Werkbeschreibungen

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Ai Weiwei, Fairytale
Für die Aktion Fairytale hatte der chinesische Künstler Ai Weiwei 1001 ChinesInnen
nach Kassel eingeladen. Die Gäste wurden in einer an ihre Bedürfnisse angepassten, ehemaligen Fabrik untergebracht. Die 1001-köpfige soziale Skulptur sollte ein
Ereignis werden und auch das Kassler Stadtbild verändern. Zu dieser Performance
gehörten auch 1001 gesammelte und restaurierte alte chinesische Holzstühle der
Qing-Dynastie (1644–1911), die die Ausstellungsräume bevölkerten und Teil der
Palmenhaine waren.
Ricardo Basbaum, Would you like to participate in an artistic experience?
In der fortdauernden Arbeit Would you like to participate in an artistic experience?
(1994–2007) lädt Ricardo Basbaum Individuen und Gruppen dazu ein, ein aus Stahl
gefertigtes Objekt (es hat die Form eines Rechtecks mit abgeschrägten Ecken und
einem kreisförmigem Loch in der Mitte) zu sich zu nehmen und zu benutzen. Die
vorübergehenden BesitzerInnen sind aufgefordert, ihre Erfahrungen in Text, Bild
etc. zu dokumentieren. Während documenta 12 migrierten 19 der 20 in Kassel hergestellten Objekte durch Haushalte und Treffpunkte auf drei Kontinenten. Das 20.
Objekt wurde ausgestellt, während Monitore das Leben der anderen zeigten. Die
Wege der Skulpturen konnten auf einer Webseite verfolgt werden (http://www.
nbp.pro.br/).
Cosima von Bonin, Plädoyer / Relax. It’s Only a Ghost
Stoffe, Filz oder Tücher sind zentrales Material in den Arbeiten von Cosima von
Bonin. Die Textilarbeit Plädoyer (2000) ist ein Patchwork aus schwarzen, weißen,
roten, beigen und grauen Stoffstücken. Die rechteckigen Farbflächen in Grundfarben verweisen auf moderne Formensprache und Malerei. Als Wandbehang erinnert
die Arbeit zugleich an traditionelle afrikanische Tücher aus aneinander genähten
Stoffbahnen. Von Bonin fertigt auch Objekte – wie überdimensionierte Tiere – aus
Stoffen. Diese waren auf der documenta 12 in dem großen Raumarrangement in
der documenta-Halle (Relax. It’s Only a Ghost, 2006) kombiniert mit herabhängenden Stoffbahnen (die Rohrschachtests imitierten oder aus Geschirrtüchern bestanden) sowie mit minimalistischen, lackierten Skulpturen (aus dem Repertoire des
Modernismus). Die Installation war errichtet auf dem Grundriss der New Yorker
Galerie Friedrich Petzel. Weiße Bodenlinien markierten den Umriss des Galerie­
raums, in dem die Arbeit erstmals zu sehen war.
Trisha Brown, Floor of the Forest / Accumulation
Floor of the Forest (1970/ 2007) und Accumulation (1971/ 2007) sind Choreografien von Trisha Brown, die auf der documenta 12 wieder aufgeführt wurden. Tänzer­
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Innen haben diese Arbeiten jeden Tag inszeniert. Ausgehend von einer Drehung
des Daumens häuften die sogenannten movers in Accumulation (zur Musik der
Grateful Dead) minimale Bewegungen an. Dabei wurde jede neue Bewegung zunächst mehrmals allein gezeigt, dann mit den vorausgehenden. Die 12 movers beanspruchten den ganzen Ausstellungsraum. In der zweiten Performance Floor of
the forest bewegten sich drei bis vier TänzerInnen lautlos durch eine Installation
aus aufgespannten Kleidern, schlüpften in sie hinein und wieder heraus.
Juan Davila, The Arse End of the World
The Arse End of the World (1994) von Juan Davila zeigt die australischen Nationalhelden Burke und Wills, die beim Versuch, den Kontinent zu erobern 1861 starben.
