Werkbeschreibungen

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Saâdane Afif, Black Chords plays Lyrics
Für Black Chords plays Lyrics (2007) hatte Saâdane Afif dreizehn schwarze Gitarren
und Verstärker im Raum arrangiert. Die Akkorde ertönten plötzlich, manche klangen schräg. Die Gitarren wurden aus der Ferne von einem Computer orchestriert
und konzeptuell verändert.
Monika Baer, Malereien 2005–2007
In den klein- und großformatigen Gemälden (entstanden zwischen 2005 und 2007)
von Monika Baer tauchen inmitten von schleierhaften, atmosphärischen Farblandschaften vereinzelt gegenständliche Motive auf; Gesichter, Wirbelknochen oder
Geldscheine, Wurstscheiben. Mit unterschiedlichen malerischen Verfahren ergründet sie auch die Rhetoriken der Malerei und Bilderzeugung.
Ricardo Basbaum, Would you like to participate in an artistic experience?
In der fortdauernden Arbeit Would you like to participate in an artistic experience?
(1994–2007) lädt Ricardo Basbaum Individuen und Gruppen dazu ein, ein aus
Stahl gefertigtes Objekt (es hat die Form eines Rechtecks mit abgeschrägten Ecken
und einem kreisförmigem Loch in der Mitte) zu sich zu nehmen und zu benutzen.
Die vorübergehenden BesitzerInnen sind aufgefordert, ihre Erfahrungen in Text,
Bild etc. zu dokumentieren. Während documenta 12 migrierten 19 der 20 in Kassel
hergestellten Objekte durch Haushalte und Treffpunkte auf drei Kontinenten. Das
20. Objekt wurde ausgestellt, während Monitore das Leben der anderen zeigten.
Die Wege der Skulpturen konnten auf einer Webseite verfolgt werden (http://
www.nbp.pro.br/).
Cosima von Bonin, Relax. It’s Only a Ghost
Stoffe, Filz oder Tücher sind zentrales Material in den Arbeiten von Cosima von
Bonin. Sie fertigt auch Objekte – wie überdimensionierte Tiere – aus Stoffen. Diese
waren auf der documenta 12 in dem großen Raumarrangement in der documentaHalle (Relax. It’s Only a Ghost, 2006) kombiniert mit herabhängenden Stoffbahnen
(die Rohrschachtests imitierten oder aus Geschirrtüchern bestanden) sowie mit
minimalistischen, lackierten Skulpturen (aus dem Repertoire des Modernismus).
Die Installation war errichtet auf dem Grundriss der New Yorker Galerie Friedrich
Petzel. Weiße Bodenlinien markierten den Umriss des Galerieraums, in dem die
Arbeit erstmals zu sehen war.
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Trisha Brown, Floor of the Forest / Accumulation / Roof and Fire Piece
Floor of the Forest (1970/ 2007) und Accumulation (1971/ 2007) sind Choreografien von Trisha Brown, die auf documenta 12 wieder aufgeführt wurden. Tänzer­
Innen haben diese Arbeiten jeden Tag inszeniert. Ausgehend von einer Drehung
des Daumens häuften die sogenannten movers in Accumulation (zur Musik der
Grateful Dead) minimale Bewegungen an. Dabei wurde jede neue Bewegung zunächst mehrmals allein gezeigt, dann mit den vorausgehenden. In der zweiten Performance bewegten sich drei bis vier TänzerInnen lautlos durch eine Installation
aus aufgespannten Kleidern, schlüpften in sie hinein und wieder heraus.
Das Video Roof and Fire Piece (1973) dokumentiert eine Performance, die über
mehrere Hausdächer New Yorks hinweg stattfand: Eine Tänzerin initiierte eine Bewegung und gab sie an die nächste weiter, die auf einem anderen Dach stand, und
diese wieder an die nächste. Nach 15 Minuten änderte sich die Richtung und der
letzte Empfänger wurde zum Sender. Brown nahm hier Bezug auf eine Tanzübung,
in der Bewegungen und Abläufe kopiert und doch individuell verändert werden.
