1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH

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1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH
SPIELZEIT 06/07
Materialien zu
NUR NOCH HEUTE
Stück von Sabine Harbeke
Premiere 28.10.06 im Podium
Zusammengestellt von
Schauspieldramaturg
Michael Sommer
Tel. 0731/161 44 15
[email protected]
Das Stück
Text von Michael Sommer über NUR NOCH HEUTE;
Übersicht über die Materialien............................................................................. S. 2
Die Autorin
Text von Michael Sommer über Sabine Harbeke und ihre Stücke...................... S. 4
„Wie kutschiert man über Jahre?“
Interview mit Sabine Harbeke über NUR NOCH HEUTE ..................................... S. 10
Hügel wie weiße Elefanten
Kurzgeschichte von Ernest Hemingway im Original und in Übersetzung .......... S. 12
Ruf an, wenn du mich brauchst
Kurzgeschichte von Raymond Carver .................................................................. S. 19
Über Raymond Carver
Philipp Carson „Carver und der Alkohol“
William L. Stull „Carver und Tschechow“............................................................ S. 27
Der Untergang des Amerikanischen Imperiums
Exzerpte aus dem Skript des Spielfilms von Denys Arcand ............................... S. 33
Geschichte der Ehe
Ein NZZ Portfolio zur Geschichte der Ehe von François Höpflinger ................... S. 36
Ehe und Singledasein
Stefan Hradil: Die Single-Gesellschaft
Frank Naumann: Die Familie – Ein Auslaufmodell?
André Habisch: Erfolgsmodell Ehe ..................................................................... S. 42
Quellennachweise ........................................................................................... S. 45
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NUR NOCH HEUTE
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Michael Sommer
DAS STÜCK
NUR NOCH HEUTE basiert auf Kurzgeschichten des amerikanischen Autors
Raymond Carver (1938-1988), der wegen seines lakonischen Stils oft zu den so
genannten „Minimalisten“ gezählt wird. Seine Figuren kämpfen sich in „privater
Verzweiflung durchs Leben und erkennen in seltenen Augenblicken von Klarheit,
dass das gute Leben, von dem sie gehofft hatten, es durch harte Arbeit zu erreichen,
nicht kommen wird“ (Philip Carson). Die Stücke von Sabine Harbeke sind von
ähnlichen Menschen bevölkert. Naheliegend also, dass die Autorin auf Geschichten
dieses Meisters des Alltagstons zurückgegriffen hat, um sie zu dramatisieren. Die
Figuren des Stücks ähneln sich alle. Sie sind prosaische Helden, die unter kaputten
Beziehungen leiden und verzweifelt nach Auswegen suchen. Fast austauschbar sind
sie in ihren Schicksalen, so dass Harbeke vorschreibt, die neun Rollen von fünf
Schauspielern spielen zu lassen, die jeweils von Szene zu Szene ihre Identität
ändern. Eine Frage treibt sie um: Was ist Liebe, wie lässt sie sich retten, festhalten,
konservieren? Antworten werden nicht gegeben, aber es glänzen Augenblicke auf,
die Ausnahmen von der deprimierenden Regel des Zerfalls zu sein scheinen.
INHALT
In sieben verschachtelten Szenen verfolgt NUR NOCH HEUTE die Schicksale von
Paaren, ehemaligen Paaren, einzelnen Menschen. Teils berühren sich die Figuren
inhaltlich, teils sind sie durch theatralische Mittel miteinander verbunden. So gehen
Schauspieler, die in einer Szene gespielt haben, offen in die nächste Szene über, um
dort eine andere Figur zu spielen.
Es handelt sich um vier zugrunde liegende Geschichten: Mary und Robert kommen in
einem Ferienhaus an, um den Sommer gemeinsam zu verbringen. Sie sind
verheiratet, haben einen Sohn und jeder der beiden hat eine weitere Beziehung. Sie
haben vor, sich den Sommer zu geben, um noch einmal zu versuchen, ihre Ehe zu
retten. Während Robert alles versucht, um Harmonie und Alltäglichkeit herzustellen,
kann Mary nicht über die Schwierigkeiten, die sie haben, hinweg sehen. Am Ende des
Stücks beschließt sie, am nächsten Tag wieder abzufahren.
Die zweite Geschichte ist mit der ersten inhaltlich verbunden: Die beiden Paare
Jennifer und Mark und Sally und Frederick verbringen den Abend miteinander. Mark
ist Arzt, er hat die Opfer eines Unfalls behandelt (?), von dem Mary und Robert in der
ersten Geschichte erzählen. Thema der Unterhaltung zwischen den beiden Paaren
ist die Liebe: Mark erzählt zum einen von den Unfallopfern, einem alten Ehepaar, das
nur sehr knapp überlebt hat, nur um depressiv zu werden, weil sie für die Dauer
ihres Krankenhausaufenthaltes einander nicht sehen können. Zum anderen erzählt
er von Jennifers Exmann und seiner Exfrau, Beziehungen, mit denen die beiden noch
nicht fertig sind.
Die dritte Geschichte ist eine Begegnung zwischen dem einsilbigen Burt und seiner
Exfrau Sarah. Er kommt unangemeldet und nach langer Zeit zu ihr, es platzt aus ihr
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heraus, sie macht ihm Vorwürfe, verzeiht ihm, unterstellt ihm, dass er nur
gekommen ist, um Stoff zu finden (er ist offensichtlich Schriftsteller).
Die vierte Geschichte schließlich ist der Monolog von Jeff, einem geschiedenen
Mann. Er ist verschuldet, weil er seinem Bruder viel Geld geliehen hat, und darüber
hinaus auch Verpflichtungen gegenüber seiner Mutter und seinen Kindern
nachkommen muss. Sein Leben scheint aufopferungsvoll, er wird zum
Sympathieträger, was dadurch wieder qualifiziert wird, dass wir im Laufe seines
Monologs von seinem Alkoholismus und seiner Gewalttätigkeit hören.
MATERIALIEN ZU NUR NOCH HEUTE
Der Titel einer bekannte Kurzgeschichte von Raymond Carver, die die Grundlage zu
zwei Szenen in NUR NOCH HEUTE bildet, lautet: „Wovon wir reden, wenn wir von
Liebe reden.“ Diese Phrase fasst das Thema des Stücks prägnant zusammen: Es
geht um Menschen Ende dreißig, Anfang vierzig, deren Beziehungen gefährdet,
zerbrochen oder in Frage gestellt sind. Statt dieser bekannten Kurzgeschichte habe
ich mich entschieden, die weniger bekannte, posthum veröffentlichte Geschichte
„Ruf mich an, wenn du mich brauchst“ von Raymond Carver in die
Materialiensammlung aufzunehmen. Sie bildet die Grundlage für die Szenen von
Mary und Robert in NUR NOCH HEUTE.
Wenn die Figuren im Stück über sich, über ihre Beziehungen sprechen, so tun sie
das meist indirekt, sie sprechen lieber übers Angeln, die Aussicht, die
Geldschwierigkeiten. Die Vermeidungsstrategien ihres Diskurses sind gerade in der
amerikanischen Literatur nicht ohne Vorläufer. Ich habe eine Kurzgeschichte von
Ernest Hemingway „Hügel wie weiße Elefanten“ (im Original und in Übersetzung) in
die Materialiensammlung zu NUR NOCH HEUTE aufgenommen, um eine solche
„historische“ Parallele vorzuschlagen. Hemingway, der natürlich auch zu den großen
Mentoren von Raymond Carver zählt, lässt hier genauso wie Carver und Harbeke
seine Figuren konsequent das eigentliche Thema aussparen. Alkohol hilft ihnen,
unbequeme Fragen zu stellen – und Alkohol fließt hier wie dort reichlich. Nur
Antworten findet man auch auf dem Grund der Ginflasche keine.
An dieser Stelle muss auch die Verknüpfung mit der Biographie von Raymond Carver
erwähnt werden, der in weiten Teilen seiner Stories wohl durchaus eigene
Erfahrungen verarbeitet. Carver war jahrelang Alkoholiker und zweimal verheiratet –
ständig wiederkehrenden Attribute in der Welt seiner Figuren. Ich habe ein
Biographisches Essay über den Autor ins Deutsche übersetzt und ebenfalls den
Materialien beigegeben.
Die Situationen der Paare und der einzelnen Partner gleichen sich in ihrer
Machtlosigkeit, ihrer Lähmung gegenüber der Unmöglichkeit, individuelles Glück in
einer Beziehung zu finden. Hier liegt eine Verbindung zu dem Film „Der Untergang
des Amerikanischen Imperiums“, aus dem ich einen Teil des Dialoges transkribiert
habe. Zum allgemeinen gesellschaftlichen Kontext, nämlich zur Geschichte der
Institution Ehe und zum Trend zur Single-Dasein, informieren zwei weitere Texte.
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Michael Sommer
DIE AUTORIN
"Meine Arbeit ist der Versuch, Geschichten des gewöhnlichen
Lebens zu erzählen, ohne dabei dessen Poesie und Aktualität zu
übersehen. Ich empfinde es als notwendig, die Banalität des
Alltags zu erdulden und sie zu fokussieren. Für mich ist sie
Verweis und Umsetzung der eigentlichen Komplexität des Lebens.
Die Arbeit mit den Schauspielern ist zentral. Sie sind diejenigen,
die meine Texte beleben. Die bei diesem Prozess entstehende
Reibung lässt eine Emotionalität entstehen, die den Zuschauer mit
einbezieht." (Sabine Harbeke)
Foto: Peter Walder
Sabine Harbeke, 1965 in der Schweiz geboren, studierte zunächst Visuelle
Kommunikation in Luzern und später Filmregie an der School of Visual Arts in New
York. Sie lebte von 1996 bis 2002 in New York, wo sie dokumentarische und fiktionale
Kurzfilme drehte. Unter anderem filmte und begleitete sie Schauspieler bei ihrer
Arbeit im Actors Studio, der berühmtesten Schauspielwerkstatt der USA. Seit 1998
ist sie selbst Mitglied der „Process Unit for Directors and Writers“ des Actors Studio.
Ihre ersten Texte erschienen 1996 unter dem Titel ‚Alltagsgeschichten'. 1999 schrieb
und inszenierte sie (mit amerikanischen und deutschen Schauspielern) den
szenischen Text GOD EXISTS für das Hope and Glory Festival in Zürich, mit dem sie
zu verschiedene Festivals und auch nach New York eingeladen wurde. Im gleichen
Jahr drehte sie den Pilotfilm ‚Seefeld' für den Schweizer Fernsehsender TV3. Ihre
nächsten Stücke entstanden als Auftragsarbeiten für das Theater Neumarkt in
Zürich: WÜNSCHEN HILFT (2000), SCHNEE IM APRIL (2001), DER HIMMEL IST WEISS
(2003) und LUSTGARTEN (ebenfalls 2003). Sie wurden jeweils in der Regie der
Autorin uraufgeführt. NUR NOCH HEUTE wurde im März 2004 im Theaterhaus
Gessnerallee in Zürich uraufgeführt und 2005 als Gastspiel in den Sophiensälen in
Berlin gezeigt. Das Schauspielhaus Bochum spielt das Stück seit Anfang Juni 2006
als „deutsche Erstaufführung“. Sabine Harbeke unterrichtet an der Hochschule für
Musik und Theater, Zürich, und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern.
Ihre jüngsten Stücke sind UND JETZT / AND NOW (UA 2004, Thalia Theater), und
NACHTS IST ES ANDERS, 2005 für die Frankfurter Positionen geschrieben, wo das
Stück als szenische Lesung präsentiert wurde.
ÜBER DIE STÜCKE VON SABINE HARBEKE
Sabine Harbeke schreibt prinzipiell in Minuskeln. Diese Eigenheit wirkt wie eine
Verlängerung der verbalen Sparsamkeit ihrer Figuren. Äußerst knapp sind sie im
Ausdruck, benutzen häufig nur Ein-Wort-Repliken, scheinen dekoratives Sprechen,
oder auch nur die Fähigkeit sich selbst einigermaßen erschöpfend auszudrücken, nie
erlernt zu haben. Wiederholungen, ein verbales Sich-Im-Kreis-Drehen, kommen
immer wieder vor. Die Welt von Sabine Harbeke ist keine Idylle, es ist eine
Alltagswelt, deren Einwohner sich oft nicht verständlich machen können. Dennoch
ist ihre Schreibweise deutlich unterschieden etwa von den Volksstücken von Franz
Xaver Kroetz, der die Figuren, die einfachen Leute, ebenfalls sehr wortkarg daher
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kommen lässt. Man tut ihm sicher nicht unrecht, einen gewissen Naturalismus als
Ausgangspunkt zu unterstellen – wie sich etwa in seiner konsequenten Benutzung
von süddeutschen Dialekten zeigt – das jedoch scheint Harbekes Interesse gar nicht
zu sein. Obwohl die sprachliche Knappheit ihrer Figuren der Alltagswelt sicher
ähnlich ist, bleibt doch stets der Eindruck einer kunstvollen Verdichtung der
Sprache, einer Reduzierung auf das Wesentliche, das paradoxerweise immer das
Unwesentliche ist. Wenn man einen Vergleich aus der bildenden Kunst heranziehen
will, erinnert sowohl ihre formale Reduziertheit als auch die Kleinschreibung an den
Schweizer Architekten und Bildhauer Max Bill (1908-1994), einen Hauptvertreter der
Konkreten Kunst. Bills Skulpturen, die stets auf dem ästhetischen Reiz der
einfachsten (mathematisch beschreibbaren) Formen beruhen, wurden von ihm als
sinnliche „Konkretionen“ abstrakter Ideen aufgefasst. Dieser Vorgang ist dem
Schreiben von Sabine Harbeke vergleichbar: Ihre Dialoge sind nur die Oberflächen
von Ideen, Gefühlen, Konflikten, die unausgesprochen im Inneren der Figuren
ausgetragen werden. Vieles läuft unter der Oberfläche ab, und genau hier liegt der
Reiz ihrer Texte. Sie sind auf die einfachste Form reduzierte verbale Interaktion, die
jedoch einen Kosmos in sich birgt. Im Folgenden ein Überblick über die bisher von
Sabine Harbeke veröffentlichten Stücke.
WÜNSCHEN HILFT. 2000
Drei Geschwister, die Augenärztin Kathrin, der Buchhändler Matthias und die
Radiomoderatorin Anne, kommen nach dem Tod ihrer Mutter im Elternhaus
zusammen, um ein Sommerfest zu ihrem Gedenken zu feiern. Das Haus wird jetzt
von Samuel, einem stummen Grafiker bewohnt, der als junger Mann bei der Familie
eingezogen war und die Mutter bis zu ihrem Tod pflegte. Der fünfte in der Runde ist
Dirk, Annes Mann. Unter der zunächst heiteren Oberfläche des Sommernachmittags
liegen schwierige Verhältnisse und Erinnerungen: Der Vater hatte sich selbst getötet,
und wurde von den Kindern gefunden. Schon der Umgang mit diesem Jahre zurück
liegenden Verlust fällt den Geschwistern nicht leicht, und noch schwieriger wird die
Situation als Samuel gesteht, er habe die Mutter der drei geliebt und habe mit ihr in
einer Beziehung gelebt.
Der Umstand, dass eine Familiengeschichte verhandelt wird, indem alle Kinder im
Elternhaus zusammen kommen und einen Tag miteinander verbringen, lässt
unwillkürlich an Tschechow denken. Vielmehr als dieses Konstruktionsprinzip hat
das Stück freilich nicht mit dem russischen Dramatiker zu tun. Die Figuren sind
verschleppten Konflikten ausgesetzt, und man hat den Eindruck, dass sie sich nur
deshalb treffen, um diese Konflikte auszutragen, was sie auch in relativer
Freundlichkeit tun. Die Sprache ist fließend, relativ alltäglich, aufgepeppt durch die
Gebärdensprache des stummen Samuel und die Radiomoderatoren-Einlagen von
Anne.
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SCHNEE IM APRIL. 2002
Als Glenn mit seiner Frau Amy seinen Geburtstag feiert, steht unerwartet ein Mann
vor der Tür, der behauptet, sein Halbbruder zu sein. Nach anfänglichem Zögern
glaubt Glenn Scott seine Geschichte und lädt ihn ein, da zu bleiben, während Amy
dem Eindringling mit unverhohlener Ablehnung begegnet. Scott drängt sich in das
Leben des Paares und verursacht schwerwiegende Krisen zwischen den beiden, bis
Amy seine Behauptungen gründlich hinterfragt. Während Scott am Schluss
verschwindet, finden Amy und Glenn vorsichtig wieder zueinander. Neben die kleine
Wohnung des Paares setzt Harbeke eine Nachbarwohnung, in der eine junge Frau
ohne Worte ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht – für die gesamte Dauer
des Stücks, vorwiegend liest sie Zeitung, trinkt Pepsi und schaut sich Ausschnitte
aus Videofilmen an.
Wieder eine Familiengeschichte, die allerdings gar nichts Tschechowsches mehr an
sich hat. Die bedrohliche Atmosphäre, die die Einnistung von Scott ins Leben seines
vermeintlichen Halbbruders hervorruft, erinnert an Pinter. Auch durch das stumme
Spiel der Nachbarin wird die Erwartung des Lesers in Richtung große Entladung
gelenkt, aber die Auseinandersetzung bleibt gedeckelt, es kommt nicht zur
Explosion.
DER HIMMEL IST WEISS. 2002
Erzählt wird die Geschichte von Maria, ihrem Mann Paul, ihrem früheren Freund Jan
und ihrem Geliebten Eb. In dreizehn Szenen, die achronologisch hin und her
springen, aber in ihrer Struktur sehr ähnlich sind, verfolgt man Marias Leben,
eigentlich ihre Daseinsform in unterschiedlichen Beziehungen: Mit 23 ist sie mit dem
unangepassten, flippigen Jan zusammen, mit dem sie eine wilde, romantische aber
absolut unausgewogene Beziehung führt. Später lernt sie Paul kennen, mit 37 führen
sie eine stabile Ehe, haben eine Tochter, ihre Beziehung ist zärtlich aber nicht
unbedingt spannend. Sie treffen sich in jeder Mittagspause im Park. Maria ist
verantwortliche Beraterin in einer Agentur. Mit 51 hat sie eine Affäre mit dem
Kapitän Eb, die zunächst sehr erfüllend und verheißungsvoll ist, aber von seiner
Seite beendet wird, und zwar in einem langen Prozess. Am Ende bleibt sie mit Paul
zusammen.
