Programmheft - Residenztheater

Transcrição

Programmheft - Residenztheater
Lehman Brothers
AUFSTIEG UND FALL EINER DYNASTIE
von
STEFANO MASSINI
KATRIN RÖVER MICHELE CUCIUFFO
PHILIP DECHAMPS GUNTHER ECKES
THOMAS GRÄßLE LUKAS TURTUR
Lehman Brothers
AUFSTIEG UND FALL EINER DYNASTIE
von
STEFANO MASSINI
Deutsch von
GERDA POSCHMANN-REICHENAU
Regie
Bühne + Kostüme Mitarbeit Bühne
Musik Video
Licht
Dramaturgie
MARIUS VON MAYENBURG
NINA WETZEL
DOREEN BACK
NILS OSTENDORF + MALTE BECKENBACH
SÉBASTIEN DUPOUEY
GERRIT JURDA
LAURA OLIVI
REGIEASSISTENZ Alexander Krieger
BÜHNENBILDASSISTENZ Ulrike Treittinger
KOSTÜMASSISTENZ Cátia Palminha
VIDEOASSISTENZ Patrick Fuchs
REGIEPRAKTIKUM Juliana Zaiser
KOSTÜMPRAKTIKUM Maïlys Leung + Marina Minst
REGIEHOSPITANZ Judith Balling
DRAMATURGIEHOSPITANZ Katharina Posavec
INSPIZIENZ Johanna Scriba
SOUFFLAGE Simone Rehberg
PREMIERE
29 Jun 2016
Residenztheater
Vorstellungsdauer ca 3 Std
Eine Pause
BÜHNENMEISTER Ralf Meier + Armin Schäl
BELEUCHTUNGSMEISTERIN Monika Pangerl
STELLWERK Oliver Gnaiger + Zvonimir Petrovic
VIDEOTECHNIK Ehab Altamer + Marie-Lena Eissing
TON Thomas Hüttl
REQUISITE Frank Kutzora + Sulamith Link + Jens Mellar
MASKE Lena Bader + Andreas Mouth
GARDEROBE Cornelia Eisgruber + Dieter Jung +
Ute Stritzel
RESIDENZTHEATER SPIELZEIT 2015 / 2016
AUFFÜHRUNGSRECHTE Per H. Lauke Verlag Hamburg – italienischer Originaltitel des Stückes: „Lehman Trilogy • I Capitoli Del Crollo“.
TEXTNACHWEISE „Eine Geschichte von Träumen, Geld, Hybris und Religion. Gerardo Guccini im Gespräch mit Stefano Massini“, Übersetzung aus dem Italienischen von Katherina Perlongos.
Aus dem Programmheft der Inszenierung „Lehman Trilogy“ in der Regie von Luca Ronconi. Mit freundlicher Genehmigung des Piccolo Theatro di Milano – Theatro d’Europa. –
„Forward with Lehman“, National Herald, 1.10.1936, Lehman Special Correspondence Files, Columbia University Libraries. – New Yorker Handelszeitung, Januar 1907,
Lehman Special Correspondence Files, Columbia University Libraries. – Brief von Herbert Lehman an Bobbie Lehman vom 21.2.1942, Herbert Lehman Special Correspondence Files,
Columbia University. – Brief von Nath. E. Myers an Philip Lehman, 11.1.1907, Lehman Special Correspondence Files, Columbia University Libraries.
