EinE SEEfahrt, die ist lustig, eine See- fahrt, die ist

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EinE SEEfahrt, die ist lustig, eine See- fahrt, die ist
Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist…schön wär’s. Denn immer
öfter verschwinden Passagiere spurlos von
Kreuzfahrtschiffen. Die Aufklärungs quote ist gering, die Reedereien wiegeln
ab: Wer über Bord geht, sei selbst schuld.
Buchen tatsächlich
Selbstmörder verstärkt Seereisen?
Text felix hutt
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Fotos: Jean gaumy/Magnum Photos/Agentur Focus, bruce davidson/magnum photos/Agentur Focus
Lost!
Und ewig lockt der Hochglanzprospekt:
dramatischer Abendhimmel,
Zweisamkeit, vielleicht noch einen
Sundowner an Deck der „QE2“
V
or dem eurasischen Restaurant in
Seattle-Bellevue liegt Laub, auf der
an­deren Straßenseite macht der Microsoft-Campus Feierabend. Son Michael
Pham, 53, sitzt vor einer Currysuppe
und weint nicht. Gefühle zeigen bedeutet für den gebürtigen Vietnamesen Schwäche zeigen. Seine Krawatte ist korrekt gebunden,
das Hemd weiß, die Fingernägel so akkurat geschnitten wie die
Haare. Er wolle die Geschichte seiner Eltern ausführlich erzählen,
damit man das Ausmaß ihres Verschwindens verstehe, er wolle
die Bedeutung des Meeres für seine Familie erklären und wa­
rum aus ihm, dem Pazifisten, ein Kämpfer gegen die Kreuzfahrt­
industrie geworden ist. „Schauen Sie, ich habe drei Telefone“,
sagt Pham, „ein Geschäfts-, ein Privattelefon und eins, das ich
nie ausmache. Das ist für die anderen Opfer. Es klingelt oft.“
Wie am 1. Januar 2007. Ein Anruf aus Hamburg, eine
verzweifelte Stimme: Die Mutter sei verschwunden, einfach so,
was könne man machen, was sei da bloß passiert?
Sabine L., 62, ihr Mann Ludwig L., 73, und ein verwandtes
Ehepaar besteigen am 17. Dezember 2006 die „Queen Elizabeth
2“ in Southampton zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt. Er ist
Kaufmann im Ruhestand, sie Hausfrau, die gern reitet und Golf
spielt. Die L.s haben zwei gesunde und erfolgreiche Söhne. Über
Malaga und Gibraltar geht es nach Lanzarote, wo sie Weihnachten feiern. Das Quartett aus dem Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel ist gesellig, spielt abends häufig mit Engländern Bridge.
Meistens gewinnt Sabine L. Morgens geht sie im Pool schwimmen, ihr Mann schläft dann noch ein bisschen, bevor man sich
beim Frühstück wiedertrifft. Am Samstag, dem 30. De­zember,
macht die „QE2“ Stopp auf Madeira. Sabine L., die gerade Oma
von Zwillingen geworden ist, kauft Geschenke. Später wird ihre
Geldbörse gestohlen, was ihre Laune nicht trübt. Beim Abendessen freut sie sich mit ihrem Mann auf das morgige Silvester,
ihr erstes auf See. Sie wollen ausgeruht sein, gehen um kurz
vor Mitternacht schlafen, in Kabine 5167 auf Deck 5. Ludwig L.
schläft tief, ob seine Frau in der Nacht noch einmal aufsteht
oder in der Früh zum Schwimmen geht, bekommt er nicht mit.
­Sabine L. wird nie mehr gesehen.
In den letzten vier Jahren sind 37 Menschen von Kreuzfahrtschiffen verschwunden. Die Dunkelziffer liegt höher,
viele Vermisste werden nicht gemeldet. Der letzte Fall ereig­net
sich in der Nacht des 29. Oktober 2007 in der Ägäis vor
Griechen­land, als eine Frau aus Bad Honnef, die mit ihrem
Mann auf der „Costa Atlantica“ reist, verschwindet. „Weg von
Deck“, das klingt wie ein TV-Krimi, ist es aber nicht. In der
Realität fehlen Täter und Happy End. Offiziell weiß niemand,
ob die Vermissten ertrunken sind, ermordet wurden, sich umgebracht haben oder noch leben.
