B. Brecht in dem Gedicht »Schlechte Zeiten fiir Lyrik

Transcrição

B. Brecht in dem Gedicht »Schlechte Zeiten fiir Lyrik
Bertolt Brechts »Fluchtlingsgespråche«
von Helmut Motekat
» In m ir streiten sich
D ie Begeisterung iiber den bluhenden A pfelbaum
U nd das Entsetzen iiber die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
D rångt mich zum Schreibtisch.«
(B. Brecht in dem Gedicht
»Schlechte Zeiten fiir Lyrik«)
Aus dem Nachlass Bertolt Brechts erschienen 1961 die »Fliichtlrngsgespråche«.1 Das fragmentarisch gebliebene Manuskript entstand wahrend
Brechts Aufenthalt in Finnland 1940/41. Im April 1940 hatte er mit seiner
Familie bei der finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki Aufnahme und
Obdach gefunden. Als sich die Zeichen der Vorbereitung des deutschen
Angriffs gegen Russiand im Friihjahr 1941 mehrten, hielt Brecht es fiir
geraten, Finnland zu verlassen. Am 13. Mai 1941 reiste er iiber Moskau
nach Wladiwostok. Dort schiffte er sich am 11. Juni nach den Vereinigten
Staaten ein.
Die Situation der Gesprachspartner Ziffel und Kalle in Helsingfors
vergegenwårtigt also Brechts damalige personliche Lage, so wie er sie in den
»1941« iiberschriebenen Versen knapp und klar umriss:2
» A u f der F lucht vor meinen Landsleuten
Bin ich nun nach F innland gelangt. Freunde
Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten
In saubere Zim m er. Im Lautsprecher
Hore ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig
Betrachte ich die Karte des Erdteils. H och oben in Lappland
N ach dem nordlichen Eismeer zu
Sehe ich noch eine kleine Tur.«
1. Bd. 63 der »Bibliothek Suhrkamp«. Suhrkamp Verlag, Berlin u. Frankfurt am Main (1961).
2. Zitiert nach: Bertolt Brechts Gedichte und Lieder. Bibliothek Suhrkamp, Bd. 33 (1962),
S. 101.
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
53
Die beiden deutschen Emigranten, die im Bahnhofsrestaurant von Hel­
singfors die »Fluchtlingsgespråche« fiihren, repråsentieren diejenigen Teile
des deutschen Volkes, die nach Brechts Auffassung vor allem fiir die
Machtergreifung des »Anstreichers« verantwortlich sind: die Intellektuellen
(Ziffel ist Physiker) und die Arbeiter (Kalle ist »von untersetzter Statur mit
den Hånden eines Metallarbeiters«.)3 Der Treffpunkt und Ort der Gespråche
verstårkt den Eindruck des Unsteten, der Unsicherheit, des Provisorischen
der momentanen Existenz der beiden FlUchtlinge, verbindet sich mit einem
Bahnhofsrestaurant doch kaum die Vorstellung des Bleibens, sondern viel­
mehr des durch Ankunft und Abfahrt zeitlich begrenzten »Aufenthalts«. In
ihrer åusseren Form sind die »Gespråche« nach dem Prinzip der dramatisehen Szene angelegt. Den einzeinen Dialogen sind jeweils kurze Situationsbeschreibungen vorangestellt bzw. eingefiigt. Sie haben ebenso wie die knappen
Andeutungen des Verhaltens der beiden Månner wåhrend ihrer Unterhaltungen und nach deren jeweiligem Abschluss den Charakter von Szenenanweisungen im Drama. (Dieser Tatsache trågt die Ausgabe der »Fliichtlingsgespråche« der »Bibliothek Suhrkamp« dadurch Rechnung, dass sie die
Partien situationsbeschreibenden Charakters kursiv setzt.)
Allerdings fehlt den »Gespråchen« das wichtigste Element des Dramas:
die dramatische Handlung.4 Kalle und Ziffel sind — auch unter dem
Aspekt von Brechts »Epischem Theater« gesehen — absolut undramatische
Gestalten. Dazu ist ihnen als politischen Fliichtlingen in einem ihnen Asyl
bietenden Land ohnehin nur ein passives Verhalten moglich. Sie befinden
sich in der Situation von Wartenden auf einstweilen unbestimmte Zeit.
Ihre Gespråche sind daher zunåchst »Zeitvertreib«, insofern sie ihnen helfen,
die Zeit des untåtigen Wartenmiissens zu verkiirzen. »Gespråch« aber ist
fiir den politischen Aktivisten B. Brecht niemals blosse »Unterhaltung«.
(Vgl. dazu etwa seine Unterscheidung zwischen »Unterhaltungstheater« und
»Lehrtheater«, in seinen »Schriften zum Theater«, passim.) Das Gespråch
hat fiir ihn (im Sinne des dialektischen Materialismus) die Funktion, Stand-
3. Fluchtlingsgespråche (im folgenden zitiert als: Fl-Gespr.), S. 7.
4. Um so nachdriicklicher ist auf das mutige Experiment der Inszenierung der »Fluchtlings­
gespråche« durch die Miinchner Kammerspiele im Werkraumtheater 1962 hinzuweisen.
(Der bedeutende Anteil der Miinchner Kammerspiele an Brechts dramatischem Werk
und seiner Verwirklichung auf der Biihne sei in diesem Zusammenhang erwåhnt. Er
begann mit der inzwischen bereits historisch gewordenen Inszenierung der »Trommeln
in der Nacht« 1922).
