig gearbeitet haben. Viele Arbeitnehmer antizipieren das und wählen eine hohe Arbeitsleistung – aber nur, wenn
ihnen auch ein hoher Lohn geboten wird.
Allerdings beobachten Bartling et al., dass sich nicht alle Versuchspersonen so verhalten. Etwa 20 Prozent der Arbeitgeber sind nicht bereit
zu vertrauen und zahlen immer nur niedrige Löhne, egal wie gut die
Reputation ihres Arbeitnehmers ist. Ebenso gibt es etwa 20 Prozent der
Arbeitnehmer, die immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen und
nicht begreifen, dass es sich langfristig lohnt, in eine gute Reputation
zu investieren und eine hohe Arbeitsleistung zu honorieren. Mit diesem
engstirnig eigennützigen Verhalten schaden sich die Versuchspersonen
selbst.
Bartling et al. zeigen, dass die Einführung von Wettbewerb auf diesem
experimentellen Arbeitsmarkt zwischen den Arbeitgebern um die
besten Arbeitnehmer und zwischen den Arbeitnehmern um die bestbezahlten Jobs das suboptimale Verhalten verschwinden lässt. Jetzt lernen
die Arbeitnehmer schnell, dass sie immer nur die am schlechtesten
bezahlten Jobs bekommen, wenn sie keine gute Reputation haben, und
die Arbeitgeber lernen, dass sie hohe Löhne zahlen müssen, wenn sie
gute Arbeitnehmer bekommen wollen. Hier führt also der Wettbewerb
nicht dazu, dass Vertrauen verdrängt wird. Im Gegenteil, Wettbewerb
wirkt wie ein Katalysator, der Vertrauensbeziehungen stärkt.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?
In der öffentlichen Diskussion ist die Forderung nach mehr Kontrolle
und expliziten Leistungsanreizen für Top-Manager und Banker, aber
auch für Lehrer und Professoren sehr populär. Es ist unstrittig, dass Menschen auf explizite Anreize reagieren. Eine wichtige Frage ist jedoch, wie
234
Vertrauen und soziale Präferenzen
diese expliziten Anreize mit den indirekten Leistungsanreizen durch
Vertrauen und Reziprozität interagieren. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass es hier zu einem Crowding-out kommen kann. Kontrolle
kann dazu führen, intrinsische Motivation zu verdrängen. Falk und Kosfeld (2006), die das experimentell gezeigt haben, bezeichnen diesen
Effekt als die „versteckten Kosten“ der Kontrolle. Auch eine direkte Entlohnung nach bestimmten Erfolgskennziffern (seien es Aktienkurse,
Lehrevaluationen oder Forschungsrankings) führt dazu, dass sich die
Mitarbeiter ganz auf die Erreichung dieser Erfolgskennziffern konzentrieren und alles, was durch diese Kennziffern nicht gemessen wird, aus
dem Blickfeld verlieren. Wenn die Entlohnung dagegen indirekte Leistungsanreize bietet (z.B. durch Beförderung, Berufungszulagen oder
freiwillige Bonuszahlungen) haben die Mitarbeiter stärker das Wohl der
Organisation oder des Unternehmens insgesamt im Auge (siehe Fehr
und Schmidt, 2004). Darum ist es nicht offensichtlich, dass Kontrolle
und explizite Leistungsanreize immer besser sind. Beziehungen, die auf
Vertrauen und Reziprozität basieren, können sehr effizient sein, insbesondere dann, wenn eine Reputation für vertrauenswürdiges Verhalten
über den Markt oder in langfristigen Beziehungen honoriert wird.
Literatur
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Vertrauen und soziale Präferenzen
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American Economic Review, Jg. 83, H. 5, S. 1281–1302.
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Journal of Political Economy, Jg. 70, H. 2, S. 111–137.