Die Kritik an der Gewalt der Kolonialisierung, die rassistische und sexuelle Unterwerfung manifestiert sich auf den Körpern. Sie liegen im Unterholz und feiern, entgegen des heroischen Mythos. Davila (der Chile 1974 verlassen musste und seither
in Australien lebt) stellt in der Sprache der Malerei und mit Collage hegemoniale
Männlichkeit in Frage, indem er verschiedene Codes von Geschlecht und Ethnizität
gegeneinander setzt.
Mauricio Dias & Walter Riedweg, Voracidad Máxima
Die Installation Voracidad Máxima (Maximale Gier, 2003) von Mauricio Dias & Walter Riedweg zeigt auf zwei Videoleinwänden Interviews mit »chaperos«; Sexarbeitern, die in Barcelona leben und arbeiten. Sie tragen die Maske des sie interviewenden Künstlers, sprechen über Sexualität, Begehren, Geld, Migration. Dabei sitzen
sie auf einem blauen Bett, einem der Künstler (in weißem Bademantel) gegenüber.
Der männliche Körper wird sexualisiert, als Objekt und Landschaft gezeigt. Die Situation wurde auf der documenta 12 räumlich verdoppelt durch ein blaues Bett,
das den Mittelpunkt der Installation bildete und durch zwei Spiegelwände. Auf
dem Bett konnten die BesucherInnen Platz nehmen und mithilfe einer Schalttafel
auswählen, welches Interview sie verfolgen wollten.
Atul Dodiya, Antler Anthology
Im Zentrum der großformatigen Aquarelle der Serie Antler Anthology (2003/ 04)
von Atul Dodiya stehen Gedichte, die in Gujarati geschrieben sind, einer Sprache,
die durch die Angriffe der rechten Hindubewegung auf Muslime im indischen Bundesstaat Gujarat mit Gewalt aufgeladen wurde. Für alle, die diese Schrift nicht lesen können, werden die Texte ganz zu Bildern. Sie versammeln jedoch stilistische
und ethnische Richtungen innerhalb der Gujarati-Gesellschaft. Tiere, Pflanzen und
Motive aus verschiedenen Bild-Traditionen erscheinen auf der Oberfläche, auf welcher Wasserfarbe mit Kohlenstaub und Sand vermischt wurde.
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Ines Doujak, Siegesgärten
Die Arbeit Siegesgärten (2007) von Ines Doujak wurde dreifach präsentiert. In
21 kleinformatigen Collagen aus Fotografien, Malerei und Landkarten waren queere Darstellungen abgebildet; Personen, die sich nicht in ein zweigeschlechtliches
Raster einordnen lassen, die aufgrund von Alter, Verhalten oder Tätowierungen
aus der Norm herausfallen sowie von kolonialer Herrschaft gezeichnete Körper.
Im Aue-Pavillon tauchten die Motive auf einem mit Gras und Bubikopf bepflanzten
Beet auf Stelzen wieder auf. Darin steckten 69 Samentütchen; auf der Vorderseite
waren die Collagen abgebildet; auf der Rückseite kritische Texte zu den Themen
Biopiraterie, Patentierung von Leben, Monokultur, Gentechnik. Vier dieser Samentütchen verließen die Ausstellung als Multiple und konnten als Plastiktüten erworben werden.
Peter Friedl, The Zoo Story
In der Arbeit The Zoo Story (2007) stellte Peter Friedl eine laienhaft präparierte
Giraffe aus dem Zoo von Qalqiliyah aus. Der Katalogtext lieferte Informationen
zu dem besonderen Tod der Giraffe Brownie, die 1997 aus Südafrika in den Zoo
gekommen war: Als die israelische Armee während der zweiten Intifada 2003 die
palästinensische Stadt belagerte, geriet das Tier bei einem Bombardement in Panik, stieß mit dem Kopf gegen einen Mast, stürzte und starb. Der Tierarzt des Zoos
wurde daraufhin zum Tierpräparator.