Alle Szenen des Stücks spielen in einem Park. Maria trifft mit ihren Männern stets in
höchst ähnlicher Weise zusammen. Der repetetive, monotone Charakter, den das
Stück hierdurch bekommt, erhöht zwar die Aufmerksamkeit für die
unterschiedlichen Haltungen der Protagonistin in ihren verschiedenen
Lebensphasen, verlangt dem Leser aber auch einige Kraftreserven ab. Sprachlich ist
DER HIMMEL IST WEISS sehr reduziert, oft folgen Repliken, die ausschließlich aus
einem Wort bestehen, aufeinander („Nein“ – „Doch“ – „Nein“).
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LUSTGARTEN. 2003
LUSTGARTEN besteht aus zwei Szenen: im ersten Teil sehen wir zwei Männer, die
sich irgendwie im luftleeren Raum bewegen. Aus ihrem Dialog setzen sich langsam
die Puzzleteile der Geschichte zusammen: sie haben als Mitfahrer eine Frau
begleitet, sich lange mit ihr unterhalten, sogar Karaoke mit ihr gesungen, bis sie sie
schließlich, vielleicht aus einem Scherz heraus, in den Kofferraum gesperrt haben.
Ob eine Vergewaltigt statt gefunden hat, wird nicht ganz deutlich. Jetzt verhandeln
sie die Verantwortung, reden sich ein, dass es nicht so schlimm ist, und denken
darüber nach, wie lange sie im Kofferraum bleiben soll, wo sie schon seit Stunden
ist. Der zweite Teil ist der Monolog einer Frau. Wie sich heraus stellt, handelt es sich
um die Schwester der im ersten Teil als Opfer vorkommenden Frau. Sie liebt ihre
provokante, unangepasste Schwester nicht und wollte sich mit ihr Treffen, um ihren
Hund in Pflege zu nehmen.
Dieses Stück ist deshalb so spannend, weil die brutale Misshandlung der Frau, ihr
Schicksal, vollkommen der Phantasie des Zuschauers überlassen bleibt – er muss
sich zusammen reimen, was da passiert ist. Auch die Art, in der Harbeke durch den
Monolog der Schwester die Sympathie für das Opfer modifiziert, ist meisterhaft.
Sprachlich sehr lakonisch, vor allem, wenn die Männer reden.
NUR NOCH HEUTE. 2004
Dieses Stück nach Kurzgeschichten von Raymond Carver verfolgt in sieben
verschachtelten Szenen die Schicksale von Paaren, ehemaligen Paaren, einzelnen
Menschen. Teils berühren sich die Figuren inhaltlich, teils sind sie durch
theatralische Mittel miteinander verbunden. So gehen Schauspieler, die in einer
Szene gespielt haben, offen in die nächste Szene über, um dort eine andere Figur zu
spielen. Es handelt sich um vier zugrunde liegende Geschichten: Mary und Robert
kommen in einem Ferienhaus an, um den Sommer gemeinsam zu verbringen. Sie
sind verheiratet, haben einen Sohn und jeder der beiden hat eine weitere Beziehung.
Sie haben vor, sich den Sommer zu geben, um noch einmal zu versuchen, ihre Ehe zu
retten. Während Robert versucht, Harmonie und Alltäglichkeit herzustellen, kann
Mary nicht über die Schwierigkeiten, die sie haben, hinweg sehen. Am Ende des
Stücks beschließt sie, am nächsten Tag abzufahren. Die zweite Geschichte ist mit der
ersten inhaltlich verbunden: Die beiden Paare Jennifer und Mark und Sally und
Frederick verbringen den Abend miteinander. Mark ist Arzt, er hat die Opfer eines
Unfalls behandelt, von dem Mary und Robert in der ersten Geschichte erzählen.
Thema der Unterhaltung zwischen den beiden Paaren ist die Liebe: Mark erzählt zum
einen von den Unfallopfern, einem alten Ehepaar, das nur sehr knapp überlebt hat,
nur um depressiv zu werden, weil sie für die Dauer ihres Krankenhausaufenthaltes
einander nicht sehen können. Zum anderen erzählt er von Jennifers Exmann und
seiner Exfrau, Beziehungen, mit denen die beiden noch nicht fertig sind. Die dritte
Geschichte ist eine Begegnung zwischen dem einsilbigen Burt und seiner Exfrau
Sarah. Er kommt unangemeldet und nach langer Zeit zu ihr, es platzt aus ihr heraus,
sie macht ihm Vorwürfe, verzeiht ihm, unterstellt ihm, dass er nur gekommen ist,
um Stoff zu finden (er ist offensichtlich Schriftsteller). Die vierte Geschichte
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schließlich ist der Monolog von Jeff, einem geschiedenen Mann. Er ist verschuldet,
weil er seinem Bruder viel Geld geliehen hat, und darüber hinaus auch
Verpflichtungen gegenüber seiner Mutter und seinen Kindern nachkommen muss.
Sein Leben scheint aufopferungsvoll, er wird zum Sympathieträger, was dadurch
wieder qualifiziert wird, dass wir im Laufe seines Monologs von seinem
Alkoholismus und seiner Gewalttätigkeit hören.
Kaputte Beziehungen, darum geht es in diesem Stück, und sie sind sich alle ähnlich,
haben alle miteinander zu tun, wie sie Harbeke da beschreibt. Die sinnfällige
Austauschbarkeit der Figuren und Schicksale wird nur in einigen auffälligen
Momenten durchbrochen: zum einen ist es die Geschichte von den Unfallopfern, zum
anderen ist es das Paar Sally und Frederick, das nicht von sich spricht. Hier scheint
es Ausnahmen von der deprimierenden Regel des Zerfalls zu geben. Ein Stück, das
bei aller Düsterkeit doch sehr menschlich bleibt.
NACHTS IST ES ANDERS. 2005
Der Aufenthaltsraum eines Krankenhauses in dem in einer Nacht Menschen
zusammentreffen. Marie ist Patientin; sie ist erst 28, aber durch Bulimie derart
geschwächt, dass sie wohl bald sterben wird. Sie wird besucht von Martin, ihrem
Zwillingsbruder, den sie seit Jahren nicht gesehen hat – ihre Beziehung ist
schwierig, er hat sie mit dem Vater allein gelassen, bis auch sie irgendwann ging.
Martin trifft zufällig Pia, seine Jugendliebe, die Schwester im Krankenhaus ist. Sie
freut sich über das Treffen, erzählt ihm aber nicht, dass sie ein Kind von ihm hat –
und es ist unklar, ob sie sich wieder sehen werden. Pias Nachbar Schlick wartet auf
sie, weil er mit seinem Kumpel Weber zusammen Drogen von ihr kaufen will.
Unfreiwillig gerät er mit Jürgen Stoob aneinander, der mit seiner schwerhörigen und
etwas verwirrten Mutter zusammen auf den Ausgang einer Notoperation an seiner
Tochter wartet. Der gewalttätige, sadistische Stoob schlägt die beiden jungen
Männer und sediert seine Mutter mit Tabletten. Am Ende trifft er auf Marie, die auf
der Suche nach einem Mann für ein schnelles Sexabenteuer ist – er ist sehr
aufgeschlossen ihrem Ansinnen gegenüber, aber sie kommen nicht zusammen.
Eine interessante Konstellation von Figuren trifft da im Wartesaal, diesem
exemplarischen dramatischen Gesellschaftslaboratorium der Postmoderne,
aufeinander. Es ist das vielleicht actionreichste von Harbekes Stücken, in dem
Machtverhältnisse in Beziehungen ausgehandelt werden.
UND JETZT. 2005
Eine anonyme Gruppe von Menschen – sieben Schauspieler – spielen einige Szenen,
die lose inhaltlich miteinander verbunden sind. Die Figuren sind jeweils mit „eine
frau“ – „ein anderer“ – „sein bruder“ etc. bezeichnet, so dass es bei Szenen mit
vielen Figuren ausgesprochen schwierig ist, den Überblick über die Identitäten zu
behalten. Folgende Konstellationen: (1) alle – sprechen über Hundehaltung. (2) eine
frau – erzählt von ihrem Hobby: seit ihr Mann und ihr Geliebter im World Trade
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Center umgekommen sind, verletzt sie andere Menschen absichtlich. (3) er und sie –
ein ehemaliges Paar; sie kommt aufgeregt zu ihm, weil ihr Vater in einem fremden
Land verunglückt ist, er lässt sie auflaufen. Sie werden gestört von einem
Obdachlosen, der gegen Geld ein Gedicht schreiben will. (4) eine frau – wie (2). (5)
brüder – der eine verlässt seine Wohnung nicht mehr, seit er vor der Tür
zusammengeschlagen wurde. Sein Bruder versucht ihn, dazu zu bewegen, mit ihm
ans Totenbett der Mutter zu kommen. (6) zwei männer – ein mann auf der Straße
wird von dem Obdachlosen angesprochen, der ihm ein Gedicht gegen Geld schreiben
will. (7) eine frau – noch einmal die Frau von oben. (8) zwei männer – wieder der
Passant und der Obdachlose, ihre Begegnung endet gewalttätig, indem der Mann
dem Obdachlosen gegen seinen Willen Bier einflößt. (9) der eine und der andere - ein
schwules Paar, er ist Therapeut, der andere trockener Alkoholiker, der zum ersten
Mal seit Jahren wieder etwas getrunken hat. Die Szene endet absurd damit, dass sie
versuchen den Geruch zu konservieren, der in der Luft liegt. (10) bruder, schwester
und ehemann – Der amerikanische Ehemann feiert Geburtstag in seinem Office, mit
Blick auf Ground Zero. In der Ehe kriselt es. Der Bruder versucht die Schwester
davon zu überzeugen, wieder mit nach Deutschland zu kommen, aber das lehnt sie
bei aller Krise ab. (11) alle – reden über Hundehaltung, Kindesmissbrauch, Dinge, für
die sie sich schämen.
Der Elfte September spielt eine gewisse Rolle im Stück, ansonsten lässt sich ein
gemeinsames Thema nicht leicht formulieren. Es handelt sich wiederum um eine Art
Gesellschaftspanorama, insofern exemplarische Figuren unserer Zeit Geschichten
erzählen, freilich ohne festen formalen Rahmen.
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„Wie kutschiert man über Jahre?“
Interview mit Sabine Harbeke, Autorin von NUR NOCH HEUTE
Welche Bedeutung hat Raymond Carver generell für Sie, und wie wichtig war er bei
der Entstehung von NUR NOCH HEUTE?
Er ist einer meiner Helden und davon gibt es nicht so viele. Ich habe ihn für mich
entdeckt, als ich in New York lebte, erst später merkte ich, daß ganz Amerika ihn
schon lange verehrt, lange vor Short Cuts. Ich habe gleich eine Art Verwandtschaft
des Erzählens gespürt, und damals viel von ihm gelesen. Das war Anfang der
Neunziger. Als ich selbst zu schreiben begann, habe ich ihn nicht mehr gelesen, weil
ich wußte, daß ich etwas mit ihm zu tun habe. Erst viel später, als ich eine eigene
Sprache entwickelt hatte, habe ich mich der Aufgabe gestellt, Carver zu adaptieren.
Die Auswahl der Geschichten hat einiges mit Carvers Biographie zu tun, und selbst
für Leute, die Carver in- und auswendig kennen, öffnet sich vielleicht noch mal eine
ganz neue Perspektive.
Die Geschichten, die Sie als Grundlage benutzt haben, stammen alle aus den
Achtzigern. Haben diese Arten von Beziehungen heute noch genauso Gültigkeit? Also
spielt NUR NOCH HEUTE in den Achtzigern oder spielt es heute?
Heute. Unbedingt heute. Leider. Wir wissen ja immer noch nicht, wie man eigentlich
eine Liebe aufrecht erhalten soll über Jahrzehnte. (...) Manchmal habe ich das
Gefühl, man sollte, trotzdem die Figuren auf Carver basieren, deutsche Namen
verwenden. Als ich nur noch heute dieses Jahr in Bochum gesehen habe, dachte ich,
Mary und Robert müßten eigentlich Maria und Robert heißen. Dadurch wäre ein
anderer Bezug zu den Figuren möglich; man könnte sie sich nicht einfach vom Leibe
halten und sagen „Ja, so sind eben die Amis“.
Die Figuren leben in kaputten Ehen oder haben sie hinter sich. Ist – von Carver oder
auch von Ihnen - die Institution Ehe in Frage gestellt?
Das glaube ich nicht, weil auch ganz anders geheiratet wird in Amerika. Da hat man
ja schon mit dreißig – obwohl die Figuren alle zwischen 33 und 49 sind – eine Ehe
hinter sich. Vielleicht mit vierzig schon die zweite. Ich denke nicht, daß es die
Institution Ehe ist, die Carver in Frage stellt, ich übrigens auch nicht, sondern ganz
grundsätzlich die Liebe oder die Partnerschaft. Wie kutschiert man über Jahre –
auch wenn nicht mehr alles jungfräulich ist, man einige Lieben hinter sich hat und
schon angeschlagen ist. Man trägt ja immer einen Rucksack mit sich herum, ist
geschädigt durch verschiedene Beziehungen – und die Frage ist, wie kann man
trotzdem die nächste Liebe leben.
Die Geschichten im Stück sind miteinander verknüpft, formal dadurch, daß die
Schauspieler von einer Szene in die andere übergehen, und auch inhaltlich. Welche
Qualität hat dieses Geflecht für Sie? Ist es etwa wie in Schnitzlers REIGEN eine
Unentrinnbarkeit?
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Das war für mich der eigentliche Knackpunkt. Als ich diese Verknüpfungen gefunden
hatte, wusste ich, jetzt kann ich Carver adaptieren. Ich hatte einen eigenen Umgang
mit dem Material gefunden, denn ich wollte auf keinen Fall Short Cuts nachahmen.
Das Weiterreichen der Figuren ist für mich sehr wichtig. Die Tatsache, daß nicht
jeder nur ein Schicksal hat oder nur ein Schicksalsschlag erleidet und damit hat es
sich. Also die Unentrinnbarkeit: Wann kommt es wieder? Oder die Variante davon?
Und zieht sich so etwas durch das Leben durch, also auch bei einer dritten
Begegnung, mit der dritten Frau. Ich glaube, daß man aus diesem Geflecht, aus den
eigenen Mustern sehr schwer heraus findet. Deshalb habe ich die Figuren und ihre
Geschichten auf diese Art verdichtet.
Also Fallen, in die alle immer wieder tappen...
Wir sind ja alle latente Wiederholungstäter.
Es sind Momentaufnahmen von Lebenssituationen, die in NUR NOCH HEUTE gezeigt
werden. Besteht die Möglichkeit für die Figuren, etwas zu ändern? Eine Frage also
nach dem Optimismus im Stück.
Ich finde beispielsweise jeff ist trotz allem noch optimistisch. Obwohl er sich mit
Hemd und Seele verkauft, alles gibt, was er hat und unheimlich einsam ist, sagt er
am Schluß „sie sind alle gesund... das ist das wichtigste.“ Und er macht weiter, es
gibt immer noch einen Funken Hoffnung.
Abschließend noch eine Frage: Was hat es mit dem fischförmigen Salzgebäck auf
sich?
(lacht) Naja, Carver war leidenschaftlicher Fischer.
Ich hatte eigentlich erwartet, daß Sie mir jetzt sagen „Ich esse gern Goldfischli.“ Aber
so einfach konnte es natürlich nicht sein.
Nein, konnte es nicht – das ist wohl ein Zeichen meiner Liebe zum Detail. Oder wie
die Amerikaner sagen: „God lives in the details“.
Das Gespräch mit Sabine Harbeke führte Schauspieldramaturg Michael Sommer.
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Ernest Hemingway
HILLS LIKE WHITE ELEPHANTS
The hills across the valley of the Ebro were long and white. On this
side there was no shade and no trees and the Station was between
two lines of rails in the sun. Close against the side of the station
Acre was the warm shadow of the building and a curtain, made of
strings of bamboo beads, hung across the open door into the bar, to
keep out flies. The American and the girl with him sat at a table in
the shade, outside the building. It was very hot and the express
from Barcelona would come in forty minutes. It stopped at this
Ernest Hemingway
junction for two minutes and went on to Madrid.
'What should we drink?' the girl asked. She had taken off her hat and put it on the
table.
'It's pretty hot,' the man said.
'Let's drink beer.'
'Dos cervezas,' the man said into the curtain.
'Big ones?' a woman asked from the doorway.
'Yes. Two big ones.'
The woman brought two glasses of beer and two felt pads. She put the felt pads
and the beer glasses on the table and looked at the man and the girl. The girl was
looking off at the line of hills. They were white in the sun and the country was brown
and dry.
'They look like white elephants,' she said.
'I’ve never seen one.’ The man drank his beer.
'No, you wouldn't have.'
'I might have,' the man said. 'Just because you say I wouldn't have doesn't prove
anything.'
The girl looked at the bead curtain. 'They’ve painted something on it,' she said.
'What does it say?'
'Anis del Toro. It's a drink.'
'Could we try it?'
The man called 'Listen' through the curtain.
The woman came out from the bar.
'Four reales.'
'We want two Anis del Toros.'
'With water?'
'Do you want it with water?'
'I don't know,' the girl said. 'Is it good with water? '
'It's all right.'
'You want them with water?' asked the woman.
'Yes, with water.'
'It tastes like licorice,' the girl said and put the glass down.
'That's the way with everything.'