Fußnoten
1 Einen Überblick über diese Literatur bieten Fehr und Schmidt (2006).
236
Vertrauen und soziale Präferenzen
Abbildung 33: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand I
Abbildung 34: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand II
„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen
Kredit, wenn ich noch einen habe“
Jochen Hörisch
„Der Weise“ – dieses Wort klingt heute fast so unzeitgemäß wie das Wort
„Muße“. Umso auffallender ist es, wenn es denn doch noch einmal
öffentlich verwendet wird. Und das ist einmal jährlich der Fall. Das
Ritual ist bekannt und TV-tauglich: fünf offenbar unironisch sogenannte „Wirtschaftsweise“, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden, legen der Bundesregierung jährlich ihren Bericht vor, der stets eine Analyse der ökonomischen Lage mit einer Prognose der volkswirtschaftlichen Entwicklung verbindet. Mit Ruhm bekleckert haben sich die Wirtschaftsweisen
nicht. Denn in ihren Gutachten kam das Szenario der internationalen
Banken- und Finanzkrise schlicht nicht vor, die in den vergangenen Jahren ihre destruktive Dynamik entfaltete. Dabei hätte hier ein weises Gutachten, das etwa eine rigidere Bankenaufsicht, ein Verbot von Leerverkäufen, ein weitsichtiges Bonussystem für Manager oder eine stärkere
Regulierung des Derivatehandels empfohlen hätte, Wirtschaftswunder
wirken und Finanzbeben-Unheil abwenden können. Wirtschaftsweise,
die darauf bestehen, dass Mindestlöhne von sieben Euro pro Stunde kontraproduktiv und Hartz-IV-Sätze zu hoch sind, müssen sich die Frage
gefallen lassen, ob ihr Gutachten das Geld der Steuerzahler wert ist.
Diese Frage ist auch deshalb geboten, weil es gleich mehrere bemerkenswert präzise Einschätzungen der Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten gegeben hat. Sie stammen nicht etwa von ideologisch verbohrten Kapitalismus-Hassern, sondern aus der Feder politisch unverdächtiger Köpfe. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat
regelmäßig auf das Krisenpotential hingewiesen, das ein im neoliberalen Geist entfesselter Finanzmarkt in sich birgt. Ein linker Anwandlungen unverdächtiger Wirtschaftsprofessor namens Max Otte publizierte
2006 sein Buch Der Crash kommt – Die neue Weltwirtschaftskrise und wie Sie
sich darauf vorbereiten. Der Mann macht keine Ansprüche auf die Anrede
„Weiser“ geltend, obwohl er mit seiner Einschätzung um Klassen besser
war als die fünf Weisen zusammen. Er lehrt an einer Fachhochschule in
Worms, die in den Ranking-Listen der besten Wirtschaftshochschulen
nicht einmal auf den letzten Plätzen vorkam (Nebenfrage: Könnte es
„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“
239
sein, dass die Universitätsrankings nicht verlässlicher sind als die
Ratingagenturen in der Finanzbranche, die vielen Pleitebanken die
Bonitäts-Bestnote AAA verliehen haben und für ihre inkompetenten
Fehleinschätzungen bestens honoriert wurden?).
George Soros, der weiß, wovon er spricht und schreibt, weil er über Jahrzehnte mit Hedgefonds-Spekulationen auf den internationalen Finanzmärkten ein Milliardenvermögen gemacht hat und weil er sich angesichts der Irrationalität dieser Märkte seit Jahren weise aus dieser Branche verabschiedet hat, veröffentlichte sein brillantes, wenn auch drucktechnisch billig gemachtes Buch The new paradigm for financial markets (Das
Ende der Finanzmärkte – und deren Zukunft. Die heutige Finanzkrise und was sie
bedeutet. München 2008) just in time. Vorausgegangen war ein Buch, das
man prophetisch nennen könnte, wenn es nicht im Ton heiliger Nüchternheit verfasst wäre: The bubble of American supremacy (Die Vorherrschaft
der USA – eine Seifenblase. München 2004). In diesen Büchern erfährt man,
was eine verplauderte, geradezu provokant oberflächliche bis läppische
Filmhäppchen-DVD mit Markus Koch nur verspricht: Einblicke in die
Logik von Backstage Wall Street (München 2008).
Leute wie Helmut Schmidt und George Soros sind nicht ganz unbekannt. Dass ihre nüchternen Warnrufe dennoch bei sogenannten Wirtschaftsweisen kein Gehör fanden und finden, ist erklärungsbedürftig.
Eine Erklärung ist trivial, aber gewiss nicht falsch: Blamagen tun weh.