54
Helmut Motekat
punkte klarzulegen und — wo immer notwendig — zu korrigieren. Das heisst
mit anderen Worten, dass die Summe der Einsichten bzw. Erkenntnisse
zumindest eines Gespråchspartners am Ende des Gesprachs grosser (und
im Sinne der marxistischen Lehre) richtiger, d. h. zutreffender zu sein hat
als bei seinem Beginn.
So dienen die »Fliichtlingsgespråche« zunachst den beiden Gesprachspartnern in ihrer aussergewohnlichen Situation, im weiteren aber auch den Lesern
bzw. Zuhorern der Gesprache dazu, eine Vielzahl von (1940) akuten und
von zeitunabhangigen Fragen zu klaren oder doch einer klarenden Antwort
anzunahern. Politische und weltanschauliche Tatsachen und Probleme, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Zustande und Bewegungen verschiedenster Art
kommen zur Sprache. Gegenwartige Erfahrungen fuhren Ziffel und Kalle
dazu, die Ursachen fiir den momentanen Zustand der Verhaltnisse in der
Vergangenheit zu suchen oder Erscheinungen und Kråfte, die die Weltlage
der Gegenwart beherrschen und bewegen, kritisch zu beleuchten. Den
priifenden Ruckblick in die eigene Vergangenheit mit ihren Versuchen und
Irrtumern halt dabei jeder der Gesprachspartner auf die ihm gemasse Weise.
Der unliterarische Kalle verfiigt iiber ein unverbrauchtes Erinnerungsvermdgen; der intellektuelle Ziffel muss seine friiheren Erfahrungen bei der
Niederschrift seiner Memoiren rekonstruieren. Da er Kalle die seit dem
letzten Gesprach niedergeschriebenen Passagen vorliest, lernt der Leser sie
gleichzeitig mit Kalle kennen und wird in die kritische Auseinandersetzung
unmittelbar einbezogen. Mit diesen wie mit einigen ahnlichen erzahltechnischen Kunstgriffen gelingt es Brecht, den Leser der »Fliichtlingsgespråche«
zu einer persdnlichen Stellungnahme zu den erorterten Problemen zumindest
anzuregen und ihn damit zu eben jenem kritischen Nachdenken zu bringen,
zu dem der »Verfremdungseffekt« des »Epischen Theaters« den Zuschauer
veranlassen soli. Die ungemein interessante Frage, inwieweit, zutreffender: wie
wenig diese Einstellung des Zuschauers zu den auf der Biihne nach Brechts
Forderung vom Schauspieler nicht verwirklichten, sondern »demonstrierten«
menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen selbst bei hervorragenden
Auffiihrungen seiner »Stiicke« tatsachlich je erreicht worden ist bzw. erreicht
werden konnte, liegt allzuweit ausserhalb des Themas dieser Arbeit. Wenn
Brecht den mit seinen »Stiicken« erstrebten und selten wirklich erreichten
Effekt der »Verfremdung« mit den »Fluchtlingsgespråchen« ohne weiteres
erzielt, so erklårt sich das aus der spezifischen Situation der Gespråchspartner: Aus ihrer gewohnten vertrauten Welt herausgerissen, als bis dahin
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
55
beruflich tåglich ausgelastet gewesene Menschen, finden sie sich durch die
politischen Verånderungen jetzt als nur geduldete Fliichtlinge im Ausland,
in einer ihnen absolut fremden Umgebung zum nervenzerriittenden Nichtstun
verurteilt. In einer solchen Lage ist das kritische Durchdenken der Stationen
des bereits durchschrittenen Lebensweges durchaus natiirlich. Ganz von
selbst tritt in diesem Fall auch die »Verfremdung« ein, da ja die einstmals
gewohnten und selbstverståndlichen Verhåltnisse jetzt — im Ruckblick —
anders erscheinen und bisher nicht gesehene Eigenschaften und Bedeutungen
erkennen lassen.
Brechts meisterhafte Beherrschung der »Kunst der Beobachtung« menschlichen Verhaltens dokumentiert sich bereits im ersten »Gespråch«. Der
momentan im eigentlichen Sinne des Wortes »vorhandene« (in Hånden
befindliche) Gegenstand veranlasst eine Aussage in Form einer Feststellung:
Das Bier, das »der Grosse« hochhebt und »durchschaut« (auf die unmittelbare und die iibertragene Bedeutung des Verbs »durchschauen« sei aufmerksam gemacht!), ist nicht das, was das Bier zu Hause war, die Zigarre
ist nicht die gewohnte Zigarre. Der auf die Feststellungen »Bier ist kein
Bier« und »Zigarren [sind] keine Zigarren« folgende Satz: »Aber der Pass
muss ein Pass sein, wenn . . .« ist in der Situation der politischen Fliichtlinge
durchaus kein uberraschender gedanklicher Sprung. Der Besitz eines Passes
ist gleichbedeutend mit der Aussicht auf Rettung vor Verfolgung und Mord.
