Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
Franziska Metzger, Elke Pahud de Mortanges (Hg.)
Orte und Räume des Religiösen
im 19.–21. Jahrhundert
Franziska Metzger, Elke Pahud de Mortanges (Hg.)
Orte und Räume des Religiösen
im 19.–21. Jahrhundert
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung:
Salvador Dalí „Simulacrum of the feigned Image“, © Salvador Dalí,
Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2015.
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vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.
© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-77930-4
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
7
GESTALTETE ORTE UND RÄUME DES RELIGIÖSEN
Stefan Laube
Umgebung und Konversion
Von raumgreifenden Kunstwerken und ihren sakralen Potenzen
11
Ilonka Czerny
Orte für Kunst als Sakralräume – Sakralräume als Orte der Kunst
39
Jürgen Mohn
Inszenierte Sinnsysteme – Gärten als Heterotopien in der
europäischen Religionsgeschichte
55
David Neuhold/Leopold Neuhold
Fussball und Raum – «Vergöttlichung»
unter geraden Linien und schrägen Bedingungen
79
Mariano Delgado
Mission im Zeitalter der Religionsfreiheit
99
IMAGINIERTE RÄUME DES RELIGIÖSEN
Dimiter Daphinoff
Sakraler Raum, Erinnerungsraum und das Ringen um Deutungshoheit
T.S. Eliots Murder in the Cathedral und G.B. Shaws Saint Joan
121
Joachim Valentin
Spiegel, Reisen, Klänge
Jim Jarmuschs Filme eröffnen Räume jenseits der Alltagsrealität
133
Franziska Metzger
Apokalyptische Erwartungs- und Erinnerungsräume als narrative
und visuelle Heterotopien
147
Christopher Partridge
Fandom, Pop Devotion, and the Transfiguration of Dead Celebrities
169
5
INHALTSVERZEICHNIS
INSZENIERTE KÖRPER ALS ORTE DES RELIGIÖSEN
Yvonne Maria Werner
Liturgie und Männlichkeit in der katholischen Mission in Skandinavien
187
Irene Ulrich
Der heilige Sebastian: vom christlichen Märtyrer zur homosexuellen
Utopie
207
Elke Pahud de Mortanges
«Be a somebody with a body»
Christus-Heterotopien in Kunst und Kommerz des 20. und 21.
Jahrhunderts am Beispiel von Andy Warhol, Joseph Beuys und
Conchita Wurst
223
ANHANG
Autorenporträts
249
6
Einleitung
Wo wohnt Religion und das Religiöse in der Moderne? Gibt es da überhaupt
noch Orte und Räume des Religiösen? Und wenn ja – wo sind diese zu suchen? Waren sich nicht Historiker wie Sozialwissenschaftler lange Zeit einig,
dass Religion und Religiöses in der Moderne zusehends säkularisiert und privatisiert wurden und sich im Status des Verschwindens befinden? Auch wenn
diese Säkularisierungsthese sich angesichts des offenkundigen revivals der
Religionen in der (post)modernen Gesellschaft mittlerweile selber als «moderner Mythos» (Detlef Pollack) entlarvt hat, hat sie dennoch einen wahren
Kern. Es stimmt: die traditionellen Orte der Religion und des Religiösen – wie
Kirchen und Kathedralen – entleeren sich zunehmend.
Dafür entstehen andere Kathedralen und Kirchen. Die «Kathdralen der Moderne» heissen Museum und Fussballstadion, ihre Ikonen sind Künstler und
Fussballer. Seien wir präzise: In den Kathedralen der Moderne findet kein
Selbstvollzug von Religion und Religiösem statt, denn Kunst und Fussball –
als Beispiel – verstehen sich gemäss ihrem Selbstverständnis gerade nicht als
religiös. Sie sind aber faktisch eine Art «Religion im Erbe» im Sinne eines
Transfers. In ihnen und durch sie werden Prozesse der Aneignung, Konversion
und Transformation in Gang gesetzt. «Das moderne Kunstmuseum ist (…)
nicht ein Friedhof, sondern (…) eine Kirche der Dinge. Dort erleben sie ihre
Umkehr, ihre Neugeburt, ihre Parusie» (Boris Greuys).
Durch Re-Produktion religiös-christlicher Zeichensysteme und Symbolwelten, Codes und Deutungsmuster werden (neue) SehnsuchtsOrte und SehnsuchtsRäume des Religiösen geschaffen. Solche Orte lassen sich in Michel
Foucaults Begrifflichkeit als Heterotopien bezeichnen, als radikal andere, jedoch diesseitige Räume (Le corps utopique, les hétérotopies, 1967, erstmals
publiziert 1984). Der vorliegende Band, an dem Theologen und Religionswissenschaftler, Kirchen- und Religionshistoriker, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler mitgearbeitet haben, stellt solche diesseitigen Räume in drei
Dimensionen vor. Erstens als reale, gestaltete Orte und Räume wie Museen,
Gärten, Fussballstadien oder Kirchenräume, die zu variablen Vollzugsräumen
des Religiös-Sakralen werden (können). Zweitens als durch literarische Texte
und visuelle Artefakte imaginierte Räume, die Transzendenzen im Diesseits
eröffnen und damit tradierte Jenseitsvorstellungen fortschreiben, umdeuten
und dekonstruieren (können). Drittens als inszenierte Körper, die im Aufbrechen traditioneller Körperbilder und Körperidentitäten ebenfalls zum Vollzugsraum des Religiös-Sakralen werden (können). Zeitlich umfasst der Band
das frühe 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, wobei der Fokus auf religiöschristlichen bzw. post-christlichen Narrativen, Symbolen und Handlungsmodi
liegt.