Danica DakiΔ, El Dorado
Den Ausgangspunkt der mehrteiligen Arbeit El Dorado (2006–2007) bildete die
gleichnamige Panoramatapete aus dem Deutschen Tapetenmuseum in Kassel. In
einer Videoinstallation war zu sehen, wie Jugendliche aus Kassel vor verschiedenen
Tapeten des Museums ihre Vorstellungen vom Paradies und ihre Suche nach einem
eigenen Ort beschreiben. Für eine Klanginstallation hat Danica DakiΔ Kommen­tare
und Raps der Jugendlichen über Lebenserfahrungen, Glück oder Durchhalten aufgenommen und mit Stimmen kombiniert, die über die Tapete und den Mythos vom
Eldorado berichten. Eine kleine Fotografie (Farbdiapositiv in Leuchtkasten) zeigt
ein selbstbewusstes Gruppenporträt der Kasseler Jugendlichen vor einer Reproduktion der Tapete an einem markanten Ort in der Stadt. Für die performative Führung im Museum trug Daki� ein Kleid, das aus kleinen Lautsprechern Stimmen und
Geräusche übertrug. Einer der Jugendlichen begleitete die Performance mit einem
Dauerlauf durch die Ausstellungsräume und das Publikum.
Juan Davila, The Lamentation: A Votive Painting
Juan Davila (der Chile 1974 verlassen musste und seither in Australien lebt) stellt
in der Sprache der Malerei, mit Collage und stilgeschichtlichen Zitaten hegemoniale Männlichkeit sowie dominante Geschichtsdiskurse und die Mythen nationaler
Identität in Frage. Verschiedene Materialien und Zitate aus Kunst- und Kolonial­
geschichte beherrschen das großformatige Gemälde The Lamentation: A Votive
Painting (1991). Ein gequälter Gesichtszug erinnert an der Schrei von Edvard Munch.
Votivbilder – eine aus Europa eingeführte, in Lateinamerika weit ver­breitete religiöse Opfergabe – sind ebenso enthalten wie Bildelemente der Volks- oder Populärkultur (seien es Speedy Gonzalez oder ein Flacon von Guerlain). Die zentral ins
Bild gerückten, sexuell verstümmelten und gequälten Figuren verweisen auf die
Erfahrungen von Folter in Chile.
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Atul Dodiya, Antler Anthology
Im Zentrum der großformatigen Aquarelle der Serie Antler Anthology (2003/ 04)
von Atul Dodiya stehen Gedichte, die in Gujarati geschrieben sind, einer Sprache,
die durch die Angriffe der rechten Hindubewegung auf Muslime im indischen Bundesstaat Gujarat mit Gewalt aufgeladen wurde. Für alle, die diese Schrift nicht lesen können, werden die Texte ganz zu Bildern. Sie versammeln jedoch stilistische
und ethnische Richtungen innerhalb der Gujarati-Gesellschaft. Tiere, Pflanzen und
Motive aus verschiedenen Bild-Traditionen erscheinen auf der Oberfläche, auf welcher Wasserfarbe mit Kohlenstaub und Sand vermischt wurde.
Ines Doujak, Siegesgärten
Die Arbeit Siegesgärten (2007) von Ines Doujak wurde dreifach präsentiert. In 21
kleinformatigen Collagen aus Fotografien, Malerei und Landkarten waren queere
Darstellungen abgebildet; Personen, die sich nicht in ein zweigeschlechtliches
Raster einordnen lassen, die aufgrund von Alter, Verhalten oder Tätowierungen
aus der Norm herausfallen sowie von kolonialer Herrschaft gezeichnete Körper.