'Yes,' said the girl. 'Everything tastes of licorice. Especially all the things you've
waited so long for, like absinthe.'
'Oh, cut it out.'
'You started it,' the girl said. 'I was being amused. I - was having a fine time.'
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'Well, let's try and have a fine time.'
'All right. I was trying. I said the mountains looked like white elephants. Wasn't
that bright? '
'That was bright.'
'I wanted to try this new drink. That's all we do, isn't it - look at things and try new
drinks ?'
'I guess so,'
The girl looked across at the hills.
'They're lovely hills,' she said. 'They don't really look like white elephants. I just
meant the colouring of their skin through the trees.'
'Should we have another drink?'
'All right.'
The warm wind blew the bead curtain against the fable.
'The beer's nice and cool,' the man said.
'It's lovely,' the girl said.
'It's really an awfully simple Operation, Jig,' the man said.
'It's not really an Operation at all.'
The girl looked at the ground the table legs rested on.
'I know you wouldn't mind it, Jig. It's really not anything. It's just to let the air in.'
The girl did not say anything.
'I'll go with you and I'll stay with you all the time. They just let the air in and then
it's all perfectly natural.'
'Then what will we do afterwards? '
'We'll be fine afterwards. Just like we were before. '
'What makes you think so?'
'That's the only thing that bothers us. It's the only thing that's made us unhappy. '
The girl looked at the bead curtain, put her hand out and took hold of two of the
strings of beads.
'And you think then we'll be all right and be happy.'
'I know we will. You don't have to be afraid. I've known lots of people that have
done it.'
'So have I,' said the girl. 'And afterward they were all so happy.'
'Well,' the man said, 'if you don't want to you don't have to. I wouldn't have you do
it if you didn't want to. But I know it's perfectly simple.'
'And you really want to?'
'I think it's the best thing to do. But I don't want you to do it if you don't really want
to.'
'And if I do it you'll be happy and things will be like they were and you'll love me?'
'I love you now. You know I love you.'
'I know. But if I do it, then it will be nice again if I say things are like white
elephants, and you'll like it?'
'I'll love it. I love it now but I just can't think about it. You know how I get when I
worry.'
'If I do it you won't ever worry?'
'I won't worry about that because it's perfectly simple.'
'Then I'll do it. Because I don't care about me.'
'What do you mean?'
'I don't care about me.'
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'Well, I care about you.'
'Oh, yes. But I don't care about me. And I'll do it and then everything will be fine.'
'I don't want you to do it if you feel that way.'
The girl stood up and walked to the end of the Station. Across, on the other side,
were fields of grain and trees along the banks of the Ebro. Far away, beyond the
river, were mountains. The shadow of a cloud moved across the field of grain and she
saw the river through the trees.
'And we could have all this,' she said. 'And we could have everything and every day
we make it more impossible.'
'What did you say?'
'I said we could have everything.'
'We can have everything.'
'No, we can't.'
'We can have the whole world.'
'No, we can't.'
'We can go everywhere.'
'No, we can't. It isn't ours any more.'
'It's ours.'
'No, it isn't. And once they take it away, you never get it back.'
'But they haven't taken it away.'
'We'll wait and see.'
'Come on back in the shade,' he said. 'You mustn't feel that way.'
'I don't feel any way,' the girl said. 'I just know things.'
'I don't want you to do anything that you don't want to do-'
'Nor that isn't good for me,' she said. 'I know. Could we have another beer?'
'All right. But you've got to realize -'
'I realize,' the girl said. 'Can't we maybe stop talking? '
They sat down at the table and the girl looked across at the hills on the dry side of
the valley and the man looked at her and at the table.
'You've got to realize,' he said, 'that I don't want you to do it if you don't want to. I'm
perfectly willing to go through with it if it means anything to you.'
'Doesn't it mean anything to you? We could get along.'
'Of course it does. But I don't want anybody but you. I don't want anyone else. And I
know it's perfectly simple.'
'Yes, you know it's perfectly simple.'
'It's all right for you to say that, but I do know it.'
'Would you do something for me now?'
'I'd do anything for you.'
'Would you please please please please please please please stop talking?'
He did not say anything but looked at the bags against the wall of the Station.
There were labels on them from all the hotels where they had spent nights.
'But I don't want you to,' he said, 'I don't care anything about it.'
'I'll scream.' the girl said.
The woman came out through the curtains with two glasses of beer and put them
down on the damp felt pads. 'The train comes in five minutes,' she said.
'What did she say?' asked the girl.
'That the train is coming in five minutes.'
The girl smiled brightly at the woman, to thank her.
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'I'd better take the bags over to the other side of the station,' the man said. She
smiled at him.
'All right. Then come back and we'll finish the beer.'
He picked up the two heavy bags and carried them around the Station to the other
tracks. He looked up the tracks but could not see the train. Coming back, he walked
through the bar-room, where people waiting for the train were drinking. He drank an
Anis at the bar and looked at the people. They were all waiting reasonably for the
train. He went out through the bead curtain. She was sitting at the table and smiled
at him.
'Do you feel better?' he asked.
'I feel fine,' she said. 'There's nothing wrong with me. I feel fine.'
Aus: Ernest Hemingway. Men Without Women. London: Grafton, 1977.
Ernest Hemingway
HÜGEL WIE WEISSE ELEFANTEN
Die Hügel jenseits des Ebrotals waren lang und weiß. Auf dieser Seite gab es keinen
Schatten und keine Bäume, und der Bahnhof lag zwischen zwei Schienensträngen in
der Sonne. Bis dicht an den Bahnhof fiel der warme Schatten des Gebäudes, und ein
Vorhang der aus Schnüren von Bambusperlen gemacht war, hing, um die Fliegen
abzuhalten, vor der offenen Tür, die in die Bar führte. Der Amerikaner und das
Mädchen, das mit ihm war, saßen draußen vor dem Gebäude an einem Tisch im
Schatten. Es war sehr heiß, und der Express aus Barcelona sollte in vierzig Minuten
kommen. Er hielt zwei Minuten an diesem Knotenpunkt und fuhr dann weiter nach
Madrid.
„Was sollen wir trinken?“ frage das Mädchen. Sie hatte ihren Hut abgenommen
und ihn auf den Tisch gelegt.
„Es ist mächtig heiß“, sagte der Mann.
„Wir wollen Bier trinken.“
„Dos cervezas“, sagte der Mann gegen den Vorhang.
„Große?“ fragte die Frau auf der Türschwelle.
„Ja, zwei Große.“
Die Frau brachte zwei Gläser und zwei Filzuntersätze. Sie setzte die Filzuntersätze
und die Biergläser auf den Tisch und blickte den Mann und das Mädchen an. Das
Mädchen wandte den Blick ab, der Hügelkette zu. Sie lag weiß in der Sonne, und das
Land war braun und trocken.
„Sie sehen wie weiße Elefanten aus“, sagte sie.
„Ich hab noch nie einen gesehen.“ Der Mann trank sein Bier.
„Nein, natürlich nicht.“
„Wäre doch möglich gewesen“, sagte der Mann. „Dass du ‚nein, natürlich nicht’
sagst, beweist gar nichts.“
Das Mädchen sah auf den Perlenvorhang. „Da ist was draufgemalt“, sagte sie.
„Was heißt es?“
„Anis del Toro. Ein Getränk.“
„Können wir’s versuchen?“
Der Mann rief „Bedienung“ durch den Vorhang. Die Frau kam aus der Bar heraus.
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„Vier Reales.“
„Wir möchten zwei Anis del Toro.“
„Mit Wasser?“
„Willst du’s mit Wasser?“
„Ich weiß nicht“, sagte das Mädchen. „Ist es gut mit Wasser?“
„Ganz gut.“
„Wollen Sie’s mit Wasser?“ fragte die Frau.
„Ja, mit Wasser.“
„Es schmeckt wie Lakritze“, sagte das Mädchen und setzte ihr Glas hin.
„So geht’s mit allem.“
„Ja“, sagte das Mädchen, „alles schmeckt nach Lakritze. Hauptsächlich all die
Sachen, auf die man so lange hat warten müssen wie auf Absinth.“
„Ach, hör schon auf.“
„Du hast angefangen“, sagte das Mädchen. „Ich amüsiere mich. Ich war gerade so
vergnügt.“
„Du hast angefangen“, sagte das Mädchen. „Ich amüsiere mich. Ich war gerade so
vergnügt.“
„Gut, versuchen wir’s; seien wir vergnügt.“
„Schön. Ich versuchte es gerade. Ich sagte, dass die Berge wie weiße Elefanten
aussehen. War das nicht originell?“
„Das war sehr originell.“
„Ich wollte dieses neue Zeugs probieren. Das ist alles, was wir tun, nicht wahr?
Sachen angucken und neue Getränke probieren.“
„Stimmt wohl.“
Das Mädchen sah zu den Hügeln hinüber.
„Es sind wundervolle Hügel“, sagte sie. „Sie sehen eigentlich nicht wie weiße
Elefanten aus. Ich meinte nur die Färbung ihrer Haut durch die Bäume.“
„Wollen wir noch was trinken?“
„Schön.“
Der warme Wind blies den Perlenvorhang gegen den Tisch.
„Das Bier ist gut und kalt“, sagte der Mann.
„Es ist herrlich“, sagte das Mädchen.
„Es ist wirklich eine furchtbar einfache Operation, Jig“, sagte der Mann. „Es ist
eigentlich gar keine Operation.“
Das Mädchen sah zu Boden, unten auf die Tischbeine.
„Ich weiß, dass es dir nichts ausmacht, Jig. Es ist tatsächlich gar nichts. Es wird
nur Luft hineingelassen.“
Das Mädchen sagte gar nichts.
„Ich komme mit und bleibe die ganze Zeit über bei dir. Es wird nur Luft
hineingelassen, und dann geht es alles von selbst.“
„Was werden wir denn nachher tun?“
„Nachher wird’s uns wieder gut gehen. Genauso wie früher.“
„Wieso glaubst du das?“
„Es ist das einzige, was uns Sorge macht. Es ist das einzige, was uns unglücklich
gemacht hat.“
Das Mädchen sah auf den Perlenvorhang, streckte ihre Hand aus und ergriff zwei
der Perlenschnüre.
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„Und du glaubst, dass dann alles in Ordnung sein wird und dass wir glücklich sein
werden?“
„Ich weiß, dass es so sein wird. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kenne eine
Menge Leute, die’s gemacht haben.“
„Ich auch“, sagte das Mädchen. „Und nachher waren sie alle so glücklich.“
„Nun“, sagte der Mann. „Wenn du nicht willst, brauchst du doch nicht. Ich will
nicht, dass du es dir machen lässt, wenn du’s nicht willst. Aber ich weiß, dass es
ganz einfach ist.“
„Und willst du es wirklich?“
„Ich glaube, es ist das Beste, was man tun kann. Aber ich will nicht, dass du es
tust, wenn du es nicht wirklich willst.“
„Und wenn ich es tue, wirst du dann wieder glücklich sein, und wird dann wieder
alles wie früher? Und wirst du mich dann wieder lieb haben?“
„Ich hab dich jetzt auch lieb. Du weißt, dass ich dich lieb habe.“
„Ich weiß. Aber wenn ich’s tue, dann wird es wieder hübsch sein, wenn ich sage,
dass die Dinge wie weiße Elefanten aussehen, und du wirst es wieder mögen, ja?“
„Aber gewiss, natürlich; ich mag es doch jetzt auch; ich kann nur einfach an nichts
denken. Du weißt, wie ich bin, wenn ich mir Gedanken mache.“
„Und wenn ich’s tue, wirst du dir bestimmt niemals Gedanken machen?“
„Darüber werde ich mir keine Gedanken machen, weil es ganz einfach ist.“
„Dann werde ich’s machen. Es geht ja nicht um mich.“
„Was meinst du damit?“
„Es geht mir ja nicht um mich.“
„Aber mir geht’s um dich.“
„O ja. Aber mir geht’s nicht um mich. Und ich werde es tun, und dann ist alles
wieder schön.“
„Ich will nicht, dass du es dir machen lässt, wenn dir so zumute ist.“
Das Mädchen stand auf und ging bis zum Ende des Bahnhofs. Drüben auf der
anderen Seite waren Getreidefelder und Bäume an den Ufern des Ebro. Weit weg,
jenseits des Flusses, waren Berge. Der Schatten einer Wolke bewegte sich über das
Getreidefeld, und sie sah den Fluss zwischen den Bäumen.
„Und all das könnte uns gehören“, sagte sie. „Und wir könnten alles haben, und
mit jedem Tag machen wir es immer unmöglicher.“
„Was hast du gesagt?“
„Ich sagte, dass wir alles haben könnten.“
„Wir können alles haben.“
„Nein, das können wir nicht.“
„Wir können die ganze Welt haben.“
„Nein, das können wir nicht.“
„Wir können überallhin.“
„Nein, wir können’s nicht. Sie gehört uns nicht mehr.“
„Sie gehört uns.“
„Nein, nicht mehr. Und wenn’s einem erst mal fortgenommen worden ist,
bekommt man’s nicht wieder.“
„Aber niemand hat sie uns weggenommen.“
„Wir wollen abwarten.“
„Komm zurück in den Schatten“, sagte er. „Du musst dir nicht solche Gedanken
machen.“
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„Ich mach mir ja keine“, sagte das Mädchen. „Ich weiß nur manches.“
„Ich will nicht, dass du irgendwas tust, was du nicht willst...“
„Oder was nicht gut für mich ist“, sagte sie. „Ich weiß. Können wir noch ein Glas
Bier trinken?“
„Schön. Aber du musst dir klar sein...“
„Ich bin mir klar“, sagte das Mädchen. „Können wir nicht vielleicht aufhören zu
reden?“
Sie setzten sich an den Tisch, und das Mädchen blickte hinüber zu den Hügeln auf
der ausgetrockneten Talseite, und der Mann blickte sie und den Tisch an.
„Du musst dir darüber klar sein“, sagte er, „dass ich nicht will, dass du es tust,
wenn du es nicht willst. Ich bin ganz damit einverstanden, den Dingen ruhig ihren
Lauf zu lassen, wenn dir etwas daran liegt.“
„Liegt dir denn nichts daran? Wir könnten es schon schaffen.“
„Natürlich tut’s das, aber ich will niemanden außer dir. Ich will sonst niemanden.
Und ich weiß, es ist ganz einfach.“
„Ja, du weißt, dass es ganz einfach ist.“
„Du sagst das so, aber ich weiß es wirklich.“
„Würdest du mir jetzt einen Gefallen tun?“
„Ich würde alles für dich tun.“
„Würdest du bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte still sein.“
Er sagte nichts, sondern blickte auf die Reisetaschen, die an der Bahnhofsmauer
lehnten, mit den aufgeklebten Zetteln aus all den Hotels, in denen sie übernachtet
hatten.
„Aber ich will doch nicht, dass du’s tust“, sagte er. „Mir ist es wirklich ganz egal.“
„Ich schreie gleich“, sagte das Mädchen.
„Die Frau trat durch den Vorhang mit zwei Glas Bier und setzte sie auf die
feuchten Filzuntersätze. „Der Zug kommt in fünf Minuten“, sagte sie.
„Was hat sie gesagt?“ fragte das Mädchen.
„Dass der Zug in fünf Minuten kommt.“
Das Mädchen lächelte die Frau strahlend an, um ihr zu danken.
„Ich trag wohl das Gepäck lieber rüber auf die andere Seite des Bahnhofs“, sagte
der Mann. Sie lächelte ihm zu.
„Schön, dann komm zurück, und dann trinken wir unser Bier aus.“
Er nahm die beiden schweren Reisetaschen auf und trug sie um die Station herum
zum anderen Gleis. Er sah die Gleise entlang, konnte aber den Zug nicht sehen. Auf
dem Weg zurück ging er durch das Gastzimmer, wo Leute, die auf den Zug warteten,
etwas tranken. Er trank einen Anis an der Theke und musterte die Leute. Sie
warteten alle ganz friedlich auf den Zug. Er ging durch den Perlenvorhang ins Freie.
Sie saß am Tisch und lächelte ihn an.
„Fühlst du dich besser?“ fragte er.
„Ich fühl mich glänzend“, sagte sie. „Mir fehlt gar nichts. Ich fühl mich glänzend.“
Aus: Ernest Hemingway. Gesammelte Werke 6: Stories I. Übersetzung von
Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977.
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Raymond Carver
RUF AN, WENN DU MICH BRAUCHST
Wir hatten uns beide in diesem Frühling mit anderen Leuten eingelassen, aber als es
Juni wurde und die Schule aufhörte, beschlossen wir, unser Haus den Sommer über
zu vermieten und von Palo Alto in das Gebiet an der Nordküste Kaliforniens zu
gehen. Richard, unser Sohn, fuhr zu Nancys Mutter, die in Pasco, Washington,
wohnte; er wollte den Sommer dort verbringen und arbeiten, um sich Geld fürs
College im Herbst zusammenzusparen. Seine Großmutter wusste über die häusliche
Situation Bescheid und hatte früh darauf hingearbeitet, dass er raufkam, und sie
hatte ihm lange vor seiner Ankunft einen Job verschafft. Sie hatte mit einem
befreundeten Farmer gesprochen und die Zusage erhalten, dass er Richard Arbeit
geben würde er sollte Heu bündeln und Zäune bauen. Er fuhr mit dem Bus los, am
Morgen nach seiner Highschool-Abschlussfeier. Ich brachte ihn zum Busbahnhof,
stellte das Auto ab und ging mit rein und saß mit ihm zusammen, bis sein Bus aufgerufen wurde. Seine Mutter hatte ihn schon umarmt und hatte geweint und ihn zum
Abschied geküsst und ihm einen langen Brief gegeben, den er gleich bei der Ankunft
seiner Großmutter geben sollte. Nancy war jetzt zu Hause, packte noch die letzten
Sachen für unsere eigene Reise ein und wartete auf das Paar, das in unserem Haus
wohnen würde. Ich kaufte Richards Fahrkarte, gab sie ihm, und wir setzten uns auf
eine der Bänke im Busbahnhof und warteten. Wir hatten auf dem Weg zum
Busbahnhof ein bisschen gesprochen.