Sheela Gowda, Sanjaya Narrates
Sanjaya Narrates (2004) von Sheela Gowda ist eine Serie aus 14 kleineren Aquarellen, die Fragmente von verzweifelten Gesichtern und Körpern zeigen. Ausgangspunkt war ein Zeitungsbild aus Palästina. Die Bilder sind verschwommen, wirken
wie herangezoomt. Ein Vater hält sein totes Kind in den Armen. Der Titel bezieht
sich auf eine Passage aus dem indischen Epos Mahabharata: Sanjaya berichtet
darin dem blinden König von den Ereignissen auf dem Schlachtfeld, wo sich seine
Kinder gegenseitig umbringen.
Romuald Hazoumé, Dream
Die Installation Dream (2007) von Romuald Hazoumé bestand aus einem über 12 m
langen Boot, das vor einer idyllischen Panoramatapete mit einem Strandmotiv aufgebaut war. Das Boot wurde aus 421 zerschnittenen Ölkanistern hergestellt und
barg einzelne private Spuren (wie Papierrollen und Fotoanhänger) und verwies
auch auf die Flüchtlinge, die auf solchen Booten ihre Heimat verlassen müssen.
Auf Spruchbändern am Boden war zu lesen: Die Hoffnung, es gäbe die Möglichkeit
zu bleiben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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Hu Xiaoyuan, Mine / A Keepsake I cannot give away
Mine (2004) von Hu Xiaoyuan besteht aus drei Ausgaben der Evangelien in chinesischer Blindenschrift. Die Künstlerin aquarellierte auf den Bibelseiten Gegenstände aus ihrem Lebensalltag und erotische Details. Auch in A Keepsake I cannot give
away (2005) ist viel Persönliches und Intimes von Hu enthalten. Die Arbeit umfasst 20 Stickereien auf weißer Seide in Stickrahmen. Eine Hälfte zeigt traditionelle
chinesische Motive aus der Tier- und Pflanzenwelt bzw. Metaphern auf das Glück
sich liebender Paare, die andere Teile ihres Körpers. Als ›Garn‹ diente ihr dabei das
eigene lange Haar, das sie zu diesem Zweck abgeschnitten hat und das in ihrer
Tradition ein Symbol der Treue ist.
Sanja IvekoviΔ, Mohnfeld
Sanja IvekoviΔ pflanzte auf dem Friedrichsplatz ein Mohnfeld aus Klatsch- und
Schlafmohn an, das während der Blüte mit kroatischen und afghanischen Revolutionsliedern beschallt wurde. Die Künstlerin knüpfte dabei an die Geschichte des
Platzes und der Mohnblume an: Der Friedrichsplatz wurde im Kaiserreich und in
der Zeit des Nationalsozialismus für Aufmärsche und Militärparaden genutzt. Im
englischsprachigen Raum ist der rote Mohn ein Symbol für das Gedenken an Soldaten und in der Antike wurde er als Blume des Schlafs und des Todes mythisiert.
Ivekovi� spielte auch auf die Kultivierung von Schlafmohn zur Opiumproduktion
durch afghanische Frauen an.
Luis Jacob, Album III
Album III (2004) von Luis Jacob umfasste 159 Bildermontagen in laminierten Blättern, die rundum im Raum gehängt waren. Fotos aus verschiedensten Zeitschriften
und Kunstkatalogen wurden zu thematischen Gruppen komponiert – wie die Beziehung zwischen Person und Masse; Objekt und sozialem Raum; Skulptur und Tanz;
Architektur und Natur. Auch die Abfolge der einzelnen Folien orientierte sich an
formalen und thematischen Ähnlichkeiten.
Abdoulaye Konaté, Symphonie de bleu 8R
Abdoulaye Konatés Arbeiten sind in Stoff übersetzte, malerische Applikationen.
Mit dem Gebrauch von Textilien greift er ein lokales Idiom des alten Königreichs
Mali auf. Die großformatige Arbeit Symphonie de bleu 8R (2007) besteht aus unzähligen Stoffstreifen unterschiedlicher Blautöne, die herabhängen und sich überlappen. Während er in vielen seiner Arbeiten die Gewalt befragt, die den Wandel
auf dem afrikanischen Kontinent und anderswo begleitet, scheint diese abstrahierte Arbeit nicht mit einem politischen Inhalt aufgeladen.