Im Aue-Pavillon tauchten die Motive auf einem mit Gras und Bubikopf bepflanzten
Beet auf Stelzen wieder auf. Darin steckten 69 Samentütchen; auf der Vorderseite
waren die Collagen abgebildet; auf der Rückseite kritische Texte zu den Themen
Biopiraterie, Patentierung von Leben, Monokultur, Gentechnik. Vier dieser Samen­
tütchen verließen die Ausstellung als Multiple und konnten als Plastiktüten er­
worben werden.
Peter Friedl, The Zoo Story
In der Arbeit The Zoo Story (2007) stellte Peter Friedl eine laienhaft präparierte
Giraffe aus dem Zoo von Qalqiliyah aus. Der Katalogtext lieferte Informationen
zu dem besonderen Tod der Giraffe Brownie, die 1997 aus Südafrika in den Zoo
gekommen war: Als die israelische Armee während der zweiten Intifada 2003 die
palästinensische Stadt belagerte, geriet das Tier bei einem Bombardement in Panik, stieß mit dem Kopf gegen einen Mast, stürzte und starb. Der Tierarzt des Zoos
wurde daraufhin zum Tierpräparator.
Simryn Gill, Throwback –
Remade internal systems from a model 1313 Tata truck ca. 1985
In der Skulptur Throwback (2007) hat Simryn Gill das Innenleben eines TataLkws verarbeitet. Der indische Automobilhersteller begann unter der Lizenz von
­Daimler-Benz mit der Lkw-Produktion. Die Formen wurden in Deutschland entworfen und am anderen Ende der Welt eingebaut. Der Lastwagen gelangte nach
Malaysia, wo er gefahren und abgenutzt wurde. Gill konservierte die Einzelteile
in natürlichen Materialien, Blättern und Schalen ihrer Umgebung und überführte
diese nach Deutschland zurück.
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Romuald Hazoumé, Dream
Die Installation Dream (2007) von Romuald Hazoumé bestand aus einem über 12 m
langen Boot, das vor einer idyllischen Panoramatapete mit einem Strandmotiv aufgebaut war. Das Boot wurde aus 421 zerschnittenen Ölkanistern hergestellt und
barg einzelne private Spuren (wie Papierrollen und Fotoanhänger) und verwies
auch auf die Flüchtlinge, die auf solchen Booten ihre Heimat verlassen müssen.
Auf Spruchbändern am Boden war zu lesen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Sanja IvekoviΔ, Mohnfeld / Triangle
Sanja Ivekovi� pflanzte auf dem Friedrichsplatz ein Mohnfeld aus Klatsch- und
Schlafmohn an, das während der Blüte mit kroatischen und afghanischen Revolutionsliedern beschallt wurde. Die Künstlerin knüpfte dabei an die Geschichte des
Platzes und der Mohnblume an: Der Friedrichsplatz wurde im Kaiserreich und in
der Zeit des Nationalsozialismus für Aufmärsche und Paraden genutzt. Im englischsprachigen Raum ist der rote Mohn ein Symbol für das Gedenken an Soldaten und in der Antike wurde er als Blume des Schlafs und des Todes mythisiert.
­Ivekovi� spielte auch auf die Kultivierung von Schlafmohn zur Opiumproduktion
durch afghanische Frauen an.
In der Performance Triangle (10.05.1979) störte Ivekovi� die Ordnung im sozialistischen Jugoslawien, als eine Militärparade zu Ehren Präsident Titos entlang
ihres Wohnhauses verlief. Ivekovi� stellte sich auf ihrem Balkon aus, täuschte vor
zu masturbieren, las ein Buch, trank Whiskey. Gesehen wurde sie nur von einem
Sicherheitsmann, der auf dem Dach eines nahegelegenen Hotels stand: Durch
ein Fernglas konnte er beobachten, wie sie männliche Herrschaft und Staat gleichermaßen ›beleidigte‹. Er informierte via Walkie Talkie einen Polizisten auf der
Straße. Dieser klingelte bei Ivekovi� und forderte auf, ›Person und Objekte vom
Balkon zu nehmen‹. Diese Performance war auf documenta 12 in vier Fotografien
dokumentiert.