Der Gedanke an den Pass und seine unvermittelte Erwåhnung sind ebenso
naheliegend wie die kurze Unterhaltung iiber das Verhåltnis von Pass und
Mensch zueinander. Wie von selbst ist damit das Gespråch in Gang gekommen. Es lenkt sich nun Schritt fiir Schritt so naturlich und selbstverståndlich auf einige weitere Gegenstånde bzw. Themen, dass der Leser, ohne
sich dessen bewusst zu sein, zum innerlich zustimmenden Mithorer des Gespråchs wird. Der Pass, eben noch lediglich als Voraussetzung, »damit sie
einen in das Land hineinlassen«, bezeichnet, erweist sich schon wenig spåter
als eines der (Macht-) Mittel der »modernen Staatengebilde«, ihre »Ordnung«
durchzusetzen. Immer im Bereich des bildhaft Vorstellbaren bleibend (Beispiel: Der Chirurg, der die »Ordnung« der Organe im Korper des Patienten
braucht, weil er den Blinddarm, der sich ohne die Ordnung z. B. im Gehirn
niederlassen konnte, nicht fånde u. a. m.), entlarvt das Gespråch die auffållige »Sorge« der modernen Staatengebilde fiir den Menschen als Folge
ihres »ziemlichen« Verschleisses an Menschen. Unvermittelt — eben darum
um so nachdriicklicher in der Wirkung — tritt bereits im ersten Gespråche (wie
56
Helmut Motekat
in den folgenden håufig) plotzlich das souveran und elegant gefiihrte »Wortspiel« an die Stelle der »Schritt flir Schritt— Argumentation«.
Brechts
»Wortspiele« in den »Fliichtlingsgesprachen« vereinigen alle Eigenschaften
des Aphorismus bester Qualitåt in sich. Im ersten der »Fliichtlingsgespråche«
bedient sich Brecht seines Talents fiir die aphoristische Prågung, um den
brutal— unmenschlichen Charakter der in der nazistischen Terminologie
unablåssig geforderten »Ordnung« und »Ordnungsliebe« aufzuweisen.
Dabei bleibt der in ausserst geraffter Formulierung bewusst zugespitzte
ebenso wie der nach der Art der unerwarteten und stets frappierenden
Wendung der »Geschichten vom Herrn Keuner« gepragte Aphorismus nicht
isoliert fiir sich stehen. Er bildet Anregung und Thema fiir die weiter
ausholenden Berichte der Fluchtlinge, in denen diese aus der Erinnerung
an ihre personlichen Erfahrungen die Wahrheit der aphoristisch formulierten
Behauptungen beståtigen. Dass der håufige, unvermittelte Wechsel von der
einen Aussageform in die unerwartet andere das Interesse des Lesers, wenn
nicht zu steigern, so doch zumindest vor dem Erlahmen zu bewahren vermag,
wusste der an praktischer Erfahrung zutreffender und sicherer als an psychologischen Forschungsergebnissen orientierte B. Brecht nur zu gut. Es zeugt
von der ungewohnlich sicheren Beurteilung der Moglichkeit psychischer Einflussnahme auf seine Zeitgenossen, wenn Brecht im zweifelsohne einzig
richtigen Moment auf die gewiss reizvolle Formulierung weiterer Aphorismen
verzichtet und dafiir Kalles Bericht von dem brutal priigelnden SS-Man im
Lager Dachau folgen lasst, der der »ordentlichste Mensch« war, den Kalle
(nach seiner eigenen Aussage) im Leben kennengelernt hat: »Der Ordnungssinn ist so in ihm dringesteckt, dass er lieber nicht gepriigelt hatt, als
unordentlich«,5 und danach Ziffels Erinnerung an seinen Laboratoriumsdiener, Herrn Zeisig , und dessen »Ordnungsliebe«. In Herrn Zeisigs durchsichtigen Augen war »kein Ståubchen Intelligenz«, und »er hat einem leid
getan«. Aber: »Am Morgen, wo Hitler Reichskanzler wurde, sagte er,
meinen Mantel sorgsam an den Nagel hangend: Herr Doktor, jetzt wird in
Deutschland Ordnung geschafft. Nun, der Herr Zeisig hat Wort gehalten.«6
Die bitteren Erfahrungen Ziffels und Kalles mit den Vertretern solcher
Ordnungsliebe haben fast unmerklich die Vergangenheit der Gespråchspartner in die Unterhaltung einbezogen. Dabei sind zugleich einige der gangigen
5. Fl.-Gespr., S. 11.
6. Fl.-Gespr., S. 16 f.
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
57
Phrasen der Hitlerzeit in ihrer låcherlichen Sinnentleerung beleuchtet worden:
»Mit dem letzten Knopf gewinnt man den Krieg«; »der letzte Blutstropfen
muss vergossen werden«; der Krieg soli unbedingt »mit der letzten Kraft
gewonnen werden«; »Blutiger Ernst. Ein Ernst, der nicht blutig ist, ist
keiner«.
Das Gespråch endet mit einem meisterhaften Wortspiel, das erweist, dass
dort, wo Ordnung herrscht, Knappheit besteht. Kalle: »Wo nichts am rechten
Platz liegt, da ist Unordnung. Wo am rechten Platz nichts liegt, ist Ordnung.«
Ziffel: »Ordnung ist heutzutage meistens dort, wo nichts ist. Es ist eine
Mangelerscheinung.«7 Was alles dort mangelt, wo Ordnung herrscht, låsst
die vieldeutige Formulierung bewusst offen.