7
EINLEITUNG
Dass der Band in der vorliegenden Form entstehen konnte, verdanken wir in ganz
besonderer Weise Frau Eveline Spicher, die äusserst kompetent und mit grosser
Beharrlichkeit und Sorgfalt den ganzen Prozess der Layoutierung für uns besorgt
hat. Dem Fonds d’action facultaire der Philosophischen Fakultät der Universität
Fribourg und dem Forschungsfonds der Universität Fribourg danken wir für die
finanzielle Unterstützung, dem Verlag Ferdinand Schöningh für die freundliche
Aufnahme ins Verlagsprogramm.
Elke Pahud de Mortanges und Franziska Metzger, September 2015
8
GESTALTETE ORTE UND RÄUME DES RELIGIÖSEN
STEFAN LAUBE
Umgebung und Konversion
Von raumgreifenden Kunstwerken und ihren sakralen Potenzen
Schon Martin Heidegger hat festgestellt, dass man es bei einem Kunstwerk
zunächst mit einem Ding zu tun hat, mit einem dreidimensionalen Objekt, das
den Raum ausfüllt. 1 Selbst als Flachware hat es eine bestimmte Höhe, Breite
und Tiefe, verfügt über Anfang und Ende. Seit es Museen gibt, seit «eine
Anhäufung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweilig oder endgültig dem Lauf der wirtschaftlichen Aktivitäten entzogen, einer speziellen
Obhut unterworfen und in einer hierfür eingerichteten Räumlichkeit ausgestellt sind» 2, stellt sich die Frage, auf welche Weise das Ausstellungsstück mit
seiner Umgebung interagiert. Dass Umgebungsfelder bei Exponaten Transformationen auslösen können, soll im folgenden Beitrag am Beispiel einer antiken Skulptur, eines expressionistischen Tafelbilds sowie eines Arrangements
der Installationskunst verdeutlicht werden. Dabei fällt durchweg auf, dass die
moderne, variierende Raumbezüge herstellende Ausstellungspraxis – ob nun
explizit oder implizit – mit sakralen Momenten hantiert.
Museale Objekte – wodurch zeichnen sie sich aus? Derartigen Dingen ist
eine Raumdimension konstitutiv eingeschrieben, da ihre Funktion nicht zuletzt
darin besteht, betrachtet zu werden. Im Unterschied zu Gebrauchs- und
Tauschgütern sind sie nicht nur durch ihre praktische Nutzlosigkeit und Unveräußerlichkeit gekennzeichnet, sondern auch dadurch, dass sie in einer besonders markierten Sphäre wahrgenommen werden. So manchem Museumsding ist ein Starkult inhärent. Sie verfügen über das gewisse Etwas, weil ihre
Materialität ausstrahlt, weil sie die sinnliche Wahrnehmung des Betrachters
unmittelbar ansprechen. Darüber hinaus scheint von Raumfassungen ein Sog
auszugehen, der die Dinge konvertiert, obwohl sie materialiter unverändert
bleiben. So hängt das Selbstverständnis einer Altartafel, wie z.B. der Sixtinischen Madonna, entscheidend davon ab, ob sie in der Kirche aufgestellt ist
oder in einem Museum an der Wand hängt. Der Doppelaspekt aus Formkonstanz und inhaltlicher Varianz, aus bleibender Gestalt und veränderlichem
Gehalt, ist bei Museumsdingen stets in Rechnung zu stellen, entsprechend
dem Diktum des französischen Abenteurers, Schriftstellers und Politikers
______________________________
1
2
«Das Bild hängt an der Wand wie ein Jagdgewehr oder ein Hut.» Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 2003 [zuerst 1960], S. 3.
Krysztof Pomian, Sammlungen – eine historische Typologie, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800,
Opladen 1994, S. 107–125, hier S. 107.
11
STEFAN LAUBE
André Malraux, der Mitte des 20. Jahrhunderts in seiner Abhandlung über das
‹Musée imaginaire› schrieb, dass ein romanischer Kruzifixus von vornherein
ebenso wenig eine Skulptur darstelle wie Duccios ‹Madonna› ein Bild.3
Das Museum erfüllt dann seine Funktion, wenn es Dingwelten konvertiert,
wenn es ein religiöses Ritualobjekt beispielsweise in ein Exemplar einer Kunstgattung verwandelt. In gewisser Weise kann man von einer ikonoklastischen
Praxis der Kuratoren sprechen, machen sie doch aus Kultgegenständen, aus
Ikonen der Religion, seriell-exponierte Kunst. 4 Als Kunstwerk beginnt für
derartige Objekte im Museum ein neues Leben. Von einem modernen Kunstmuseum als einer «Kirche der Dinge» spricht der Kunst- und Medientheoretiker
Boris Groys: «Das moderne Kunstmuseum ist also nicht ein Friedhof, sondern,
wenn man so will, eine Kirche der Dinge. Dort erleben sie ihre Umkehr, ihre
Neugeburt, ihre Parusie. Dort bekommen sie ihre Taufe – oder ihre Portion vampirischen Blutes –, die sie zu neuem, ewigen Leben erweckt.» 5
Gelangt ein Ding in ein Museum, so löst es beim Besucher Verhaltensweisen
und Gebärden aus, die man nicht anders als respektvoll, vielleicht auch als
verehrend beschreiben kann. Wie die Reliquie im Reliquiar, so scheint auch das
Museum die Dinge in einer Form zu präsentieren, welche sie andeutungsweise
als Adorationsobjekt erkennbar macht. 6 Es nimmt Objekte auf, die von nun an in
einem Raum des Unberührbaren oder Auratischen hinter Panzerglas verortet
sind, durch eine Alarmanlage geschützt. Für das museale Objekt gilt, dass die
Zeit, die den Gegenstand umgab, verschwindet und es stattdessen von der Zeitlosigkeit einer Vitrine umgeben ist.