Luis Jacob, Album III
Album III (2004) von Luis Jacob umfasste 159 Bildermontagen in laminierten Blättern, die rundum im Raum gehängt waren. Fotos aus verschiedensten Zeitschriften
und Kunstkatalogen wurden zu thematischen Gruppen komponiert – wie die Beziehung zwischen Person und Masse; Objekt und sozialem Raum; Skulptur und Tanz;
Architektur und Natur. Auch die Abfolge der einzelnen Folien orientierte sich an
formalen und thematischen Ähnlichkeiten.
Bill Kouélany, ohne Titel, 2007
Bill Kouélany fertigte für diese Installation eine 20 m lange ruinöse Mauer aus
Pappmaché. Auf der einen Seite waren Zeitungsausschnitte aus dem öffentlichen
Leben, zu politischen Konflikten und Gewalt (in der Republik Kongo und anderswo)
angebracht. Die Rückseite überzog sie mit Stoffen, auf die abstrakte Linien und alltägliche Formen genäht waren. In die Mauer eingelassen zwei Monitore: In einem
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(Selbstporträt genannten) Video wanderte der Kamerablick durch eine verlassene
Fabrikhalle, das andere zeigte Kouélanys manipulierte Gesichtszüge.
Jií Kovanda, Actions
Jií Kovanda hat seine acht Aktionen (Actions, 1976/ 77) mit jeweils einem Foto
dokumentiert und mit notizartigen Angaben zu Ort, Zeit und Handlung versehen.
Festgehalten sind kleine Gesten, die Routinen des Alltaglebens und Verhaltens für
einen Moment störten – etwa wenn er Passanten auf der Straße leicht anrempelte.
Die Aktionen wurden im öffentlichen Raum Prags, oft am Wenzelsplatz, umgesetzt.
Auf der ersten Rolltreppe Prags drehte er sich plötzlich um, damit er »in die Augen
einer Person hinter mir« blicken konnte.
Lin Yilin, Safely Manoeuvering Across Lin He Road /
The Game of Monumentality
Das Video Safely Manoeuvering Across Lin He Road (1995) dokumentiert, wie Lin
Yilin eine Mauer aus Ziegelsteinen Stein für Stein über die Lin He Road in Guang­
zhou wandern lässt. Dabei trägt er, ungeachtet des Verkehrs, den jeweils letzten
Stein der provisorischen Mauer nach vorne auf einen neuen Stapel. Der Verkehrsfluss scheint wenig gestört, ein paar Schaulustige nehmen die Aktion wahr und
auf, die Bauarbeiter sind schon wieder auf der Großbaustelle verschwunden.
Die Performance The Game of Monumentality fand am 17.06.2007 im Nordstadtpark in Kassel statt. Bei einem Tauziehen standen sich 32 Personen aus Kassel und
32 documenta 12 BesucherInnen gegenüber. Die beiden ›Parteien‹ waren dabei
durch eine 4 x 12 m große und 60 cm breite Mauer getrennt, wobei das Seil durch
ein Loch in der Mitte geführt wurde.
Lee Lozano, ohne Titel
Die zwischen 1960 und 1964 entstandenen Zeichnungen und Malereien von Lee
Lozano zeigen Körper und Objekte in drastischen, entfremdeten sexuellen Darstellungen: Ein Hammer hat sich in der Jeans zu einem Penis verwandelt, eine Vagina zum Münzeinwurf eines Automaten. Haushaltsgegenstände und Werkzeuge
werden benutzt, um Sexualität darzustellen. Die sexualisierten Mischgebilde, halb
Körper, halb Objekt, zielen auf Ausbeutung, Voyeurismus, Verletzung etc.