Auch in Phoenix, Arizona, fehlt jemand. Kendall Carver,
76, glaubt nicht an die Mär vom Meer, das seine Tochter verschluckt haben soll, ohne dass jemand etwas mitbekommen
hat. Für den Rentner ist klar, dass sie ermordet und über Bord
geworfen wurde. Ihr Schmuck fehlt, sie ist nicht der Typ für
einen Selbstmord. Ihm geht es darum, seiner Liebe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dafür kämpft der ehemalige Ver­
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sicherungspräsident einen Kampf, den er nicht gewinnen
wird: „Ich werde diese Industrie nicht verändern, aber wenn
ein Mensch weniger stirbt, habe ich viel erreicht. Die hätten nie
gedacht, dass ein Opfer so weit gehen würde wie ich. Dass
jemand für die Wahrheit Hunderttausende von Dollar ausgibt“, sagt Carver. Das Schicksal habe sich mit ihm schlicht
den Falschen ausgesucht.
Paradise Valley, Tal des Paradieses, nennen die Mil­li­o­
näre und Milliardäre ihre Enklave am Camelback Mountain.
Hier, wo die Sonne immer vom Himmel brennt, haben sich
auch Carol und Ken Carver ihr Haus gebaut. Doch wie im
Paradies fühlen sie sich nicht, sagen sie, eher wie in der Hölle.
Die Carvers haben eine große Auffahrt vor ihr Haus gesetzt
und Kakteen ein­gepflanzt. Es gibt einen Pool und vier Gästezimmer, für ihre vier erwachsenen Töchter. Das der ältesten,
Merrian Carver, wurde schon länger nicht mehr benutzt. „Sie
kommt wieder“, sagt Carol Carver, bevor sie das Büro im
ersten Stock verlässt. „Sie ist tot“, sagt Ken Carver und weint.
A
m 1. September 2004 ruft seine Enkelin
Rachel in Phoenix an. Rachel lebt bei ihrem Vater in London. Merrian Carver ist
geschieden, was später reichen wird, um
sie in die Selbstmordschublade zu stecken.
Sie habe ihre Mama seit zwei Tagen nicht erreichen
können, das Handy sei immer aus. Ken Carver weiß, dass
etwas nicht stimmt, fliegt nach Boston, verschafft sich Zugang
zu den Bankdaten seiner Tochter. Eine Überweisung zeigt,
dass sie eine Kreuzfahrt bezahlt hat, für einen Trip auf der
„Mercury“ der Celebrity Line, die der Reederei Royal Carib­
bean Cruise Line (RCCL) gehört. Die letzte Reise von Merrian
Carver geht von Seattle nach Vancouver, die beliebte „Alaska
Cruise“. Carver ruft bei RCCL an, die ihm nach drei Tagen
bestätigen, dass Merrian Carver an Bord gewesen sei, aber
nach der zweiten Nacht ihre Kabine nicht mehr benutzt habe.
Das letzte Mal sei sie am 27. August 2004 gesehen worden. Es
sei nicht ungewöhnlich, dass Passagiere nicht in ihre Kabinen
zurückkehren, es gäbe viele Affären auf den Schiffen. Ob seine
Tochter am Ziel in Vancouver von Bord gegangen sei, könne
RCCL nicht sagen. Und es sei leider auch nicht möglich, mit
dem Steward oder der Security zu sprechen, die Videos seien
längst überspielt. Für Ermittlungen sei das FBI zuständig.
Ken Carver alarmiert das FBI und engagiert eine große
Detektei in Boston. Er schickt private Ermittler auf das Schiff,
die werden vom Risk Management der RCCL empfangen. Jede
Kreuzfahrtgesellschaft hat ein Risk Management oder Care
Team, das möglichen Schaden abwenden, Angehörige beruhigen und stille Lösungen finden soll. Aber Carver beruhigt sich
nicht, er reicht Klage ein.
Am 16. Januar 2005, viereinhalb Monate, nachdem seine
Tochter das letzte Mal gesehen wurde, darf Carver nach einem
Gerichtsbeschluss mit dem Steward sprechen, der für die
Kabine von Merrian Carver zuständig war. Der Steward sagt,
dass er seinem Supervisor Merrian Carver bereits nach zwei
Tagen vermisst gemeldet habe. Der Supervisor habe ihm ge-
sagt, er solle seinen Job machen und die Sache vergessen. Am
Ende der Kreuzfahrt habe der Steward gefragt, was er denn
mit den Sachen von Merrian Carver aus ihrer Kabine machen
solle? Der Supervisor habe gesagt, er kümmere sich darum.