Auch im II. Gespråch geht es zunåchst um die augenblickliche Lage der
Fliichtlinge und ihre Sorgen um die notwendigsten Existenzgrundlagen. Ziffel
teilt mit, dass er ein Zimmer gefunden hat. Auf sein gereiztes »Ich esse nicht
mehr als Sie«, reagiert Kalle mit einem Satz, der als typisch fiir Brechts
Sprachform und Sprachbehandlung gelten kann: »Bei feinen Kreisen gilts
vielleicht als Schand, wenn man hungert, aber bei uns gilts nicht als Schand,
wenn man satt isst«.8 Das Gespråch lenkt sich nun zu einer Klarlegung der
unterschiedlichen Standpunkte des Intellektuellen und des Arbeiters zur
Methode politisch-weltanschaulicher Propaganda. Ziffel meint, dass die »lin­
ken Schriftsteller« mehr Erfolg im »Aufhetzen« håtten, wenn sie »saftige
Beschreibungen von den Geniissen anfertigen, die man hat, wenn man hat.«
Anstelle der Handbiicher, mit denen die Arbeiter sich iiber die Philosophie
und die Moral informieren konnen, »die man in den besseren Kreisen hat«,
wåren seiner Meinung nach »Handbiicher iibers Fressen und die andern
Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt. . .« 9 von stårkster Wirkung.
Seine Argumentation zeigt hier deutliche Anklånge an die Formulierungen
Georg Buchners in der Flugschrift »Der hessische Landbote« von 1834; und
wenn Ziffel etwas spåter von der schwachen Begabung der Deutschen fiir
den Materialismus spricht und davon, dass es in Deutschland nur zwei Sorten
von Leuten gåbe, Pfaffen und Pfaffengegner: »Die Vertreter des Diesseits,
hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen: die
Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen,«
7. Fl.-Gespr., S. 17.
8. Fl.-Gespr., S. 19.
9. Fl.-Gespr., S. 19/20.
58
Helmut Motekat
scheinen Heinrich Heines Verse aus dem Anfang seiner Dichtung »Deutschland. Ein Wintermårchen« (1844) nachzuklingen. 10 Kalle unterbricht schliesslich des redseligen Ziffel Darlegungen und wischt sie weg mit dem lakonischen Satz: »Wir brauchen nicht den Appetit, wir haben den Hunger-«11
Brechts feine Beobachtung der unterschiedlichen Verhaltensweisen der
Angehorigen verschiedener Gesellschaftschichten zeigt sich schon rein åusserlich in der unterschiedlichen Lange und den unterschiedlichen Formulierungen Ziffels und Kalles. Ziffel, der Intellektuelle, ist nicht nur der naturgemass
sprachgewandtere von beiden. Er hat gelernt, das Fur und Wider eines
Planes, einer Idee, einer Aktion abwågend zu erortern; dazu greifen seine
Uberlegungen iiber das rein Faktische hinaus und beschåftigen sich auch mit
dem als mdglich Vorstellbaren. Der Konjunktiv ist die seinen Formulierungen
gemåsse Verbform auch dort noch, wo Ziffel — aus »intellektueller Riicksicht« auf den Gesprachspartner — die dem Aussagesinn nach weniger
passende aktive Form verwendet. Immer wieder steht der ausfiihrlichen und
zum Theoretisieren neigenden, ja ofters monologisch anmutenden Darlegung
Ziffels die niichterne Feststellung Kalles gegeniiber als ein »So war es«
oder ». . . das gehort zur allgemeinen Tyrannei«. Als ein Beispiel fiir viele
åhnliche sei aus dem »II. Gespråch« der folgende Abschnitt angefiihrt:
Ziffel hat bereits ausfuhrlich iiber das Verhåltnis der Deutschen zum M a­
terialismus argumentiert. Er schliesst mit den Såtzen: »Die Religion hat die
stårksten Helden und die feinsten Gelehrten hervorgebracht, aber sie war
immer etwas anstrengend. An ihre Stelle tritt jetzt ein feuriger Atheismus,
der fortschrittlich ist, aber zeitraubend.« Darauf Kalle: »Da ist was dran.