REDAKTION Laura Olivi + Katharina Posavec VIDEOSTILLS Sébastien Dupouey FOTOS Andreas Pohlmann GESTALTUNG Herburg Weiland DRUCKEREI G. Peschke Druckerei GmbH
HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München
INTENDANT Martin Kušej STELLV. GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Richard Gallner CHEFDRAMATURG Sebastian Huber TECHNISCHER DIREKTOR Thomas Bautenbacher
KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHE BETRIEBSDIREKTORIN Regina Maier PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter
TECHNIK Matthias Neubauer + Philipp Bösch WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Bärbel Kober BELEUCHTUNG / VIDEO Tobias Löffler
TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG KOSTÜM Enke Burghardt DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne + Petra Noack
HERRENSCHNEIDEREI Carsten Zeitler + Aaron Schilling MASKE Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan Baumgartner
SCHLOSSEREI Ferdinand Kout MALERSAAL Katja Markel TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl
GALERIE Christian Unger TRANSPORT Harald Pfähler BÜHNENREINIGUNG Adriana Elia
ZUM
STÜCK
Lehman Brothers ist der Name einer Bank. Die Geschichte der Lehman Brothers muss folgerichtig von Geld handeln;
und von einem Wirtschaftssystem, dessen Mechanismen
über einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren von dieser Bank
mitgeprägt wurden. Mecha­nismen, denen die Bank zuletzt
selbst zum Opfer fiel. Die Lehman Brothers sind aber auch
drei Brüder, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach
Amerika aufbrechen, um ihr Glück zu finden. Ihre Geschichte und die ihrer Nachkommen ist deshalb auch die Erzählung
einer Familie, deren individuelle Konflikte und Entscheidungen unsere Gegenwart mitbestimmen.
Als Heyum Lehmann, der Sohn eines jüdischen Viehhändlers, 1844 New York erreicht, weiß er, dass er seine Heimat,
das bayerische Rimpar, für immer zurücklässt. Er sieht dort
keine Zukunft für sich und verfolgt fortan als Henry Lehman
das Glücksversprechen der neuen Welt: ein besseres Leben,
Freiheit, unbegrenzte Möglichkeiten. Henry lässt sich im
aufstrebenden Montgomery in Alabama nieder und eröffnet
einen Laden. Dieser trägt mit der Ankunft seiner beiden
Brüder Emanuel und Mayer den Namen Lehman Brothers.
Sie verkaufen Stoffe, Tuchwaren und bald auch Werkzeug
und Zubehör für den Anbau des Rohstoffs, der von Alabama
aus die Welt erobert: Baumwolle. The King Cotton.
Als ein verheerender Großbrand weite Flächen der Plantagen niederbrennt, schlagen die Brüder daraus Kapital und
verkaufen landwirtschaftliches Gerät für den Anbau gegen
die Beteiligung an den künftigen Baumwollerträgen. Das
Unternehmen expandiert, es eröffnet eine Filiale in New
York, übersteht den Sezessionskrieg und geht auch aus dieser Krise gestärkt hervor: als Bank for Alabama mit Hauptsitz
in New York. Die immense Geschwindigkeit dieser Entwicklung
macht die erste Generation bald zu Zuschauern. Und so ist
es Philip, der bereits in New York geborene Sohn Emanuels,
der die Entscheidung trifft, nicht mehr nur in Rohstoffe zu
investieren, sondern in alles, „was wirklich reich macht“: in
die Eisenbahn, die Autoindustrie und später, unter der Leitung
seines Sohns Robert (Bobbie), in das Radio, das Fernsehen
und das Kino.
Als Bobbie 1925 Lehman Brothers übernimmt, ist klar,
dass auch der Krieg ein lohnendes Geschäft sein kann. 1929
ist die Bank bereits so gefestigt, dass sie auch durch die
Große Depression nicht zu Fall gebracht wird. Bobbie führt
die Bank durch den Zweiten Weltkrieg, durch die McCarthy
Ära und den Vietnamkrieg bis ins Computerzeitalter. In den
Sechziger Jahren trifft er eine lukrative Entscheidung und
holt Lewis Glucksman, um die Investment­sparte der Bank
auszubauen. Glucksman macht die Sales-and-Trading-Abteilung bald zur Haupteinnahme­quelle des Unternehmens.
Nach Bobbies Tod wird erstmals kein Familienmitglied der
Lehmans Geschäftsführer. Es folgen interne Machtkämpfe
mit Co-Geschäftsführer Pete Peterson, bis Lewis Glucksman
schließlich 1983 die Führung der Bank übernimmt. 1984 wird
das Unternehmen von American Express aufgekauft.
24 Jahre später platzt die Immobilienblase, Lehman
Brothers meldet Insolvenz an und reißt die amerikanische
Wirtschaft mit in den Abgrund. Die Bank wird zum Symbol
der globalen Krise, innerhalb weniger Tage verlieren rund
25.000 Bankangestellte ihren Job. Lehman Brothers hinterlässt Schulden in Höhe von 200 Milliarden Dollar. Die Doktrin von der Unverwundbarkeit der Großen – das „too big to
fail“ – hat keine Gültigkeit mehr.