Jií Kovanda, Actions
Jií Kovanda hat seine acht Aktionen (Actions, 1976/ 1977) mit jeweils einem Foto
dokumentiert und mit notizartigen Angaben zu Ort, Zeit und Handlung versehen.
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Festgehalten sind kleine Gesten, die Routinen des Alltaglebens und Verhaltens für
einen Moment störten – etwa wenn er Passanten auf der Straße leicht anrempelte.
Die Aktionen wurden im öffentlichen Raum Prags, oft am Wenzelsplatz, umgesetzt.
Auf der ersten Rolltreppe Prags drehte er sich plötzlich um, damit er »in die Augen
einer Person hinter mir« blicken konnte.
Zofia Kulik, The Human Motif (I)
The Human Motif (I) (1989) von Zofia Kulik besteht aus acht gerahmten Einzelbildern, die eine Art ›Fototeppich‹ bilden: Die formale Anordnung der Elemente
entspricht Arrangements von Teppichen. Die großformatige Bildkomposition zeigt
einen Menschen, der sich wie ein Ornament spaltet und vervielfältigt. Mit Hilfe von
Schablonen belichtete Kulik dabei die Fotopapierbögen mehrfach. Zbigniew Libera
stand Modell und mimte Gesten aus einem Fundus an kulturgeschichtlichem, politischem und militärischem Material.
Louise Lawler, Fotografien
Louise Lawler fotografiert Kunstwerke in Ausstellungen, auf Auktionen, an Wohnungswänden, in Aufbau- oder Lagersituationen. Sie lenkt dabei den Blick von den
Werken auf ihr Verhältnis zu anderen Werken, zu ihrer Umgebung und institutionellen Rahmenbedingungen. Paris, New York, Rome, Tokyo (1985) zeigt, durchkreuzt
von Licht- und Schattenmustern, einen Blick von einem Ausstellungsraum in einen
anderen. Pollock & Tureen, Arranged by Mr. and Mrs. Burton Tremaine, Connecticut (1984) gestattet den Einblick in Privates, Geschmack und Zusammenstellung
der Sammler. In Does It Matter Who Owns It? (1990) haben die Besitzer das Kunstwerk frei auf einem Tisch arrangiert und demonstrativ mit einem Schild versehen.
Woman With Picasso, 1912 (1986) ist ein seltenes Beispiel, auf dem eine Person zu
sehen ist. HVAC (1996) ist benannt nach der amerikanischen Heating-VentilationAir-Condition-Industrie. Einzelteile für Lüftungsschächte werden hier wie Skulpturen gezeigt. Auf der Fotografie Untitled (1950–51) (1987) ist eine Museums­bank in
einem Ausstellungsraum zu sehen, die vor einem angeschnitten Miró-Gemälde ins
Bild gestellt ist.
Zoe Leonard, Analogue
Für Analogue (1998–2007) fotografierte Zoe Leonard immer wieder Schaufenster kleiner Geschäfte und ihre Produkte, die im Verschwinden begriffen sind.
Ausgangspunkt dieser fotografischen Reise waren Stadtteile wie Brooklyn und
Harlem. Von dort stellte sie sichtbare Verbindungen zwischen New York, Havanna oder Kampala her. Hunderte dieser analogen Fotografien wurden in visuelle
Kapitel gegliedert und in eine raumgreifende Komposition gebracht. Handel war
ebenso ein Thema wie lokale Sprachen und globale Narrative.
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Lu Hao, recording 2005 chang’an street /recording 2006 chang’an street
Für die Arbeit recording 2005/ 2006 chang’an street hat Lu Hao zwei Jahre lang diese zentrale Straße in Peking in der Technik traditioneller, chinesischer realistischer
Malerei maßstabsgetreu abgebildet. Die Tuschezeichnung entstand auf zweimal
50 m langen Seidenbahnen, die in vier Schaukästen präsentiert wurden und so
aufgestellt waren, dass man zwischen ihnen wie auf einer Straße entlangflanieren konnte. Zu sehen waren einige alte Gebäude, ein Teil der Verbotenen Stadt
und insbesondere moderne Hochhäuser (denen beispielsweise das Hutong-Viertel
zum Opfer fiel) sowie globale Markenlogos.