Ich war bei den Freidenkern. Unsere Uberzeugung hat uns dauernd in Atem
gehalten.«12 Zu Kalles niichtern-praktischer Sehweise und Denkart, zu
seiner grundsåtzlich realistischen Einstellung gehort auch die von ihm ohne
Skrupel mitgeteilte Begrundung seines Austritts aus der Vereinigung der
Freidenker: »Ich bin ausgetreten, weil meine Freundin mich vor die Ent-
10. Kaput I: »Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn’ auch die Herren Verfasser;
Ich weiss, sie tranken heimlich Wein
Und predigten offentlich Wasser. . .«
11. Fl.-Gespr., S. 20.
12. Fl.-Gespr., S. 21.
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
59
scheidung gestellt hat, entweder ich bin Freidenker oder ich geh mit ihr am
Sonntag.«13
Mehr und mehr bewegt sich das II. Gespråch auf die Position zu, die es
im Gesamt der »Fluchtlingsgespråche« einnimmt. Es steht an der Stelle einer
»Exposition« und iibernimmt ihre Funktion fiir die folgenden sechzehn
Gespråche. Vgl. dazu den Schluss des Gespråchs: Ziffel teilt Kalle mit,
dass er seine »Memoiren« zu schreiben gedenkt. Auf Ziffels Bitte, »ab und
zu das eine oder andere Kapitel meiner Memoiren sich anzuhoren« antwortet Kalle kurz: »Ich hab nichts dagegen.«14 In der dieser Ubereinkunft
vorausgehenden Auseinandersetzung dariiber, ob »ein unbedeutender Mensch«
seine Memoiren schreiben soli in einer Zeit, in der die unbedeutenden
Menschen »im Aussterben begriffen sind«, kommen zwei wichtige Anliegen
Brechts zur Sprache. Das erste ist die Entlarvung der verlogenen Ideologie
der Nazipropaganda. In an Schårfe und Zielsicherheit kaum ubertreffbarem
Sarkasmus låsst Brecht Ziffel es der stupenden »Fåhigkeit unseres Zeitalters,
aus nichts etwas zu machen« zuschreiben, dass es eine »so ungeheure Anzahl
bedeutender Menschen« erzeugt habe, und dass die bedeutenden Menschen
in immer riesigeren Massen aufmarschieren, ». . . lauter Individuen, die sich
wie die grossten Helden und Heiligen benehmen.«15 Das zweite ist Brechts
Uberzeugung, dass gerade die Verbreitung der Erfahrungen und Ansichten
»unbedeutender Menschen« notwendig ist. Ziffels Argument ist hier das
Argument Brechts: »Ich hingegen, der wirklich unbedeutende Ansichten
verkiinden will, die jedermann zu den seinen machen k a n n ...« 16 Ziffels
»Memoiren« — Kalle in unterschiedlichen Zustånden ihrer jeweiligen Niederschrift vorgelesen — schildern die in Brechts Auffassung »typische« Entwicklung eines Sohnes der »hoheren Gesellschaftsklasse«. In Stichworten
angedeutete Kindheits- und Jugendeindrucke wechseln ab mit Passagen in
fortlaufendem, fertig formuliertem epischem Bericht. In beiden Formen der
Niederschrift liefert die wortliche Wiedergabe von volkstiimlichen Redensarten, Versen bzw. Versteilen von sogenannten »Liedern aus der Kiiche«,
Reklameformeln und Zitatfragmenten aus der Lutherbibel wichtige Elemente.
(Vgl. dazu vor allem das IV. Gespråch, S. 41 -45). Die Bemerkung Ziffels,
dass diese Art des Berichts, d. h. die zusammenhanglos scheinende Reihung
13. Fl.-Gespr., S. 21/22.
14. Fl.-Gespr., S. 29.
15. Fl.-Gespr., S. 27.
16. Fl.-Gespr., S. 25.
60
Helmut Motekat
von Eindrucks- bzw. Erinnerungsfragmenten zu modern sei und dass
»modern« veraltet ist, mag Brechts Auffassung von derartigen Versuchen
zeitgenossischer sprachlicher Gestaltungen von James Joyce bisser Alfred
Doblin spiegeln. Dass Brecht unmittelbar nach dieser »modernen« Ausden Bericht iiber das »vom Volke« stammende Dienstmådchen bringt, an
den Bericht iiber das »vom Volke« stammende Diensmådchen bringt, an
dem die Kinder der »Besitzenden«, ihre geschlechtlichen Erfahrungen
machen, wie in den Gesellschaftsromanen der Zeit um die Jahrhundertwende, sei immerhin angemerkt.
Betrachtet man die Fliichtlingsgespråche als Ganzes, so erweist sich, dass
alle Arten von Brechts dialektischer Argumentation und alle von ihm versuchten und erprobten Formen sprachlicher Gestaltgebung in ihnen vertreten
sind. Das heisst, dass sie tatsåchlich — auf knappstem Raum — den ganzen
Brecht repråsentieren.
Da begegnen erzåhlte Verkommnisse, die — fiir sich allein gelesen — in
den »Geschichten vom Herrn Keuner« stehen konnten. So z. B. der Bericht
Kalles iiber seinen ersten Schultag im III. Gespråch. i? Da nimmt das Gespråch wiederholt den »Soldat Schweijk-Ton« an, der durch das unbeschwerte, naive Wortlichnehmen der Sprache die Ausdrucksformen der
Unmenschlichkeit und des von Staats wegen legalisierten Terrors aufdeckt.
So z. B. im I. Gespråch die Worter »Ordnung« und »Ordnungsliebe«, im
X . Gespråch der Begriff »Vaterlandsliebe«, oder im IX . Gespråch das Wort
»Ziel«: Ziffel: ». . . Z. B. sie konnen auch in Deutschland noch zuweilen frei
herumgehen durch die Stadt und vor den Låden stehn bleiben, wenns auch
nicht gern gesehn ist, weil kein Ziel ist.« Darauf Kalle: »Ja, ein Ziel
brauchens immer. Ziel ist, worauf man schiesst.«i8 Da diskutieren Ziffel
und Kalle auf ihre — und d. h. auf Brechts — Art das Problem der Verantwortung des Forschers, des an der Produktion von Mitteln zur Menschenund Menschheitsvernichtung beteiligten Wissenschaftlers und Arbeiters. Es
ist das Problem von Brechts Galilei (Vgl. das V II. Gespråch). Da klingt
in der Erwåhnung des mit eiserner Energie »die ganze Pflanzenwelt auswendig« lernenden Sohnes von Kalles fruherer Wirtin Brechts Aufforderung
an die Arbeiter an, zu lernen und immer wieder zu lernen, wie er sie etwa
in dem Gedicht »Lob des Lernens« formuliert hatte:19
17. Fl.-Gespr., S. 36.
18. Fl.-Gespr., S. 90.
19. Zitiert nach: Bertolt Brechts Gedichte und Lieder. Bibliothek Suhrkamp, (1962), S. 21.
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
61
» . . . Lerne, M a n n im Asyl!