K
en Carver schreibt einen Brief an den Vorstand von RCCL, es gehe um das Leben
seiner Tochter – keine Reaktion. Einer
von seinen Detektiven findet eine interne
E-Mail vom Schiff, in der steht, dass dieser „Vorfall“ geräuschlos zu beseitigen sei. Als Ken Carver den Supervisor sprechen
möchte, findet er heraus, dass ihn RCCL sofort nach der
Kreuzfahrt nach Griechenland versetzt hat. Als er ihn dort
aus­findig machen lässt, sagt man Carver, er habe kein Recht,
in Griechen­land zu forschen, er solle den Mann in Ruhe
lassen. Seine Versuche, etwas über den Verbleib seiner Tochter
heraus­zufinden, werden bekämpft wie ein Verbrechen.
Hinter den Brillengläsern von Ken Carver sammeln sich
Tränen der Wut. Immer wenn er weint an diesem Nachmittag,
versagt ihm die Stimme, als hätten seine Stimmbänder einen
Sensor für Fassungslosigkeit. „Warum“, flüstert er, „wa­rum
betreiben sie dieses ganze cover-up, wenn es Selbstmord gewesen sein soll? Das macht doch keinen Sinn!“
Das macht es für Kreuzfahrt-Experten wie Ross Klein,
Soziologieprofessor an der Universität Neufundland in Kanada, schon lange nicht mehr. Für ihn sind Merrian Carver oder
Sabine L. Lateralopfer einer Industrie, die sich der Giganto­
manie verschrieben hat.
Der Boom startet Mitte der 70er-Jahre in den USA und erobert von dort aus die Welt. Damals läuft die TV-Serie „Love
Boat“, die mehr als 50 Millionen Zuschauer pro Folge vor die
Bildschirme holt. Ein Herr namens Ted Arison revolutioniert
die gediegene Kreuzschifffahrt, indem er seine Carnival-Schiffe
zu „Fun Ships“ macht, einer Art Disneyland zu See, mit Themen­
restaurants, Wasserrutschen, Casinos, Diskotheken und Theater. Aus Klasse wird Masse, das Geschäft nicht mehr allein mit
dem Ticketpreis, sondern vor allem mit dem Konsum an Bord
und bei den Aufenthalten gemacht. Nach dem 11. September
2001 kommt ein weiterer Aufschwung, viele Touristen halten
Kreuzfahrten für die sicherere Alternative zum Fliegen. Mit circa 15 Millionen Passagieren per anno ist die Kreuzfahrtindustrie
heute die am schnellsten wachsende Tourismussparte der Welt.
Die Carnival Corporation von Micky Arison, 58, Ted
Arisons Sohn, beherrscht dabei mehr als 50 Prozent des
Marktes. Sie besteht aus 12 Gesellschaften und Reedereien, unter anderem Cunard, Aida, Holland America, Princess Cruises
und Costa. Arison ist Stammgast in der Forbes-Top-100-Liste
der Reichsten der Welt. Als Hobby hält er sich den NBA-Verein
Miami Heat mit Shaquille O’Neal. Carnival erwirtschaftet im
Jahr 2006 einen Überschuss von 2,3 Milliarden Dollar.
Der Gegenspieler ist die Royal Caribbean Cruise Line,
der unter anderem die „Freedom of the Seas“ und
die „Voyager of the Seas“ gehören. RCCL dominiert circa
30 Prozent des Marktes, ihr Chef heißt Richard D. Fain.
Carnival und RCCL regieren zusammen über mehr als 80
Son Michael Pham verlor seine
Eltern Hue Pham und Hue Tran 2005
auf dem Kreuzfahrtschiff „Destiny“.
Die Familie war 1975 auf einem Contai­
nerschiff vor dem Vietnamkrieg
geflüchtet. „Können Sie mir erklären,
warum das Meer erst das Leben
meiner Eltern retten sollte, um es ihnen
30 Jahre später wieder zu nehmen?“
Am 30. Dezember 2006 verschwand
Sabine L. auf der „Queen Elizabeth 2“.