Wenn sich gar Köpfe systematisch blamieren, die als Weise gelten, so
fällt ihnen das Eingeständnis, peinliche Fehleinschätzungen geliefert zu
haben, umso schwerer. Zumal dann, wenn (und dieser Erklärungsansatz
ist jenseits aller Trivialitäten) kaum mehr übersehbar ist, dass weite Teile
gerade der marktliberalen Wirtschaftswissenschaften weniger mit Wissenschaft als, wie Soros darlegt, mit fundamentalistischer Glaubensbereitschaft zu tun haben. Soros argumentiert komplex und handfest
zugleich. Wirtschaftswissenschaftler, die seine Thesen ernst nehmen,
„müssen einen Statusverlust akzeptieren“. Denn sie können ihre doch
so rechenintensive Wissenschaft nicht mehr am Paradigma der Naturwissenschaften orientieren. Warum? Weil sich Finanzmärkte, die
enorme Auswirkungen auf die Realökonomie haben, „reflexiv“ verhalten – soll heißen: die Beobachtungen, die Banken, Ratingagenturen,
Finanzinvestoren, Fonds-Manager etc. machen, um dann über Käufe
und Verkäufe zu entscheiden, sind eben nicht nur Beobachtungen, sondern zugleich Aktionen, die das Beobachtete (etwa Preise, Trends und
Risiken) verändern, und die ihrerseits beobachtet werden können. So
kommt es zu nicht taxierbaren Rückkoppelungseffekten und Erwartungserwartungen, die extrem risikolastig sind. Mit marktfundamentalistischem Glauben an Gleichgewichtszustände ist diese Einsicht in
chaosanfällige Reflexivität nicht zu vereinbaren.
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„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“
Wer in den Kreisen „marktfundamentalistischer“ Neoliberaler den Verdacht äußert, die invisible hand des Marktes könne unsichtbar sein und
so heißen, weil es sie (anders als etwa Preisabsprachen in der Zementindustrie und Millionenabfindungen für gescheiterte Manager) nicht
gibt, wird so sehr als Ketzer gelten wie vor Jahrhunderten ein Theologe,
der an der Existenz des unsichtbaren Gottes zweifelte. Viele Wirtschaftswissenschaftler stehen so fassungslos vor dem Beben der Finanzund Bankenkrise wie Theologen im Jahr 1755 vor dem Erdbeben von
Lissabon: Wie kann ein gütiger und allmächtiger Gott dies Unheil zulassen, lautete damals die berühmte Theodizee-Frage. Wie kann der alles
so herrlich regelnde freie Markt (und kein zweiter Markt war so dereguliert wie der internationale Finanzmarkt) dieses Beben, diesen Tsunami, diesen Abgrund (seltsam regelmäßig werden naturalistische Metaphern für das Chaos auf den Finanzmärkten bemüht) zulassen, lautet
heute die Frage der Neoliberalen, die alle, nur nie und nimmer sich
selbst mit dem Ideologieverdacht konfrontieren.
Kurzum: Nicht „nur“ die Wirtschafts- und Finanzsphäre selbst, auch die
Wirtschafts- und Finanzwissenschaften beben und kollabieren. Zur Diskussion und eben auch zur Disposition stehen ihre allerheiligsten Konzepte – die invisible hand des freien Marktes, der Homo oeconomicus
und das Rational-choice-Modell. Dieses dreieinige Konzept läuft auf die
immer gleiche Annahme hinaus: dass sich die Güter- und Finanzmärkte
ebenso wie die auf ihre eigenen Vorteile bedachten Marktteilnehmer
rational verhalten und deshalb Gleichgewichtszustände zwischen Angebot und Nachfrage herstellen. Dass dies nicht der Fall ist, dass es vielmehr im heißen Kern des Kapitalismus faszinierend irrational zugehe,
ist die Leitthese der im Merve-Verlag erschienenen und verlagstypisch
munter und anregend, aber auch erratisch argumentierenden Studie
von Ralph und Stephan Heidenreich, die den pointierten Titel Mehr Geld
trägt. Der Kapitalismus, so lautet ihre plausible Vermutung, konnte nur
in christlichen Kulturkontexten entstehen, weil das Christentum „eine
extrem zukunftsgetriebene Religion“ ist. Kapitalismus und Christentum verbindet ihre Fokussierung auf Schuld(en) und Erlös(ung), wie
schon Walter Benjamins großartige, aber von den Merve-Autoren ignorierte Skizze Kapitalismus als Religion darlegte. Am Anfang war die (Erb-)
Schuld, am Anfang sind die Schulden, die mit Zins und Zinseszins
zurückgezahlt werden müssen, wenn denn Prosperität herrschen soll.
