Ungemalte Bilder! Unberührtes, weißes Papier? „Meine

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Ungemalte Bilder! Unberührtes, weißes Papier? „Meine
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Ungemalte Bilder! Unberührtes, weißes
Papier? „Meine verschnürten Hände!“
Wissenschaft und Kunst
Den Knochen neu
entdecken
OSTAK
Den Knochen in der Kunst neu entdecken –
das ist das Anliegen von Dr. Peter Diziol und
dieser Rubrik, die interessante Bauwerke,
Plastiken und Gemälde vorstellen wird.
Zwei weiße Blätter im Osteologie-Heft?
Kein Artikel zu „Wissenschaft und Kunst“?
Dank Hans Hansen setzen wir die Gemälde-Gegenüberstellung zum Thema „die drei
Lebensalter“ fort, begonnen mit Gustav
Klimt und seinem berühmten Bild zu diesem
Thema (Osteologie 3/2012) sowie Wilhelm
Leibls ebenfalls weltbekanntem Gemälde
„Drei Frauen in der Kirche“ (Osteologie
1/2013). Das Aquarell „Mutter mit kleinem
und großen Kind“ scheint uns durch die intensive Pracht der Farben sehr an einen bekannten Maler zu erinnern (▶Abb. 1). Es ist
ein kleines Gemälde auf Japanpapier, das uns
der Farbmagier Emil Nolde hier zeigt. Diesen Namen legte sich Hans Emil Hansen als
Künstlernamen zu. Er wurde als sechstes
Kind der Familie Christine und Niels Hansen
im August 1867 in Nolde, einem kleinen
Dorf mit fünf Bauernhöfen und 68 Einwohnern in Nordschleswig geboren. Die großartigen Gemälde von Emil Nolde sind allen gut
bekannt. Viele denken sofort an die Küstenlandschaft seiner Heimat, die er als seinen
Osteologie 4/2013
„Urboden“ bezeichnete, an die Bilder des
Meeres und natürlich an seine vielen farbenprächtigen Blumen und Gartenbilder. Emil
Nolde hat in vier Bänden sein Leben, seine
Werke und Gedanken in einer wunderschönen, farbigen Sprache zusammengefasst, daher wissen wir so viel von ihm.
Alle drei Gemälde dieser Reihe gewähren
uns einen Einblick auch unter dem Aspekt
Gynäkologie und Osteologie in Abhängigkeit
des Alters. Die drei genannten Künstler haben
beim Malen sicher nicht an dieses „klinische
Thema“ gedacht, doch offenbaren uns diese
drei Werke sehr wohl die Frau in ihrer Jugend,
Blüte und Reife des Alters, mit allem was dazu
gehört. Emil Nolde vergleicht und beschreibt
in seiner Biografie den Lebenszyklus des
Menschen mit wunderbaren Worten: „Ich
liebte die Blumen in ihrem Schicksal: emporsprießend, blühend, leuchtend, glühend, beglückend, sich neigend, verwelkend, verworfen in der Grube endend. Nicht immer ist
unser Menschenschicksal ebenso folgerichtig
und schön …“ (II, s. 1001). Diesen engen Zusammenhang der Fruchtbarkeit der Frau und
der blühenden Natur machte er zum Thema
in seinem Bild „Alvida“, der Frau seines
jüngsten Bruders. Das Grün der Pflanzen
kehrt in dem Muster und der Farbigkeit ihrer
Bluse wieder, ihre blonden Haare spiegeln sich
scheinbar in den Blüten des Hintergrunds
und verschmelzen mit der Natur.
Gustav Klimt führt uns in seinem Bild
durch die drei „Traumstadien“ der sehr realistisch dargestellten körperlichen Zusammenhänge des Alters und der symbolhaften Formensprache der Fruchtbarkeit
durch die ornamentalen Elemente runder
und rechteckiger Formen, Symbol für die
Eizelle und das Spermium. Wilhelm Leibl,
der Maler des Realismus, lenkt unsere Blicke in seinem Gemälde „Drei Frauen in der
Kirche“ durch die Sitzenden in der Kirchenbank, die Art der Miesbacher Gebirgstrachten, der festgefügten Ordnung des
ländlichen Lebens in Bayern, den Farben
und Mustern sowie Accessoires der Kleidung auf die Dynamik des Hormonstatus,
auf das „Blühen und Verwelken“ der Frau
hin.