Jedes gute Museum schöpft aus Originalen, aus Authentizität – die Dinge
drängen sich dem Besucher direkt auf –, dennoch erscheint das museale Innenleben als eine artifizielle Welt, in der die Devise ‹Alles sehen, nichts anfassen›
dominiert und die Beziehung, die die Besucher zu den Exponaten entwickeln,
zumeist durch das Auge hergestellt wird. Oft ist es die Umgebung, die räumliche Einfassung, die die transzendente Dimension der Kunst rettet. Dieser künstliche Rahmen besteht aus einer bestimmten Innenarchitektur, aus Vitrinen, Sockeln, Schrifttafeln, Beleuchtungskörpern, Stellwänden, Texttafeln etc. Während man in der ‹wirklichen Welt› die Gegenstände berühren und beschädigen
kann, wird in der synthetischen Welt der Ausstellung jede Normverletzung –
Schreie, Laufen und abrupte emotionale Gesten – durch strenges Aufsichtsper______________________________
3
4
5
6
André Malraux, Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum. Aus dem Französischen
übertragen von Jan Lauts, Baden-Baden 1947, S. 6.
Boris Groys, The Curator as Iconoclast, in: Steven Rand/Heather Kouris (Hg.), Cautionary
Tales: Critical Curating, New York 2007, S. 46–55.
Boris Groys, Das Museum im Zeitalter der Medien, in: ders., Logik der Sammlung: Am Ende
des musealen Zeitalters. Essays, München 1997, S. 9.
Siehe Stephen Bann, Shrines, Curiosities, and the Rhetoric of Display, in: Lynn Cooke/Peter
Wollen (Hg.), Visual Display. Culture beyond Appearances, Seattle 1995, S. 14–29; KarlJosef Pazzini, Museum als Reliquienhort, in: ders., Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse II, Wien 2003, S. 76–96.
12
UMGEBUNG UND KONVERSION
sonal geahndet. Der Disziplinierungsaufwand in Museen scheint mittlererweile
höher zu sein als wenn man sich in Kirchen aufhält, wie jüngst Wolfgang
Ullrich bemerkt hat: «Sie dürfen nichts berühren, sollen höchstens flüstern,
langsam gehen, sich vorsichtig bewegen. Sie müssen ihre eigene Präsenz minimieren, um die Gegenwart der Werke nicht zu beeinträchtigen. Auf den Bänken
vor den Werken sollen sie sich in Andacht üben. Und während man in Kirchen
früher sogar gegessen oder Handel getrieben hat, muss man in Museen das
eigene Hab und Gut an der Garderobe abgeben.»7
An drei geschichtlichen Beispielen soll das Wirkungsfeld von raumgreifender Kunst und religiösem Bedeutungspotenzial beleuchtet werden. Im Jahre
1830 gelangte eine antike Bronzefigur in entrückter Pose in das neue von
Friedrich Schinkel errichtete Museum in Berlin und damit in ein architektonisches Gehäuse, das bis heute durch Tempelfront und Rotunde einen sakralen
Akzent im Stadtbild setzt. 8 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren
sakral anmutende Raumordnungen modern, die Schreine der Kunst umgaben,
denen sich der Betrachter in ritualisierter Geste, d.h. im Glauben an die Idee
der Schönheit anzunähern hatte. Die Bedeutungszuschreibung der Bronzefigur
als ‹betender Knabe› sollte sich unter diesen Rahmenbedingungen zementieren. 1910 malte Emil Nolde ein Bild, das heute als Ikone der Klassischen Moderne in der Münchener Pinakothek der Moderne ausgestellt ist. Beim ‹Tanz
um das goldene Kalb› kommt es weniger auf den Ort seiner Hängung an, als
auf die dem Gemälde inhärenten Bildelemente und Materialitäten, die Transzendenz transportieren. Installationen der Land Art, wie Roberts Smithsons
Erdprojekte um 1970, sollten den bisherigen Ortsindex des Kunstwerks
revolutionieren. Während früher Kunst für das Museum gemacht wurde,
scheinen signifikante Strömungen zeitgenössischer Kunst – jede räumliche
Begrenzung als Zumutung empfindend – das Museum weit hinter sich zu
lassen. 9 Keineswegs an Bedeutung verloren haben hingegen Zitate aus religiösen Ritualen und Praktiken, um auf diese Weise die Kunst und ihre Präsentation zu kennzeichnen. Prämisse des Beitrags soll sein, dass in der Moderne sakrale Semantisierung und Exponierung der Kunst symbiotisch verbunden sind,
so aufgeklärt man dabei auch vorgehen mag.
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7
8
9
Wolfgang Ullrich, An die Kunst glauben, Berlin 2011, S. 9. Vgl. auch Gottfried Fliedl, Die
Zivilisierten vor den Vitrinen, in: Hans-Hermann Groppe/Frank Jürgensen (Hg.), Gegenstände der Fremdheit. Museale Grenzgänge, Marburg 1989, S. 22–41.
«Galerien als Kapellen der Kunst» bei James J. Sheehan, Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer bis zur modernen Sammlung, München 2002, S. 78–81.
Robert Smithson, Was ist ein Museum. Ein Dialog zwischen Allan Kaprow und Robert Smithson [1967f], in: Robert Smithson. Gesammelte Schriften, hg. von Eva Schmidt und Kai
Vöckler, Köln 2000, S. 207–214, hier S. 207.