»Werdet ihr euch scheiden lassen, du und Mam?«, hatte er gefragt. Es war
Sonnabend morgen, und es waren nicht viele Autos unterwegs.
»Möglichst nicht, wenn's geht«, sagte ich. »Wir möchten es nicht. Darum gehen wir
weg von hier und wollen den ganzen Sommer niemanden sehen. Darum haben wir
unser Haus für den Sommer vermietet und uns das Haus oben in Eureka gemietet.
Und darum fährst du auch weg, nehm ich an. Jedenfalls ist das einer der Gründe.
Ganz abgesehen davon, dass du mit den Taschen voller Geld zurückkommen wirst.
Wir wollen keine Scheidung. Wir wollen den Sommer über allein sein und sehen,
dass wir Klarheit in die Dinge bekommen.«
»Liebst du Mom noch?«, sagte er. »Sie hat zu mir gesagt, sie liebt dich.«
»Klar, natürlich liebe ich sie«, sagte ich. »Das solltest du inzwischen wissen. Wir
hatten einfach unser Päckchen Sorgen und schwierige Verpflichtungen, wie jeder
andere auch, und jetzt müssen wir eine Zeit lang allein sein und sehen, dass wir
zurechtkommen. Aber mach dir keine Sorgen um uns. Fahr du nur da rauf und
genieß den Sommer und arbeite tüchtig und spar dein Geld. Denk dran, dass es auch
Ferien sind. Geh zwischendurch so viel wie möglich angeln. Man kann gut angeln da
oben.«
»Wasserski fahren auch«, sagte er. »Ich möchte gern Wasserski fahren lernen.«
»Ich bin nie Wasserski gefahren«, sagte ich. »Fahr ein bisschen für mich mit, machst
du das?«
Wir saßen in dem Busbahnhof. Er blätterte in seinem Jahrbuch, während ich eine
Zeitung auf den Knien hielt. Dann wurde sein Bus aufgerufen, und wir standen auf.
Ich nahm ihn in die Arme und sagte: » Mach dir keine Sorgen, mach dir keine
Sorgen. Wo ist deine Fahrkarte?«
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Er klopfte sich auf die Jackentasche, und dann nahm er seinen Koffer. Ich begleitete
ihn rüber, dahin, wo sich im Terminal die Schlange bildete, dann umarmte ich ihn
wieder und küsste ihn auf die Wange und sagte Lebwohl.
»Leb wohl, Dad«, sagte er und wandte sich von mir ab, damit ich seine Tränen nicht
sah.
Ich fuhr nach Hause, wo im Wohnzimmer unsere Pappkartons und Koffer warteten.
Nancy war in der Küche und trank Kaffee mit dem jungen Paar, das sie gefunden
haue und das unser Haus für den Sommer nehmen wollte. Ich hatte die beiden,
Jerry und Liz, beide graduierte Mathematikstudenten, wenige Tage zuvor schon
einmal gesehen, aber wir schüttelten uns wieder die Hand, und ich trank eine Tasse
Kaffee, die Nancy mir einschenkte. Wir saßen rings um den Tisch und tranken
Kaffee, während Nancy ihre Liste von Dingen fertig stellte, um die sich die beiden
kümmern oder die sie an bestimmten Tagen im Monat erledigen sollten, dem ersten
und letzten eines jeden Monats, wohin sie die Post schicken sollten und dergleichen
mehr. Nancy haue einen angespannten Gesichtsausdruck. Sonne fiel durch die
Gardine auf den Tisch, während der Vormittag langsam verging.
Schließlich schien alles geregelt, und ich ließ die drei in der Küche zurück und fing
an, die Sachen ins Auto zu laden. Es war ein möbliertes Haus, in dem wir wohnen
würden, voll eingerichtet bis hin zu Geschirr und Kochutensilien, so dass wir nicht
viel aus diesem Haus mitnehmen mussten, nur die wesentlichen Dinge.
Ich war drei Wochen zuvor nach Eureka raufgefahren, dreihundertfünfzig Meilen
nördlich von Palo Alto, an der Nordküste Kaliforniens, und haue das möblierte Haus
für uns gemietet. Ich fuhr mit Susan, der Frau, mit der ich mich oft getroffen hatte.
Wir blieben drei Nächte in einem Motel am Rand der Stadt, und ich sah die Zeitung
durch und suchte Immobilienmakler auf. Sie sah mir zu, als ich den Scheck über die
Miete für drei Monate ausschrieb. Später, wieder im Motel, im Bett, lag sie da, mit
der Hand auf der Stirn, und sagte: »Ich beneide deine Frau. Ich beneide Nancy. Du
hörst die Leute immer von ,der anderen< reden und dass die angetraute Ehefrau die
Privilegien und die eigentliche Macht hat, aber ich hab das nie verstanden und mich
nie um solche Dinge gekümmert. Jetzt verstehe ich. Ich beneide sie. Ich beneide sie
um das Leben, das sie in dem Haus mit dir haben wird. Ich wünschte, ich wär an
ihrer Stelle. Ich wünschte, wir wären es. Oh, wie sehr wünschte ich, wir wären es.
Ich fühl mich so mies«, sagte sie. Ich strich ihr über die Haare.
Nancy war eine hochgewachsene, langbeinige Frau: sie haue braunes Haar und
braune Augen und eine großzügige Seele. Aber letzthin hatten wir beide wenig
Großzügigkeit und Seele bewiesen. Der Mann, mit dem sie sich oft getroffen hatte,
war ein Kollege von mir, ein geschiedener, flotter Kerl im Dreiteiler und mit Schlips,
mit langsam ergrauendem Haar, der zu viel trank, so dass manchmal, wie mir ein
paar von meinen Studenten erzählt hatten, seine Hände im Unterricht zitterten. Er
und Nancy waren bei einer Party während der Feiertage in ihre Affäre gedriftet,
nicht lange nachdem Nancy hinter meine Affäre gekommen war. Jetzt klingt das
alles langweilig und schäbig - und es ist auch langweilig und schäbig -, aber in dem
Frühling war es das, was es war, und es verzehrte alle unsere Energien und unsere
Aufmerksamkeit und schloss alles andere aus.
Irgendwann gegen Ende April fassten wir den Plan, unser Haus zu vermieten und
den Sommer über wegzugehen wir wollten versuchen, das Zerbrochene wieder
zusammenzufügen, falls es sich wieder zusammenfügen ließ. Wir verabredeten,
dass wir unsere anderen Partner weder anrufen noch ihnen schreiben oder sonstwie
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in Verbindung mit ihnen treten würden. Und so trafen wir Vereinbarungen für
Richard, fanden das Paar, das sich um unser Haus kümmern würde, und ich hatte
auf eine Landkarte geguckt und war von San Francisco nach Norden gefahren und
hatte Eureka gefunden und einen Makler, der bereit war, ein möbliertes Haus für
den Sommer an ein respektables Ehepaar mittleren Alters zu vermieten. Ich glaube,
ich gebrauchte dem Makler gegenüber die Formulierung »zweite Flitterwochen«,
während - Gott verzeihe mir - draußen im Auto Susan eine Zigarette rauchte und
Broschüren für Touristen las.
Ich verstaute die letzten Koffer, Taschen und Kartons im Kofferraum und auf der
hinteren Sitzbank und wartete, während Nancy sich auf der Veranda endgültig
verabschiedete. Sie gab beiden die Hand und wandte sich dann um und kam auf das
Auto zu. Ich winkte dem Paar, und die beiden winkten zurück. Nancy stieg ein und
schloss die Tür. »Lass uns fahren«, sagte sie. Ich legte den Gang ein, und wir fuhren
zum Freeway. An der Ampel kurz vor dem Freeway sahen wir vor uns ein Auto vom
Freeway runterfahren, das einen kaputten Auspufftopf hinter sich herzog, so dass
die Funken flogen. »Sieh dir das an«, sagte Nancy. »Könnte leicht Feuer fangen.«
Wir warteten und sahen zu, bis das Auto endlich von der Fahrbahn runter an den
Straßenrand fuhr.
Wir hielten an einem kleinen Cafe abseits vom Highway, in der Nähe von Sebastopol.
»Essen und Treibstoff« stand auf dem Schild. Wir lachten darüber. Ich fuhr bis vor
das Cafe, und wir gingen rein und setzten uns an einen Tisch bei einem Fenster ganz
hinten. Nachdem wir Kaffee und Sandwiches bestellt hatten, berührte Nancy den
Tisch mit dem Zeigefinger und zeichnete Linien im Holz nach. Ich zündete mir eine
Zigarette an und blickte nach draußen. Ich bemerkte eine rasche Bewegung, und
dann wurde mir klar, dass ich einen Kolibri in dem Busch neben dem Fenster sah.
Seine Flügel bewegten sich in einem verschwimmenden Schwirren, und immer
wieder tauchte er den Schnabel in eine Blüte an dem Busch.
»Nancy, guck mal«, sagte ich. »Da ist ein Kolibri.«
Aber in diesem Augenblick flog der Kolibri auf, und Nancy guckte und sagte: »Wo?
Ich seh ihn nicht.«
»Eben war er noch da«, sagte ich. »Guck mal, da ist er. Ein anderer, nehm ich an.
Auch ein Kolibri.«
Wir beobachteten den Kolibri, bis die Kellnerin uns das Essen brachte und der Vogel
bei der Bewegung wegflog und hinter der Ecke des Gebäudes verschwand.
»Na, das ist ein gutes Zeichen, glaub ich«, sagte ich. »Kolibris. Kolibris sollen Glück
bringen.«
»Ich hab das auch irgendwo gehört«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo ich's gehört hab,
aber ich hab's gehört. Um so besser«, sagte sie, »Glück ist das, was wir brauchen
könnten. Findest du nicht auch?«
»Sie sind ein gutes Zeichen«, sagte ich. »Ich bin froh, dass wir hier Halt gemacht
haben.«
Sie nickte. Sie wartete einen Moment, dann biss sie von ihrem Sandwich ab.
Wir kamen kurz vor Dunkelheit in Eureka an. Wir fuhren an dem Motel am Highway
vorbei, in dem Susan und ich zwei Wochen zuvor abgestiegen waren und drei Nächte
verbracht hatten, dann bogen wir vom Highway ab; die Straße, die wir nahmen,
führte einen Hügel hinauf, von dem man über die Stadt blickte. Ich hatte die
Hausschlüssel in der Tasche. Wir überquerten den Hügel und fuhren noch eine
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Meile oder so, bis wir an eine kleine Kreuzung kamen, wo eine Tankstelle und ein
Lebensmittelladen waren. Bewaldete Berge erhoben sich weiter vor uns im Tal, und
ringsum war Weideland. Ein paar Rinder grasten auf einer Wiese hinter der
Tankstelle. ,>Eine hübsche Landschaft ist das hier«, sagte Nancy. »Ich bin gespannt
auf das Haus.«
»Wir sind fast da«, sagte ich. »Nur noch die Straße hier runter«, sagte ich, »und über
die Erhebung da.«
»Hier«, sagte ich einen Moment darauf und bog in eine Einfahrt mit einer Hecke zu
beiden Seiten hin. »Das ist es. Na, was sagst du dazu?« Das Gleiche hatte ich Susan
gefragt, als sie und ich in der Einfahrt gehalten hatten.
»Es ist schön«, sagte Nancy. »Es sieht hübsch aus, wirklich. Lass uns aussteigen.«
Wir standen einen Moment im Vorgarten und sahen uns um. Dann gingen wir die
Stufen zur Veranda rauf, und ich schloss die Haustür auf und machte überall Licht.
Wir gingen durch das Haus. Es gab zwei kleine Schlafzimmer, ein Bad, ein
Wohnzimmer mit alten Möbeln und einem Kamin und eine große Küche mit Blick auf
das Tal.
»Gefällt's dir?«, sagte ich.
»Ich finde es einfach wunderbar«, sagte Nancy. Sie lächelte. »Ich bin froh, dass du's
gefunden hast. Ich bin froh, dass wir hier sind.« Sie öffnete den Kühlschrank und
fuhr mit dem Zeigefinger über die Arbeitsfläche. »Gott sei Dank, es sieht ganz
sauber aus. Ich muss also nicht gleich putzen.«
»Sauber bis zu den frisch bezogenen Betten«, sagte ich. »Ich hab's geprüft. Ich hab
mich vergewissert. Genau so vermieten sie es. Sogar Kopfkissen. Und
Kopfkissenbezüge auch.«
»Wir müssen vielleicht ein bisschen Feuerholz kaufen«, sagte sie. Wir standen im
Wohnzimmer. »Wir werden uns an Abenden wir heute sicher gern ein Feuer im
Kamin machen.«
»Ich werd mich morgen nach Feuerholz umsehen«, sagte ich. »Wir können dann
einkaufen gehen und uns die Stadt ansehen.«
Sie sah mich an und sagte: »Ich bin froh, dass wir hier sind.«
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, uns einzurichten, kurze Fahrten nach
Eureka zu machen, rumzuspazieren und Schaufenster anzugucken und durch das
Weideland hinter dem Haus zu gehen, den ganzen Weg bis zum Wald. Wir kauften
Lebensmittel, und ich fand in der Zeitung eine Anzeige für Feuerholz, rief an, und
ein, zwei Tage später lieferten zwei junge Männer mit langem Haar eine PickupLadung Erlenholz und stapelten es im angebauten Autoschuppen. An diesem Abend
saßen wir nach dem Essen am Kamin und tranken Kaffee und sprachen darüber,
dass wir uns einen Hund besorgen wollten.
»Ich will keinen jungen Hund«, sagte Nancy. »Keinen, hinter dem wir herputzen
müssen oder der die Sachen zerbeißt. Das brauchen wir nicht. Aber ich hätte gern
einen Hund, ja. Wir haben lange keinen Hund gehabt. Ich glaube, hier oben könnten
wir einen Hund gut brauchen«, sagte sie.
»Und wenn wir zurückgehen?«, sagte ich. »Wenn der Sommer vorbei ist?« Ich
formulierte die Frage anders. »Was machen wir in der Stadt mit einem Hund?«
»Das sehen wir dann. Inzwischen lass uns Ausschau halten nach einem Hund. Nach
der richtigen Sorte Hund. Ich weiß immer erst, was ich will, wenn ich's vor mir sehe.
Lass uns die Kleinanzeigen lesen, und notfalls gehen wir zum Tierasyl.« Aber
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obwohl wir mehrere Tage lang immer wieder über Hunde sprachen und einander auf
Hunde aufmerksam machten, die wir in Gärten sahen, an denen wir vorbeifuhren,
Hunde, wie wir gern einen haben wollten, kam nichts dabei raus, wir fanden keinen
Hund.
Nancy rief ihre Mutter an und gab ihr unsere Adresse und unsere Telefonnummer.
Richard arbeitete und war offenbar glücklich, sagte ihre Mutter. Ihr selbst ging es
gut. Ich hörte Nancy sagen: »Uns beiden geht's gut. Das hier ist die beste Medizin.«
Eines Tages, Mitte Juli, fuhren wir den Highway am Ozean entlang und sahen, als wir
über eine Erhebung kamen, einige Lagunen, die durch Sandbänke vom Meer
abgeschnitten waren. Dort waren mehrere Leute, die vom Ufer aus angelten, und
zwei Boote waren draußen auf dem Wasser.
Ich fuhr an den Straßenrand und hielt an. »Komm, wir sehen mal, wonach sie
angeln«, sagte ich. »Vielleicht kriegen wir irgendwo Angelgerät und können auch
angeln gehen.«
»Wir sind seit Jahren nicht mehr angeln gewesen«, sagte Nancy. »Seit der Zeit, als
Richard klein war und wir in der Nähe vom Mount Shasta gezeltet haben. Erinnerst
du dich daran?«
»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Ich hab auch gerade gedacht, dass ich das Angeln
vermisst habe. Lass uns runtergehen und sehen, wonach sie angeln.«
»Forellen«, sagte der Mann, den ich fragte. »Seeforellen und Regenbogenforellen.
Sogar den einen oder anderen Stahlkopf und ein paar Lachse. Sie kommen im
Winter hier rein, wenn die Sandbank offen ist, und dann, wenn sie sich im Frühling
schließt, sind sie in der Falle. Jetzt ist eine gute Zeit im Jahr für Lachse. Heute hab
ich keinen gefangen, aber letzten Sonntag hab ich vier gefangen, ungefähr vierzig
Zentimeter lang. Der beste Speisefisch der Welt, und sie kämpfen wie die Teufel. Die
Leute in den Booten haben heute ein paar gefangen, aber bisher hab ich noch nichts
dran gehabt.«
»Was nehmen Sie als Köder?«, fragte Nancy.
»Alles«, sagte der Mann. »Würmer, Lachsrogen, Maiskörner. Werfen Sie einfach aus
und lassen Sie die Angel am Boden liegen. Ziehen Sie eine kleine Schleife raus, und
dann behalten Sie Ihre Schnur im Auge.«
Wir standen noch ein bisschen länger rum, sahen dem Mann beim Angeln zu und
beobachteten, wie die kleinen Boote quer durch die Lagune hin und her tuckerten.
»Danke«, sagte ich zu dem Mann. »Und Ihnen viel Glück.~< »Ihnen auch viel Glück«,
sagte er. »Viel Glück Ihnen beiden.«
Auf dem Rückweg in die Stadt hielten wir an einem Sportartikelgeschäft und kauften
Lizenzen, billige Angeln und Rollen, Nylonschnur, Haken, Leitschnüre, Gewichte und
einen Fischkorb. Wir nahmen uns vor, am nächsten Morgen angeln zu gehen.
Aber an diesem Abend, nachdem wir gegessen und das Geschirr abgewaschen
hatten und nachdem ich Feuer im Kamin gemacht hatte, schüttelte Nancy den Kopf
und sagte, es gehe so nicht.