Für einen Selbstmord gibt es keinerlei
Indizien: Die Hamburgerin war seit
40 Jahren glücklich verheiratet, kern­
gesund und gerade Großmutter geworden.
Der Kapitän kondolierte dem Ehemann
nicht einmal
Seit drei Jahren kämpft Ken Carver
gegen die Royal Caribbean Cruise Line
und um die Wahrheit: Seine Tochter
Merrian war im August 2004 von Bord
der „Mercury“ verschwunden. Und mit
ihr der gesamte Schmuck. Die Reederei
legte sich auf Selbstmord fest – und
behinderte die Recherchen des Vaters
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Foto: jean gaumy/Magnum Photos/Agentur Focus, erich Hartmann/Magnum Photos/Agentur Focus
„Bleiben sie ruhig“,
sagt der Steward, „vielleicht hat Ihre Frau nach dem Schwimmen noch
einen Spaziergang gemacht“
Prozent der Kreuzfahrtindustrie. Sie sind auch die einzigen
Gesellschaften, die an der New Yorker Börse geführt werden.
Die Bosse, Fain und Arison, pflegen ihre Rivalität mit Passion,
überbieten sich seit Jahren mit neuen Ozeanriesen. So lässt
Carnival gerade die „Pinnacle Class“ bauen, für mehr als 4000
Passagiere, während RCCL mit der „Project Genesis“ kontern
wird, die gerade in Oslo gefertigt wird, 1,24 Milliarden Dollar
kostet und Kapazität für 6400 Passagiere hat. Beide Schiffe
sollen 2009 vom Stapel laufen, die „Project Genesis“ wäre das
größte Kreuzfahrtschiff der Welt. Ein wichtiger Titel in einer
Branche, in der Marketing alles ist, in der Fälle wie Sabine L.
aus Hamburg-Wellingsbüttel nicht bekannt werden dürfen.
Sabine L. ist seit einem Jahr verschwunden. Anfangs, so
ein Familienmitglied der L.s, das seinen Namen nicht nennen
möchte, wollte man nicht an die Öffentlichkeit. „Wir hatten
mit der Verarbeitung genug zu tun.“ Aber das Verhalten von
Cunard im Umgang mit dem Verschwinden des geliebten
Menschen sei schlicht nicht nachzuvollziehen, weshalb man
sich entschlossen habe, in Park Avenue zum ersten Mal
darüber zu sprechen.
Als Sabine L. um elf Uhr nicht zum Frühstück kommt,
wundert sich ihr Mann und gibt dem Steward Bescheid, der
ihn beruhigt. Vielleicht habe seine Frau nach dem Schwimmen
noch einen Spaziergang gemacht. Da sie mittags immer noch
nicht auftaucht, startet die „QE2“ eine Suche an Bord, einen
halben Tag, nachdem Sabine L. das letzte Mal gesehen worden
ist. Nach zwei Stunden dreht das Schiff um und fährt zurück,
um im Meer nach ihr zu suchen. Am Nachmittag darf ihr
Mann Ludwig L. einen Verwandten in Hamburg anrufen. Der
verständigt sofort das Auswärtige Amt, die Polizei und die
Seenotrettung in Bremen und ruft gegen 17 Uhr bei Cunard,
zu der die „QE2“ gehört, in England an. Der Anruf landet in
einem Callcenter, bei einer Frau, die weder von dem Vorfall
etwas weiß noch dass die „QE2“ überhaupt zur CunardFlotte gehört. Es sei spät, und man möchte jetzt, am 31.12.,
nicht mehr gestört werden. Schließlich gelingt es, über eine andere Nummer mit der Rezeption an Bord verbunden zu werden, mit dem Kapitän könne man aber nicht sprechen, heißt es.
An Bord ist die Suche abgeschlossen, die „QE2“ nimmt
wieder Kurs auf Southampton. Das Silvester-Menü wird serviert, als wäre nichts passiert. Der Verwandte stellt das Haus in
Wellingsbüttel auf den Kopf, sucht nach einem Anhaltspunkt
für das Unglaubliche. Schaut die Post durch, in Akten und filzt
alle E-Mail-Konten – nichts. Kein Hinweis, kein Abschiedsbrief.