13
STEFAN LAUBE
Der ‹betende Knabe› zwischen Kultwert und Ausstellungswert
Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts stießen Bauarbeiter an der Stadtmauer
von Rhodos auf eine bemerkenswerte Menschenfigur aus Bronze. 1503 wurde
das damals noch armlose Fragment nach Venedig gebracht. Das Fundstück war
so gekonnt gestaltet, dass es größte Bewunderung hervorrief. Von Anfang an
galt die Statue als ein Liebhaberstück, das eher durch erotische als durch religiöse Ausstrahlung bestach. 10 Das aus seinem ursprünglichen, vielleicht auch sakralen Kontext dekontextualisierte Ding machte von nun an als Ausstellungsstück
Karriere, wodurch sich um es ein säkularer Kult entwickeln konnte. Als begehrtes Sammlerstück in vermögenden Kreisen gelangte die Statue über Mantua,
London, Paris und Wien 1747 in den Besitz von Friedrich dem Großen, der sie
sogleich auf der Terrasse von Schloss Sanssouci aufstellte, was ihr die Wertschätzung bei all denjenigen sichern sollte, die im preußischen König ihr Vorbild sahen. 11 Heute ist dort eine Replik aufgestellt, während der originale
‹betende Knabe› im Alten Museum zu Berlin als prominent positionierte Skulptur – wie bereits im Jahr 1830 bei Eröffnung des Museums – den Besucher zu
begrüßen scheint.
Die sich in Konfrontation von materiellen Fragmenten schärfende Einbildungskraft, wie sie von Wilhelm von Humboldt nach seinem Besuch im Musée des Petits Augustins von Alexandre Lenoir in Paris hervorgehoben wurde, 12 kann sich beim ‹betenden Knaben› besonders ausleben. Es gibt kaum eine Objektgattung, die die Imagination derartig stimuliert, wie Fundstücke der
Antike, zumal sie in der Regel ohne textuelle Vereindeutigung ans Tageslicht
treten. Die armlose Figur von Rhodos ohne Namensschild, ohne Attribute
stand jeder Bedeutungszuschreibung offen. Entsprechend sah man in ihr Apollo, Ganymed, Antinous, einen betenden Knaben, einen Athleten und so manches andere mehr.
______________________________
10
11
12
Während Kunstwerke in ihrer ursprünglichen Rolle als religiöse Kultobjekte nicht am Handel
partizipierten, stellte der ‹betende Knabe›, sobald er gefunden worden war, immer auch eine Investitionsgröße in einem Marktsystem dar. So rettete der Verkauf dieser Bronzefigur an Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts Wenzel von Liechtenstein aus Wien aus einer Geldverlegenheit. Vgl. Nele Hackländer, Der Betende Knabe – Eine Antike auf Wanderschaft, in: Der Betende Knabe. Original und Experiment, hg. von ders./Gerhard Zimmer. Antikensammlung. Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Frankfurt a. M. 1997, S. 25–35, hier S. 29.
Winckelmann erwähnt die Figur in seiner Geschichte der Kunst (1778, S. 546). Das Reiterstandbild Friedrichs des Großen Unter den Linden von Caspar David Rauch zeigt auf dessen nördlicher Langseite als Relief die Ankunft des Betenden Knaben vor dem neu erbauten
Schloss. Siehe allg. Thomas Fischbacher, Des Königs Knabe. Friedrich der Große und Antinous, Weimar 2011.
«Die Einbildungskraft heftet sich an ihnen [den Objekten] fest, (...) man lernt besser zu verstehen und verständig zusammenfügen was der todte Buchstabe der Geschichte nur unvollkommen und einzeln zu liefern vermag.» Wilhelm von Humboldt, Musée des Petits Augustins
[1799], in: ders., Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Werke in fünf Bänden, Bd. 1,
Darmstadt 1980, S. 519–552, hier S. 519f.
14
UMGEBUNG UND KONVERSION
viele der Objekte, die für kunst- und kulturgeschichtliche Sammlungen in Frage
kommen sollten, aus höfischen und geistlichen Funktionszusammenhängen gelöst und auf dem freien Markt verfügbar gemacht. In Privatsammlungen und
Museen zusammengetragen, in Katalogen zu Sachgruppen geordnet, stilhistorisch in Bezüge gebracht, die ihrer Entstehung unbekannt waren, standen sie nun
neuen symbolpolitischen, keinesfalls areligiösen Zuschreibungen offen. Auf der
einen Seite wurden heterogene Artefakte in Museen zu bloßen Dingen der Kunst
homogenisiert, auf der anderen Seite waren sie hier einem Wirkungsfeld ausgesetzt, der ihren Aufstieg zu säkularen Ikonen begünstigte.
Im ‹betenden Knaben› verdichten sich diese Stränge der Ding- und Museumspolitik in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Als Bestandteil napoleonischer Beutekunst wurde auch diese Figur 1806 aus den königlichen
Sammlungen entfernt und in Paris öffentlich ausgestellt. Von nun an war für
alle sichtbar, dass der ‹betende Knabe› nicht mehr ein privates Liebhaberstück
der Hocharistokratie war, sondern ein öffentliches Ausstellungsobjekt, an dem
sich jeder delektieren bzw. seine Bildung profilieren konnte. An einer Ausstellungskultur, die Belehrung und ästhetischen Genuss anstrebte und den gesellschaftlichen Interessentenkreis verbreitern wollte, führte von nun an kein Weg
mehr vorbei.