1844
Henry Lehman erreicht New York. Er zieht weiter nach Montgomery, Alabama, wo er einen Tuchwarenladen eröffnet.
1847
Sein jüngerer Bruder Emanuel folgt ihm in die USA, nach Montgomery.
1850
Ihr jüngster Bruder Mayer erreicht Montgomery: Ihr Geschäft heißt von nun an Lehman Brothers.
1850er
Der Schwerpunkt ihres Geschäfts verlagert sich auf den Baumwoll-Zwischenhandel: An- und Verkauf von Rohbaumwolle.
Gunther Eckes, Philip Dechamps, Lukas Turtur, Michele Cuciuffo
Katrin Röver, Michele Cuciuffo, Thomas Gräßle,
Lukas Turtur, Philip Dechamps
Katrin Röver, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Philip Dechamps
Katrin Röver
1865
nde des Sezessionskriegs mit Sieg der Nordstaaten. Mayer wird Kreditvermittler für den Staat Alabama
E
und treibt den Wiederaufbau voran: Lehman Brothers Bank for Alabama.
In den Jahren nach dem Krieg expandieren die New Yorker Baumwollgeschäfte.
Der Handel zwischen New York und Montgomery floriert. Emanuel heiratet Pauline Sondheim.
1868
Mayer zieht nach New York.
Sezessionskrieg zwischen Nordstaaten und Südstaaten. Der Baumwollhandel kommt zum Erliegen.
1872
Gründung einer zentralen Rohstoffbörse in New York unter Beteiligung von Lehman Brothers.
1855
Henry stirbt mit 33 Jahren in New Orleans an Gelbfieber.
1858
Das Geschäft in Montgomery wächst. Mayer heiratet Babette Newgass. Emanuel eröffnet ein Büro in New York.
1859
1861
EINE GESCHICHTE
VON TRÄUMEN, GELD, HYBRIS
UND RELIGION
GERARDO GUCCINI IM GESPRÄCH
MIT STEFANO MASSINI
In „Lehman Brothers. Aufstieg und
Fall einer Dynastie“ wird eine spannende
Familiensaga mit der Geschichte des
20. Jahrhunderts verknüpft. Wie bist
Du zu diesem Thema gelangt?
Anfangs habe ich darüber nachge­­dacht, ein Stück über den Fall der zweiten
Berliner Mauer zu schreiben (im Grunde
hat der Zusammenbruch von Lehman
Brothers das Ende des modernen Kapitalismus ausgerufen, genauso wie der Fall
der Mauer das Ende des Kommunismus
angekündigt hatte). Es erschien mir aber
plötzlich wichtig, das zu erzählen, was zusammen mit diesem Zeichen gestorben war.
Es ist, als ob ein gewöhnlicher Passant auf
einmal einem Trauerzug beiwohnt: Handelt
es sich beim Verstorbenen um einen Fremden, wird er in ihm kein besonderes Gefühl
auslösen. Seine Reaktion verändert sich
jedoch in dem Moment, in dem ihm erzählt
wird, wer der Verstorbene war und was er
zurücklässt. Ich versuche das Publikum
darüber zu informieren, wer unter dem
Grabstein mit der Inschrift Lehman begraben liegt, dies lässt die Trauerfeier in einem
ganz anderen Licht erscheinen.
Du arbeitest 150 Jahre amerikanischer Geschichte auf. Aber hat „Lehman
Brothers“ ausschließlich mit den Vereinigten Staaten zu tun?
Der erste Teil ist durch ein fortlaufendes
Wechselspiel zwischen der Erinnerung an
die bayerische Heimat und der Einbürgerung in den amerikanischen Kontext des
19. Jahrhunderts gekennzeichnet, während
im zweiten Teil jegliche Erinnerung an die
europäischen Wurzeln vollkommen verschwindet: Lehmans Nachfahren bereitet
es große Mühe, das deutsche Dorf Rimpar,
aus dem die Eltern einst aufbrachen, auf
einer Landkarte zu finden. Ich denke, dass
dieser Teil des Textes bis hin zur Krise von
1929 am meisten mit Amerika zu tun hat.