Sabine L. hat keine Lebensversicherung, keine Krankheiten und
ist sehr stolz auf ihre erst kurz vor der Reise geborenen Enkel.
Der Anruf bei Cunard in den USA landet wieder in einem
Callcenter, der Verwandte lässt sich nicht abwimmeln, hat
nach eineinhalb Tagen eine Vizepräsidentin am Apparat, die
sich verständnisvoll zeigt. Sie glaube nicht an Selbstmord, weil
in 14 von 15 Fällen, die ihr bekannt seien, ein Abschiedsbrief
hinterlassen worden wäre. Da das Schiff so alt sei, habe man
nur im Casino und bei den Shops Kameras, das tue ihr sehr
leid. Später stellt sich heraus, dass im Prospekt, der den Kabinen beiliegt, hervorgehoben wird, dass die „QE2“ sogar im
Maschinenraum Kameras habe.
Cunard erklärt, man habe alles getan, was man habe tun
können, die Ermittlungen übernehme die Polizei in Southampton. Als das Schiff am 1. Januar in Southampton einläuft, geht
Ludwig L. ohne seine Frau von Bord. Niemand, nicht der
Kapitän oder ein Offizier, verabschiedet sich von ihm, der mit
seiner Frau seine Liebe und den Rest seines Lebens verloren
hat. Die L.s sind seit 40 Jahren in erster Ehe verheiratet. Die
Polizei verhört Ludwig L., die Sachen seiner Frau werden
einbehalten. Dann fliegt er nach Hause. Die „QE2“ fährt nach
vier Stunden weiter nach New York.
O
wen Davies, der bei der Polizei in
Southampton mit dem Fall betraut ist,
sagt, dass man noch ermittle, aber man
natürlich auch viel mit anderen Fällen zu
tun habe. In Hamburg untersucht die Mordkommission unter
anderem die komplette Krankenakte von Sabine L. Ergebnis:
keinerlei Anzeichen, die auf psychische oder physische Probleme schließen lassen. Was ist mit Sabine L. passiert? „Natürlich gibt es die Möglichkeit eines Selbstmordes, auch wenn ich
dies für sehr unwahrscheinlich halte“, sagt der Verwandte,
wahrscheinlicher sei ein Unfall oder ein Verbrechen. „Egal wie
schlimm es ist, was passiert ist, ich möchte es einfach wissen.“
Das Ungewisse sei das Grausame, das lasse einen nicht schlafen und mit der Sache abschließen.
Park Avenue fragt bei Ingo Thiel nach, der für die PR
von Cunard in Deutschland verantwortlich ist, um Details
über den Vorfall zu erfahren. Man solle sich nicht zum Anwalt
der Familie aufspielen. Die Sache sei für die Reederei abgeschlossen, die Behörden in Southampton jetzt dafür zuständig.
Man habe Hubschrauber aus Portugal, Flugzeuge aus Irland
kommen lassen, und die „QE2“ sei umgedreht. Man solle sich
mal vorstellen, was das alles gekostet habe.
Sabine L. kann sich umgebracht haben. Merrian Carver
und die anderen Vermissten auch. Dagegen spricht: Es gibt
einfachere Suizid-Methoden. Und die Sicherheit an Bord der
Ozeanriesen ist fragwürdig. Um herauszufinden, wie die
Kreuzfahrtgesellschaften ihre schwimmenden Vergnügungsstädte und deren Passagiere schützen, schickt Park Avenue
einen Fragebogen an Carnival, RCCL, Hapag Lloyd, Aida und
Color Line, möchte unter anderem wissen: Wie viele Sicherheitsleute sind auf ihren Schiffen? Wie sind sie ausgebildet?
Wie schützen sie ihre Passagiere vor terroristischen Anschlägen? Woher kommt die Crew? Wo wird sie ausgebildet, wie
bezahlt und wer überwacht sie?