Als in Berlin im Jahre 1830 mit dem Königlichen Museum von Karl Friedrich Schinkel das erste öffentliche Museum seine Pforten öffnete, hielt auch
der mit dem siegreichen Befreiungskrieg längst wieder nach Berlin zurückgekehrte Bronzeknabe dort Einzug und zwar an herausgehobener Stelle. 16 Schinkel räumte ihm Platz ein im Nordsaal, der dem Eingang in die Rotunde direkt
gegenüberlag, so dass der Blick des eintretenden Museumsbesuchers sogleich
auf die Figur gelenkt wurde. Die Frage ist aufgeworfen, was vom ursprünglichen kultischen Handlungszusammenhang noch erlebbar ist – in einem Museum, d.h. in einem tausende von Kilometern entfernten künstlichen Ort, wo
kaum mehr passiert, als das Objekt auszustellen.
Walter Benjamin hat in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit von 1936 das Spannungsfeld zwischen Kultwert und Ausstellungswert skizziert. Früher waren Kunstwerke – so Benjamin
– Bestandteil eines religiösen Rituals gewesen, ihr kultischer Wert war einmalig und nicht reproduzierbar. Handelte es sich beim ‹betenden Knaben› um eine Götterfigur, so stand auch er «in einem anderen Traditionszusammenhange
bei den Griechen, die sie zum Gegenstand des Kultus machten,»17 als bei der
______________________________
16
17
Um die Gründung des Museums in Berlin entwickelten sich langwierige Streitigkeiten um die
Ausstellungskonzeption. Aloys Hirt, Professor für Kunsttheorie an der Akademie der Künste,
plädierte für das Museum als reine Lehranstalt, andere, wie Friedrich Schinkel, wollten aus
dem Museum eine Stätte des ästhetischen Genusses machen. Vgl. Christoph Martin Vogtherr,
Das Königliche Museum zu Berlin. Planungen und Konzeption des ersten Berliner Kunstmuseums, Berlin 1997; Volker Plagemann, Das deutsche Kunstmuseum 1790–1870. Lage, Baukörper, Raumorganisation, Bildprogramm, München 1967, S. 66–82;
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936],
Frankfurt a. M. 1977 [zuerst 1963], S. 16.
17
UMGEBUNG UND KONVERSION
Momenten verwoben. Erst die technische Reproduzierbarkeit setzt für Benjamin die entscheidende Zäsur. Bei jeder Reproduktion durch Fotografie und
Film werde die Aura des Kunstwerkes beeinträchtigt, wenn nicht gar vernichtet. 19 Das Kunstwerk wird zu einem Mitbringsel, im verkleinerten Maßstab
kann es in den eigenen vier Wänden auf einem Sideboard aufgestellt werden
oder es wandert abgedruckt in einem Kunstband ins Regal. Kurzum: Die technische Reproduktion des Kunstwerks «emanzipiert dieses zum ersten Mal in
der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual.» 20
Als der ‹betende Knabe› 1830 den Besucher beim Betreten der Rotunde mit
seinen erhobenen Armen willkommen hieß, ihn auf die Antikensammlung einstimmte, war dieses «parasitäre Dasein am Ritual» noch lebendig. Wie sah es
aus? Zunächst sind die Elemente des Erhabenen und Monumentalen anzuführen, die Schinkels Architektur transportierte. Beim Schinkel-Museum ist
der kleine Haupteingang ebenso unscheinbar wie die davor geblendete Kolonnade und die sich dahinter befindliche Rotunde weiträumig und beeindruckend
sind. Diese Rotunde, die das Pantheon und das Museo Pio-Clementino im Vatikan zitiert, kommt unerwartet und plötzlich, da man sie von außen kaum
wahrnehmen kann. Aloys Hirt, Professor an der Kunstakademie, konnte diesen sakralen Atmosphären nur wenig abgewinnen. Insbesondere kritisierte er
die Idee einer Rotunde, weil dieser überwältigende Raumtyp von den Kunstwerken ablenke. Schinkel entgegnete, sein Gebäude könne «eines würdigen
Mittelpunktes nicht entbehren.» Hier müsse «der Anblick eines schönen und
erhabenen Raums [den Besucher] empfänglich machen und eine Stimmung
geben für den Genuß und die Erkenntnis dessen, was das Gebäude überhaupt
bewahrt». 21 Für Schinkel galt die Rotunde als die Grundform religiöser Architektur. 22 Er setzte damit in Formen des Klassizismus Gedanken ästhetisch um,
was in der romantischen Kunstwahrnehmung gang und gäbe war. Das Museum wurde als «ästhetische Kirche» angesehen. 23 Wilhelm H. Wackenroder, in
______________________________
19
20
21
22
23
Die neuere Forschung hat herausgestellt, dass zwischen Kultwert und technischer Reproduktion kein Gegensatz besteht, sondern eine komplementäre Beziehung, die sich gegenseitig befördert. Siehe Boris Groys, Die Topologie der Aura. Über Original, Kopie und einen berühmten Begriff von Walter Benjamin, in: Neue Rundschau, 113 (2002), S. 84–94; Tatjana Bartsch/Marcus Becker/Horst Bredekamp/Charlotte Schreiter (Hg.), Das Originale der Kopie.
Kopien als Produkte und Medien der Transformation von Antike, Berlin 2010. Schon im
19. Jahrhundert entwickelte sich der ‹betende Knabe› zu einem beliebten Reproduktionsobjekt. Nicht wenige wollten eine Figur ihr eigen nennen, das durch seinen herausragenden
Standort im Museum, gepaart mit seiner Provenienz als Liebhaberstück Friedrichs des Großen geadelt war. Auf diese Weise konnte die Prominenz des Objekts verstärkt werden, was
wiederum der auratischen Wirkung des Originals im Museum zugute kam.