»Warum sagst du das?«, fragte ich. »Was meinst du damit?«
»Ich mein, dass es so nicht geht. Lass uns der Tatsache ins Gesicht sehen.« Sie
schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich morgen angeln gehen
möchte, und ich will auch keinen Hund. Nein, keine Hunde. Ich glaube, ich möchte
rauffahren und meine Mutter und Richard besuchen. Allein. Ich möchte allein sein.
Ich vermisse Richard«, sagte sie und fing an zu weinen. » Richard ist mein Sohn,
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mein Baby«, sagte sie, »und er ist fast erwachsen und aus dem Haus. Ich vermisse
ihn.«
»Und Del? Vermisst du Del Shreader auch?«, sagte ich. »Deinen Freund? Vermisst
du ihn?«
»Ich vermisse alle heut Abend«, sagte sie. »Ich vermisse auch dich. Ich vermisse
dich jetzt schon ganz lange. Ich hab dich so sehr vermisst, dass du irgendwie
verloren gegangen bist, ich kann's nicht erklären. Ich hab dich verloren. Du bist
nicht mehr mein.«
»Nancy«, sagte ich.
»Nein, nein«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sie saß auf dem Sofa am
Kaminfeuer und schüttelte immerzu den Kopf. »Ich möchte morgen rauffliegen und
meine Mutter und Richard besuchen. Wenn ich fort bin, kannst du deine Freundin
anrufen.«
»Das will ich gar nicht«, sagte ich. »Ich hab nicht die Absicht, das zu tun.«
»Du wirst sie anrufen«, sagte sie.
»Du wirst Dei anrufen«, sagte ich und fand es billig, dass ich das gesagt hatte.
»Du kannst tun, was du willst«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel die Augen.
»Im Ernst. Ich möchte nicht so reden, als wär ich hysterisch. Aber ich fahr morgen
rauf nach Washington. Und jetzt geh ich sofort zu Bett. Ich bin völlig erledigt. Es tut
mir Leid. Es tut mir für uns beide Leid, Dan. Wir werden es nicht schaffen. Der
Angler heute hat uns Glück gewünscht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünsche uns
auch Glück. Wir werden es brauchen.«
Sie ging ins Bad, und ich hörte Wasser in die Badewanne laufen. Ich ging raus, setzte
mich auf die Verandastufen und rauchte eine Zigarette.
Es war dunkel und still draußen. Ich blickte in Richtung der Stadt und sah einen
schwachen Widerschein von Lichtern am Himmel, und Nebelschwaden, die vom
Ozean ins Tal trieben. Ich musste an Susan denken. Ein wenig später kam Nancy aus
dem Badezimmer, und ich hörte, wie sich die Schlafzimmertür schloss. Ich ging
nach drinnen und legte noch einen Holzklotz auf den Rost und wartete, bis die
Flammen an der Rinde heraufzüngelten. Dann ging ich ins andere Schlafzimmer und
schlug die Decke zurück und starrte auf das Blumenmuster auf den Laken. Dann
duschte ich, zog mir meinen Pyjama an und setzte mich wieder an den Kamin. Der
Nebel war jetzt draußen vorm Fenster. Ich saß am Feuer und rauchte. Als ich wieder
aus dem Fenster blickte, bewegte sich etwas in dem Nebel, und ich sah ein Pferd im
Vorgarten grasen.
Ich trat ans Fenster. Das Pferd sah einen Moment zu mir auf, dann fuhr es fort, Gras
zu rupfen. Ein anderes Pferd spazierte am Auto vorbei in den Garten und begann zu
grasen. Ich machte das Verandalicht an und stand am Fenster und beobachtete sie.
Es waren große weiße Pferde mit langen Mähnen. Sie waren durch einen Zaun oder
ein nicht zugesperrtes Tor von einer der in der Nähe gelegenen Farmen gekommen
und irgendwie in unserem Vorgarten gelandet. Sie vergnügten sich, genossen ihren
Ausbruch über die Maßen. Aber sie waren auch nervös: Ich sah das Weiß ihrer
Augäpfel von da, wo ich hinter dem Fenster stand. Sie spitzten dauernd die Ohren
und ließen sie wieder sinken, während sie Grasbüschel ausrissen. Ein drittes Pferd
kam in den Garten spaziert, und dann ein viertes. Es war eine Herde weißer Pferde,
und sie grasten in unserem Vorgarten.
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Ich ging ins Schlafzimmer und weckte Nancy. Ihre Augen waren gerötet, und die
Haut um die Augen war geschwollen. Sie hatte sich Lockenwickler ins Haar gedreht,
und ein Koffer lag offen am Fußende des Bettes auf dem Boden.
»Nancy«, sagte ich. »Schatz, komm und sieh dir an, was vorn im Garten ist. Komm
und sieh's dir an. Du musst das sehen. Du wirst es nicht glauben. Schnell, komm.«
»Was ist denn da?«, sagte sie. »Tu mir nicht weh. Was ist da?«
»Schatz, du musst das sehen. Ich tu dir nicht weh. Es tut mir Leid, wenn ich dich
erschreckt hab. Aber du musst rüberkommen und dir das ansehen.«
Ich ging wieder ins andere Zimmer und stellte mich ans Fenster, und nach wenigen
Minuten kam Nancy; sie band sich im Gehen ihren Bademantel zu. Sie sah aus dem
Fenster und sagte: »Mein Gott, sind die schön! Woher sie wohl kommen, Dan? Sie
sind einfach wunderschön.«
»Sie müssen irgendwo hier in der Gegend ausgerissen sein«, sagte ich. »Von einer
der Farmen. Ich ruf gleich beim Sheriff an, damit sie die Eigentümer ausfindig
machen. Aber ich wollte, dass du sie vorher siehst.«
»Ob sie beißen?«, sagte sie. »Ich würde das eine da gern streicheln, das da, das uns
gerade angeguckt hat. Ich würde gern seinen Hals streicheln. Aber ich möchte nicht
gebissen werden. Ich geh mal raus.«
»Ich glaub nicht, dass sie beißen«, sagte ich. »Sie sehen nicht so aus wie Pferde, die
beißen. Aber zieh dir eine Jacke über, wenn du rausgehst; es ist kalt da draußen.«
Ich zog mir die Jacke über meinen Pyjama und wartete auf Nancy. Dann öffnete ich
die Haustür und trat hinaus und ging in den Garten mit den Pferden. Alle blickten auf
und guckten uns an. Zwei rupften gleich darauf wieder Gras. Eines von den anderen
schnaubte und wich ein paar Schritt zurück, und dann rupfte es auch wieder Gras
und kaute, mit gesenktem Kopf. Ich rieb die Stirn eines der Pferde und tätschelte
seinen Hals. Es kaute weiter. Nancy streckte die Hand aus und streichelte die Mähne
eines anderen Pferdes. »Pferdchen, wo kommst du her?«, sagte sie. »Wo bist du zu
Hause, Pferdchen, und warum bist du ausgegangen heut Abend?«, sagte sie und
streichelte weiter die Mähne des Pferdes. Das Pferd sah sie an und blies durch die
Lippen und senkte wieder den Kopf. Nancy streichelte seinen Hals. »Ich glaub, ich
sollte lieber den Sheriff anrufen«, sagte ich.
»Noch nicht«, sagte sie. »Wart noch eine Weile. Wir werden so was nie wieder
sehen. Wir werden nie, nie wieder Pferde in unserem Vorgarten haben. Wart noch
eine Weile, Dan.«
Etwas später - Nancy war noch immer draußen, ging von einem Pferd zum andern,
klopfte ihnen den Hals und streichelte ihre Mähne - wanderte eines der Pferde aus
dem Garten in die Einfahrt und spazierte um das Auto herum und die Einfahrt
hinunter auf die Straße zu. Da wusste ich, dass ich anrufen musste.
Es dauerte nicht lange, da kreuzten mit im Nebel aufblitzenden roten Lichtern die
zwei Sheriff-Autos auf, und wenige Minuten später folgte ein Mann in einem
Schaffellmantel, der einen Pickup mit einem Pferdetrailer dahinter fuhr. Jetzt
scheuten die Pferde und versuchten zu entkommen, und der Mann mit dem
Pferdetrailer fluchte und versuchte, einem der Pferde ein Seil um den Hals zu
werfen.
»Tun Sie ihm nicht weh!«, sagte Nancy.
Wir gingen wieder ins Haus und standen hinter dem Fenster und sahen zu, wie die
Deputys und der Rancher sich mühten, die Pferde zusammenzutreiben.
»Ich mach mal Kaffee«, sagte ich. »Möchtest du auch Kaffee, Nancy?«
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»Ich sage dir, was ich möchte«, sagte sie. »Ich bin high, Dan. Mir ist, als wäre ich
vollgedröhnt. Mir ist... ich weiß nicht wie, aber ich mag, wie ich mich fühle. Mach du
Kaffee, und ich such uns inzwischen ein bisschen Musik im Radio, und dann kannst
du das Feuer wieder in Gang bringen. Ich bin zu aufgeregt zum Schlafen.«
So saßen wir am Feuer und tranken Kaffee und hörten einen Sender aus Eureka, der
die ganze Nacht durch spielte, und sprachen über die Pferde, und dann sprachen wir
über Richard und über Nancys Mutter. Wir tanzten. Wir sagten kein Wort über die
gegenwärtige Situation. Der Nebel hing draußen vorm Fenster, und wir sprachen
und waren freundlich miteinander. Als es hell wurde, drehte ich das Radio aus, und
wir gingen ins Bett und schliefen miteinander.
Am nächsten Morgen, nachdem Nancy ihre Vorbereitungen getroffen und ihre Koffer
gepackt hatte, fuhr ich sie zu dem kleinen Flugplatz; dort würde sie einen Flug nach
Portland bekommen und dann auf eine andere Fluggesellschaft umsteigen, mit der
sie am späten Abend in Pasco, Washington, ankommen würde.
»Sag deiner Mutter, dass ich sie grüßen lasse. Umarm Richard für mich und sag
ihm, dass er mir fehlt«, sagte ich. »Sag ihm, dass ich ihn liebe.«
»Er liebt dich auch«, sagte sie. »Du weißt das. Und auf jeden Fall siehst du ihn im
Herbst, da bin ich mir sicher.« Ich nickte.
»Leb wohl «, sagte sie und streckte die Arme nach mir aus. Wir hielten einander.
»Ich bin froh wegen heute Nacht«, sagte sie. »Die Pferde. Dass wir gesprochen
haben. Alles. Es hilft«, sagte sie. »Wir werden das nicht vergessen«, sagte sie. Und
sie fing an zu weinen.
»Schreib mir, tust du das?«, sagte ich. »Ich hab nicht gedacht, dass uns das
passieren würde«, sagte ich. »AlI diese Jahre. Ich hab es nie auch nur eine Minute
gedacht. Nein, nicht uns.«
»Ich schreib dir«, sagte sie. »Ein paar dicke Briefe. Den dicksten, den du je gesehen
hast, seit ich dir auf der Highschool immer Briefe geschickt hab.«
»Ich werd drauf warten«, sagte ich.
Dann sah sie mich wieder an und berührte mein Gesicht. Sie drehte sich um und ging
über den Asphalt auf das Flugzeug zu.
Geh, Liebste, und Gott sei mit dir.
Sie stieg in das Flugzeug, und ich blieb stehen, bis die Triebwerke angestellt wurden
und einen Moment darauf das Flugzeug die Startbahn entlang zu rollen begann. Es
hob ab, gewann über der Humboldt Bay an Höhe und war bald nur noch ein Punkt
am Horizont.
Ich fuhr zurück zum Haus und parkte in der Einfahrt und betrachtete die Abdrücke
von den Hufen der Pferde vom Abend zuvor. Es waren tiefe Spuren im Gras und
klaffende Lücken, und ich sah Haufen von Pferdemist. Dann ging ich ins Haus, und
ohne auch nur meine Jacke auszuziehen, ging ich ans Telefon und wählte Susans
Nummer.
Aus: Raymond Carver. Erste und letzte Storys. Berlin: BvT Berliner Taschenbuch
Verlags GmbH, 2004.
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ÜBER RAYMOND CARVER
Philipp Carson
CARVER UND DER ALKOHOL
Raymond Carvers Figuren kämpfen sich in privater Verzweiflung
durch ihr Leben und erkennen in seltenen Augenblicken von
Klarheit, dass das gute Leben, von dem sie gehofft hatten, es durch
harte Arbeit zu erreichen, nicht kommen wird. In vielerlei Hinsicht
war Carvers Leben das Vorbild für all seine Figuren. Am 7. Juni
1957, mit neunzehn Jahren, heiratete er Maryann Burk und hatte
im Oktober 1958 bereits zwei Kinder mit ihr. Das Leben des Paares
war für Jahre vorausbestimmt. Zunächst hatte Carver das Gefühl,
dass harte Arbeit ihre Probleme beiseite schaffen würden. „Wir Raymond Carver
dachten, wir könnten es alles hinkriegen“, sagte er in einem Interview, „Wir waren
arm, aber wir dachten, dass wenn wir weiter arbeiteten, wenn wir das Richtige taten,
würde auch das Richtige passieren.“ [...] Irgendwo mitten in seinem Leben voller
Sackgassen-Jobs und Kindererziehung erkannte er, ganz wie eine seiner Figuren,
dass sich die Dinge nicht verändern würden. [...] Carvers Schriftstellerkarriere
begann sich zu entwickeln, als er seinen B.A. Kurs am Chico State College im Herbst
1958 als Teilzeitstudent begann. Im Herbst 1959 belegte er einen Creative Writing
Kurs bei einem unveröffentlichten Schriftsteller, der vor kurzem an Chico State
angefangen hatte zu unterrichten, John Gardner. Carver betrachtete Gardners
Einfluss auf ihn als prägend, obwohl er ihm nur kurz ausgesetzt war, nämlich nur
während eines akademischen Jahres von 1959 bis 1960. Gardner erkannte Carvers
Bedürfnis nach einem ruhigen Platz zum Schreiben und lieh ihm den Schlüssel für
sein Büro, damit Carver dort arbeiten konnte. [...] Neben all seinen akademischen
und familiären Verpflichtungen war Carvers Alkoholismus der stärkste negative
Einfluss auf seine Arbeit. Das Laster wurde zur Gewohnheit, als seine Verzweiflung
über die Frage wuchs, ob er je das „gute Leben“ durch einfache Arbeit würde finden
können. Er fühlte sich vom Pech verfolgt angesichts der finanziellen Situation seiner
Familie, mit der er zu kämpfen hatte. [...] Carver erkannte an, dass der Alkohol sehr
entscheidend für sein Werk war:
Es ist offensichtlich, dass meine Erfahrungen mit dem Trinken mir dabei halfen,
verschiedene Geschichten zu schreiben, die mit Alkohol zu tun haben. Aber die Tatsache,
dass ich das durchgemacht habe und dann in der Lage war, darüber zu schreiben, ist nicht
weniger als ein Wunder. Nein, ich glaube nicht, dass irgendwas außer Verschwendung,
Schmerz und Unglück bei meinem Alkoholismus heraus gekommen ist... [...]
Es gibt zwei Hauptperioden in Carvers Werk. [...] Er veröffentlichte eine Reihe von
Beiträgen in Literaturzeitschriften, bevor die Familie plante für ein Jahr mit dem
California State College Study Abroad Program nach Israel zu gehen. [...] Er wurde
für dieses Jahr von seinem Job als Schulbuchlektor beurlaubt, und sie fuhren im
Juni 1968 ab. Sie sollten nur für vier Monate bleiben. [...] Sie kehrten zurück und
wohnten bei Verwandten in Hollywood bis Ende Februar 1969. [...] 1970 erhielt Carver
eine Auszeichnung des National Endowment for the Arts, und beendete seine Arbeit
als Lektor. Zusammen mit der Abfindung und dem Arbeitslosengeld erlaubte ihm
diese Auszeichnung ein ganzes Jahr lang zu schreiben. [...] Der Alkoholismus nahm
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einen immer größeren Teil seiner Zeit in Anspruch. Er wurde zu einem „Vollzeitpraktizierenden Alkoholiker“, wie er es nannte. 1976, im gleichen Jahr in dem WILL
YOU PLEASE BE QUIET veröffentlicht wurde, lief Carver auf Grund. Zwischen Oktober
1976 und Januar 1977 wurde er viermal wegen akutem Alkoholismus ins
Krankenhaus eingeliefert. Das Haus der Carvers wurde im Oktober verkauft, und
Carver lebte von seiner Frau getrennt. [...] Carver hörte am 2. Juni 1977 auf zu
trinken und schrieb beinahe für ein ganzes Jahr nichts. [...] Sein erstes Leben, die
Zeit der „Bad Raymond Days“, wie er sie nannte, war vorbei, und sein zweites Leben
begann mit seiner Trockenheit. Eine ganze Zeit lang schrieb er nichts, dann folgten
die Geschichten, die in WHAT WE TALK ABOUT WHEN WE TALK ABOUT LOVE
enthalten sind. Diese Sammlung wurde 1981 veröffentlicht, das Buch ist der
Endpunkt seines ersten literarischen Lebens, seines extrem reduzierten Stils. 1982,
fünf Jahre nach dem Wendepunkt, schrieb Carver die Titelgeschichte seiner
nächsten Sammlung CATHEDRAL. [...] Dieser drastische und unmittelbare
Umschwung in Carvers Stil war auch der Zeitpunkt seines Durchbruchs. [...] Carver
gewann, zusammen mit Cynthia Ozick, den Mildred and Harold Strauss Living Award
der American Academy of Arts and Letters. Dieses fünfjährige Stipendium war mit
einem Betrag von $35.000 verbunden, außerdem wurde es Carver untersagt anderen
Beschäftigungen außer dem Schreiben nachzugehen. Zurückblickend scheint es
sehr passend, dass er sich in seinen letzten fünf Lebensjahren nur dem Schreiben
widmen konnte.
Auszug aus: „Carver's Vision“ von Philipp Carson.
http://www.philandjulie.com/carver/. Übersetzung: Michael Sommer.