Geld heckendes Geld, sich über Zinszahlungen vermehrendes Schuldgeld, also der Imperativ „Mehr Geld!“ regiert die kapitalistische Welt, die
Kapital als eine unbegreifbare, unendliche, göttliche Größe anbetet.
Wer das glaubt, muss ab und an dran glauben; wer so auf Mehr-GeldErlöse aus ist, wird in tiefe Glaubens- und Kreditkrisen geraten müssen
und seine Erlösungsbedürftigkeit erfahren. Lieber Gott, wenn es dich
„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“
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gibt, rette meine arme Seele, wenn ich eine habe, betete ein aufgeklärter Spötter im 18. Jahrhundert. Ähnlich dürften heute die Stoßgebete
von Bankern klingen: Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen
Kredit, wenn ich noch einen habe.
Nicht erratisch, sondern ebenso gelehrt wie elegant kommt eine faszinierende Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Fritz
Breithaupt daher. Sie trägt den erst einmal rätselhaften Titel Der Ich-Effekt
des Geldes – Zur Geschichte einer Legitimationsfigur (Frankfurt 2000) und analysiert, warum und wie das Medium Geld von so vielen neuzeitlichen
Philosophen wie Locke und Rousseau, Weber und Benjamin, Schumpeter und Simmel, Chamisso und Gutzkow, Heine und Freytag, Keller und
Musil (um nur sie zu nennen) bedacht und bedichtet wurde – was übrigens die heutige geldvergessene Philosophie und Literaturwissenschaft
immer noch weitgehend ignorieren.
Die Studie bietet für wenig Geld viele überraschende Einsichten in die
Wirkungsweise des Geldes. Ihre Leitthese ist im Titel angedeutet: Die
neuzeitliche Konjunktur des Ich- (des Subjekt-, des Selbstbewusstseinsund des Genie-) Begriffs ist an die Superkonjunktur des Leitmediums
Geld gekoppelt. Beide, das Ich wie das Geld, stehen in einer erst latent,
dann offen nachmetaphysischen Epoche vor dem Problem, ihr Versprechen, ihr Kapital, ihre Möglichkeiten zu entdecken und zugleich decken
zu müssen. Dies aber können sie nur im Verbund – in Breithaupts Worten: „Die Schwäche des zu beglaubigenden Geldes soll im Ich gestärkt
werden, und die Fragwürdigkeit des Ich soll durch die Realexistenz des
Geldes ausgeglichen werden.“
Rhetorische Pointen wie die von Heinrich Heine über die Weisheit einer
Münze: „So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch, und
weiß am besten, ob es Krieg oder Frieden gibt“ oder apodiktische Sätze
wie der von Robert Musil: „Geld ist geordnete Ichsucht“ werden vor dem
Hintergrund von Breithaupts Überlegungen neu lesbar. Seine Untersuchung vergisst dabei nie, dass auch die neuzeitliche Liebesaffäre zwischen Geld und Ich ihre Krisengeschichte hat. So gibt es etwa um 1900
eine Konjunktur der Trennung und Scheidung zwischen beiden; Liebe,
Ehre, hohe Werte, Sinn, all das also, worauf Subjekte besonders stolz
sind, kann man nicht kaufen, lautet eine Standardeinsicht, die sich viele
in den prosperierenden Zeiten um die vorletzte Jahrhundertwende leisten können. Sie verkennen damit, dass sich Ich und Geld in der kapitalistischen Neuzeit wechselseitig kreditieren. Beide sind dynamischliquide, aber eben auch von Liquidierung, nämlich von Achtungs-,
Beglaubigungs- und Kreditverlust bedrohte Institutionen. Was nicht
aus-, sondern häufig einschließt, dass sich Ich und Geld häufig wechselseitig verachten. Wer Breithaupts Studie liest, wird zum Beispiel mit
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„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“
Chamissos Schlemihl-Novelle oder Goethes Faust II nicht nur begreifen, dass,
sondern auch, wie Geld die Welt und ihre systematisch desorientierten
Bewohner regiert: indem es Subjekte formiert.