Kerry James Marshall, Single Invisible Man
Im Mittelpunkt der großformatigen Malereien von Kerry James Marshall stehen
schwarze Figuren. In Single Invisible Man (1986) wird in der schwarzen Fläche ein
schwarzer Mann sichtbar. Seine Zähne und Augen sind weiß. Über Stirn und Scham
ist schemenhaft ein schwarzer Balken zu erkennen. Der Titel bezieht sich auf den
Roman Invisible Man von R. Ellison, der das Paradox eines afroamerikanischen
Mannes, zugleich sichtbar und unsichtbar zu sein, beschrieb.
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John McCracken, Skulpturen
Die geometrischen Skulpturen von John McCracken (entstanden zwischen 1966
und 2007) sind aus Materialien wie Kunstharz, Fiberglas und Sperrholz gefertigt
und besitzen eine malerische, illusionistische Oberfläche. Die mit Lack überzogenen und polierten Formen aus Farbe spiegeln die Umgebung und die Betrachter­
Innen wider. Sie standen auf der documenta 12 am Boden, auf Podesten, waren an
die Wand angelehnt oder an diese angebracht.
Anatoly Osmolovsky, Mayakowski-Osmolovsky
Die großformatige Fotografie der Aktion Mayakowski-Osmolovsky (1993) dokumentiert, wie Anatoly Osmolovsky leger auf den Schultern der riesigen Maja­
kowski-Statue sitzt. Ohne Erlaubnis kletterte er das Denkmal empor, das sich auf
einem öffentlichen Platz in Moskau befindet. Der Dichter Wladimir Majakowski war
eine heroische Figur für die Avantgarde der 1920er Jahre, sein kommunistischer
Futurismus beeinflusste die marxistische Literatur. Später unterstützte er das Regime und wurde posthum von Stalin kanonisiert. Die Aktion zerstörte diese von
den Machthabern verhängte Verehrung (und Amnesie) und reaktivierte vergan­
gene Avantgarden.
George Osodi, Oil Rich Niger Delta
George Osodi zeigte seine farbigen Digitalfotografien des Oil Rich Niger Delta
(2003–2007) auf einem Flachbildschirm. In den 1950er Jahren wurde im Niger-­Delta
Öl entdeckt, woraufhin sich eine mächtige Ölindustrie entwickelte. Der Fotojournalist hielt die Kontraste zwischen Ölreichtum und Armut fest: auslaufendes Öl, brennendes Gas, Ausbeutung und Gewalt, lokaler Widerstand, aber auch fruchtbare
Landschaften, Alltag und Kultur der Region, in der er aufwuchs.
Charlotte Posenenske, Vierkantrohre Serie D / Drehflügel Serie E
Die Objekte von Charlotte Posenenske haben das Aussehen von technischen Gegenständen oder Anlagen. Die Vierkantrohre Serie D (1967) bestehen aus mehreren, frei kombinierbaren, hohlen Einzelteilen aus Blech. Sie gleichen Lüftungsschächten. Die drei begehbaren Rekonstruktionen aus Pressspan der Drehflügel
Serie E (1967/ 2007) lassen sich drehen, so dass sich ihre Stellung zueinander und
zum Raum verändert. Mit ihren schematischen Titeln, Materialwahl und Herstellung imitierte Posenenske Industrieverfahren und thematisierte den Autorbegriff,
insofern ihre Arbeiten die Handlung Anderer erfordern.
Kirill Preobrazhenskiy, Tram 4 Inner Voice Radio
Den Ausgangspunkt der Soundinstallation von Kirill Preobrazhenskiy bildeten die
Erfahrungen der russischsprachigen Menschen in Kassel: Ihre Stimmen spiegelten
die alltägliche Konfrontation mit vermeintlich national-kulturellen Zuweisungspraktiken. Die Soundinstallation Tram 4 Inner Voice Radio war auf der Route der
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Straßenbahnlinie 4 zu hören, die die südwestlichen Quartiere Brückenhof und
­Helleböhn mit Wilhelmshöhe und dem Innenstadtbereich sowie mit dem östlich
gelegenen Stadtteil Bettenhausen und dem Umland von Kassel verbindet. Auf dieser Route der Tram 4 durchquerten die Reisenden nicht nur kontrastreiche Stadtteile und Sprachwelten, sondern sie wurden selbst zu Fremden, wenn die Stimmen
aus dem Radio sie erreichten.