Lerne, M a n n im Gefångnis!
Lerne, Frau in der Kliche!
Lerne, Sechzigjåhrige!
D u musst die Flihrung iibernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine W affe.
D u musst die F iihrung iibernehmen . . . «
Vom »Begriff des Guten« und von der Anstrengung, die notig ist, »bose zu
sein«, d. h. also von einem der Brecht gerade in seiner letzten Lebens­
und Schaffenszeit wichtigsten Probleme handelt das V III. Gespråch (Vgl.
dazu u. a. das Gedicht Brechts »An die Nachgeborenen«!). Seine auch durch
die Jahre der Emigration in den Vereinigten Staaten keineswegs geringer
gewordene Antipathie gegen »die Amerikaner« macht sich im Verlauf des
IX . Gespråchs Luft (Vgl. dazu Brechts Gedicht »Verschollener Ruhm der
Riesenstadt New York«. In: Bertolt Brecht, Hundert Gedichte 1918 - 1950.
Berlin, Aufbau-Verlag 1962, S. 120- 129; ferner Brechts Stiick »Die heilige
Johanna der Schlachthofe, 1929/30). Anklånge an seine »Kalendergeschichten« vernimmt man in dem Bericht iiber den emigrierten Arzt, den Ziffel
vorliest.20 Der Nachweis dafiir, dass in den »Fliichtlingsgespråchen« alle
charakteristischen Argumente, Argumentationsweisen und Ausdrucksmittel
Brechts zu finden sind, konnte noch weiter gefiihrt werden. Doch sei statt
dessen nur noch angemerkt, dass Brecht sich in den »Fliichtlingsgespråchen«
auch selbst zitiert, indem er Ziffel und Kalle Gedichtverse des »Stiickeschreibers« vorlesen bzw. nach dem Gedåchtnis zitieren låsst. Das heisst, dass die
Fliichtlinge Brechts Gedichte als »handhabbar gemachte Waffe« im Sinne
der Einleitung seiner Abhandlung »Fiinf Schwierigkeiten beim Schreiben der
Wahrheit«21 aufnehmen und verwenden. Gerade diese Brechtschen »Selbstzitate« aber wirken weder in Ziffels noch in Kalles Mund uberzeugend. Sie
fiigen sich nicht recht in die Atmosphåre ihrer »Gespråche« ein und hinterlassen den Eindruck von in anderem Zusammenhang geformten und hier
20. Fl.-Gespr., S. 115-124.
21. Entstanden 1934, publiziert in »Versuche«, H. 9.
22. Fl.-Gespr., S. 79/80. Die »Steffinische Sammlung«, zu der das Gedicht gehort, war eine
von Margarethe Steffin 1937- 1941 durchgefiihrte Sammlung von
M. Steffin starb im Friihsommer 1941 in Moskau.
Brechts Gedichten.
62
Helmut Motekat
deplacierten »Fremdkorpern«. Allzusehr hebt sich vor allem das Gedicht
»Appell der Laster und Tugenden«, das »in Stockholm kursiert ist« und das
Kalle sich abgeschrieben hat und im Verlauf des V III. Gespråchs vorliest,22
von der Unmittelbarkeit ab, in der die beiden Fliichtlinge Erfahrungen, Ge­
danken, Einsichten und Uberzeugungen austauschen. Die Laster und Tu­
genden treten als allegorische Gestalten auf. Schon der Wortlaut des einleitenden Abschnitts erweist die Wirklichkeitsferne des »Gedichts« ebenso
deutlich wie seine vergleichsweise geringe Wirkung: »Bei der Soirée der
Unterdriickung, die neulich stattfand, traten unter Posaunentuschen gewisse
Prominente auf und bezeugten ihre Verbundenheit mit den Machthabern.«23
Die Verhaltensweisen der »Tugenden« und »Laster« bei ihrem Auftritt und
die Attribute, mit denen ihre Furchtbarkeit bezeichnet sein soli, wirken
unklar und kaum iiberzeugend. So etwa, wenn »die Rachsucht aufgemacht
und frisiert wie das Gewissen« erscheint (wie ist das Gewissen aufgemacht?),
wenn »die Roheit« sich dadurch ausweisen soli, dass sie »hilflos um sich
blickend« auf der Plattform ausgleitet und dann »im Zorn so auf den Boden
stampfte, dass ein Loch entstand« (ist damit das Wesen der Roheit tatsåchlich demonstriert?), oder wenn »der Bildungshass« ausgerechnet »die
Unwissenden« beschwort, »die Last der Erkenntnis abzuwerfen« (ist diese
Aufforderung nicht doch an die falsche Adresse gerichtet? oder welche
»Last der Erkenntnis« bedriickt »die Unwissenden«?). Allegorische Dichtung
war nicht die Stårke Brechts. Dass er einen schlecht gelungenen Versuch in
ein sonst vollendet konsequentes Werk dialektischer Wirlichkeitsbehandlung
einfiigte, ohne die Widerspriiche innerhalb des »Gedichts« und seine geringe
Uberzeugungskraft zu erkennen, wåre allenfalls damit zu erklåren, dass der
verståndliche Hass des Emigranten nicht nur des Hassenden Ziige verzerrt
(»An die Nachgeborenen«), sondern unter Umstånden sogar die Vergleiche,
die das Objekt des Hasses charakterisieren sollen. Es mag iibrigens nicht
ohne Interesse sein, dass die missratene Allegorie »Appell der Laster und
Tugenden« einem Vorbild nachgearbeitet ist, das Brecht selbst 1938 als
Beispiel fiir die »Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise« nicht nur
im Originaltext zitierte, sondern auch ins Deutsche iibersetzte: Percy B.