Zu den größten Problemen einer über sich selbst aufgeklärten neuen
Wirtschafts- und Finanztheorie dürfte es gehören, Geld als ein Medium
zu verstehen, das sehr viel mehr ist als „nur“ ein Steuerungsmedium der
Realwirtschaft. Den wirklichen Problemen der zahllosen überschuldeten Hausbesitzer, die nun in den USA bebenden Banken ihre Hausschlüssel übergeben, wendet sich George Soros zu. In Zeiten, da Spott
über Gutmenschen im Feuilleton wie in der Finanzsphäre branchenüblich ist, hilft die Stiftung des denkenden Philanthropen erst einmal den
Leuten, die sonst ein Dach über dem Kopf verlieren würden – und damit
auch dem Finanzmarkt, der nach Exzessen der Glaubensbereitschaft
transzendental obdachlos geworden ist.
„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“
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Abbildung 35: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kunst
Abbildung 36: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kredit
Die Kunstkreditkarte
Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen und Peer Boehm
die kunstkreditkarte
ist ein kunstwerk im bekannten standardformat von 8,5 mal 5,5 zentimetern mit abgerundeten ecken. vertreten sind collagen und malerei
und ätzungen und zeichnungen und …. alle sind ausschließlich einzigartige originale, keine kopien, keine computerausdrucke. jedes dieser
aufwendig gearbeiteten unikate ist handsigniert, nummeriert und wird
mit einem persönlichen zertifikat in einer schmuckdose angeboten.
der preis einer kunstkreditkarte beträgt 78 euro und macht die kunst
für jeden interessierten erschwinglich. das kunstwerk kann gerahmt, an
sicherem ort in der dose verwahrt, in der tasche getragen, gesammelt,
den geliebten, kindern, eltern oder auch geschäftskunden geschenkt,
mit anderen getauscht, weiterverschenkt oder verkauft werden.
die kunstkreditkarte
berechtigt den kaufenden, ein jahr lang zu einem garantierten rabatt
von zehn prozent in den ateliers der beteiligten künstler einzukaufen.
bei erwerb der karte erhält der kaufende ein zertifikat, dass ihm die gültigkeit seiner karte bescheinigt. dieses muss bei einem besuch und
einem eventuellen kauf im atelier vorgelegt werden. somit ist die kunstkreditkarte keine kreditkarte im eigentlichen sinne und auch keine
paybackkarte, erst recht keine telefonkarte, und schon gar nicht eine
krankenkassenkarte, natürlich auch keine ec-karte, auch keine mitgliedskarte, ebenfalls keine treuekarte, streng genommen auch keine
rabattmarkenkarte – wenngleich die funktion hier in die irre führen
kann – ist keine codekarte, auch keine art neuer führerschein für kunst,
auch keine blutgruppenkarte, natürlich auch keine künstlerausweiskarte, auch berechtigt diese karte nicht zur teilnahme an irgendeinem
miles-and-more-programm irgendeiner fluggesellschaft, mit dieser
karte kann man keine videos billiger ausleihen, keinen saunaplatz im
thermalbad reservieren und eine kurkarte will und kann sie auch nicht
sein. sie ist schlicht und ergreifend eine kunstkreditkarte, die den kaufenden beim kauf einer arbeit im atelier berechtigt, schamlos garantierte zehn prozent rabatt herauszuhandeln.
die kunstkreditkarte
weitere informationen zu den künstlern und ihren arbeiten finden sie
unter www.kunstkreditkarte.de.
Die Kunstkreditkarte
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Abbildung 37: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor I
Abbildung 38: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor II
Die Autoren
Konstantin Adamopoulos, studierter Philosoph, Kunsthistoriker und zertifizierter Coach, verantwortet seit Mai 2005 als Kurator das Bronnbacher
Stipendium des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI an der
Universität Mannheim. Regelmäßig übernimmt er Lehraufträge. Als
Kunstjournalist, Ausstellungsmacher und Projektleiter entwickelt er
Symposien.
Peer Boehm studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in
Köln. Seit 1994 arbeitet er als freischaffender Künstler in Köln. Peer
Boehms Arbeiten waren seitdem in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland zu sehen.
Iria Budisantoso studierte Diplom-Anglistik mit wirtschaftswissenschaftlicher Qualifikation an der Universität Mannheim sowie an der University of Massachusetts at Boston und Harvard University in Cambridge/
USA. Von August 2009 bis Juli 2010 war sie Stipendiatin des 6. Jahrgangs
des Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim.
Ulrich Dohmen studierte Malerei und Graphik in Köln und Berlin. Er ist
seit 1990 freischaffender Künstler. Seine Werke befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen.
