Zoran Drvenkar – Tinte im Blut

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Zoran Drvenkar – Tinte im Blut
SÄNDNINGSDATUM: 2008-10-07
REPORTER/PRODUCENT: KRISTINA BLIDBERG
PROGRAMNR 100930/ra5
Sag’s mir!
Zoran Drvenkar – Tinte im Blut
Programmanus
Ich bin Zoran Drvenkar, aufgewachsen in Berlin, geboren in Kroatien und meine Eltern
zogen nach Berlin, da war ich drei Jahre alt. Meine Familie besteht aus meinem Vater,
meiner Mutter, sehr anstrengende Menschen, die sehr gerne streiten, und aus meiner
Schwester und meinem Bruder, die genauso sind wie meine Eltern. Und ich passe da
nicht richtig rein. Ich bin auch der Einzige, der etwas Freies macht, so was wie Schreiben
oder Malen. Meine Eltern waren sehr streitliebend und wir Kinder waren eigentlich mehr
Ballast als Kinder für sie und ich habe dann angefangen, Bücher zu lesen, mit fünf Jahren.
Und das war meine Welt, da bin darin verschwunden. Und jeden Moment, den ich zu
Hause war, habe ich gelesen.
/Collage: Titelmelodien verschiedener Fernsehserien/
Wir haben es geliebt, vor dem Fernseher zu sitzen und ich glaube, ich habe die Hälfte
meiner Kindheit vor diesem Kasten verbracht. Ein Gedicht für meine Eltern. Es heißt
„fernbedienung“:
bis 16
war mein leben
ein farbfernseher in
unserem wohnzimmer
meine schwester
meine mutter
mein bruder
mein vater
mein ich
erstarrte planeten
die auf
den großen knall
warteten
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Sag’s mir!
Zoran Drvenkar – Tinte im Blut
PROGRAMNR 100930/ra5
/Collage: Titelmelodien verschiedener Fernsehserien/
Mein Schreiben fing sehr früh an, da war ich ungefähr 12, 13 Jahre alt und schrecklich in
ein Mädchen verliebt und ich wollte ihr Liebesgedichte schreiben. Und als ich ungefähr
200 Gedichte geschrieben hatte, wusste sie noch immer nicht, dass ich in sie verliebt
war. Aber ich hatte die Gedichte und keiner hat sie gelesen. Ich war ganz begeistert von
meinen Gedichten, weil plötzlich hatte ich etwas gefunden, was mir alleine gehörte. Ich
hatte die Bücher, die ich las, und ich hatte plötzlich etwas geschrieben. Und ich habe
mich absolut großartig gefühlt. Ich war der König der Könige!
Als ich mit dem Schreiben angefangen habe, hat es keinen interessiert und es gab auch
viel Ärger deswegen, besonders mit meinen Eltern. Und aus diesem kleinen Wunsch, sich
für die alte Zeit zu rächen, entstand das Gedicht:
tinte im blut
er saß auf meinem rücken
und drückte mir das gesicht
ins gras
na, haste genug
fragte er mich
haste jetzt endlich genug
die anderen standen drum herum
sie standen einfach nur drum herum
er ließ mich los
und stellte sich zu ihnen
mir lief blut aus der nase
ich wischte es mit dem
handrücken weg
ihr könnt mir nichts
rief ich
ich hab tinte im blut
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Zoran Drvenkar – Tinte im Blut
PROGRAMNR 100930/ra5
keiner wusste
wovon ich sprach
ich zog die nase hoch
und stand auf
eines der mädchen sagte
bestimmt macht er ´n gedicht draus
und die anderen kicherten
/Schulglocke/
Ich fing zwar an zu schreiben, aber ich war ja noch in der Schule. Das Leben in meiner
Schule war ein reiner Alptraum. Die Lehrer habe ich nicht gemocht. Die Lehrer waren nicht
nur streng, sondern die waren so: Wenn man was nicht wusste, war man ein Idiot. Und
wer will schon mit 13 ein Idiot sein? Ich habe es auch nicht gemocht dazusitzen, und dann
steht ein Lehrer da vorne und der stellt eine Frage und kennt die Antwort schon. Das fand
ich sehr anstrengend!