Darin geht es um die Bemühungen, um die
Modernisierung der Konföderation sowie
um den Ausbau von Infrastrukturen (wie
der Eisenbahnlinie des Westens), dem Beginn einer Industrie in großem Maßstab
und dessen kommerzielle Verbreitung. Diese Situation verändert sich im dritten Textsegment vollkommen: Lehman verbreitet
sich als logische Folge des politischen und
ökonomischen Gefüges auf der ganzen
Welt. Spätestens hier wird offensichtlich,
dass es sich um keine ausschließlich amerikanische Angelegenheit mehr handelt…
Hat diese internationale Dimension
zum Erfolg des Stücks im Ausland beigetragen? Es sind bereits Übersetzungen
in französischer, spanischer und deutscher Sprache erschienen.
Ich denke nicht, dass dies mit der Internationalität des Themas zusammenhängt.
Vielmehr erkenne ich ein Bedürfnis, sich
mit den Themen unserer Gegenwart tiefgreifend auseinandersetzen zu wollen. Wir
leben in einer Zeit, die im ersten Moment
mit Informationen übersättigt erscheint;
diese finden vorwiegend über die sozialen
Netzwerke ihre Verbreitung, die aufgrund
ihres Formats eher zur Phrase als zum Diskurs neigen und sich eher des Aphorismus
als der Argumentation bedienen. Twitter
setzt dies voraus, indem es nur 150 Zeichen
zulässt. Es überrascht mich daher nicht,
dass sich das Theater in diesem Kontext
als Antipode wiederentdeckt, einem Ort
des Logos mit monographischem Blick und
ohne 150-Zeichen-Grenze.
Ein italienischer Dramatiker beschließt eine Geschichte zu erzählen,
die völlig frei von Verweisen auf Italien
ist. Warum gerade Lehman und nicht
der Fall von Parmalat oder jener der
Monte dei Paschi…
Vorsicht: Der Zusammenbruch von
Lehman wurde nicht durch Phänomene der
Korruption oder des malaffare herbeigeführt,
sondern ergab sich aus einer Reihe systemischer Erkrankungen. Es ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass nach dem
Konkurs der Bank, im Abstand von nur
1870–80er Die Entwicklung der Eisenbahn treibt den Wandel der USA zur Industrienation voran. Eisenbahn-Anleihen sind
ein Meilenstein in der Entwicklung der Kapitalmärkte. Lehman Brothers investiert in die Eisenbahn, in Erdöl und Kaffee.
1884
er Wirtschaftsjournalist Charles Dow veröffentlicht den ersten US-amerikanischen Aktienindex, den Dow Jones Average,
D
der Investoren eine verständliche und repräsentative Zusammensetzung des Geschehens an der Börse bieten soll.
1887
L
ehman Brothers wird Mitglied der New Yorker Börse. Philip, Emanuels und Paulines Sohn, wird Partner. Er heiratet Carrie Lauer.
wenigen Jahren, 92% der Führungskräfte
bereits in anderen Banken dieselben Posten
inne hatten. (Quelle: Harvard Business
Review). Dies zeigt uns, dass es sich hierbei
weder um inkompetentes Personal, noch
um Verbrecher handelte. Bei Finanzaffären,
besonders in Italien, wurde das Schlusswort
von den Justizbeamten gesprochen, so traten Gefängnisstrafen ins Spiel. Dabei befinden wir uns inmitten des Feldes der
Klatschzeitschriften, einer Welt, die durch
Empörung und Spott gekennzeichnet ist
und die mich keineswegs interessiert, ich
finde sie fies.
Im Gegensatz dazu zerbricht die viertgrößte Bank der Wall Street in wenigen
Tagen, ohne dass irgendein anderer Finanzriese auch nur einen Finger rührt, um diese
zu retten. Es ist klar, dass diese Abweichung
Lehmans Zusammenbruch zu etwas Mytho­
logischem macht: Die Bank wurde als „too
big to fail“ bezeichnet, dennoch ist sie eingestürzt, als stehe sie auf tönernen Füßen.