Markus Glaser, Prof. Dr., studierte Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Nach
Promotion und Habilitation in Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim wechselte er an die Universität Konstanz. Dort hat er
den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Corporate
Finance, inne.
Timothy Guinnane, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften in
Haverford, USA. Nach der Promotion 1988 an der Stanford University
lehrte er an der University of Pennsylvania, in Princeton und in Yale. Seit
1999 hat er den Lehrstuhl für Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte an
der Yale University inne, seit 2006 ist Timothy Guinnane „Philip Golden
Bartlett Professor of Economic History“ in Yale.
Die Autoren
247
Jochen Hörisch, Prof. Dr., studierte Germanistik, Philosophie und
Geschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg. Nach der Promotion
lehrte er von 1976 bis 1988 an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 ist
er Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim und hielt Gastprofessuren unter anderem in den
USA, Argentinien, Frankreich und Österreich. Jochen Hörisch hat eine
Vielzahl von Büchern zu kultur- und medienanalytischen Themen veröffentlicht.
Stefan Hornbostel, Dr. Prof., studierte Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen und war dann wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Universität Kassel und Köln und Jena. Er promovierte an der Freien Universität Berlin (1995), arbeitete als Referent am CHE und als Professor am
Institut für Soziologie der Universität Dortmund. Seit 2005 ist er Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu
Berlin, und zugleich Direktor des Instituts für Forschungsinformation
und Qualitätssicherung (iFQ) Bonn.
Otmar Issing, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., lehrte das Fach Volkswirtschaft in
Erlangen-Nürnberg und Bamberg. 2008 wurde er von Bundeskanzlerin
Merkel zum Vorsitzenden der Expertengruppe für eine neue Finanzarchitektur bestellt. Als Mitglied des Direktoriums der Europäischen
Zentralbank war er von 1998 bis 2006 für die Generaldirektionen Volkswirtschaft und Volkswirtschaftliche Forschung zuständig. Zuvor war er
Mitglied des Direktoriums und des Zentralbankrates der Deutschen
Bundesbank und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Neben Beiträgen für wissenschaftliche Zeitschriften und Sammelbände veröffentlichte er unter
anderem die zwei Lehrbücher „Einführung in die Geldtheorie“ und
„Einführung in die Geldpolitik“ sowie das Buch „Der Euro – Geburt,
Erfolg, Zukunft“, engl. Ausgabe „The Birth of the Euro“.
Jana Janssen, Dipl.-Psych., studierte Psychologie an der Universität Mannheim und der Portland State University. Seit 2007 promoviert sie im
Bereich Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. Zu ihren Forschungsinteressen zählen der Umgang mit Unsicherheit, organisationales Vertrauen sowie soziale Gerechtigkeit.
Jürgen Kaube studierte Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und
Wirtschaftswissenschaften an der FU Berlin. Er war Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie der Universität Bielefeld, bevor er 1999 in die Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eintrat, deren Ressort „Geisteswissenschaften“ er
heute leitet. Er ist Mitglied des Hochschulrats der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Lehrbeauftragter für Soziologie an der
Universität Luzern.
248
Die Autoren
Annette Kehnel, Prof. Dr., studierte Biologie und Geschichte in Freiburg,
Oxford und München. Sie promovierte mit einer Studie zur Geschichte
des Klosters Clonmacnoise in Irland am Trinity College Dublin und
arbeitete dann in verschiedenen Funktionen an der TU Dresden im Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Seit
2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an
der Universität Mannheim mit einem Interessensschwerpunkt in der
Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Das nachhaltig erfolgreiche Zusammenspiel von Kultur und Wirtschaft hat sie am Beispiel der Organisations- und Wirtschaftsprinzipien mittelalterlicher Klöster und Orden
erforscht.
Alfred Kieser, Prof. Dr. Dr. h.c., hatte bis zu seiner Emeritierung 2010 über
dreißig Jahre den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre
und Organisation der Universität Mannheim inne. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und Soziologie an den Universitäten Würzburg, Köln,
Pittsburgh/USA. Er ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie
der Wissenschaften und Ehrendoktor der Fakultät für Betriebswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Er hat Bücher
und zahlreiche Aufsätze zu Organisationstheorie, Organisationsgestaltung, Lernen der Organisation und Geschichte der Organisation veröffentlicht.