Ungemalte Bilder
Verbiete einem Vogel zu singen ist vergleichbar und paradox wie ein Malverbot
für einen Maler! So erging es Emil Nolde
seit 1937. Seine Kunst wurde durch die Nazis geächtet, seine Bilder galten als „entartet“, 1052 Werke wurden beschlagnahmt
und bei „entarteten Ausstellungen“ gezeigt.
Im August 1941 erhielt er von der Reichskammer der bildenden Künste ein Einschreiben mit dem Malverbot! (IV; S. 1241).
Es stürzte Nolde in eine Lebenskrise: „als
dieses Mal- und Verkaufsverbot ankam,
stand ich im schönsten, produktiven Malen.
Die Pinsel glitten aus meinen Händen… ich
litt seelisch, weil ich glaubte, meine vollreifsten Werke noch malen zu müssen…Die Gestapo kam forschend, fragend, einmal und
zum zweitenmal, fast einen ganzen Tag…“.
Verhänge ein Malverbot, Nolde musste maAbb. 1 Emil Nolde: Mutter mit kleinem und
großen Kind (stehend); Aquarell und Deckfarben
auf Japanpapier, 23,6 x 14,1 cm, ohne Signatur,
Inv.Nr. Ung. 26, 1938/45, ©Nolde Stiftung Seebüll
1 Jeweiliger Bezug zum Band und zur Seite seiner
vierbändigen Selbstbiografie
© Schattauer 2013
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Paarbilder
Neben seinen berühmten Küstenlandschaften und Blumenbildern sind „Menschenbilder“ das weitere große Thema in
seinen Werken wie auch bei den „ungemalten Bildern“, darunter mehrere hundert
Werke zu Paardarstellungen. Zu diesen gehört auch das Bild „Mutter mit kleinem
und großen Kind“ (▶Abb. 1). Die Paarbilder lassen sich aus seinem eigenen Leben,
der Lebenseinstellung, dem arbeitsreichen
Leben auf den Bauerhöfen im deutsch-dänischen Grenzgebiet und der engen Gemeinschaft des Zusammenlebens – jeder
hatte seine feste Rolle und Arbeit – verstehen. Die enge und überaus glückliche Partnerschaft mit seiner Frau Ada, die hier leider nicht genug auch für seine Kunst gewürdigt werden kann, ist Teil seiner Kunst,
denn sie war für ihn wertvoll und lebensnotwendig. Sie war für ihn Ehefrau, Modell
und Beraterin in einer Person, sicher auch
Vorbild für viele Paardarstellungen mit
Glücksmomenten, dem bedingungslosen
Miteinander aber auch Verdrießlichkeiten
eines langen gemeinsamen Lebens. Er
schrieb dazu in Erinnerung im Februar
1902: „Wir lebten im jungen Glück. Nebenzu
die kleinen Kümmernisse ….Wir tanzten;
jubelten und schwärmten, im Herzen Glück
© Schattauer 2013
Abb. 2
Emil Nolde: Lebensreife; Öl auf Leinwand; 73,5 x 88,5 cm,
ohne Signatur, 1933,
©Nolde Stiftung Seebüll
und im Gefühl glücklicher Zusammengehörigkeit“. Später schreibt er: „im zweiten Teil
meines Lebens stand neben mir meine geliebte und schöne Gattin, Ada. Sie war licht,
lieb und fürsorglich klug, sie ließ mich die
edlen, weiblich feineren Seiten des Lebens erkennen, im zarten und höchsten Musikalischen schwingend. Dabei war sie frisch und
tapfer, mit mir gehend in den Gefahren der
Tropen, den Stürmen der Weltmeere und
immer helfend durch alle Wirrnisse und Irrungen hindurch….“ (IV S. 1771).