Dies führte zu einem unwiderruflichen
Ende, das mit der Besinnung auf die Fehlbarkeit des Systems einherging. Darin
steckt doch etwas Gewaltiges, dem gebührt
ein Werk.
Das Thema scheint sich durch den
weiten Zeitraum, den es umfasst, und
seinen Reichtum an Bezügen für das
Format eines Romans oder einer TV
Serie zu eignen. Du hast dich für das
Theater und eine polymorphe Schreibweise entschieden, die sich in Stimmen
spaltet, ohne jemals dem Dialog die
Leitung des Stücks zu überlassen.
Das ist der entscheidende Schritt. Das
Theater setzt einen betroffenen, aktiven
und partizipativen Nutzer voraus. Die
Passivität ist verbannt. Unter den Genres,
die Du genannt hast, stellt das Theater
ohne Zweifel das „unkomfortabelste“ dar:
Es gelangt nicht in deine häusliche Gemüt-
lichkeit, es zwingt dich zu einem Ortswechsel, ist an eine bestimmte Zeit gebunden.
Während des Schreibens muss man sich
dieser Dinge bewusst sein. Ronconi hat in
einem vor Kurzem erschienenen Interview
gesagt, dass ich während des Schreibens
daran denken würde, „was in den Köpfen
der Zuschauer vor sich geht“. Diese Bemerkung hat mich sehr beeindruckt, denn
sie spiegelt tatsächlich mein Ziel wider. Ich
möchte das System von Offenheit und Verschlossenheit des Publikums rund um das
behandelte Thema herausfordern, auf- und
abbauen. Pars destruens, pars construens
in Miniatur, immerfort.
Es stellt sich die Frage nach den
Quellen. „Lehman Brothers“ konfrontiert den Zuschauer mit einer beeindruckenden Vielfalt an Informationen und
Daten.
Am schwierigsten war es, die kryptische
Sprache der Ökonomie in eine verständliche
zu übersetzen. Dies ermöglichte es mir, mich
innerhalb mir bekannter Phänomene zu
bewegen. Ich habe keine wirtschaftliche
Ausbildung. So musste ich Experten hinzuziehen, um jene radikale Vereinfachung
zu erlangen, die man beispielsweise auch
beim Arzt einfordert, wenn es notwendig
ist, den medizinischen Jargon in eine allgemein verständliche Sprache zu über­setzen.
In meinem Fall wollte ich nicht das Wirken
des Hämoglobins verstehen, sondern jene
realen Ursachen, die die Krise von 1929
herbeigeführt hatten. Ich kann mich nicht
mit Dingen beschäftigen, in denen ich mich
nicht auskenne. Deshalb musste ich mir
Themen und Begriffe aneignen, die mir sehr
fremd waren, um in der Lage zu sein, diese
beim Namen zu nennen.
Wie viel aus diesem Material entspringt
Deiner Imagination und ist somit Teil der
künstlerischen Freiheit des Autors?
Die Art und Weise, wie ich die Episoden aufbaue, die Szenen entwerfe, direkte
Gespräche einfüge und über Gedanken
und Stimmungen berichte, ist durch und
durch fiktiv: Meine Werke werden aus
einem historischen Ereignis heraus ge­
boren und daraus entwickelt sich etwas
Fiktives.
Da der dramaturgische Aufbau eine
der Stärken von „Lehman Brothers“ ist,
wäre es schön, wenn du etwas detaillierter darauf eingehen könntest.
Um über die Methode der dramaturgischen Umgestaltung des Realen zu sprechen, gibt es einen vorbildhaften Text, der
paradoxerweise nicht aus dem Bereich des
Theaters stammt. Ich spreche von der
Traumdeutung von Sigmund Freud. Für
ihn hat jedes Element der traumhaften
Inszenierung nur dann einen Wert, wenn
es in Beziehung zur Gesamtheit, einer Art
Bezugssystem, gesetzt wird. Ich folge demselben Prinzip: Ich erschaffe eine Struktur
voller Verweise aus sich überkreuzenden
Zitaten und Symbolen. Nichts existiert aus
sich selbst heraus, sondern jedem Element
gebührt eine einflussreiche Rolle innerhalb
der Entwicklung der szenischen Ereignisse.