Shelleys Ballade »Der Maskenzug der Anarchie« (1819).24 Es ist eine von der
23. Fl.-Gespr., S. 79.
24. Der Aufsatz »Weite und Vielfaldt der realistischen Schreibweise«, hier zitiert nach
»Versuche«, H. 13, in der Ausgabe des »Aufbau-Verlags«, Berlin, entstand 1938. Brecht
merkt 1956 zu dieser Drucklegung seines Aufsatzes an, dass er Shelleys Ballade als
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
63
Brechtforschung långst erwiesene Tatsache, dass Brechts bedeutendste dichterische Leistungen sich in seiner ganz personlichen Auseinandersetzung mit
den Werken anderer Dichter ergaben: mit Christopher Marlowes »Edward
II.«, mit John Gays »The Beggar’s Opera« u. a. mehr. Die Auseinanderset­
zung mit Shelleys Ballade hat dagegen eine eigene Meisterschaft in der
Nach— bzw. Neugestaltung durch B. Brecht nicht bewirkt.
Sieht man von derartigen Fehlgriffen (von denen man annehmen darf,
dass Brecht sie bei einer Bearbeitung des Manuskripts fiir die Publikation
erkannt und beseitigt hatte) ab, so erweisen sich die »Fluchtlingsgespråche«
als das Lehrbuch der Dialektik Brechts schlechthin. Dialektisch ist jedes
Gespråch fiir sich angelegt und im Fiir und Wider seiner jeweiligen Erorterung von Thema und Gegenstand durchgefiihrt. Dialektisch ist nicht weniger
die Abfolge der Gespråche und ihrer Anordnung insgesamt. Dass Hegel als
der geistige Vater der dialektischen Philosophie ebenso erortert wird wie
seine marxistische Interpretation, gehort zum Wesen dieses durch und durch
dialektischen Werkes genau so wie die Erkenntnis, die Ziffel am Schluss des
X I. Gespråchs ausspricht: »Die beste Schul fiir Dialektik ist die Emigration.
Die schårfsten Dialektiker sind die Fliichtlinge. Sie sind Fliichtlinge infolge
von Verånderungen und sie studieren nichts als Verånderungen. Aus den
kleinsten Anzeichen schliessen sie auf die grossten Vorkommnisse, d. h.
wenn sie Verstand haben. Wenn ihre Gegner siegen, rechnen sie aus, wieviel
der Sieg gekostet hat, und fiir die Widerspriiche haben sie ein feines
Auge. . .« 25
Ein Musterbeispiel fiir die Dialektik der Gespråchsftihrung bilden die
beiden letzten Gespråche: Die »Regieanweisung« zu Beginn des vorletzten
(X V II.) Gespråchs macht Ziffels verzweifelten Ausbruch: »Kalle, Kalle, was
sollen wir armen Menschen machen?« psychologisch verståndlich: »Der
Herbst kam mit Regen und Kålte. Das liebliche Frankreich lag am Boden.
Die Volker verkrochen sich unter die Erde. Ziffel sass im Bahnhofsrestaurant
von H. und schnipfelte eine Brotmarke von seiner Brotkarte.« Ziffels
Charakteristik des gegenwårtigen Zustandes der Welt und ihrer Zukunft
Vorbild fiir sein Gedicht »Freiheit und Democracy« benutzte. Dieses lange und wenig
objektive Gedicht (vgl. B. Brecht: Hundert Gedichte. 1918-1950, Berlin, Aufbau-Verlag,
1962, S. 93-99) zeigt, dass der Hass auch noch nach dem Ende des Naziregimes —
jetzt gegen die westliche Demokratie gerichtet — die Ziige der Wirklichkeit in Brechts
Blick verzerrte.
25. Fl.-Gespr., S. 112.
64
Helmut Motekat
summiert sich in den Såtzen: »Die Welt wird ein Aufenthaltsort fiir Heroen,
wo sollen wir da hin? Eine Zeit lang hats ausgesehn, als ob die Welt bewohnbar werden konnt, ein Aufatmen ist durch die Menschen gegangen.