Matthias Kohring, Prof. Dr., studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft in Münster. Auf die
Promotion 1997 in Münster folgte die Habilitation 2004 in Jena. Von
2006 bis 2010 hatte Matthias Kohring eine Professur für Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster, seit 2010 den Lehrstuhl für
Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Öffentliche Kommunikation, das Vertrauen in Medien und die Wissenschaftskommunikation.
Frank Merkel studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und schloss als Dipl.-Kaufmann ab. Parallel zum Studium gründete er 1973 die Werbeagentur WOB. Seit der Umwandlung in eine AG
ist er Vorstand der wob AG. Zwischen 1990 und 2000 war er im Vorstand
des Gesamtverbands Kommunikationsagenturen (GWA) zuständig für
das Ressort „Führungsnachwuchs und Qualifizierung“. 2000 wurde er
von der Universität Mannheim zum Ehrensenator ernannt. Seit 2006 ist
er Vorstandsmitglied des Absolventennetzwerks (AbsolventUM) der Universität Mannheim und seit 2008 auch deren Präsident. Seit 2008 ist er
Sprecher des Forums der BtoB-Agenturen innerhalb des Gesamtverbandes Kommunikationsagenturen (GWA) und auch Mitglied im Vorstand
des GWA (Vizepräsident).
Die Autoren
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Peter Raue, Prof. Dr., studierte an der Freien Universität Berlin Rechtswissenschaften, Theaterwissenschaften und Philosophie. Im Jahre 1970
promovierte er mit dem Thema „Literarischer Jugendschutz“ an der
Freien Universität Berlin. Seit 1971 ist Peter Raue in Berlin als Rechtsanwalt, seit 1975 als Notar tätig. Bis zum 30.4.2010 war er Seniorpartner der internationalen Sozietät Hogan & Hartson Raue mit dem
Stammsitz in Washington D.C.. 2010 gründete er mit seinen langjährigen Partnern die Sozietät RAUE LLP. Peter Raue ist Honorarprofessor an
der Freien Universität Berlin für Urheber-, Persönlichkeits- und Presserecht.
Angela Rohde arbeitet seit 1994 als freischaffende Künstlerin. Sie ist Autodidakatin, Mitglied des Bundesverbandes Bildender Künstlerinnen und
Künstler (BBK) und stellt ihre Werke in zahlreichen Ausstellungen im Inund Ausland aus. 1998 gründete sie gemeinsam mit Lie Sarvan „IKARUS –
Lyrik und Malerei" und veröffentlichte den Gedichtband „Sommerblut“.
Neben weiteren Mitgliedschaften und Kunstprojekten gründete sie 2006
zusammen mit Peer Böhm, Iris Stephan und Ulrich Dohmen „die kunstkreditkarte - was schönes für unterwegs“.
Klaus M. Schmidt, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Marbung und Hamburg. Nach der Promotion 1987 bis
1991 an der Universität Bonn und der London School of Economics ging
er für ein Jahr als Visiting Professor ans Massachusetts Institute for Technology. Seit 1995 ist er Ordinarius für Wirtschaftstheorie an der LudwigMaximilians-Univerisität in München. Weitere Gastprofessuren führten
ihn nach Stanford, Yale und Berkeley. Klaus Schmidt hat eine Vielzahl
von Aufsätzen in international führenden Fachzeitschriften zur Spielund Vertragstheorie, zur Verhaltensökonomie und zur Experimentellen
Wirtschaftsforschung veröffentlicht. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Economic Advisory Group on Competition Policy der Europäischen Kommission.
Christiane Schoel, Dr., studierte Psychologie in Freiburg und Mannheim.
2009 promovierte sie an der Universität Mannheim, wo sie derzeit als
wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte
umfassen unter anderem Führung, Spracheinstellungen und Risikoverhalten.
Christoph Sextroh studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität
Duisburg-Essen und an der Norwegian School of Economics and Business Administration in Bergen/Norwegen. Seit 2008 ist er Doktorand am
Center for Doctoral Studies in Business (CDSB) der Graduate School of
Economic and Social Sciences (GESS) an der Universität Mannheim und
zudem seit Frühjahr 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
für ABWL, insb. Accounting & Capital Markets von Prof. Dr. Holger
250
Die Autoren
Daske. Von August 2009 bis Juli 2010 war er Stipendiat des 6. Jahrgangs
des Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim.
Dagmar Stahlberg, Prof. Dr., studierte Psychologie, Anthropologie und
Geologie an der Universität Kiel. Nach der Promotion 1988 lehrte sie an
der Universität Kiel und der New School of Social Research in New York.