Churchill Madikida, Status
Die mehrteilige Installation Status (2005) von Churchill Madikida lotete die Folgen
von HIV in und außerhalb Südafrikas aus. Neben Gipsmasken der Gesichter von
Hospiz-PatientInnen (auch seiner an Aids erkrankten Schwester) waren in einem
roten Gedenkraum (mit schweren Vorhängen und einem Kreuz) drei Särge ausgestellt, darunter ein Kindersarg; Blumen waren niedergelegt, Kerzen entzündet, am
Boden lagen Aids-Schleifen. Madikida visualisierte die mikroskopische Struktur
des Virus in zwei Videos sowie Fotoabzügen des Videos Virus. Gegenstand der
Videoarbeit Nemesis war die sexuelle Gewalt gegen Mädchen. Der Titel verwies auf
die Diagnose der Krankheit und die sozialen Folgen für die Betroffenen.
Kerry James Marshall, Single Invisible Man / Lost Boys
Im Mittelpunkt der großformatigen Malereien von Kerry James Marshall stehen
schwarze Figuren. In Single Invisible Man (1986) wird in der schwarzen Fläche ein
schwarzer Mann sichtbar. Seine Zähne und Augen sind weiß. Über Stirn und Scham
ist schemenhaft ein schwarzer Balken zu erkennen. Der Titel bezieht sich auf den
Roman Invisible Man von R. Ellison, der das Paradox eines afroamerikanischen
Mannes, zugleich sichtbar und unsichtbar zu sein, beschrieb. Die Lost Boys (1993)
stehen vor einem graffitiähnlichen Hintergrund. A.K.A. Baby Brother, A.K.A. 8 Ball,
A.K.A. Black Al und A.K.A. Black Johnny ähneln sich und sind doch individuell dargestellt. Der Titel zitiert den Kinderroman Peter Pan und die verlorenen Jungs (Lost
Boys) im Nimmerland. Stilgeschichtlich greift Marshall auf alte ägyptische Tradi­
tionen der Portraitmalerei zurück.
John McCracken, Skulptur
Die geometrischen Skulpturen von John McCracken (entstanden zwischen 1966
und 2007) sind aus Materialien wie Kunstharz, Fiberglas und Sperrholz gefertigt
und besitzen eine malerische, illusionistische Oberfläche. Die mit Lack überzogenen und polierten Formen aus Farbe spiegeln die Umgebung und die BetrachterInnen wider. Sie standen auf der documenta 12 am Boden, auf Podesten, waren an
die Wand angelehnt oder an diese angebracht.
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Andrei Monastyrski, Goethe
Die Installation Goethe (1976/ 2007) von Andrei Monastyrski bestand aus zwei großen weißen Platten. Die eine war im Eingangsbereich des Aue-Pavillons platziert,
darauf ein Klingelknopf und ein Schild mit der Aufforderung »Knopf drücken«. Die
zweite befand sich im hinteren Bereich der Ausstellung. Sie stand elektronisch in
Kontakt mit der ersten Tafel und hatte einen Summer eingebaut. Klingelte jemand
am Eingang, so wurde scheinbar keine Reaktion auslöst. Am Ausgang war jedoch
in diesem Moment ein schrilles Geräusch zu hören.
Charlotte Posenenske, Vierkantrohre Serie D / Drehflügel Serie E
Die Objekte von Charlotte Posenenske haben das Aussehen von technischen Gegenständen oder Anlagen. Die Vierkantrohre Serie D (1967) bestehen aus mehreren, frei kombinierbaren, hohlen Einzelteilen aus Blech. Sie gleichen Lüftungsschächten. Die drei Rekonstruktionen aus Pressspan der Drehflügel Serie E (1967/
2007) lassen sich drehen, so dass sich ihre Stellung zueinander und zum Raum
verändert. Mit ihren schematischen Titeln, Materialwahl und Herstellung imitierte
Posenenske Industrieverfahren und thematisierte den Autorbegriff, insofern ihre
Arbeiten die Handlung Anderer erfordern.