Damit kann gut nachvollzogen werden,
wie er ein traditionelles Thema „Lebensalter“ umsetzt. Er zeichnet nicht die Erinnerung an die Vergänglichkeit im Alter
(wie z. B. Klimt), sondern ein spannendes
Spiel der Zusammengehörigkeit der Personen zueinander im Zusammenspiel des Lebens. In dem Bild „Mutter mit kleinem und
großen Kind“ stellt er die drei Altersstufen
mit ihren verschiedenen Naturellen leicht
versetzt hintereinander ins Bild, das Kind
auf dem Arm der jungen Mutter im Vordergrund. Das Bild ist wie eine innige Momentaufnahme, ein glückliches Zusammentreffen von drei Generationen, es lässt
uns als Betrachter vielleicht spüren wie tief
er selbst, ohne eigene Kinder, dieses Gefühl
der Familie ausdrückt.
Im Bild heben sich die drei Personen
nicht deutlich voneinander ab, alle drei
sind im fast gleichen dunkleren Rot gekleidet, nur eine dunkle Linienführung trennt
die Figuren voneinander. Die ältere Mutter
steht im Hintergrund, uns ganz zugewandt
und legt ihren Arm auf den Schoß des Kindes, dabei ist ihr Gesicht durch den Kopf
des Kindes halb bedeckt. Ob ihre Körpergröße durch das Alter schon abgenommen
hat? Die junge gebärfähige Frau sehen wir
von der Seite, schlank und deutlich größer
als ihre Mutter und das Kind. Orange
leuchtend fallen ihre langen, lockigen Haare über die Schulter. Der dunkelblaue Hintergrund, schräg durch das Bild laufend,
hebt die dargestellte Familie plastisch aus
dem Bild heraus. In der oberen Hälfte verschmelzen die Farben der Personen mit
dem orangefarbenen, gelben und weißen
Hintergrund, der vor allem die junge gebärfähige Frau verstärkt in unseren Blickpunkt rückt. Sie stehen in stiller Haltung
beieinander, in ein Farbklima eingebunden, was die Zusammengehörigkeit und
Harmonie widerspiegelt, aber jeden –
selbst das Kind – in seiner Persönlichkeit
und entsprechend dem Alter zeigt.
„Ungemalte Bilder“ in
begeisternder Farbenpracht
Für diese kleinen Bilder nahm Emil Nolde
zumeist Japanpapiere in unterschiedlicher
Stärke. Mit vollem Pinsel, meist unbekümmert, trug er die einzelnen Farben großzügig
in Schichten auf, so dass sie sich gegenseitig
durchdringen konnten. Ob Farbkleckse oder
ganze Farbflecken darauf fielen, kümmerte
Osteologie 4/2013
OSTAK
len! Seit 1938 schuf er in der Abgeschiedenheit seines Hauses in Seebüll bis 1945
faszinierende, farbenprächtigste Aquarellbilder meist auf dünnem Japanpapier. Trotz
der laufenden Kontrolle durch die Nazis
wurden die Bilder nicht gefunden, da er
diese gut versteckte, sie meist von kleinem
Format waren und selbst viele Bilder übereinander nicht stark auftrugen, kein Geruch nach Ölfarbe zu riechen, Leinwände
und Bilder nicht zu sehen waren. Diese Bilder nannte Nolde die „Ungemalten Bilder“!
So schuf er über 1300 dieser Blätter, begonnen nach seinem 70. Geburtstag, sein außerordentliches Alterswerk. Er schrieb
1945 dazu: „ich habe immer vorerst meine
besten Bilder nur für mich gemalt und war
mir selbst der unerbittlich schärfste Kritiker.“
An diesen Bildern fügte er „Worte am Rande“ ein, tagebuchartige, flüchtige Gedanken, die er auch auf kleinen Zetteln notierte.