Benjamin, Kunstwerk (wie Anm. 17), S. 17. An die Stelle des Rituals tritt die Ausrichtung
des Kunstwerks auf die Praxis der Politik.
Aus Schinkels Nachlaß: Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen, hg. von Alfred von
Wolzogen, Bd. 3, Berlin 1863, S. 245.
Friedrich Schinkel, Das architektonische Lehrbuch, hg. von Goerd Peschken, München 1979,
S. 33. Vgl. auch Sheehan, Kunstmuseen (wie Anm. 8), S. 121f.
So Friedrich Hölderlin in einem Brief an seinen Bruder [1799], aus: Sämtliche Werke, Bd. 3,
hg. von Norbert von Hellingrath/Ludwig von Pigenot, Berlin 1923, S. 403.
19
STEFAN LAUBE
die Rolle eines «kunstliebenden Klosterbruders» schlüpfend und den Kunstgenuss mit einem Gebet vergleichend, 24 hatte Ende des 18. Jahrhunderts die
Saat einer Kunstreligion gesetzt, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fruchtbare Blüten treiben sollte. Friedrich Schleiermacher, Schöpfer
des Begriffs «Kunstreligion», bestimmte die Religion in seinen Reden über die
Religion (1799) als «Sinn und Geschmack fürs Unendliche» und stellte sie
damit in die Nachbarschaft der Ästhetik. 25 Umgekehrt hat es die Kunst über
das Ästhetische hinaus immer auch mit dem Heiligen zu tun, kann doch im
Rahmen der Autonomie-Ästhetik das Schöne dem Numinosen angeglichen
werden. In der Zeit der Analogiebildungen zwischen den Reichen von Religion und Kunst sollten Fürsten Kunstwerke öffentlich zugänglich machen – vom
Fridericianum in Kassel (schon 1779) über die Glyptothek (1816–30) in München bis zu Schinkels Museum in Berlin (1823–1830). Es ging darum, durch
Schönheit die Bildung der Nation zu befördern. Meist an Sonn- und Feiertagen begab man sich in andächtiger Stille in das Museum, wo sich Kunst im
sakralen Modus Ausdruck verschaffte. Kunstwerke stellten für die Besucher
Medien dar, um Tiefe, Transzendenz, Unendlich- und Ewigkeit zu spüren. Eine erhabene Sphäre des Schönen, Wahren, Guten und Heiligen – ebenso entrückt wie irdisch zugänglich – konstituierte sich.
Kurz bevor der ‹betende Knabe› in Schinkels Museum seine Aufstellung
fand, stellte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die
Ästhetik an der direkt benachbarten Universität die griechische Skulptur auf
das Podest. In der klassischen Kunst, in der antiken Skulptur sah er das Ideal
der Schönheit tatsächlich verwirklicht. Damit war der Höhepunkt dessen erreicht, was dem Schönen möglich ist: «Schöneres kann nicht sein und werden.» 26 Hegel ging von der Prämisse aus, dass die Kunst der Antike den Ausdruck des absoluten Geistes, der absoluten Wahrheit am vollkommensten verkörpert. Hier sind nicht nur Ästhetik, sondern auch Religion tangiert, allerdings in Form aufgeklärter Spiritualität. Dass man als Betrachter eines Madonnenbildnisses im Museum nicht mehr die Kniee zu beugen bräuchte, bestimmte der Philosoph als entscheidende Qualität der modernen Kunstrezep-
______________________________
24
25
26
Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [gemeinsam mit Ludwig Tieck, 1797], aus: ders., Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische
Ausgabe, hg. von Silveo Vetta/Richard Littlejohns, Bd. 1, Heidelberg 1991, S. 51–147, hier
S. 106; bekannt geworden sind rückblickenden Zitate des Sakralen Johann Wolfgang Goethes,
als er als junger Mann die Dresdner Gemäldegalerie besuchte: Aus meinem Leben. Dichtung
und Wahrheit, Bd. 2, Achtes Buch, Frankfurt am Main 1982 (Insel-Ausgabe), S. 358.
Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion [1799], hg. von Rudolf Otto, Göttingen
1967, S. 53.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II (Werke 14), Frankfurt am
Main 1984, S. 128.
20
UMGEBUNG UND KONVERSION
Abb. 4: Kunst und Religion vereinigt,
Blick in die Kolonnade des Alten Museums Richtung Osten,
rechts die Kuppel des Berliner Doms, Fotografie um 1915,
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz
tion. 27 Das Museum schien die Kirche zu ersetzen. Der museale Akt der
Dingsetzung stellte eine Pendelbewegung in Richtung Sakralität dar, die die
durch Aufklärung und Revolution bewirkte säkulare Freisetzung der Dinge
ausglich.
______________________________
27
Siehe dazu aus heutiger Sicht: Karl-Heinz Kohl, Sakrale Objekte im Museum, in: Udo Liebelt/Folker Metzger (Hg.), Vom Geist der Dinge. Das Museum als Forum für Ethik und Religion, Bielefeld 2005, S. 29–39; Peter J. Bräunlein (Hg.), Religion und Museum. Zur visuellen
Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004; Rosmarie Beier-deHaan, Erinnerung und Religion im Museum, in: Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002, S. 229–241. Vgl. auch Stefan
Rhein, Konfession und Museum. Ein Versuch, in: Guido Meyer/Harald Schwillus (Hg.),
Wallfahrt ins Museum? Die Kommunikation von Religion und Museum Mit Blick auf die
Besucherinnen und Besucher, Berlin 2013, S. 127–151.