Zwischen der Berichterstattung und dem
Theater besteht derselbe Unterschied wie
zwischen einem Terminkalender und einem
Tagebuch: Beide erzählen vom Heute, aber
nur das Tagebuch ordnet die Vorfälle in ein
komplexes System ein.
Bleiben wir bei Freud: Wie wichtig
sind die traumhaften „Sprünge“ in Deinem Text?
Die Verschmelzung von Realem und
Traumhaftem ist ein wesentlicher Bestandteil der „Lehman Trilogy“. Ich habe versucht, mehrmals im Stück ein hybrides
System zu erschaffen, in der Realität und
Vision sowie Anekdote und Vorahnung
1897
Mayer stirbt mit 67 Jahren in New York.
1901
Philip wird Geschäftsführer der Bank.
1906
hilip verbündet sich für insgesamt ca. 20 Jahre mit seinem Rivalen Henry Goldman von Goldman, Sachs, um der Öffentlichkeit
P
Vorzugsaktien zu verkaufen. Zum Beispiel die der Versandkatalogfirma Sears, Roebuck and Company, des Autoherstellers
Studebaker oder der F.W. Woolworth Company: Einstieg in das Finanzierungsgeschäft der MassenHandelswaren.
Katrin Röver, Lukas Turtur, Michele Cuciuffo
1907
Emanuel stirbt mit 79 Jahren in New York.
1920
Die Prohibition tritt in Kraft: Das Volstead Gesetz verbietet den Verkauf von Alkohol.
1914
Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
1924
Börsenboom in den USA. Zu den beliebtesten Aktien zählen die Wertpapiere der rasant wachsenden Radio-Unternehmen.
1917
Die USA treten in den Krieg ein.
1925
Philips Sohn Robert (Bobbie) wird Geschäftsführer der Firma.
1918
Sieg der Allierten.
1928–29
Lehman Brothers gründet eine eigene Investmentfirma, die Lehman Corporation.
durcheinander geraten. Dieser Schritt war
notwendig, um der Falle eines dokumentarischen Theaters zu entfliehen, in dem
man Karl Marx einen Obolus verrichtet
und damit zwischen „Ausgebeuteten“ und
„Ausbeutern“ unterscheidet.
Man gewinnt den Eindruck, dass du
über die sogenannten „Wölfe der Wall
Street“ kein so schonungsloses Urteil
fällst, wie manche vor Kurzem erschienene Filme…
Ich erzähle jenen Verfall, der in dem
Moment Gestalt angenommen hat, in dem
das Proletariat dem Gott des Geldes seine
Seele verkauft hat. Tausende von kleinen
Sparern haben die Banken in Amerika
während der Kampagne zur Unterzeichnung von Anleihen mitfinanziert: Ihr Ziel
war die Investition von kleinen Summen,
Hauptsache man konnte etwas Geld verdienen, „ohne dafür arbeiten zu müssen“.
Ich ziehe oft den Vergleich mit dem Pinocchio
von Collodi heran, der sich damit einverstanden erklärte, sein Geld im Campo
dei Miracoli zu vergraben. Von diesem
Gesichtspunkt her besteht kein Zweifel
daran, dass die wirtschaftlichen Zusammenbrüche der letzten hundert Jahre auf
den Mythos der „facilitá veloce“ zurückzuführen sind. Die Vorstellung mühelos
und schnell an Geld zu kommen, hat das
zwanzigste Jahrhundert weitgehend geprägt. Die finanziellen Anleger haben sich
von dieser Idee bezirzen lassen. So liegt die
Schuld jedes Mal, wenn das System erneut
zusammenbricht, nicht alleine bei den
Banken.
Es geht um den fortlaufenden Verlust
an Materialität. Das physische Gewicht
der Dinge sowie die Verbindung zwischen
Ursache und Wirkung, die auch die Er­
eignisse in der Wirtschaft bestimmen,
werden allmählich aus den Augen ver­
loren: Lawrence McDonald war zum Zeit-
punkt des Bankrotts Vizepräsident von
Lehman Brothers. Er scheute sich nicht
zu erklären, dass sich niemand darüber
im Klaren war, wie hoch die Schulden der
Bank waren.