William L. Stull
CARVER UND TSCHECHOW
In seinem Leben, seiner Kunst, und sogar in seinem Tod war
Anton Tschechow ein Double, Mentor und Seelenverwandter
von Raymond Carver. Wie Tschechow (1860-1904), dessen
Großvater sich selbst aus der Leibeigenschaft freigekauft und
dessen Vater mit seinem Lebensmittelladen bankrott ging, war
Carver ein Kind armer Arbeiter. Sein Vater, Clevie Raymond
Carver („C.R.“), kam während der Wirtschaftskrise der
Dreißiger Jahre auf der Eisenbahn von Arkansas nach
Washington State. C.R. arbeitete in einer Sägemühle – und
Anton Tschechow
wurde zum Alkoholiker, der mit 53 Jahren starb. Seine Frau, Ella Casey Carver,
kannte häusliche Gewalt nur allzu gut. Sie arbeitete als Kellnerin und Verkäuferin,
um das Familieneinkommen zu sichern. Raymond Clevie Carver, Spitzname „Junior“,
„Frog“ und „Doc“, wurde am 25 Mai 1938 in Clatskanie, Oregon, einer kleinen
Holzindustrie-Stadt mit siebenhundert Einwohnern am Columbia River geboren. Die
Familie kehrte 1941 nach Washington zurück, und Carver wuchs in Yakima, einer
Stadt von 20.000 Einwohnern, im „Fruchtkorb der Nation“, dem fruchtbaren Tal
östlich der Cascades, auf.
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NUR NOCH HEUTE
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Carver war ein verspätetes Kind der Großen Depression, und noch bis weit in die Zeit
des Nachkriegswohlstands hinein hatte sein Haus keine Toilette. Sein Gedicht
„Shiftless“ (1986) umreißt die wirtschaftliche Situation seiner Kindheit: „The people
who were better off than us were comfortable .... / The ones worse off were sorry and
didn’t work.” So wie Tschechow kannte Carver genau die Härte und den Dreck des
Lebens am Rand der Gesellschaft, und schuf daraus hellsichtige Geschichten voll
Empathie, Gefährdung und schwer gewonnener Bestätigung. „Es sind meine Leute“,
sagte er später über die sprachlosen Arbeiter und Angestellten, die seine
Geschichten bevölkern. „Ich könnte ihnen niemals gerecht werden.“
Vor Tschechow gab es Fabeln, Erzählungen und Skizzen. Aber noch keine
Kurzgeschichten, keine „handlungslose“ Beschreibungen menschlicher Subjektivität
an der Schwelle zur Wahrnehmung. Tschechow schuf die moderne Geschichte in den
1880ern, teils aus journalistischer Notwendigkeit, indem er realistische Details und
romantischen Lyrizismus verwob. Das Ergebnis war eine Art des Erzählens, das die
Geheimnisse des „normalen“ Lebens ausdrückt. In solchen Geschichten wie „Not“
(1886), „Anjuta“ (1886) und „Der Kuss“ (1887), schließt das Tschechowsche Moment,
wenn auch nur halb erfasst und flüchtig, eine Seele ein. Tschechows zurückhaltende
und doch klingende Manier wurde zum Standard für die Geschichtenschreiber des
zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich Carvers amerikanischer Vorbilder
Sherwood Anderson, Ernest Hemingway und John Cheever. In den späten 1960ern
war allerdings die nichtrealistische, experimentelle „Superfiktion“ das
Lieblingsmodell der literarischen Avantgarde geworden. Realistische Geschichten,
wie der „alles umfassende“ Roman, wurden für altmodisch, wenn nicht überholt
gehalten.
Während dieser Jahre, im Hinterland von Washington und Nord Kalifornien, hatte
Raymond Carver mit neunzehn geheiratet, und war mit zwanzig Vater zweier Kinder.
Er jonglierte mit „Scheißjobs“, Vaterschaft und schließlich „Vollzeittrinken als
ernsthafte Beschäftigung“, und versuchte Zeit zum Schreiben heraus zu pressen.
„Fang an, hör auf. Zögere nicht. Mach weiter“, waren die Überschriften seines
Lebens. Aus der Notwendigkeit heraus formten sie seine Kunst. „Ich musste etwas
schreiben, für dass ich sofort irgend eine Bezahlung bekommen konnte“, sagte er
später. „Also Gedichte und Geschichten.“
Tschechow hätte es verstanden. Mit neunzehn war er aus Taganrog in der Provinz
nach Moskau gezogen und hatte die Verantwortung für seine geldlose Familie
übernommen. Obwohl er in Medizin studierte, verdiente „Papa Antoscha“ dringend
benötigtes Geld indem er Skizzen von trockenstem Humor für Wochenzeitungen des
Massenmarkts schrieb. In einem Brief vom 10. Mai 1886 umreißt er die Richtlinien
für das, was kleingeistige Kritiker eines späteren Jahrhunderts „minimale“ Literatur
nennen würden: „(1) keine politisch-ökonomisch-sozialen Ergießungen; (2)
Objektivität von Anfang bis Ende; (3) Wahrheit in der Beschreibung der Charaktere
und Dinge; (4) Extreme Kürze; (5) Frechheit und Originalität-meidende Klischees; (6)
Warmherzigkeit”. Da er unter ähnlichen Bedingungen von „ständiger Verantwortung
und Ablenkung“ arbeitete, fand Carver Tschechows Vorgaben kongenial, und erfand
in den 1960ern und 70ern die Kurzprosa nach Tschechowschen Vorbildern neu. Auf
diese Weise legte er den Grundstein für das Wiederaufleben des Realismus in den
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1980ern. „In einem literarischen Sinne“, so der Romancier Douglas Unger kurz nach
Carvers Tod, „ist seine Geschichte ein Sinnbild der Wiederauferstehung der
Kurzgeschichte.“
Nur wenige würden Carvers Behauptung wiedersprechen, Tschechow sei „der größte
Autor von Kurzgeschichten, der je gelebt hat.“ Ebenfalls würden wenige Charles
Mays Urteil in Frage stellen, der in A Chekhov Companion (1985) behauptete,
Raymond Carver sei der Tschechowsche Schriftsteller der Gegenwart. Als Künstler
und als Menschen lebten die beiden parallele Leben. Tragischerweise konvergierten
diese Parallelen 1988, als Carver wie Tschechow viel zu früh einer Krankheit zum
Opfer fiel, die emblematisch für seine Ära war. In Tschechows Fall war die Krankheit
Tuberkulose, die sein Leben mit vierundvierzig beendete. Im Falle Carvers war es
Lungenkrebs. Der Schriftsteller, der sich einmal als „Zigarette mit einem
angehängten Körper“ bezeichnet hatte, starb am 2. August, zwei Monate nach
seinem fünfzigsten Geburtstag. Zwei Jahre früher hatte der Romancier Robert Stone
Carver den „besten Amerikanischen Kurzgeschichten-Schreiber seit Hemingway“
genannt. Als er bei Carvers Gedenkgottesdienst am 22. September in New York
sprach, machte er ihm so gar noch ein größeres Kompliment. Indem er eine Phrase
aus seinem eigenen Essay über Tschechow entlehnte, nannte er Carver „einen Held
der Wahrnehmung.“ [...]
Carvers großartigste Hommage an Tschechow wurde „Errand“, eine preisgekrönte
Geschichte, die auch sein letztes Prosawerk sein würde. „Errand“ setzt in der
Biographie an, mit einem kunstvoll angelegten Bericht über Tschechows letzte
Monate, und findet ihren Höhepunkt darin, dass er ein letztes Glas Champagner
trinkt, bevor er in Badenweiler, einem kleinen Kurort im Schwarzwald [sic] stirbt.
Nachdem die harten Fakten erzählt sind, fährt die Geschichte als Tschechowsche
Fiktion fort. Carver beschreibt die „menschlichen Besorgungen“, die nach
Tschechows Tod getan werden müssen, mehr und mehr lyrisch. Nach einer langen
Nachwache instruiert Tschechows Witwe einen jungen Pagen einen Bestatter
ausfindig zu machen. Respektvoll, aber nur halb verstehend, hört er ihrem Auftrag
zu. Bevor er geht, beugt sich der junge Mann diskret herunter und hebt den herunter
gefallenen Champagnerkorken auf. Diese Geste, so nobel wie unbemerkt, bringt die
Geschichte zu einem tadellos Tschechowschen Ende.
„Errand“ erschien am 1. Juni 1987 im New Yorker. Im folgenden Frühling gewann die
Geschichte den O. Henry Award und erschien in Prize Stories 1988. Im gleichen
Zeitraum jedoch imitierte Carvers Leben seine Kunst – mit fatalen Folgen. Im
September begann er Blut zu husten. Im Oktober wurden ihm zwei Drittel seiner
Lunge entfernt. Über die nächsten neun Monate führte Carver einen mutigen aber
aussichtslosen Kampf gegen den Krebs. Tschechow wurde zu seinem geisterhaften
Double. „Wenn die Hoffnung vorbei ist,“ schrieb er in seinem Tagebuch, „ist es die
zuletzt nur noch vernünftig, sich an Strohhalmen fest zu halten.“ Auch Tschechow
hatte sich bis zuletzt an Strohhalmen festgehalten; er prahlte einen Monat vor
seinem Tod, dass er jetzt „anfinge robust zu werden.“ Im März 1988 hatte der Krebs
Carvers Gehirn erreicht. Bevor er eine Strahlentherapie begann, schrieb er eine
Meditation über Tschechows „Station Nr. 6“ (1892). Indem er ein Stück Dialog des
gleichgültigen Doktors, Andrej Jefinitsch erörterte, bemerkte er wie sogar in
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Tschechows gottverlassenen Irrenhaus „eine kleine Stimme in der Seele“ aufstieg,
die „Glaube an eine zerbrechliche, aber konsequente Natur“ forderte.
Carvers fünfzigster Geburtstag kam schnell näher, und im Mai erhielt er eine Welle
von Anerkennungen und Auszeichnungen.[...] Ebenfalls im Mai wurde Where I’m
Calling From, eine Sammlung von neuen und ausgesuchten Geschichten, von
Atlantic Monthly Press veröffentlicht. [...] Where I’m Calling From wurde von Küste
zu Küste hervorragend besprochen, einschließlich eines Artikels auf der ersten Seite
der New York Times Book Review. Wichtiger als diese Kritiken war allerdings die
Neueinordnung Carvers, die viele Kritiker anlässlich dieser Retrospektive
vornahmen. Wiewohl er weithin als „einer der großen Kurzgeschichtenschreiber
unserer Zeit“ anerkannt wurde, war er lange Zeit als „Minimalist“ bezeichnet
worden, ein herabsetzendes Attribut, dass dem Geist seines Werkes nicht gerecht
wird. [...] „Carver ist kein Minimalist, sondern ein Prezisionist gewesen“, schrieb
David Lipsky in der National Review (5. August 1988). [...]
Im Juni tauchte der Krebs wieder in Carvers Lungen auf. Die Diagnose war ein
Todesurteil, wie er in einem Gedicht mit dem Titel „What the Doctor Said“ festhielt.
Tschechow hatte ein entsprechendes Urteil drei Jahre vor seinem Tod erhalten und
reagiert indem er Olga Knipper heiratete [...]. Carver überholte seinen Mentor und
heiratete am 17. Juni seine Begleiterin und Mitarbeiterin während der letzten Zehn
Jahre, die Schriftstellerin Tess Gallagher. Die Hochzeit fand in Nevada, in der Heart
of Reno Kapelle statt, und Carver beschrieb es genüsslich als „hochtrabende Sache“.
Ganz der Tragikomik der Situation angemessen, hatte Gallagher eine drei Tage
andauernde Glückssträhne beim Roulette.
Carver und Gallagher kehrten schnell nach Port Angeles, Washington, zurück, das
während der letzten fünf Jahre zu ihrem Zuhause geworden war, und beeilten sich
damit, einen letzten Gedichtband A New Path to the Waterfall (1989) zusammen zu
stellen. In dieser ungewöhnlichen Sammlung stehen Carvers Verse in einem Dialog
mit Werken anderer Dichter – und mit Prosagedichten aus Tschechows Schriften.
Gemeinsam machten die beiden „Seelenverwandten“ eine „letzte, ganz erstaunliche
Reise“ die ein verschwenderisch gelebtes Leben rekapitulierte. Indem er seine
frühen Gedichte noch einmal veröffentlicht, ruft sich Carver noch einmal die wenigen
schönen Tage seiner jugendlichen Ehe in Erinnerung. Er stattet der Küche seiner
Eltern einen Besuch ab, ertappt dabei seinen Vater in ehebrecherischer Umarmung.
Mit Czeslaw Miloszs „Rückkehr nach Krakau 1880“ stellt er den Wert seiner Arbeit in
Frage: „To win? / To lose? / What for, if the world will forget uns anyway.“ In
Gedichten von brennender Offenheit, kämpft er darum zu sagen was ihm und den von
ihm geliebten Menschen „wirklich geschah“. Schließlich, auf den Endseiten,
konfrontiert er sich mit der „erstaunlichen Trauer“ seines drohenden Todes. Die
Lebensreise endet mit Tschechowschem Zwielicht in „Nachglühen“ [...]. Die Coda
des Buches, „Spätes Fragment“, drückt Carvers hart erkämpfte Selbstakzeptanz
aus:
And did you get what
you wanted from this life, even so?
I did.
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And what did you want?
To call myself beloved, to feel myself
beloved on the earth.
Als das Manuskript abgeschlossen war, machten Carver und Gallagher einen
Angeltrip nach Alaska und planten eine „Traumreise“ nach Moskau. „Ich werde vor
dir da sein“, sagte er scherzend im Krankenhaus, „Ich reise schneller.“ Carver wurde
in die Pflege seiner Frau entlassen, und verbrachte seinen letzten Nachmittag auf
der Veranda seines neugebauten Hauses, mit Blick auf die Rosen. [...] Um 6.20 Uhr
starb Carver im Schlaf. Ohne die Dringlichkeit seiner Situation zu verraten, hatte
Carver in den letzten Monaten seines Lebens Interviewern gesagt, was er als Epitaph
wünschen würde: „Ich kann mir nichts besseres vorstellen, als ein Schriftsteller
genannt zu werden – außer Dichter vielleicht. Kurzgeschichtenschreiber, Dichter,
gelegentlicher Essayist.“ Nach einem Familiengottesdienst am 4. August wurde er
auf dem Ocean View Friedhof in Port Angeles beigesetzt. [...]
Auszug aus „Biographisches Essay über Raymond Carver“ von William L. Stull.
Ursprünglich veröffentlicht im Dictionary of Literary Biography. Nachdruck auf
http://www.whitman.edu/english/carver/biography1.html. Übersetzung: Michael
Sommer.
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NUR NOCH HEUTE
Materialien
Denys Arcand
DER UNTERGANG DES AMERIKANISCHEN IMPERIUMS
I. Eingangsszene
Diane interviewt Dominique
DIANE
Interview mit Dominique Santano von Diane
Leonard für Literatur und Medien... Sie sind
Leiterin der historischen Fakultät der
Universität und sie haben gerade im
Universitätsverlag ein Buch veröffentlicht
mit dem Titel "Variationen der Idee vom
Glück". Worum geht es in diesem Buch?
DOMINIQUE
Ja. In Variationen entwickele ich die
Hypothese, dass sich die Idee vom
persönlichen Glück immer dann literarisch
bedeutsam
wird,
wenn
die
Ausstrahlungskraft einer Nation oder einer
Zivilisation kleiner wird.
DIANE
Und was ist Ihrer Ansicht nach persönliches Glück?
DOMINIQUE
Das ist die Idee, dass man in seinem Alltagsleben für das was man getan hat, stets
sofort belohnt wird, und dass der Umfang dieser Belohnungen eigentlich den
normativen Parameter für das Gelebte bildet.
DIANE
Könnten Sie das unseren Hörern mit einem Beispiel veranschaulichen?
DOMINIQUE
Ja. Zum Beispiel die Institution der Ehe. In den stabilen Gesellschaften hat die Ehe
die Funktion des wirtschaftlichen oder politischen Ausgleichs oder die einer
Produktionsgemeinschaft.
DIANE
Und das bedeutet?
DOMINIQUE
Das bedeutet, dass eine gute Ehe überhaupt nichts mit dem persönlichen Glück der
beiden verheirateten Individuen zu tun hat. Die Frage stellt sich vielleicht nicht
einmal. In einer unterentwickelten Gesellschaft sind ja auch erst einmal das
Wohlergehen der Gesellschaft und Ihre Zukunft wichtiger als augenblickliche
persönliche Zufriedenheit. In der römischen Literatur zum Beispiel ist von der
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ehelichen Liebe überhaupt erst im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus
die Rede. Gerade als die Strukturen des Reiches anfingen sich aufzulösen. Das
gleiche Phänomen wiederholt sich im Europa des 18. Jahrhunderts, wo die
Glücksvorstellungen von Rousseau der Französischen Revolution vorausgehen. Und
ich stelle mir die paradox klingende Frage: Diese Sucht nach ausgeprägtem
persönlichen Glück, den wir derzeit in unserer Gesellschaft beobachten können, hat
der [sic] historisch betrachtet nicht etwas mit dem gerade beginnenden Untergang
des amerikanischen Imperiums zu tun?
II. Später, nach dem gemeinsamen Abendessen
Acht Personen, vier Männer und vier Frauen, Bekannte, Freunde, die allesamt an der
historischen Fakultät der Universität arbeiten, haben gemeinsam zu Abend gegessen
und hören sich nun den Rest des Interviews an, das Dominique Diane gegeben hat.
DIANE
Und Sie glauben, dass diese Entwicklung unaufhaltsam ist?