21
STEFAN LAUBE
Die Bildfläche als evokativer Tiefenraum
Szenenwechsel in das Jahr 1921: In der Lübecker Katharinenkirche wurde im
Rahmen einer Ausstellung ein Bild aufgehängt, das zur puristisch-asketischen
Atmosphäre einer mittelalterlichen Klosterkirche einen eigentümlichen Kontrast setzte. Das Bild zeigte mit opulentem Farbauftrag Menschen in eigenwilligen Tanzbewegungen. 1910 hatte sich Emil Nolde mit dem ‹Tanz ums Goldene Kalb› ein Sujet aus dem Alten Testament vorgenommen. Dieses Bild –
«das inhaltlich ungehemmteste und formal kühnste» 28 seiner religiösen Bilder
– visualisiert prägnant das Rauschhafte, Entfesselte und Erotische ritueller
Tänze. Vor dem goldenen Standbild des Stieres wirbeln in stampfendem Takt
vier halbnackte Tänzerinnen – goldleibig mit roten Haaren, violettleibig mit
blaugrünem Haar. Die extreme Stimmung des Themas spiegelt sich in äußerst
kontrastreicher Farbgestaltung. Die unwirkliche Momentaufnahme lebt aus
der Konfrontation kräftiger komplementärer Farben. Nolde löst sich allmählich von der reproduktiven Funktion des Farbauftrags. Farben gewinnen darstellerische Selbständigkeit und suggestive Kraft, so dass das Bild zum Spiegelbild seiner Empfindungen werden kann. 29
Die Geschichte um das Goldene Kalb ist bekannt. Die Israeliten hatten
Ägypten verlassen. Während Moses auf dem Berg Sinai die zehn Gebote erhielt, schufen seine Leute ein Götzenbild. Fetischpraktiken, also Verehrungsformen, die aus bildhaft gestalteter Materie erwachsen, sind in zahlreichen Religionen verbreitet. Global und anthropologisch betrachtet speist sich Religion
aus Bildern und Dingen, die unmittelbar und spontan wahrgenommen werden.
Religion als Praxis, die sich auf etwas bezieht, was unsichtbar bleibt, entwickelt ein besonderes Bedürfnis nach sinnlich wahrnehmbaren Mittlern, nach
körperlichen Objekten, an denen sich eine Reflexion über Heiliges entzünden
kann. Drei Jahre vor Entstehung des Nolde-Gemäldes hatte Rainer Maria Rilke Gottes- und Dingerfahrung direkt in Beziehung gesetzt: «Dinge. Indem ich
das ausspreche (hören Sie?) entsteht eine Stille; die Stille, die um die Dinge
ist. Alle Bewegung legt sich, wird Kontur, und aus vergangener und künftiger
Zeit schließt sich ein Dauerndes: der Raum, die große Beruhigung der zu
nichts gedrängten Dinge. (...) Denn vielleicht waren die frühesten Götterbilder
Anwendungen dieser Erfahrungen, Versuche, aus Menschlichem und Tierischem, das man sah, ein Nicht-Sterbendes zu formen, ein Dauerndes, ein
Nächsthöheres: ein Ding.» 30
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29
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Werner Haftmann, Emil Nolde, Köln 21959, S. 52.
Die Dogmatik der Theologie sollte die Darstellung derartiger Akzente bis ins 20. Jahrhundert
hinein verhindern. Im naiv-realistischen Stil dominierten idealisierte Szenen.
Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin, 2. Teil [1907], Leipzig 1913, S. 77, 79.
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STEFAN LAUBE
prägung als ein Zeitalter menschlicher Ohnmacht gegenüber einer sinnlich
nicht mehr verfügbaren Objektwelt beschrieben werden. 32 Durch Tempo, wie
bei der Motorisierung, durch Höhe wie beim Eiffelturm, wurde die Selbstversicherung im Sichtbaren immer fragiler. Auf der anderen Seite wurde die
Massengesellschaft von reproduzierten Abbildungen überschwemmt. Für
Künstler zeigte sich immer deutlicher: Das Abbilden konnte nicht mehr nicht
die dominante Mensch-Ding-Beziehung sein. In der Nachahmung der Wirklichkeit schien die Bildende Kunst der Fotografie hoffnungslos unterlegen.