Gerwald Rockenschaub, Ohne Titel, s. Häschenschule
Ahlam Shibli, Arab al-Sbaih
Arab al-Sbaih (2007) (Araber der frühen Morgenstunde) ist der alte Name des Geburtsortes von Ahlam Shibli in Galiläa. Die Schwarzweiß- und Farbfotografien sind
zum Teil in dem ehemaligen Flüchtlingslager Erbeid in Jordanien entstanden, in
das die Hälfte ihres Dorfes aufgrund des Kriegs von 1948 fliehen musste. Die damaligen palästinensischen Flüchtlinge und die zweite und dritte Generation leben
heute noch dort. Shibli dokumentiert in Fern- und Nahansichten die Sozialstrukturen und Wohnbedingungen der dort Lebenden.
Jo Spence u.a., The Picture of Health / Photo History
Die Arbeit The Picture of Health (1982–1986) von Jo Spence, Rosy Martin, ­Maggie
Murray und Terry Dennett beschäftigt sich mit Brustkrebs, Selbstinszenierung und
Krankenhausaufenthalt. Schwarzweiß-Fotografien und Zeitungsausschnitte wurden auf Plastikplatten aufkaschiert und zu einem Tableau angeordnet. Spence
erforschte sich und ihren Körper, indem sie persönliche Bilder und ihren Überlebenskampf für die Fotokamera inszenierte. Daneben wurden die Krankenhauswelt
aus der Perspektive der Patientin und der gesellschaftliche Umgang mit Krankheit
dokumentiert. Die Gemeinschaftsarbeit Remodelling Photo History (1982) von Jo
Spence und Terry Dennett befragt die Genres und gesellschaftlichen Gebrauchsweisen von Fotografie und wie darin der weibliche Körper dargestellt wird. Die
Fotoserie ist in visuelle Kapitel wie Industrialization, Colonization, Regulation,
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Victimization, Realization und Revisualization gegliedert. Spence setzte auch hier
ihren Körper für die Kamera in Szene.
Mladen StilinoviΔ, The Exploitation of the Dead
Der Zyklus The Exploitation of the Dead (1984–1990) von Mladen StilinoviΔ umfasst
rund 400 Arbeiten. Der Zyklus beginnt mit einem Foto von Kasimir Malewitsch auf
dem Sterbebett. Zwischen Alltagsgegenständen wie Banknoten, Kuchen­stücken,
bemaltem Geschirr oder Krawatten waren Kopien von Werken der russischen abs­
trakten Kunst zu sehen sowie Fotos sozialistischer Großbetriebe, Massenveranstaltungen oder Begräbniszeremonien. Die kleinformatigen Gemälde, Collagen
und Objekte waren an die Wände eines Baucontainers montiert. Die Farben Rot
und Schwarz dominierten.
Atsuko Tanaka, Electric Dress
Das Electric Dress (1956) von Atsuko Tanaka ist ein tragbares Kleidungsstück, das
aus über 200 handbemalten bunten Glühbirnen und Neonröhren besteht und mit
dementsprechend vielen Kabeln verbunden ist. Die Künstlerin übertrug nicht nur
eine etablierte Kleiderordnung in ein modernes Material, sondern führte dieses
schwere Lichtgewand, in dem sie nahezu verschwand, auf. Dabei schaltete sie
selbst die Lichter abwechselnd ein und aus.
Artur ¶mijewski, Them
Die Videoprojektion Them (2007) von Artur ¶mijewski zeigt das Zusammentreffen
von vier unterschiedlichen Gruppen aus Polen. Es nahmen VertreterInnen aus dem
rechten wie linken politischen Lager, eine christliche und eine jüdische Gruppierung teil. Sie waren aufgefordert, auf einem großen Karton ihr eigenes Gruppensymbol zu entwickeln. Diese konnten von den Mitgliedern der anderen Gruppen
mit Farbe, Schere und Papier ›kommentiert‹ werden. Die Konfrontation im Atelier
des Künstlers wurde zunehmend aggressiver, bis schließlich mit einem Feuer­
löscher die gegenseitig angebrannten Plakate gelöscht wurden.