Trotz mehrfacher Nachfrage antworten nur zwei: Aida
und Hapag Lloyd schicken E-Mails, in denen sie ihre Kreuzfahrtschiffe lobpreisen, für die Sicherheit sei gesorgt, nähere
Angaben könne man nicht machen. Auch zu Herkunft, Bezahlung und Ausbildung der Crew kommt nichts. Terry Dale, der
Präsident der Cruise Lines International Association (CLIA),
die ihren Sitz in Miami, der Hauptstadt der Kreuzfahrtindustrie, hat, sagt: „Das Sicherheitspersonal besteht aus ehemaligen Soldaten, die gut ausgebildet sind. Die Sicherheit der
Passagiere hat für die Industrie höchste Priorität.“
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Sicherheit wird an
Bord aus Kostengründen
kleingeschrieben
An der Suppe hat Son Michael Pham nur genippt, vor
dem Verschwinden seiner Eltern sei er ein ganz guter Esser
gewesen, sagt er. Der Vorteil, den Pham hat: Die Suizidtheorie,
die die Kreuzfahrtindustrie bei Verschwundenen immer anbringt, funktioniert im Falle seiner Eltern nicht, dafür ist ihre
Geschichte zu beeindruckend: Am 30. April 1975, dem letzten
Tag des Vietnamkrieges, fällt Saigon in die Hände der Kommunisten. Das Todesurteil für Hue Pham, einen General, seine
Frau Hue Tran, eine Englischlehrerin, und ihre fünf Kinder.
Die Phams sind Jesuiten, proamerikanisch. Der Vater bindet
sich die Tochter, Son Michael seinen Bruder, einen Krüppel,
auf den Rücken, und sie fliehen. Im Hafen von Saigon springen sie auf ein Containerschiff. Ohne Wasser und Lebensmittel
legt das Schiff ab, irrt zwei Wochen auf dem Pazifik umher,
bevor es von der US Air Force entdeckt wird. Über die Philippinen kommen die Phams in ein Flüchtlingscamp nach Amerika und werden von einer christlichen Gemeinde in Chicago
adoptiert. „Mein Vater musste als Eisenbahnarbeiter auf den
Knien Schienen reinigen, meine Mutter an der Kasse im Supermarkt arbeiten, aber das war alles egal, wir waren endlich
frei“, sagt Son Michael Pham und macht eine Pause. Die nächste
Frage formuliert er, als wäre es ein Diktat.
„Können Sie mir erklären, warum das Meer erst das
Leben meiner Eltern retten sollte, um es ihnen 30 Jahre später
wieder zu nehmen?“
Dann bestellt er ein Bier; die einzige Gefühlsregung an
diesem Abend in Seattle, sonst trinke er nie.
Die Phams fassen schnell Fuß, etablieren sich, sie kennen
sich aus mit dem Überleben. Im Ruhestand ziehen die Eltern
nach Westminster, Orange County, in Kalifornien, in eine Siedlung mit anderen Vietnamesen. Im November 2004 erfüllt sich
Son Michael Phams größter Wunsch: Seine Eltern wollen im
Herbst 2005 zum ersten Mal seit 30 Jahren nach Vietnam reisen,
in ihre Heimat. Sie wollen dort ihre Goldene Hochzeit feiern.
Z
uvor sollen sie es sich noch so richtig gut
gehen lassen. Zum Muttertag schenken Son
Michael und seine Schwester Sheryl den
Eltern eine Kreuzfahrt. Mit Sheryl, deren
Tochter und einer Freundin besteigen Hue Pham, 71, und seine
Frau Hue Tran, 67, am Sonntag, dem 9. Mai 2005, in San Juan,
Puerto Rico, das Kreuzfahrtschiff „Destiny“, das Carnival gehört. Zu fünft beziehen sie eine Kabine. Am Donnerstagabend,
das Schiff nimmt Kurs auf Aruba, wollen sie zum Dinner,
anschließend eine Varieté-Vorführung sehen. Die anderen
schauen noch fern. Es ist der 12. Mai 2005, 19.20 Uhr. Das
Ehepaar Pham wird nie mehr gesehen.
Um kurz vor Mitternacht klingelt das Telefon in der
Kabine. Front Desk, man habe da etwas für sie. Sheryl Pham
geht zur Rezeption, ein Steward gibt ihr ein Plastiksäckchen,
darin die Sandalen ihrer Eltern und der Geldbeutel der Mutter.