Gerwald Rockenschaub, ohne Titel
Von Gerwald Rockenschaub stammt der erste Entwurf für einen ›Palmenhain‹
(siehe Glossar Band 2). Entstanden ist eine hölzerne, mit Schulbänken und Tafel
ausgestattete, orange und grün getünchte ›Vermittlungsinsel‹ (ohne Titel, 2007).
Der Grad der Gestaltung war extrem zurückgenommen. Die Arbeit konnte von den
BesucherInnen und Gruppen betreten und genutzt werden. Unter den Vermittler­
Innen setzte sich der Titel ›Häschenschule‹ als informelle Bezeichnung dieser Arbeit durch.
Dierk Schmidt, Die Teilung der Erde
Die Installation Die Teilung der Erde – Tableaux zu rechtlichen Synopsen der Ber­
liner Afrika-Konferenz (2005–2007) von Dierk Schmidt ist eine historische Recherche in Form von abstrakten Bildtafeln mit statistischen Zeichen und Informationen. Analysiert werden moderne Grenzziehungen und Entrechtungen im südlichen
­Afrika, ökonomische und juristische Konsequenzen. Von der Berliner Afrika-Konferenz (1884/ 85) zieht Schmidt u.a. Linien zur aktuellen Entschädigungsklage der
Herero People’s Reparations Corporation gegen die Bundesrepublik wie gegen
deutsche Unternehmen.
Kateina ·edá, For Every Dog a Different Master
For Every Dog a Different Master (2007) war eine Arbeit für die BewohnerInnen
von Nová Lí±e∞, einer Plattenbausiedlung in Kateina ·edás Heimatort Brno-Lí±e∞.
2002 wurden die grauen Wohnblocks farbig gestrichen. ‰edá sah darin das Potential einer Veränderung im sozialen Leben und wollte Begegnungen anregen.
Ausgehend von den bunten Gebäuden entwarf sie ein Stoffmuster, aus dem sie
tausend kurzärmelige Hemden nähen ließ. Sie wies jedem Haushalt einen Partnerhaushalt zu und verschickte im Namen der jeweils anderen Familie die Hemden.
Auf documenta 12 war eine Dokumentation dieser Aktion zu sehen in Form von
Mustern, Grafiken und Fotografien.
Allan Sekula, Shipwreck and Workers
Die Fotografien der Arbeit Shipwreck and Workers (Version 3 for Kassel) (2005–
2007) portraitieren Menschen an ihren Arbeitsplätzen, deren Berufe in der globalisierten Arbeitswelt im Verschwinden begriffen sind oder die nur unter prekären Bedingungen ausgeführt werden können: Holzfäller, Öllieferanten, ­Traubenveredler
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oder Schiffsinspektoren. Im Sommer 2006 fotografierte Allan Sekula in Kassel
Hebammen, Mütter mit Neugeborenen und Totengräber; Personen die Beginn und
Ende des Lebens einfangen. Die Farbfotografien wurden durch Texttafeln ergänzt
und auf großformatigen Plakatwänden im Bergpark Wilhelmshöhe entlang des barocken Wasserlaufs am Fuße des Herkules Monuments installiert. Sekula bezeichnete die Installation als »temporäres und tragbares Denkmal der Arbeit«.