Kommen wir zur Form: „Lehman
Brothers“ ist aufgrund des sprachlichen
Rhythmus' der Informationsvergabe und
des Aufbaus der Situationen theatral.
Dies gilt auch für die szenischen Anweisungen für die Schauspieler. Es können
einer, (keiner) oder Hunderttausende
sein.
Es gibt genauso viele Schreibweisen wie
potenzielle kommunikative Vereinbarungen zwischen einem Publikum und einem
Interpreten. Die Möglichkeiten sind somit
unendlich. Der Theaterautor ist derjenige,
der die Bühne mit einem Material, „das
für die Bühne gedacht ist“, versorgt, das
heißt aber nicht, dass es unbedingt „für
den Einsatz auf der Bühne geeignet ist“.
Ein Stück kann dramatisch sein, ohne dass
dies auf der Bühne sogleich sichtbar wird.
Im Gegensatz dazu kann sich ein Text,
der in Dialogform gehalten ist, bei den
Proben als theatral wirkungslos herausstellen. In diesem Sinne ist es offensichtlich, dass „Lehman Brothers“ bis ins
kleinste Detail für die Bühne geschrieben
wurde: Das Stück folgt dem Rhythmus
des Theaters und bezieht das Publikum
mit ein.
In „Lehman Brothers“ wird das Motiv
des Todes zu einer dramaturgischen Ver­
abredung: Die aus der jüdischen Tradition stammenden Abschiedsriten bestimmen den Fortgang der Handlung,
die 2008 im Zusammenbruch von Lehman
Brothers gipfelt.
Man kann das Stück als großes Requiem
bezeichnen. Die gesamte Erzählung wurde
so konzipiert, als befände sie sich wie auf
einem geneigten Stockwerk, das sich über
einer tiefen Kluft befindet. Ich möchte
mehr dazu sagen: Es gibt eine unwiderstehliche Kraft, der Anziehungskraft eines
riesigen Magneten gleich, die im Stück
alles die ganze Zeit über in diesen Abgrund
zieht.
Es ist kein Zufall, dass ich mich im
Bewusstsein darüber entschied, den Text
in voneinander unabhängige Kapitel zu
gliedern. Jedes Kapitel erhielt somit seinen
eigenen Abschluss, seine Auflösung, sein
kleines Ende: seinen Tod. Es ist, als ob das
Stück fast vierzig Mal stürbe. In jedem
neuen Anfang steckt die Bemühung
der Bank, ihr eigenes Leben zu rekapitulieren.
Das Stück ist durch seinen epischen
Verlauf gekennzeichnet. Dieser ergibt
sich durch die Erzählstruktur, aber vor
allem auch durch das Einfügen eines
griechischen Themas: der Hybris. Dies
verweist auf die homerische Geschichte der Rache der Götter an den Menschen, die zu viel gewagt haben.
Ich stimme Deiner Analyse zu. Aber ich
möchte hinzufügen, dass es im Stück nicht
nur darum geht, der Bereicherung einer
Familie beizuwohnen, die es in we­nigen
Jahren schafft, sich vom Status der Emi­
grierten zu wohlhabenden New Yorkern
zu entwickeln. Im Stück steckt viel mehr,
wenn man bedenkt, dass sich die Parabel
der Lehman Brothers durch die Suche einer
immer riskanteren Beziehung zwischen
der finanziellen Institution und ihren Kunden ausdrückt: In einem ein­zigen Jahrhundert entwickelt sich die Bank aus ihrer
einfachen Funktion eines „Wärters der
Ersparnisse“ hin zu einem InvestmentZentrum mit waghalsigem Handel.
1929
m 24. Oktober bricht Panik an der New Yorker Börse aus. Der schwarze Donnerstag ist der folgenreichste
A
Börsencrash des 20. Jahrhunderts: Das Platzen einer riesigen Spekulationsblase löst eine Weltwirtschaftskrise aus.
Lehman Brothers macht Verluste, aber überlebt.