Das Leben ist leichter geworden. Der Webstuhl, die Dampfmaschine, das
Auto, das Flugzeug, die Chirurgie, die Elektrizitåt, das Radio, das Pyramidon
kam und der Mensch konnte fauler, feiger, wehleidiger, genusssuchtiger, kurz
gliicklicher sein. Die ganze Maschinerie diente dazu, dass jeder alles tun kon­
nen sollte. Man rechnete mit ganz gewohnlichen Leuten in Mittelgrosse. Was
ist aus dieser hoffnungsvollen Entwicklung geworden? . . . Ich sage Ihnen, ich
habe es satt, tugendhaft zu sein, weil nichts klappt, entsagungsvoll, weil ein
unnotiger Mangel herrscht, fleissig wie eine Biene, weil es an Organisation
fehlt, tapfer, weil mein Regime mich in Kriege verwickelt. Kalle, Mensch,
Freund, ich habe alle Tugenden satt und weigere mich, ein Held zu
werden.«26
Im letzten (X V III.) Gespråch nimmt Kalle in seinem Schlusswort Ziffels
»ergreifenden Appell von neulich« auf. Er sagt, dass Ziffel ihm zu verstehen
gegeben habe, dass er ein Land suche, in dem »ein solcher Zustand herrscht,
dass solche anstrengenden Tugenden wie Vaterlandsliebe, Freiheitsdurst,
Giite, Selbstlosigkeit so wenig notig sind wie Scheissen auf die Heimat,
Knechtseligkeit, Roheit und Egoismus.«27 Kalle beschliesst seine Zusammenfassung der Zustandsschilderung des von Ziffel gesuchten Landes mit der
von Ziffel verståndlicherweise als »Uberraschende Wendung« empfundenen
Behauptung: »Ein solcher Zustand ist der Sozialismus.« Damit ist, die in der
dialektischen Erorterung der verschiedenen Staatsformen (der Vereinigten
Staaten, Frankreichs, der Schweiz) und ihrer Mångel in den vorhergehenden
Gespråchen gewonnenen Erkenntnisse verwendend, das Ziel, das verwirklicht
26. Fl.-Gespr., S. 159/160.
27. Dass dieses Wunschbild Brechts von einem Land mit menschlichen Lebensbedingungen
nicht erst als die Folge der nazistischen Gewaltherreschaft zu verstehen ist, und dass es
ihm schon vor seiner Wendung zum Kommunismus vorschwebte, erweist seine Anfang
der zwanziger Jahre entstandene »Ballade von den Abenteurern« (Bertolt Brechts Hauspostille. Bd. 4 der Bibliothek Suhrkamp, S. 75):
». . . Er aber sucht noch in absinthenen Meeren,
Wenn ihn schon seine Mutter vergisst
Grinsend und fluchend und nicht ohne Zahren
Immer das Land, wo es besser zu leben ist.«
Bertolt Brechts » Fluchtlingsgespråche«
65
werden soli, klar bezeichnet. Dieses Ziel zu erreichen, wird »allerhand notig
sein«. Nicht zuletzt eben jene Tugenden und Eigenschaften, die Ziffel
abgelehnt hatte: »Die åusserste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die
grosste Selbstlosigkeit und der grosste Egoismus«. Nur eben mit dem erst
durch die Dialektik erkennbar gewordenen Unterschied der Ziele.
Es war ein von Anfang an Brechts Personlichkeit eigentiimlicher Zug,
dass er die Wirkung der bewussten Lehre hoher zu schåtzen geneigt war, als
die der verstandesmåssiger Lenkung sich entziehenden Wirkungen der
Kunst. Die Entwicklung der Verhåltnisse seit 1933 beståtigte seine Auffassung. Er sah in ihr die Aufforderung, die Kunst dazu zu verwenden, die
Wahrheit als Waffe handhabbar zu machen. Anlage und Durchfiihrung,
Themen und Argumentation sweisen der »Fluchtlingsgespråche« sind ein in
seiner Meisterschaft einzigartiges Lehrbeispiel fiir die praktische Anwendung
der Dialektik als »handha'obare Waffe« gegen den Faschismus und fiir den
Sozialismus. Sie dokumentieren das Talent des politischen Lehrers Bertolt
Brecht. Dennoch mochte es uns scheinen, dass die starke und nachdriickliche
Wirkung der »Fluchtlingsgespråche« (auch auf den nichtkommunistischen
Leser) nicht von ihrer beispielnaft dialektischen Anlage und Durchfiihrung
ausgeht, sondern von der in ihnen Sprache gewordenen menschlichen Not
der Fliichtlinge. Sie spricht uns kaum an in der Argumentation des Lehrers
Bertolt Brecht. Ihr Aufschrei erklingt durchdringend und erschiitternd im
Wort des Dichters Bertolt Brecht: »Kalle, Kalle, was sollen wir armen
Menschen machen? . . . wo sollen wir noch hin?« Dass die Not, der Schmerz,
die Qual des politischen Fliichtlings noch die meisterhaft abgezirkelte verstandesmåssige Beweisftihrung des Kenners und Konners der Dialektik iibertont, weil der Dialektiker den Dichter in Brecht nicht zum Verstummen zu
zwingen vermochte, verleiht den »Fliichtlingsgespråchen« ihre iiber das
Lehrstiickgemåsse hinausreichende Bedeutung als Dokumentation menschlicher Existenz in den
»Zeiten, wo
ein Gespråch iiber Båum e fast ein Verbrechen ist,
W eil es ein Schweigen iiber so viele U ntaten einschliesst.«28
28. B. Brecht: »An die Nachgeborenen«. Zitiert nach: Bertolt Brechts Gedichte und Lieder.
Bibliothek Suhrkamp, Bd. 33 (1962), S. 158. t)ber die Fluchtlingsgespråche vgl. die Arbeit
von Ernst Schumacher: Bertolt Brechts »Fluchtlingsgespråche«. In »Geist und Zeit«, Heft 3
(1961), S. 89-97.