„Kreide“ ist mein Abschiedsgedicht an die Schule. Ich hätte hundert Gedichte über die
Schule schreiben können! Und am Ende kam dieses kleine Gedicht heraus, „kreide“:
sie hatten mir
so wenig zu sagen
und verbrauchten
so viel zeit damit
/Musik: kroatische Volksmusik/
Wir sind 1970 nach Berlin gezogen. Wäre ich in Kroatien aufgewachsen, wäre das ein
vollkommen anderes Leben, weil ich wäre zur Armee gegangen, weil das machen die
Jugendlichen dort auch freiwillig. Das ist etwas, das ist der nächste Schritt zum Mannsein.
Und ich wäre dem Schreiben nicht gefolgt, weil dort auch etwas anderes von einem
erwartet wird, man ist sehr traditionell und die Jugendlichen sind, was man ja von den
Deutschen eigentlich nicht mehr so kennt, die hören ja richtig Volksmusik. Die sitzen im
Auto, drehen die Volksmusik auf und das ist cool! Und ich bin überhaupt nicht traditionell.
Ich bin jemand ... ich bin der Meinung, jeder sollte sich seine eigene Tradition machen.
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Und das wird dort nicht so gerne gesehen. Darum hätte ich da überhaupt nicht
reingepasst. Ich bin so froh, woanders aufgewachsen zu sein!
/Musik/
Und jetzt kommen ein paar Gedichte. Das erste Gedicht ist für all die Jungs da draußen,
die in Discos oder auf Partys spätabends alleine dasitzen und sich denken: „Ach Gott, wo
bleibt das richtige Mädchen?“ Und das Gefühl kenne ich sehr gut, das habe ich oft
gehabt. Und das Gedicht heißt „zu kurze t-shirts“:
die form ihres nabels
und wie sich beim tanzen
ihr bauch spannt
für einen moment
möchtest du den kopf
genau dorthin legen
aber das hast du
bei dem mädchen davor
und bei dem davor
und dem davor
auch gedacht
hunderte mädchen
tanzen an dir vorbei
und dein kopf
ist so müde
„Verwandtschaften“ ist ein Gedicht, das von der Traurigkeit handelt, wenn man jemanden
kennengelernt hat und man merkt sehr schnell, dass es nicht das Richtige ist.
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verwandtschaften
um eins
bringe ich sie
nach hause und verspreche:
ich melde mich bald
und sie sagt:
das wäre schön
und dann gehe ich davon
und denke:
gut, dass ich nicht
nach ihrer telefonnummer
gefragt habe
und sie
schließt ihre wohnung auf
und denkt dabei:
gut, dass ich ihm
meine nummer
nicht gegeben habe
und wenn wir uns
das nächste mal sehen
werde ich sagen:
he, ich vergaß mir
deine nummer
aufzuschreiben
und sie wird sagen:
und ich vergaß völlig
sie dir zu geben
bis dahin
werden wir weitermachen
und auf bessere beute
hoffen
/Musik/
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Das folgende Gedicht ist für meine Corinna – ein Liebesgedicht, und davon kann man ja
nie genug schreiben.
mein herz in deiner brust
& wenn du dich klein
& nichtig fühlst
wenn du denkst
alles, was du denkst
wurde schon gedacht
kein talent
kein humor
kein funken hoffnung
in dir
& draußen regen
& draußen sturm
dann leg die hand
auf deine brust
& spür mein herz
wie es dort
für dich schlägt
Dieses Gedicht handelt von einem guten Freund von mir, der ertrunken ist. Da war ich 22
und er war 23 Jahre alt und ich konnte es einfach nicht glauben, dass er einfach
verschwindet. Für mich war der Tod bis zu dem Zeitpunkt eine Sache, die es nicht gab.
Und ich sehe ihn eigentlich überall, noch immer im Leben. Also für mich ist er nicht
verschwunden.
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alles, was gewesen ist
ich möchte deinem geruch
wie einer unsichtbaren spur
durch raum und zeit folgen
die stationen verstehen
an denen du gewesen bist
um zu wissen
wo ich dich finden kann
wo ich dich suchen muss
um dir zu sagen
dass alles
was gewesen ist
immer sein wird
dass deine gedanken
spuren hinterlassen haben
wie der schatten eines vogels
auf der erde
spuren hinterlässt
ohne dass man
den vogel
sehen muss
/Musik/
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