Robert (Bobbie) heiratet Ruth Lamar.
1930er
ehman Brothers investiert unter Robert Lehman in die Unterhaltungsindustrie (Paramount Pictures,
L
20th Century Fox), sowie in führende Fernseh- und Radiounternehmen.
Katrin Röver, Lukas Turtur
1933
Herbert Lehman wird zum ersten jüdischen Gouverneur von New York gewählt. Er unterstützt Präsident Roosevelts
New Deal-Politik, die zur Verbesserung der US-Wirtschaftslage führt. Der Film King Kong, den Robert mitfinanziert hat,
kommt in die Kinos. Das Volstead Gesetz wird aufgehoben.
1939
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
1941
Am 7. Dezember attackiert Japan den US-Stützpunkt Pearl Harbor. Danach treten die USA in den Krieg ein.
Der National Herald
über Herbert Lehman
Brief von Herbert Lehman
an Bobbie Lehman
Brief von Nathaniel E. Myers
an Philip Lehman
Die New Yorker Handelszeitung
zum Tod von Emanuel Lehman
1945
I m Mai endet der Zweite Weltkrieg in Europa mit dem Sieg der Alliierten. Nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima
und Nagasaki im August kapituliert Japan im September, und auch der Krieg in Asien ist vorbei.
1963
Am 22. November wird John F. Kennedy ermordet. Herbert stirbt mit 85 Jahren. Lew Glucksman beginnt,
bei Lehman Brothers eine Trading-Abteilung aufzubauen.
1947
hilip stirbt mit 85 Jahren in New York.
P
Die McCarthy-Ära der Verfolgung vermeintlicher Kommunisten und deren Sympathisanten beginnt, die bis 1956 andauert.
1969
obert stirbt als 77-Jähriger nach 44 Jahren an der Spitze von Lehman Brothers.
R
Dick Fuld beginnt seine Karriere bei Lehman Brothers als Wertpapierhändler.
1955–75
Vietnamkrieg.
1973
Pete Peterson wird Geschäftsführer der Bank.
Philip Dechamps
Katrin Röver, Gunther Eckes, Michele Cuciuffo,
Thomas Gräßle, Lukas Turtur
Michele Cuciuffo, Katrin Röver, Philip Dechamps, Gunther Eckes, Lukas Turtur
Michele Cuciuffo, Philip Dechamps, Lukas Turtur
1983
Peterson ernennt Lew Glucksman zu seinem Co-Geschäftsführer. Der Trader Glucksman wird nach einem
Machtkampf mit Peterson, der den Investment-Banking-Teil der Bank repräsentiert, alleiniger Geschäftsführer,
indem er einen Deal mit Peterson aushandelt.
2007
ehman Brothers hat wirtschaftliche Schwierigkeiten. Schließung der hauseigenen Subprime-Firma
L
BNC Mortgage, die Hypotheken an Kunden mit geringer Bonität vergibt und so an der Entstehung einer
Immobilienblase beteiligt ist.
1984
Lehman Brothers wird für 360 Millionen Dollar von American Express aufgekauft.
2008
1994
Lehman Brothers geht unter eigenem Namen wieder an die Börse, mit Dick Fuld als Geschäftsführer.
In der ersten Jahreshälfte wird das Ausmaß der Verstrickungen der Bank in den Subprime-Markt sichtbar:
Verluste von 2,8 Milliarden Dollar im zweiten Quartal. Die Lehman-Aktie verliert zwischen Januar und Juni
73% an Wert. Am 15. September erklärt Lehman Brothers Zahlungsunfähigkeit.
EMANUEL
LEHMAN
1827–1907
1843–1871
PHILIP
LEHMAN
1861–1947
RUTH
LAMAR
verheiratet von
1929–1931
HENRY
LEHMAN
PAULINE
SONDHEIM
1822–1855
1891–1969
1838–1919
IRVING
LEHMAN
CARRIE
LAUER
1865–1937
ROBERT
LEHMAN
BABETTE
NEWGASS
1876–1945
RUTH
OWEN
verheiratet von
1934–1951
MAYER
LEHMAN
1830–1897
HERBERT
LEHMAN
1878–1963