Künstler antworteten darauf mit Bildern, die sie zu einem autonomen Gefüge gestalteten. In Abgrenzung zum Realismus, der gegen die idealistische Tradition des Guten, Wahren, Schönen die Realität so darstellte, wie sie angeblich
wirklich war, und zum Impressionismus, der die Phänomene allein im Seheindruck des Auges, in Licht und Farbe wahrgenommen hatte, stärkten Künstler
des so genannten Expressionismus wie nie zuvor auf dem Geviert des Keilrahmens die reinen Bildelemente. 33 Die antinaturalistischen, aber immer noch
gegenständlichen Bilder leben vor allem von der absoluten, klaren, intensivierten, pastosen Farbe, die sich nicht darauf beschränkt, bloß zu illustrieren. Die
fulminant einschlagende Dissertation des jungen Kunsthistorikers Wilhelm
Worringer (Abstraktion und Einfühlung, 1907) flankierte den radikalen Kurswechsel in der Kunst intellektuell. Der Typus einer abstrahierenden Kunst
wurde bis in die Frühgeschichte verfolgt und in Beziehung zur Transzendenz
der gotischen Ausdruckswelt gesetzt. In dieser Dissertation fand der sich formierende Expressionismus nicht nur seine wissenschaftliche Legitimation, zugleich wurden die Kunstdiskussion und das Rezeptionsverhalten in eine spirituelle und psychologische Richtung gelenkt. 34 Die Bildende Kunst hatte von
nun an ein großes Interesse an der Hinwendung zum Geistigen als «Prinzip
der inneren Notwendigkeit», wie es Kandinsky 1911 in seiner Programmschrift Über das Geistige in der Kunst formulierte. Befreit von der normativen
Verpflichtung, nur abzubilden, fühlten sich die Künstler berechtigt, aus geistigem, innerem Erleben zu schöpfen. Während unter den sich auftürmenden
Abstraktionswellen aus Wissenschaft und Technik die Dinge schwanden,
führte in der zeitgenössischen Kunst die Verflüchtigung der Dinge zum Abbau
der mimetischen Referenzen. Zugleich konnte sich mit der Materialität der
Bild tragenden Elemente auch eine geistige Entität, ein transzendenter Weltbezug herausschälen. Für Methoden des Bildillusionismus, für Erscheinungsweisen der Oberflächen, die der Impressionismus in noch nie dagewesener
Differenziertheit zur Darstellung brachte, zeigten die neuen ausdrucksstarken
Maler kein Interesse mehr. Sie strebten nach dem Wesen der Dinge und fan______________________________
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33
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Vgl. Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen – Das langsame Verschwinden der Materie um
1900, Gießen 1989.
Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1914. Bd I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 698–715.
Claudia Öhlschläger, Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne,
München 2005.
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UMGEBUNG UND KONVERSION
den es nicht zuletzt in den Tiefen ihrer seelischen Empfindung. Es ging fortan
nicht mehr darum, Natur zu reproduzieren, sondern Verborgenes durch die
Kunst sichtbar zu machen. Aufgabe der Kunst war nicht mehr, das Sichtbare
wiederzugeben, sondern sichtbar zu machen (Paul Klee).
Auch Noldes Schaffen erschöpfte sich nicht darin, Sichtbares zu reproduzieren. Kategorien der bildlichen Darstellung – Linie, Form, Farbe, Licht und
Raum –, die seit der Renaissance auf Reproduktion des Sichtbaren eingestellt
worden waren, baute Nolde radikal um, um auf diese Weise dem Bild eine
evokative Wirkung aufzuprägen.35 Es entstand ein virtuoses Spiel zwischen
vordergründiger Sichtbarkeit und hintergründiger Wirklichkeit. Die neuen
Künstler schienen aus dem Nichts eine Konfiguration zu schaffen, die den
Betrachter in seinen Bann zog. In der romantischen Gewissheit, mit der Welt
und den Phänomenen der Natur zu einer Einheit zu verschmelzen, kam so etwas
wie ein Schöpfungsmythos zur Darstellung. Nolde sehnte sich danach, in die
Welt einzutauchen und dort zu Hause zu sein. Im Diesseits wollte er des Jenseits
inne werden. Eine Religion, deren Kern sich anderswo, nämlich im Himmel
abspielt, war ihm fremd. Noldes Ziel war es, voll und ganz im Hier und Jetzt zu
leben, untrennbarer Bestandteil der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit zu
werden. «Aus dem Nichts alles herausholen – was nicht darinnen war, ein
wunderbares Glück göttlicher Schöpfungskraft», notierte Nolde am 4. August
1941 in seinen Worten am Rande. 36 Nolde wollte hinter der Natur das wesentlich
Typische, das Urbildhafte entdecken und für das Mythische in ihr gleichnishafte
Bilder finden oder in den Worten von Eckart von Sydow: «Sie [die Kunst] ziele
über den Moment nach Ewigkeit, nach dem Einfachen, Allgemeinen,
Wesentlichen; denn erst unter dem Äußeren liege das Dauernde, Ewige». 37
Nolde hatte ein plastisches, dreidimensionales Verhältnis zur Malerei – so
wie ein Bildhauer. Er wollte Farben im Bild nicht nur visuell, sondern auch
sinnlich-körperlich erfahrbar machen. Nolde war ein Maler, der die beim Malen entstandenen zufälligen Effekte, die aus der Autonomie des Materials erwachsen, in sein Werk integrierte. «Ich wollte im Malen auch immer gern,
dass die Farben durch mich als Maler auf der Leinwand sich so folgerichtig
auswirkten, wie die Natur selbst ihre Gebilde schafft, wie Erz und Kristallisierungen sich bilden, wie Moos und Algen wachsen, wie unter dem Strahlen der
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Haftmann, Nolde (wie Anm. 28), S. 23–35.
Nolde. Ungemalte Bilder 1938–1945, hg. von der Stiftung Seebüll, Seebüll 41985, S. 21.
Eckart von Sydow, Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus (1919), in: Theorie des
Expressionismus, hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1982, S. 98–104, hier S. 98 f. Zu Korrespondenzen zwischen moderner Kunst und romantischen Denkkategorien: Robert Rosenblum, Die
moderne Malerei und die Tradition der Romantik. Von C. D. Friedrich zu Mark Rothko,
München 1981. Nolde wollte mit diesem künstlerischen Zugang auch politisch reüssieren.
Seine Hoffnungen, dass die nationalsozialistischen Machthaber ‹seinen› Expressionismus zur
nordischen Staatskunst erheben würden, erfüllten sich nicht. Nolde war Antisemit und bekennender Nationalsozialist. Zu seiner großen Enttäuschung wurden dennoch seine Werke als
‹entartet› eingestuft. Siehe dazu jetzt: Kirstin Jüngling, Emil Nolde – Die Farben sind meine
Noten, Berlin 2013.
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