Jo Spence u.a., The Picture of Health / Photo History
Die Arbeit The Picture of Health (1982–1986) von Jo Spence, Rosy Martin, ­Maggie
Murray und Terry Dennett beschäftigt sich mit Brustkrebs, Selbstinszenierung
und Krankenhausaufenthalt. Schwarzweiß-Fotografien und Zeitungsausschnitte
wurden auf Plastikplatten aufkaschiert und zu einem Tableau angeordnet. Spence
erforschte sich und ihren Körper, indem sie persönliche Bilder und ihren Überlebenskampf für die Fotokamera inszenierte. Daneben wurden die Krankenhauswelt
aus der Perspektive der Patientin und der gesellschaftliche Umgang mit Krankheit
dokumentiert.
Die Gemeinschaftsarbeit Remodelling Photo History (1982) von Jo Spence und
Terry Dennett befragt die Genres und gesellschaftlichen Gebrauchsweisen von
Foto­grafie und wie darin der weibliche Körper dargestellt wird. Die Fotoserie ist
in visuelle Kapitel wie Industrialization, Colonization, Regulation, Victimization,
­Realization und Revisualization gegliedert. Spence setzte auch hier ihren Körper
für die Kamera in Szene.
Jürgen Stollhans, Caput mortuum
Jürgen Stollhans beschäftigte sich über Monate mit Kassel – mit der Stadt, ihrer
(Industrie- und Rüstungs-) Geschichte, ihrem Alltag und ihren BewohnerInnen. Die
Eindrücke seiner Entdeckungsreisen hielt er fotografisch fest. Aus dieser Materialsammlung entstanden die Motive von Caput mortuum (2007). Die großformatigen
Kreidezeichnungen auf Sperrholzplatten halten Bruchstücke gesellschaftlicher
Wirklichkeit fest: die Wursttheke im lokalen Konsumtempel, Schauplätze der lokalen Panzerproduktion, eine Impression aus dem Sepulkralmuseum, die HerkulesStatue (das Wahrzeichen der Stadt) als Mondrakete oder eine nachmittägliche
Demonstration der IG-Metall. Als durchgängige Grundierung wurde das dunkelrotbraune Pigment Caput mortuum (lateinisch: Totenkopf) verwendet.
David Thorne, Katya Sander, Ashley Hunt, Sharon Hayes, Andrea Geyer, 9
Scripts from a Nation at War
Vor dem Hintergrund des USA-Irak-Krieges (seit 2003) untersuchten David Thorne,
Katya Sander, Ashley Hunt, Sharon Hayes und Andrea Geyer in ihrem kollaborativen
Videoprojekt 9 Scripts from a Nation at War (9 Skripte aus einer Nation im Kriegszustand; 2007) das Individuum in seiner Beziehung zu Politik und Gesellschaft. Sie
befragten Personen, die als Beteiligte, BeobachterInnen, AktivistInnen oder BerichterstatterInnen an diesem Konflikt teilnehmen. Aus tatsächlichen Interviews,
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Textfragmenten und inszenierten Szenen komponierten sie das Videomaterial für
die Installation und machten damit die SprecherInnenpositionen selbst zum Thema. Die einzelnen Videos wurden an vier Stationen im oberen Teil der documentaHalle gezeigt. Unter Beteiligung von Kasseler MenschenrechtsaktivistInnen, Jurist­
Innen und engagierten BürgerInnen wurden zudem Auszüge aus den Transkripten
der Militärtribunale in Guantánamo im Rahmen einer Lesung aufgeführt.
Tseng Yu Chin, Who is listening?
In der Videoarbeit Who is listening? 1 (2003/ 04) von Tseng Yu Chin sieht man
Schuljungen und -mädchen, die in Gesicht und Haaren mit einer milchigen Flüssig­
keit bespritzt werden. Die einen scheinen vergnügt und kichern, die anderen schauen bange oder beschämt. Who is listening? 5 zeigt einen Jungen und seine Mutter
wie sie (vor der Kamera) miteinander spielen, sich liebkosen, küssen, kitzeln und
wehren. Sie feixen und freuen sich über die gegenseitige Zuneigung. »Du bist pervers«, hört man die Mutter sagen. Schnell werden mit der intensiven Körperlichkeit
sexuelle Assoziationen verbunden.
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