Das habe man an Deck gefunden. Am nächsten Morgen bekommt Son Michael Pham einen Anruf seiner Schwester:
Die Eltern sind verschwunden. Die Crew habe vier Stunden
gewartet, bevor die Küstenwache alarmiert worden sei, das
Fotos: bw photoagentur, intertopics/landov(2), agentur Bischoff
So sieht die höchste Priorität in der Praxis aus: Das
Ehepaar Brich* bucht drei Tage, Kiel–Oslo und zurück, auf der
„Color Fantasy“ der Color Line Reederei; „mit Autodeck, mit
Spa und Fitnesscenter, Einkaufspromenade, Aqualand, Golf­
simulator und acht verschiedenen Restaurants“, wie es auf der
Homepage steht. Ein Casino gibt es für die 2750 Passagiere
auch, und einen „Adventure Planet“. Tolles Angebot, denken
sich die Brichs und kaufen im Internet zwei Tickets à 99 Euro.
Am 4. November 2007 stehen sie in der Halle am Kai, um die
Tickets abzuholen. Da Frau Brich keinen Pass dabeihat, geht
Herr Brich allein an den Schalter. Er legt den Reservierungsausdruck vor und bekommt die zwei Tickets. Er muss weder sich
noch seine Frau mit einem Ausweis oder Pass identifizieren. Vor
der Brücke befindet sich eine kleine Schranke wie in der Pariser
Metro, die sich öffnet, als sie ihre Tickets hineinschieben. Es gibt
keinen Metalldetektor und kein Röntgengerät, niemand kon­
trolliert Mäntel oder Koffer. Pünktlich um zwei legt das Schiff
ab. Hätte Herr Brich statt seiner Frau einen Terroristen, Gangster oder Drogendealer mitgenommen, niemand hätte es bemerkt. Am nächsten Morgen um neun Uhr Ankunft in Oslo.
Das Ehepaar Brich verlässt das Schiff, ihr Gepäck bleibt an Bord.
Wäre in ihrem Koffer eine Bombe, dann, ja, was dann?
„Die Leute gehen auf ein Schiff und denken: Wenn was
passiert, rufe ich die Polizei. Aber auf See gibt es keine!“,
schreibt Charles Lipcon in seinem Buch „Unsafe on the High
Seas“. Der Anwalt aus Miami ist mit Mandaten von Kreuzfahrt­
opfern reich geworden. Auf seiner Website cruisebruise.com
werden die Listen der Vorfälle täglich länger. Er berät nicht
nur Angehörige von Vermissten, sondern auch Frauen, die
von Crew-Mitgliedern vergewaltigt, und Passagiere, die an
Bord krank wurden und keine ausreichende medizinische Versorgung bekamen. „Auf einem Schiff mit einer Kapazität von
2500 Passagieren gibt es durchschnittlich einen Sicherheitschef, der acht Sicherheitsoffiziere beaufsichtigt, die in Schichten arbeiten, sodass nie mehr als vier auf einmal on duty sind.“
Für den Experten ist klar, dass die Vermissten Opfer von
Verbrechen wurden, deren Ursache das Personal ist.
Die BBC-Dokumentation „The Price of Fun“ deckte letztes Jahr auf, dass niedere Angestellte wie Barkeeper, Zimmermädchen oder Schiffswarter meist aus Dritte-Welt-Ländern
kommen. Um einen Job auf See zu ergattern, kaufen sie sich
mit bis zu 2 000 Dollar ein, unter der Hand. Obwohl die Kreuzfahrtgesellschaften versichern, dass ihre Angestellten ausgeruht sind, arbeiten die meisten 18 Stunden am Tag, sieben Tage
die Woche, bis zu zehn Monate am Stück. Ihr Verdienst ist oft
nicht höher als 50 Dollar im Monat. Sie sind auf Trinkgelder
angewiesen und müssen davon ihre Familien ernähren. Diese
Crew betreut Gäste, die viel Geld mitbringen, in Abendroben
dinieren und Schmuck ins Casino ausführen. Erste Welt prallt
auf Dritte Welt, die einen lassen es krachen, die anderen rackern ums Überleben. Die einen schlafen in feinen Suiten, die
anderen in Kojen unter Deck, zu denen der Zutritt verboten
ist. Und wenn etwas passiert?
„Für die Sicherheit an Bord ist allein die Reederei verantwortlich“, sagt Volker Schellhammer vom Bundesamt für Seeschifffahrt in Hamburg.
Schiff sei einfach weitergefahren. Auch über die Lautsprecher
habe man keine Durchsage machen wollen, es sei schon spät
gewesen, man habe die anderen Passagiere nicht wecken wollen. Nach 13 Stunden sei die Suche für beendet erklärt worden.