Neue Galerie
Das kuratorische Konzept formaler thematischer Korrespondenzen war exemplarisch u.a. in der Neuen Galerie zu sehen. Eine Reihe von Arbeiten wurden dabei in
Beziehung gesetzt: Ein Hochzeitsbehang (Arkila Kerka bezeichnet) aus aneinander
genähten Stoffbahnen und mit abstrakten Motiven, die sich auf die gelebte Welt
der Peul (einer muslimischen Volksgruppe in Mali) bezogen, wurde in einer Vitrine
ausgestellt, in Nachbarschaft zu einigen Arbeiten von Nasreen Mohamedi: Deren
Diaries bestanden aus Kalenderseiten, in denen sich ebenso persönliche wie abstrakte Textlinien und Farbstreifen abwechselten. Der Calendar (1954) von Atsuko
Tanaka daneben war aus handgeschriebenen, übermalten Blättern zu einer neuen
Komposition collagiert. Die anschließenden feinen, abstrakten Linienzeichnungen
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von Mohamedi wiederum bildeten ein Raster aus geraden und schrägen Linien. Mit
Präzisionsinstrumenten kontrollierte sie ihre Bewegungen und balancierte innere
und äußere Welt. In Fotografien nahm sie schließlich weite Landschaften und Architekturen auf. Geometrie und Natur trafen auch in der großformatigen Linienkonstruktion von Agnes Martin aufeinander, die neben den Arbeiten von Mohamedi
zu sehen war. In der formal strengen Komposition River (aus feinen, horizontalen Linien) floss auch eine ›spirituelle‹ Dimension. In der einige Räume entfernten
Klanginstallation von Olga Neuwirth tauchten dann rhythmische Formverläufe auf.
Die Installation setzte sich aus mehreren Tonquellen zusammen: aus Ausschnitten ihres Konzerts …miramondo multiplo… oder Zitaten der PhilosophInnen Walter
Benjamin und Hannah Arendt. Auf einem Videobild war eine Hand zu sehen, die
Noten in entsprechende Linien einzeichnete, und dabei die Geräusche des Schreibens zu hören.
Aue-Pavillon
Im Aue-Pavillon wurden in einem Ensemble von Kunstwerken unterschiedliche
Blickverhältnisse thematisiert. Die Gesichtsschleier einer Braut aus Tadschikistan
(19. Jahrhundert) waren in Vitrinen ausgestellt. Mit zentralasiatischer, ornamentaler Seidenstickerei verziert, wurden diese sogenannten Rubands zur Hochzeit
getragen und dienten danach meist als Wandschmuck. John McCrackens bunte,
symmetrische Mandala-Malerei aus den 70er Jahren zeigte daneben ein inneres
Gesicht (in Mandalas geht es traditionell um den Akt der Meditation, weniger um
das daraus resultierende Bild, das aber Konstruktionsregeln folgt). In dem kurzen
Videoloop Damascus, Ommayad Mosque (2007) von Lidwien van de Ven war ein
kurzer Moment festgehalten, für den sich die Anderen in der Moschee nicht weiter
zu interessieren schienen: Man sah ein kleines Kind auf dem Boden liegen und ganz
für sich auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden spielen. Der Fotozyklus The
Transported of KwaNdebele (1983) von David Goldblatt war eine Dokumentation­
(in schwarzweiß) der endlosen Reisewege der Menschen, die aus ihren entlegenen Wohnorten, südafrikanischen Townships, zur Arbeit transportiert wurden (und
werden). Die Fahrten begannen mitten in der Nacht. In den unscharfen, dunklen
Fotografien waren müde und schlafende Körper und Gesichter zu sehen. Die Malerei Single Invisible Man von Kerry James Marshall (s.o.) war ebenso in diesem Teil
der Ausstellung platziert.
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