DOMINIQUE
Ja, ganz sicher. Auch wenn man, wie zu allen Zeiten, Scharlatane findet, die einem
sagen, das Heil liege in der Kommunikation, dem Informationsaustausch in
Kleinzirkeln, in der religiösen Erneuerung, der körperlichen Fitness oder
irgendeinem anderen Unsinn. Der Untergang einer Zivilisation ist genauso
unvermeidlich wie das Altern eines Individuums. Im besten Fall darf man hoffen,
dass dieser Vorgang verzögert werden kann, sonst nichts. Wir müssen uns klar
machen, dass wir das Glück haben, am Rande des amerikanischen Imperiums zu
leben, wo wir die Erschütterungen viel weniger heftig verspüren. Man muss aber
auch sagen, dass das Leben in dieser Zeit zum Teil sehr angenehm sein kann.
Jedenfalls stünde unsere mentale Einstellung ohnehin jeder anderen Lebensweise
im Wege. Ich glaube nicht, dass es viele von uns fertig bringen würden, unter den
Puritanern im Neuengland des Jahres 1650 zu leben.
DIANE
Dominique Santano, ich danke ihnen.
RÉMY
Ja, das ist nett.
LOUISE (RÉMYS FRAU)
Ich finde das falsch. Ich bin sicher, dass es Wissenschaftler gibt, die genauso
überzeugend das Gegenteil beweisen könnten. Dass wir in einer Zeit ganz
außergewöhnlicher Erneuerung leben, dass die Wissenschaft noch nie so hoch
entwickelt und das Leben noch nie so angenehm gewesen ist. Es ist doch noch nicht
möglich zu sagen in was für einer Epoche wir leben. Das Beste was man machen
kann, ist versuchen glücklich zu sein. Das haben die Menschen doch immer gewollt.
Und die es nicht geschafft haben, die erfanden Geschichten um ihr Unglück zu
rechtfertigen. Das hast du doch selbst gesagt. Nein, ich meine, wenn du ganz alleine
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lebst, dann weil du dein Leben deiner Karriere geopfert hast. Das ist doch kein Grund
zu behaupten, wenn man klug ist müsste man heute auch deprimiert sein, oder?
DOMINIQUE
(zu Pierre und Rémy) Ihr habt mir noch nicht gesagt, was ihr von meinem Buch
haltet.
LOUISE
Na die meinen das gleiche wie ich, aber sie trauen es sich nicht zu sagen.
DOMINIQUE
Sie werden einverstanden sein, denke ich.
PIERRE
Wieso einverstanden?
DOMINIQUE
Schließlich habt ihr alle zwei mit mir geschlafen.
Le déclin de l’empire américain. Spielfilm, Kanada, 1985. Buch und Regie: Denys
Arcand. Mit: Dominique Michel, Dorothée Berryman, Louise Portal, Pierre Curzi,
Rémy Girard, Ives Jacques, Geneviève Rioux, Daniel Brière, Gabriel Arcand.
Transskript: Michael Sommer.
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François Höpflinger
ALLES LIEBE, ODER WAS?
Wie es zur staatlichen Sanktionierung eines Monogamiemodells für eine nicht sehr
monogame Spezies und zum Ewigkeitsgebot von etwas nicht Ewigem kam.
DIE INSTITUTION EHE erfüllte von Anfang an gesellschaftliche Ordnungs- und
Schutzfunktionen: Erstens wurde mit Hilfe der Ehe das Verhalten junger Frauen
kontrolliert; gleichzeitig war die Ehe eine Einrichtung zur Kanalisierung männlicher
Sexualität. Vor- und aussereheliche Sexualität waren lange verpönt. Bis zu Beginn
des 20. Jahrhunderts galt als Norm, dass zumindest die Frau unberührt in die Ehe
eintrat.
Zweitens war die Ehe die Institution zur Regelung von Geburten und
Kindererziehung. Lange Zeit wurden nur ehelich geborene Kinder rechtlich
anerkannt; unverheiratete Mütter und ihre Kinder wurden stigmatisiert. Gleichzeitig
half die Institution der Ehe, die väterliche Verantwortung für die Nachkommen
festzuschreiben. Bis heute gelten alle innerhalb einer Ehe geborenen Kinder
automatisch als Kinder des Ehegatten.
Drittens regelte die Ehe das häusliche Zusammenleben von Mann und Frau. Vor
Einführung des Wohlfahrtsstaates waren Ehe und
Familie die wichtigste Not- und Solidargemeinschaft.
Die Bedeutung der Ehe wie auch das konkrete
Zusammenleben der Eheleute haben sich im Verlaufe
der Zeit enorm gewandelt. Von explosiver Kraft erwies
sich vor allem der Versuch, Ehe und Liebe
beziehungsweise Institution und Gefühl in der
bürgerlichen Liebesehe zu vereinigen.
EHESAKRAMENT
VERSUS
PRIESTERZÖLIBAT.
Ordnungspolitische Gesichtspunkte des christlichen
Ehemodells waren von vornherein Monogamie und
Unauflöslichkeit. Dagegen fand das persönliche
Verhältnis der Ehegatten in der mittelalterlichen
Theologie kaum Aufmerksamkeit. Der primäre Zweck
der Ehe lag in der Erzeugung von Kindern. Das
Christentum - als Gemeindereligion - brach radikal
mit allen früheren Haus-, Familien- und Ahnenkulten.
Dadurch erhielt die europäische Ehe ihre spezifische Prägung. Im Gegensatz zu
vielen aussereuropäischen Kulturen wurde die Beziehung zwischen den Ehegatten und nicht jene zur Sippe oder zum Clan - ins Zentrum gerückt. Die Betonung der Ehe
als Zweierbeziehung stärkte die Stellung junger Eheleute gegenüber der älteren
Generation. Zudem wurde damit die Entwicklung zur Kernfamilie gefördert.
Das Verhältnis der mittelalterlichen Kirche zur Ehe war allerdings durch und durch
zwiespältig: Einerseits galt die Ehe gegenüber einem keuschen Leben als
minderwertig. Im Vergleich mit dem Zölibat - einem nur Christus verpflichteten
Leben - galt die Ehe bestenfalls als «etwas Zweitbestes». Die religiöse
Minderwertigkeit der Ehe wurde vor allem nach dem 11. Jahrhundert betont, als sich
der Klerikerzölibat innerkirchlich durchgesetzt hatte. Die mittelalterliche
Gesellschaft war aufgeteilt in einen ehelosen Stand von Klerikern (Mönchen,
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Nonnen, Priestern) und einen weniger vollkommenen Stand verheirateter Laien.
Diese Zweiteilung hat in der katholischen Kirche bis heute überlebt.
Andererseits wurde die Ehe als unauflösliches Sakrament («. . . bis dass der Tod
Euch scheidet») definiert und die Eheschliessung schon früh der kirchlichen
Gerichtsbarkeit unterstellt. Ab dem 9. Jahrhundert wurde verstärkt gefordert, nur
eine kirchliche Eheschliessung zu akzeptieren. Die christliche Heirat und mit ihr das
kirchliche Eherechtsmonopol setzte sich - gegen den Widerstand lokaler Traditionen
- allerdings erst im 12. Jahrhundert durch. Die Idee der Unauflösbarkeit der Ehe und
das Prinzip, dass nur eine kirchliche Heirat gültig sei, gehören in der katholischen
Kirche bis heute zur kirchlichen Doktrin.
Ab dem 12. Jahrhundert setzte sich in Westeuropa allmählich das Konsensprinzip
durch: Ehewillen beziehungsweise Verlobung waren der Beginn der Ehe; eine Ehe
ohne Einwilligung beider Ehepartner wurde zur Ausnahme. Junge Frauen wurden
damit selbständiger und getrauten sich, einen unliebsamen Heiratspartner
zurückzuweisen. Während in vielen anderen Kulturen die Eltern bis heute den
Ehepartner, die Ehepartnerin ihrer Kinder bestimmen, gewannen junge Männer und
Frauen in Westeuropa relativ früh die Freiheit, bei der Wahl eines Ehepartners zumindest innerhalb des gleichen Dorfes oder des gleichen Standes mitzuentscheiden. Das Konsensprinzip schloss ein, sich gegen die Ehe entscheiden
zu können. Seitens der Kirche ging es darum, «religiöse Berufungen zu schützen»
und Eltern daran zu hindern, Kinder gegen deren Willen in den unauflöslichen
Ehestand zu nötigen.
Faktisch musste die mittelalterliche
Kirche immer wieder gegen lokale
Traditionen
(etwa
Heirat
unter
Blutsverwandten,
Brautkauf)
und
Formen ausserehelicher Sexualität
ankämpfen. Angesichts der häufigen
Todesfälle - speziell während Pestzeiten
- war die durchschnittliche Ehedauer
gering. Wiederverheiratung war häufig,
schon aus wirtschaftlichen Gründen. Vor
allem für Frauen war und blieb die Ehe
die einzige wirtschaftliche Absicherung. So machten viele Zünfte jüngeren Witwen
die Auflage, sich innerhalb eines Jahres mit einem Mann desselben Handwerks zu
verheiraten.
Am Ende des Hochmittelalters hatte sich das kanonische Eherecht (Ehe als
unauflösliches Sakrament, kirchliches Heiratsmonopol) durchgesetzt. Aber der
grundlegende Zwiespalt zwischen Priesterzölibat und verheirateten Laien blieb
bestehen und beschäftigt die katholische Kirche bis heute.
AUFWERTUNG VON EHE UND FAMILIE. Die Reformatoren, namentlich Calvin und
Zwingli, haben den mittelalterlich-kirchlichen Zwiespalt gegenüber der Ehe
grundsätzlich aufgelöst. Der Priesterzölibat wurde kurzerhand abgeschafft, der
sakramentale Status der Ehe verneint, was aber nicht etwa zur Abwertung, sondern
im Gegenteil zur Aufwertung von Ehe und Familie führte.
Durch die Priesterehe wurde die Trennung zwischen Klerikern und Laien
aufgehoben. Die Pfarrfamilien wurden zum lebendigen und sichtbaren Vorbild
christlicher Eheführung. Dass die Reformatoren Haus und Familie ins Zentrum der
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christlichen Lebensführung rückten, stärkte die Ehe ebenfalls. Durch die Streichung
des sakramentalen Charakters der Ehe - die zu einem «eusserlich weltlich ding»
(Luther) wurde - entkrampfte sich hingegen das Verhältnis der Kirche zur ehelichen
Sexualität. Schon Calvins Einstellung zur ehelichen Sexualität war positiver, was auf
der anderen Seite die aussereheliche Sexualität und die nichtehelichen Geburten
zusätzlich herabwürdigte.
Während in den katholischen Orten der Alten Eidgenossenschaft weiterhin das
kanonische Eherecht gültig blieb, setzten die protestantischen Gebiete der Schweiz
ein gemeinsames reformiertes Eherecht durch. Gemäss dem Zürcher Ehegesetz von
1524 wurden Eheversprechen und Verlobung als Eheschliessung betrachtet. Eine
kirchliche Trauung war damals noch nicht unbedingt nötig, da sie nach Ansicht der
Reformatoren nichts Neues schaffte, sondern die Ehe - die mit dem Eheversprechen
begann - lediglich legitimierte. Neu war, dass Männer ab 20 Jahren und Frauen ab
18 Jahren auch ohne Einwilligung der Eltern heiraten durften. Neu war auch die
Möglichkeit einer Ehescheidung im Falle eines Ehebruchs. In späteren Gesetzen des
17. Jahrhunderts wurden auch böswilliges Verlassen und Impotenz als
Scheidungsgründe akzeptiert.
Auch bei den Reformatoren stand allerdings der institutionelle Charakter der
Ehegemeinschaft im Vordergrund. Hauptzweck der Ehe war und blieb die Zeugung
und Aufzucht von Kindern. Mit der religiösen Aufwertung der Familie wurde zudem
die Stellung des Hausvaters - verantwortlich für die religiöse Hauszucht hervorgehoben. Die patriarchale Arbeitsteilung zwischen Ehemann und Ehefrau hielt
der Reformator Bullinger in seiner 1547 erschienenen Schrift «Der Christlich
Eestand» wie folgt fest: «Waz ussethalb dem huss zehandeln ist / als hin und här
reisen / gwün und gwärb fertigen / kauffen und verkauffen / und der glychen eehaffte
stuck / ist des manns arbeit. Der sol glych wie ein empsiger vogel hin und här fliegen
/ die narung und notturfft samlen und flyssig zuo näst tragen. Und alles was also in
daz huss gebracht wirt / sol das wyb samlen / ordnen / nüt zuo verlieren gon lassen /
und alles was in huss zethon ist flyssig und fruotig ussrichten.»
Diese Rollenverteilung - Mann sichert Existenz der Familie, Frau kümmert sich um
Haushalt und Kinder - blieb bis zur Einführung des partnerschaftlichen Eherechts im
Jahre 1988 im Prinzip unverändert.
Zur Kontrolle der Ehe als Institution des paternalistischen und obrigkeitlichen
Staates wurden in den reformierten Orten spezielle Ehegerichte eingesetzt, so etwa
von Zwingli 1525 in Zürich. Andere protestantische Orte übernahmen diese
Einrichtung, die bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft überlebte. Aufgabe der
Ehegerichte waren die Durchsetzung und Bewahrung guter ehelicher Sitten. So
bestimmt die Helvetische Konfession von 1723: «Es sollen in der Kirche gesetzt und
geordnet werden fromme, redliche Richter zu einem Ehegericht, welche die Ehen
schirmen und erhalten, und aller Unzucht und Unverschämtheit wehren: Und vor
denen alle Streitigkeiten, die sich von der Ehe wegen erheben, verhört und gerichtet
werden.» Die Eherichter hatten weiter über strittige Eheversprechen zu entscheiden,
und sie konnten - um dem «Laster der Unzucht» vorzubeugen - Eheverfügungen
erlassen. Die Ehegerichte mussten zudem Vaterschaftsklagen beurteilen oder
vorehelichen Beischlaf büssen. In einigen Fällen waren die Eherichter auch für den
Landesverweis unehelicher Mütter zuständig.
Vor allem im 17. Jahrhundert verstärkte sich in den protestantischen Gebieten - und
als Folge der Gegenreformation auch in den katholischen Kantonen - die ethische
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Reglementierung des Ehelebens. Der Zugriff der Kirche auf das Sexualverhalten der
Bevölkerung wurde härter. Gleichzeitig kam es jedoch zu einer stärkeren Betonung
der ehelichen Gemeinschaft und Liebe: gegenseitige Hilfe und Beistand als
Ehezwecke wurden vermehrt hervorgehoben. Die Ehe wurde somit einerseits ein
Instrument zur sexuellen Disziplinierung der jungen Generation. Andererseits
begann eine «Ethisierung der Ehe», indem etwa das Schlagen der Ehefrau nicht
mehr länger gutgeheissen wurde. Mit der zuerst religiös begründeten Betonung der
Gattenliebe setzte der grundlegende Wandel zur Liebesehe ein.
WUNSCH UND REALITÄT. Im Grunde ist die bürgerliche Liebesehe, die das heutige
Eheverhalten bestimmt, ein Versuch, Feuer und Wasser zu mischen. Die Idee, die
Ehe (als Institution) mit der Liebe (als Gefühl) zu koppeln, war insofern erfolgreich,
als sich dieses Modell im 20. Jahrhundert voll durchsetzte. Es war jedoch ein
Prozess, der langfristig zur institutionellen Entwertung der Ehe führte. Bis ins 18.
Jahrhundert hinein war die Liebe mit der Ehe, zum Teil aber auch die Liebe mit
Sexualität als unvereinbar erklärt worden. Tatsächlich standen etwa in der
Aristokratie bei der Heirat immer dynastische Überlegungen im Zentrum. Sexualität
und Liebe wurden ausserhalb der Ehe gesucht. Bei den bäuerlichen und städtischen
Unterschichten war die Ehe primär eine wirtschaftliche Not- und
Zwangsgemeinschaft, in der für Liebe kaum Raum blieb.
Das aufstrebende Bürgertum des 18. Jahrhunderts versuchte erstmals, Liebe,
Sexualität und Ehe zu einem Gesamtpaket zu schnüren. Genau dies war das Neue
am bürgerlichen Ehemodell, das in der Romantik seine klare Fassung erhielt und
das in einer ganzen Flut von Eheratgebern vermittelt wurde. Die (romantische) Liebe
wurde allmählich zum einzig gültigen Anlass und Motiv. Damit verknüpft war die
Betonung eines häuslichen Ehe- und Familienlebens nach gutbürgerlicher
Sittlichkeit. Der häusliche Charakter der Kleinfamilie wurde verstärkt, die Ehefrau in
der Folge oft zur blossen Hausfrau entwertet. Andererseits zielte die bürgerliche
Häuslichkeit darauf, den Ehemann zu disziplinieren und ihn etwa von Müssiggang,
Schankwirtschaften und Prostitution fernzuhalten.
In jedem Fall wurden Eheglück und eheliche Liebe ab dem späteren 18. Jahrhundert
immer mehr zum Leitmotiv eines bürgerlichen Ehe- und Familienlebens. Erstmals
sprachen sich die Ehegatten mit Du an, später auch die Kinder ihre Eltern. Es
dauerte allerdings seine Zeit, bis sich das bürgerliche Ehemodell - gegenüber
aristokratischen Ehenormen oder bäuerlichen Eheformen - durchsetzen konnte. Die
verbreitete wirtschaftliche Armut der damaligen Zeit war ein bedeutsames Hindernis
in der Entwicklung der Liebesehe. Selbst im Bürgertum standen die neuen
Vorstellungen von häuslichem Glück und gegenseitiger Rücksichtnahme oft in
Konflikt mit patriarchalen Eheregelungen.
Bis weit ins 19. Jahrhundert übten Kirche und weltliche Obrigkeit eine straffe
Kontrolle aus. Mit der Entwicklung des Absolutismus wurde die Eheschliessung
vermehrt unter staats- und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten geregelt.
Heiraten mit Ortsfremden oder Nichtansässigen wurden behindert oder gar
verboten. Vielerorts machte man eine Heirat vom Nachweis eines Mindestvermögens
abhängig, um die Vermehrung von Armengenössigen zu verhindern. Wohnungsnot
oder das Warten auf das väterliche Erbe waren weitere Ehehindernisse.