Son Michael fliegt nach Westminster, findet kein An­
zeichen für einen Freitod. Er ruft bei Carnival an, die sagen,
dies sei Sache der Behörden. Er ruft beim FBI an, die sagen, sie
würden ihr Bestes tun. Selbstmord schließt Pham aus, spricht
von rassistischen Kommentaren vor dem Verschwinden, von
einem Angestellten, der in der Kabine geschnüffelt habe, will
aber nicht spekulieren. „Ich sage mir immer: Mum und Dad
waren zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Von Carnival
bekommt er keine Hilfe.
Mit Ken Carver gründet Son Michael Pham im Januar
2006 den Verein International Cruise Victims. Auf ihrer Website publizieren sie Vorfälle und geben Opfern Ratschläge. Sie
haben eine Notfallnummer angegeben, zu Son Michael Phams
Handy. „Schuld ist ein System, das von der Politik seit Jahrzehnten geduldet wird“, so Pham.
Um die hohen Kosten für ihre Schiffe wieder reinzuholen, sparen die Kreuzfahrtlinien, wo sie nur können. Ihre
Schiffe fahren unter Flaggen von Ländern wie Liberia, Panama
oder den Bahamas. So umgehen sie enorme Steuerzahlungen
und Arbeitsgesetze von Ländern wie Deutschland oder den
USA. Sie engagieren billiges Personal und investieren in
Werbung und Lobbyarbeit, um das Event und den romantischen Traum Kreuzfahrt zu propagieren.
„Die Kreuzfahrtgesellschaften versuchen, Vorfälle unter
den Teppich zu kehren, weil sie nichts mehr fürchten als
schlechte Presse. Sie profitieren davon, dass die Angehörigen
nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Bei Vermissten
heißt es immer: Es spricht viel für Selbstmord. In dieser In­
dustrie geht es um Milliarden, sie hat eine sehr effektive
­Lobby“, sagt Ken Carver. Viermal haben Carver, Son Michael
Pham und ihre Leidensgenossen schon vor dem Kongress in
Washington D. C. ausgesagt und einen Zehn-Punkte-Plan eingereicht, der die Sicherheit der Passagiere verbessern soll.
Kleine Erfolge stellen sich ein: Ken Carver war bei
Senator John Kerry, der fordert, dass unabhängige Sicherheitsleute verbindlich mit auf See müssen. Die Medien greifen das Thema auf, der Guardian in London berichtet, die
L. A. Times, Son Michael Pham war bei Nancy Grace auf CNN.
Ross Klein führt auf seiner Website cruisejunkie.com eine
Statistik über die Opfer. Sein Buch „Cruise Ship Squeeze: The
New Pirates of the Seven Seas“ deckt die Machenschaften der
Kreuzfahrtindustrie auf. „Unsere einzige Chance ist die
­Öffentlichkeit. Wir stellen fest, dass die Big Player hier in
Amerika Imageprobleme bekommen, weshalb sie ihre Schiffe
häufiger nach Europa oder Asien schicken. Unsere Arbeit ist
nicht umsonst“, sagt Carver. Seine Frau Carol, die in der Küche das Abendessen zubereitet, glaube immer noch, dass ihre
Merrian wieder nach Hause kommt. Er wolle dabei helfen.
Von Cunard hört die Familie L. nur noch einmal etwas.
Per Post kommt ein Scheck über die Summe, die Sabine L. für
ihren Traum der Kreuzfahrt bezahlt hat. Ihr Verschwinden ist,
so die Logik der Linie, umsonst.
Das längste Passagierschiff der Welt,
die „Queen Mary 2“, gehört zum Kreuz­
fahrtkonzern des Amerikaners Micky
Arison. Seine Carnival Corporation
beherrscht 50 Prozent des Marktes und
erzielte 2006 sage und schreibe
2,3 Milliarden Dollar: Überschuss
Das größte Passagierschiff der Welt,
die „Freedom of the Seas“, hält sich
Arisons Landsmann und Konkurrent
Richard D. Fain. Seine Royal Caribbean
Cruise Line hat einen Marktanteil von
30 Prozent. Beide Gesellschaften
werden an der New Yorker Börse geführt
*Name von der Redaktion geändert
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