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Biografie – Emil Nolde (Hans Emil Hansen)
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geboren am 7. August 1867
1884: vier Lehrjahre als Holzbildhauer in
Möbelfabrik Flensburg
1902: Heirat mit Ada Vilstrup
1933: Ächtung seiner Werke durch die
Nazis
1937: Atelier und Wohnhaus Seebüll fertig gestellt
1941: Malverbot für Nolde durch die Nazis
1946: Testament zur Stiftung Seebüll Ada
und Emil Nolde
1946: Ada Nolde stirbt am 2. November
1948: Hochzeit mit Jolanthe Erdmann, die
seine Stiftung nach seinem Tod weiterführt
1965: Emil Nolde stirbt am 13. April in
Seebüll
ihn wenig. Das vollgezogene Papier gewann
an Festigkeit und erhielt gleichsam ein edles,
farbenprächtiges Aussehen. Manche Flächen
übermalte er mehrmals, manchmal auch von
der Rückseite. Diese Farben begannen so
hintergründig zu leuchten und ließen die
Farbintensität auf die Vorderseite voll durchschlagen. So entstanden aus Farbflächen,
Flecken und Unregelmäßigkeiten zufällige
Verläufe aus denen er gegenständliche Bilder
gebar: „ich selbst habe sie lange und oft angesehen und fast immer wieder viele Male an jedem einzelnen Blatt gearbeitet, geändert, sie in
Farben, Zeichnung und Ausdruck gesteigert,
bis dann ich sie hinlegte, nicht mehr könnend.“ Zeichnerische Elemente schrieb er
mit schwarzer Tusche und harter Feder, oder
verhalf mit feinem, weichen Pinselstrich,
Osteologie 4/2013
Selbstbiographie Emil Nolde, 4 Bände
Stiftung Seebüll; DuMont und Kunst Verlag
Aktuelle Ausstellungen bis Mitte
2014
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„Emil Noldes späte Liebe. Das Vermächtnis an seine Frau Jolanthe“, Nolde Museum Berlin, 01.11.2013–30.03.2014
„Emil Nolde. In Glut und Farbe“, Im unteren Belvedere, Wien,
25.10.2013–02.02.2014
„Emil Nolde. Retrospektive“, Städel-Museum, Frankfurt, 05.03.2014–15.06.2014
Weitere Informationen und zu Ausstellungen: Seebüll Stiftung Ada und Emil Nolde
www.nolde-stiftung.de
bildnerische Konturen hervorzuheben. Mit
hellen Temperafarben setzte er noch besondere Akzente.
leuchten, es wird zum sinnlichen Blickpunkt. Ihr Kopf ist im Profil, im Halbdunkel gemalt, nur die dunkelroten Lippen, nahe seinem Ohr, heben sich deutlich ab. Was
flüstert sie ihm ins Ohr? Beide Köpfe – in
dunkler brauner und grüner Färbung gehalten – zeichnen sich silhouettenhaft von
dem in leuchtend hellem blau gemalten
Hintergrund ab. Ihr weißer, mit lockerem
Pinselstrich aufgetragener Halsschmuck
verleiht dem Bild eine besondere Beziehung. Mit dieser dramatischen Lichtführung, dem warmen Licht auf dem nackten
Busen, dem diffusen Licht in seinem Gesicht mit dem Vollbart sowie der kühlen
Farbe des Hintergrunds schafft er eine besondere Spannung, eine leise Erotik dieses
in Liebe gealterten Paares. Er hat die „Lebensreife“, die stille Harmonie durch die
farblichen Gegensätze und die Motivwahl
der intimen Szene lebendig werden lassen.
Mit mehr als 1300 Bildern überließ uns
Emil Nolde ein großes Alterswerk als Vermächtnis in seiner Stiftung Seebüll Ada
und Emil Nolde, die von einer überraschenden Frische im Alter Zeugnis ablegt.
Dr. Peter Diziol, Baden-Baden
Literatur beim Verfasser
Lebensreife
Das Thema Alter hatte Nolde bereits 1933
in einem Ölbild „Lebensreife“ verarbeitet
(▶Abb. 2). Das Bild ist geprägt von einem
uns frontal ansehenden bärtigen Greis,
dessen linke Gesichtshälfte im Lichtschein
seine Physiognomie verdeutlicht, sein Blick
schweift mit großen Augen aus dem Bild
heraus. Dieses diffuse Licht fällt auch auf
die barbusige Frau neben ihm und lässt ihren vollen Busen mit den rot betonten
Brustwarzen in warmen Ockerfarben auf-
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