Wirtschaftliche und staatliche Ehebeschränkungen führten im 18. und im 19.
Jahrhundert zu zwei Tendenzen: Viele Frauen und Männer blieben zwangsweise
ledig, und wenn geheiratet wurde, dann meist spät. Das mittlere Erstheiratsalter von
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Männern in der Schweiz lag zwischen 27 und 29 Jahren, was angesichts der damalig
tiefen Lebenserwartung schon ein recht hohes Alter war.
Der Weg zu einer liberalen Ehegesetzgebung war in der Schweiz sehr lang. Erst 1821
schlossen zehn Kantone ein Konkordat ab, das den Abschluss konfessionell
gemischter Ehen erlaubte. Gesamtschweizerisch fiel das Verbot von konfessionellen
Mischehen erst 1850. Noch länger, bis 1874, dauerte es, bis das Recht auf
Eheschliessung voll verankert war und die Zivilehe eingeführt wurde. Das Eherecht
blieb jedoch einer patriarchalen Ordnung verpflichtet. Auch gemäss revidiertem
Eherecht von 1912 war der Ehemann das Oberhaupt der Familie und besass
beispielsweise das Recht, seiner Frau eine ausserhäusliche Erwerbstätigkeit zu
verbieten.
DURCHBRUCH DER LIEBESEHE. Auch wenn es lange dauerte, bis sich die
«bürgerliche Liebesehe» (mit ihrer Dreieinigkeit von Liebe, Ehe und Sexualität)
tatsächlich in weiteren Bevölkerungskreisen durchsetzte, hatte dieses Ehemodell
einige unwiderrufliche Konsequenzen: So nahm der Einfluss der Eltern und übrigen
Verwandten auf die Partnerwahl weiter ab. Liebe lässt sich nicht befehlen, und wenn
eine Ehe auf Liebe gegründet wird, muss die Wahl des Ehepartners der jungen
Generation überlassen werden. Die Eheschliessung, aber auch das Eheleben,
wurden immer mehr zur «Privatsache» der Beteiligten. Damit ging der Einfluss der
Kirchen immer stärker zurück.
Eine zweite Folge der Liebesehe war, dass die Stellung junger Frauen gegenüber
jungen Männern gestärkt wurde. Die Männer mussten um die Frau «werben». Auch
nach der Heirat musste sich der Mann um die Zuneigung seiner Gattin «bemühen».
Eine Liebesehe ist immer auf Gegenseitigkeit aufgebaut, und im Grunde waren die
herkömmlichen patriarchalen Ehevorstellungen mit dem Prinzip einer Liebesehe
unvereinbar. Mit der Erfindung der bürgerlichen Liebesehe wurde langfristig das
Ende des Patriarchats eingeläutet.
Eine dritte Konsequenz der Liebesehe war, dass damit auch eine Eheauflösung in
Frage kam. Wenn die eheliche Liebe Fundament und Sinn einer Ehe ist, wird die Ehe
sinnlos, wenn die Liebe verschwunden ist. Weshalb also eine sinnentleerte
Beziehung weiterführen? Mit dem Durchbruch der Liebesehe musste schliesslich die
Legitimität
einer
Ehescheidung
akzeptiert
werden.
Die
wachsende
Scheidungshäufigkeit lässt sich deshalb als sozio-logische Konsequenz des Sieges
der Liebesehe interpretieren.
Der Erste Weltkrieg und Wirtschaftskrisen führten allerdings auch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts dazu, dass viele Frauen und Männer erst spät heiraten konnten oder
ledig blieben. Das Ideal der bürgerlichen Liebesehe war zwar weit verbreitet, aber
die wirtschaftlichen Hindernisse standen seiner Verwirklichung im Weg. Manch
junges Dienstmädchen und manch junger Arbeiter musste sich mit dem Lesen
romantischer Liebesgeschichten begnügen.
Erst die Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg erleichterte den jungen Leuten
die Eheschliessung. Entsprechend sank das Heiratsalter deutlich, und der Anteil der
Ledigen reduzierte sich auf einen historischen Tiefstwert. Gleichzeitig blieb die Ehe
vorläufig die einzig akzeptierte Form heterosexuellen Zusammenlebens, da sowohl
voreheliche Sexualität als auch nichteheliches Zusammenleben («wilde Ehe»
genannt) verpönt waren. Die klassische Arbeitsteilung (Mann sichert Existenz der
Familie, Frau arbeitet im Haushalt) wurde erst selten in Zweifel gezogen, und dank
steigender Löhne konnten sich mehr Männer eine vollberufliche Hausfrau leisten.
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Die ersten Nachkriegsjahrzehnte waren sozusagen das goldene Zeitalter der
bürgerlichen Ehe: Die Wünschbarkeit dieser Lebensform war nahezu unbestritten,
und Alternativen gab es kaum. Dank wachsendem Wohlstand waren einer frühen
Heirat keine wirtschaftlichen Hindernisse mehr im Weg. Allerdings erwies sich
dieses «goldene Zeitalter» als vorübergehend, da die bürgerliche Liebesehe - mit
ihrer Kombination von Gefühlen und institutioneller Ordnung - eine grundsätzlich
widersprüchliche Konstruktion ist.
ENTINSTITUTIONALISIERUNG DER EHE. Ende der sechziger Jahre begann die
bürgerliche Ehekonstruktion mit ihrer Einheit von Sexualität, Zusammenleben und
Ehe sozusagen auseinanderzufallen. Zum ersten wurden voreheliche sexuelle
Erfahrungen bei der jungen Generation populär, und auch die Diskriminierung
ausserehelicher Kinder und lediger Mütter erwies sich endlich als unhaltbar. 1978
erfolgte im Rahmen des neuen Kindsrechts die Gleichstellung ehelicher und
nichtehelicher Kinder, auch was Erbansprüche betrifft. In den siebziger Jahren
wurden nichteheliche Lebensformen unter jungen Leuten beliebt, und die
Heiratsraten sanken entsprechend. Gleichzeitig setzten sich partnerschaftliche
Ehevorstellungen immer stärker durch; eine Entwicklung, die mit dem Inkrafttreten
des neuen Eherechts 1988 rechtlich verankert wurde. Ab 1966/67 hatte zudem die
Zahl der Scheidungen rasant zugenommen, was die Idee der Ehe als unauflösliche
Institution grundsätzlich erschütterte. In den siebziger Jahren wurde deshalb das
Ende der Ehe prophezeit.
Diese Voraussage sollte sich als voreilig erweisen. Ab Mitte der achtziger Jahre
erfuhren Heirat und Ehe einen neuen Aufschwung. Partnerschaftliche
Ehevorstellungen begannen sich durchzusetzen, traditioneller Ballast wurde
abgeworfen. Damit wurde die Ehe wieder attraktiver; die Heiratszahlen stiegen
zeitweise erneut an. Gleichzeitig trugen die wirtschaftlichen Unsicherheiten dazu bei,
dass die Ehe als private Solidargemeinschaft erneut an Bedeutung gewann.
Die Geschichte der Ehe ist keineswegs zu Ende geschrieben. Ihre Monopolstellung
als einzig legitime Lebensform hat sie allerdings wohl endgültig verloren.
François Höpflinger ist Professor für Soziologie an der Universität
Zürich.
NZZ Folio 04/96
http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1996/04/articles/ehegeschichte.html
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Stefan Hradil
DIE SINGLE-GESELLSCHAFT
Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet von der Aufweichung des starren
bürgerlichen Normgefüges. Hierzu trugen nicht zuletzt die Massenwanderungen
vom Land in die Stadt bei. Die Verstädterung lockerte Familienverbände und
Generationsbeziehungen. Die anonyme Freiheit der Großstadt, die geringe soziale
Kontrolle dort, die Akzeptanz oder sogar Hochschätzung des freien Studentenlebens,
all das machte sich in einer höheren Einschätzung des Alleinlebens bemerkbar.
Letztendlich sorgte dann aber erst die Schaffung eines Rentensystems und einer
Hinterbliebenenversorgung, die Etablierung des Ruhestands als einer
eigenständigen Lebensphase und die damit zusammenhängende Lebensform des
Rentners dafür, dass unter den Menschen im höheren Lebensalter die erste größere
Bevölkerungsgruppe von Alleinlebenden entstand.
Aus: Stefan Hradil. Die „Single-Gesellschaft“. München: C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1995. P. 16.
Frank Naum ann
DIE FAMILIE – EIN AUSLAUFMODELL?
Da sind zunächst die gesellschaftlichen Umstände. Bis Ende der sechziger Jahre galt
die Familie weithin als einzig sinnvolle Lebensform. Alleinlebende waren arme
Würstchen. Familie und wohlmeinende Freunde versuchten, sie so schnell wie
möglich wieder unter die Haube zu bringen. Unglückliche Ehen, gescheiterte
Beziehungen gab es damals auch. Aber die Reaktion war eine ganz andere als heute.
Eine zerbrochene Ehe, das war ein zerbrochener Lebensplan. Man war persönlich
gescheitert. Deshalb galt es, alle Anstrengungen darauf zu richten, schnell eine neue
Ehe einzugehen. [...] Dass sich diese Situation geändert hat, liegt an der
massenhaften Erfahrung, dass eine verfehlte Ehe mit anschließender
Kampfscheidung eine weitaus größere Katastrophe darstellt, als allein, aber frei zu
sein. Viele junge Singles haben in ihrer Kindheit erlebt, was es bedeutet, wenn die
Eltern sich verkrachen. Als „Scheidungswaisen“ haben sie am eignen Leib gespürt,
in welch existentielle Not ein Kind gerät, wenn Vater und Mutter (die beide lieb
haben) versuchen, einander bei dem Kind auszustechen. Mal herumgezerrt, mal mit
Geschenken überhäuft, aber nie wirklich geliebt – lebende Munition im Krieg der
Geschlechter.
Die glückliche Familie ist zum Ausnahmefall geworden. Im wirklichen Leben ist es
schon schwierig genug, sich erst einmal selbst glücklich zu machen.
Dennoch werden Ehe und Familie nie völlig verschwinden. Unter der Vielfalt der
Lebensformen werden sie ihren Platz behaupten, solange es Menschen gibt, die
⋅ vernarrt in Kinder sind und sich nichts Schöneres vorstellen können, als von
morgens bis abends Eltern zu spielen;
⋅ für eine pompöse Hochzeit in Weiß bereit sind, spätere Krisen, Tränen und
fliegende Teller in Kauf zu nehmen;
⋅ allein einfach hilflos sind;
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Materialien
⋅ sich ausrechnen, wie viel Steuern, Miete und Lebenshaltungskosten sie in einer Ehe
sparen;
⋅ wie ihre Großeltern denken: Als Mann suchen sie eine Hausfrau, als Frau einen
Versorger;
⋅ gern wissen wollen, wem sie einst ihre aufgehäuften Reichtümer vererben werden;
⋅ die tatsächlich die große Liebe ihres Lebens fanden. [...]
Die Ideale der Singles prägen auch die bestehenden Partnerschaften. Mehr als
früher versuchen Männer und Frauen im Zusammenleben individuelle Freiräume zu
erhalten. Wer das nicht respektieren kann, wer „klammert“, muss damit rechnen,
bald wieder allein zu sein.
Die Folgen sind abzusehen: Nach mehrfachem Scheitern stürzt sich der
Vereinsamte in Ersatzbeschäftigungen. Arbeit bis zum Umfallen, auch abends und an
den Wochenenden. Wohltätigkeit für Bekannte und anonyme Organisationen, um Lob
für seine Selbstlosigkeit zu ernten. Eine Fülle von Freizeitaktivitäten nach
Terminkalender, ein Hasten von Höhepunkt zu Höhepunkt, nur nicht einen Moment
zur Besinnung kommen! Bis eines Tages der Burn-out – die totale Erschöpfung –
alle Tätigkeiten stoppt.
Der Begriff „Burn-out“ tauchte Ende der siebziger Jahre in den USA auf, um ein
neues Krankheitsbild zu bezeichnen, das vor allem unter Angehörigen pflegender
Berufe – Ärzte, Sozialarbeiter, Krankenschwestern – gehäuft auftrat. Es ist ein
Zustand innerer Erschöpfung, der mit depressiven Stimmungen einhergeht, welche
die Betroffenen meist mit Alkohol und Tabletten bekämpfen, was auf Dauer die
Depression noch vertieft. Der Ablauf ist in der Regel der folgende:
1. Mit Überengagement und Arbeitswut versuchen die Betroffenen, vor sich
selbst die dämmernde Erkenntnis zu verbergen, dass ihr Beruf ihnen nicht
den Sinn ihres Lebens zu liefern im Stande ist.
2. Sobald nicht mehr zu leugnen ist, dass ihr Bemühen nicht die erwarteten
Erfolge brachte, folgt eine Phase der Desillusionierung. Die Arbeitseinstellung
wandelt sich von Eifer zu Widerwillen und Verdruss. Auf hohe
Beanspruchungen reagieren sie von nun an mit Hilflosigkeit, aggressiven
Ausbrüchen oder Depression.
3. Es wird nur noch das absolut Notwendige getan. Alkohol und Medikamente
betäuben. Fehlzeiten häufen sich. Das verstärkt den Eindruck, erfolglos zu
sein. Am Ende steht Verzweiflung, manchmal sogar ein Selbstmordversuch.
Wer sich engagiert, nicht um des Engagements willen, sondern um das Gefühl
privaten Versagens zu kompensieren, ist besonders gefährdet. Irgendwann bricht
das Gefühl der inneren Leere mit doppelter Härte durch. Egal, ob es gelingt,
lebenslang die Selbsttäuschung aufrechtzuerhalten, oder ob irgendwann der
Zusammenbruch kommt – es ist diese Gruppe von Singles, die die Statistik von
Lebenserwartung und Gesundheit nach unten drückt.
Die Lösung besteht nicht in einer Flucht in irgendeine Ehe. (Burn-out kommt
ebenso unter Verheirateten vor.) Vielmehr muss der Betroffene lernen, mit sich
selbst Freundschaft zu schließen. Wer ständig die Anerkennung von anderen
braucht, um sich wertvoll und glücklich zu fühlen, wird leiden, wenn diese
Bestätigung ausbleibt. Das ist ein Zeichen für einen Mangel an Selbstliebe. Erst
dadurch wird das Gefühl der Vereinsamung übermächtig.
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Materialien
Frank Naumann. Solo in die Jahre kommen: Auch Singles werden älter. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt, 1997. P. 28-31.
André Habisch
VERÄNDERTES HEIRATSVERHALTEN DER BEVÖLKERUNG
Noch immer ist die ganz große Mehrheit der Deutschen mindestens einmal im Leben
verheiratet. So bleiben bis zum 50. Lebensjahr lediglich 12,6% der Männer und 7,5%
der Frauen ledig. Doch auch dieser Anteil der vollständig ehe-abstinenten Personen
steigt kontinuierlich an. Für die 1960 geborenen deutschen Männer geht man heute
von 30 Prozent, für die Frauen von 20 Prozent lebenslang Ledigen aus. (...)
Hinsichtlich der Ehescheidungsziffern liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld.
Die zusammengefasste Scheidungsziffer liegt bei 39 Prozent, die durchschnittliche
Ehedauer bei der Scheidung beträgt 12 Jahre. Bei knapp der Hälfte der im Jahr 2000
geschiedenen Ehen lebten minderjährige Kinder im Haushalt. (...)
Eine Spitzenposition in Europa nimmt Deutschland bei zwei charakteristischen
Werten ein: Mit 35,2 Prozent ist der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen
Haushalten der höchste in der EU und das Ausmaß dauerhafter Kinderlosigkeit ist im
ehemaligen Bundesgebiet höher als in allen anderen Ländern der Europäischen
Union. Deutschland ist eines der am meisten individualistischen und kinderärmsten
Länder Europas.
Aus: André Habisch. Erfolgsmodell Ehe: Die Magie des Trauscheins – und die Fakten.
München: Olzog Verlag GmbH, 2004. P. 16-18.
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QUELLENNACHWEISE
Le déclin de l’empire américain. Spielfilm, Kanada, 1985. Buch und Regie: Denys
Arcand. Mit: Dominique Michel, Dorothée Berryman, Louise Portal, Pierre Curzi,
Rémy Girard, Ives Jacques, Geneviève Rioux, Daniel Brière, Gabriel Arcand.
Transskript: Michael Sommer.
Philipp Carson. „Carver und der Alkohol“. Auszug aus „Carver's Vision“ von Philipp
Carson. http://www.philandjulie.com/carver/. Übersetzung: Michael Sommer.
Raymond Carver. „Ruf an, wenn du mich brauchst“ aus Erste und letzte Storys.
Berlin: BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, 2004.
André Habisch. „Verändertes Heiratsverhalten der Bevölkerung“ aus Erfolgsmodell
Ehe: Die Magie des Trauscheins – und die Fakten. München: Olzog Verlag GmbH,
2004. P. 16-18.
Ernest Hemingway. „Hills Like White Elefants” aus Men Without Women. London:
Grafton, 1977.
Ernest Hemingway. „Hügel wie weiße Elefanten“ aus Gesammelte Werke 6: Stories I.
Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977.
François Höpflinger. „Alles Liebe oder was?“ NZZ Folio 04/96.
http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1996/04/articles/ehegeschichte.html
Stefan Hradil. Die „Single-Gesellschaft“. München: C.H.Beck’sche
Verlagsbuchhandlung, 1995. P. 16.
Frank Naumann. „Die Familie – ein Auslaufmodell?“ aus Solo in die Jahre kommen:
Auch Singles werden älter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997. P. 28-31.
William L. Stull. „Carver und Tschechow“. Auszug aus „Biographical Essay“ von
William L. Stull. Ursprünglich veröffentlicht im Dictionary of Literary Biography.
Nachdruck auf http://www.whitman.edu/english/carver/biography1.html.
Übersetzung: Michael Sommer.
ABBILDUNGEN
Foto Sabine Harbeke: Rechte Peter Walder, 2003
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