Gleich nach ihrer Habilitation in Kiel folgte sie 1995 einem Ruf auf eine
C3-Professur an der Justus-Liebig Universität in Gießen. Seit 1996 ist sie
Inhaberin des Lehrstuhls Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. Dagmar Stahlberg hat eine Vielzahl von nationalen und internationalen Veröffentlichungen zu den Themen Selbstkonzept, Urteilsverzerrungen und -Biases, Effekte von Stereotypen sowie Sprache und Personenwahrnehmung vorgelegt.
Iris Stephan studierte Bildhauerei und Malerei an der Alanus Hochschule
der bildenden Künste, Bonn. 2005 gründete sie den Kunstraum K5 in
Köln und wurde 2007 in der GEDOK/Köln aufgenommen. Sie lebt und
arbeitet als freischaffende Künstlerin in Köln.
Rupert Graf Strachwitz, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft, Geschichte
und Kunstgeschichte an der Colgate University (USA), in München und
Münster. Nach langjähriger ehren- und hauptamtlicher praktischer
sowie beratender Tätigkeit im und für den gemeinnützigen Bereich leitet er seit 1998 das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Er war u. a. von 1999
bis 2002 Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags
zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements. Er hat vielfach zu
Themen der Zivilgesellschaft, des Stiftungswesens u. Ä. publiziert.
Stefanie D. Unger, B.Sc., studierte Marketing Management an der California Polytechnic University Pomona. Nach Stationen als Senior Consultant bei Arthur Andersen und später bei Ernst & Young machte sie
sich als Unternehmensberaterin selbständig und begleitet seitdem Vorstände und Aufsichtsräte in Führungsfragen, im Bereich Change Management, Strategie und Corporate Governance. Stefanie Unger ist Herausgeberin des Buches „Vertrauen ist gut. Werte in der Krise oder Krise
der Werte?“. Als Referentin hält Stefanie Unger auf internationalen
Business-Konferenzen Vorträge über wirtschaftliche und politische Entwicklungen von Europa bis Latein- und Nordamerika.
Martin Weber, Prof. Dr. Dr. h.c., studierte Mathematik, Informatik und
Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mainz und an der RWTH
Aachen. Nach der Habilitation in Betriebswirtschaftslehre war er Professor in Köln, Kiel und bis heute an der Universität Mannheim. Dort hat
er den Lehrstuhl für Finanzwirtschaft, insb. Bankbetriebslehre, inne.
Die Autoren
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Marc-Philippe Weller, Prof. Dr., studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg
und Montpellier. Nach der Promotion 2004 an der Universität Heidelberg folgte 2008 die Habilitation an der Universität zu Köln mit einer
Schrift zum Thema „Die Vertragstreue“. Seit 2008 ist Marc-Philippe
Weller Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales
Unternehmensrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Mannheim. Er hat eine Vielzahl von Veröffentlichungen verfasst,
insbesondere zum Vertragsrecht und Gesellschaftsrecht, jeweils mit
internationalen Bezügen.
Frank Ziegele, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim und promovierte 1996 an der Ruhr-Universität
Bochum mit einer Dissertation zum Thema „Hochschule und Finanzautonomie“. Nach Lehraufträgen in Osnabrück, Bremen, Oldenburg,
Krems und Speyer wurde er 2004 Professor für Hochschul- und Wissenschaftsmanagement an der Fachhochschule Osnabrück. Schon seit 1996
engagierte sich Frank Ziegele beim CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) und bei CHE Consult als Referent und seit 2007 als Geschäftsführer. Er ist zudem Mitherausgeber der Zeitschrift „Wissenschaftsmanagement“ und hat zahlreiche Beiträge und Bücher zur Entwicklung
und Finanzierung von Hochschulen publiziert.
Josef Zimmermann, Dr., absolvierte eine Banklehre und studierte danach
Betriebswirtschaftslehre in Mannheim mit anschließender Promotion
über das Kreditgeschäft mit mittelständischen Unternehmen. Ab 1980
war Josef Zimmermann bei der Deutschen Bank angestellt, zuletzt zehn
Jahre Mitglied der Geschäftsleitung Deutschland für das Firmenkundengeschäft mit Sitz in Mannheim. Seit 2007 ist er Vorsitzender der
Freunde der Universität Mannheim.
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Die Autoren

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