Karl Henckel_Berliner Abendbild 1885

Fachdidaktik Deutsch
Dr. Vormbaum
Berliner Abendbild Karl Henckel
Wagen rollen in langen Reih’n,
Walter, nun sieh doch – die Taille bloß!“
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Steht der Gardist in Positur,
Bannt mich arabische Zaubermacht?
Weil der Hauptmann vorüber fuhr,
Tageshelle in dunkler Nacht!
Ließe seine Donna im Stich – allein:
Hastig huschen Gestalten vorbei,
„Ja, liebste Rosa, Respekt muss sein.“
Keine fragt, wer die andre sei,
„Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,
Keine horcht auf der andern Herz.
Rosen und Veilchen, duftend und nett!
Keine sorgt, ob du krank und schwach,
Bitte, mein Her, ach so sei’ n Sie so gut!“
Jede rennt dem Glücke nach,
„Scher dich zum Teufel, du Gassenbrut!
Jede stürzt ohne Rast und Ruh
Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.“
Der hinrollenden Dirne zu.
„Unter Kam’raden ganz egal.“
Langsam schlendr ich im Schwarm allein –
„Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur,
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Wirklich charmant, merveilleuse Frisur.“
Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,
„Echt garantiert? Doch das macht nichts aus.
Bettler in Fetzen, Hure im Staat.
Hm! Begleiten wir sie zu Haus?“
Rechnend drängt sich der Kaufmann hin.
„Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!“
Rechnet des Tages Verlust und Gewinn.
Hei, das drängt sich neugierig dicht.
Werkmann bebt vor der Wintersnot:
„So ein Schwindler, ein frecher Hund,
„Fänd’ ich, ach fänd’ ich mein täglich Brot!
Schlägt erst tot und leugnet es rund.“
Hungernd wartet die Kinderschar,
Wie das rasselt, summt und braust!
‚s ist ein böses, ein böses Jahr.“
Wie es mir vor den Ohren saust!
Bruder Studio zum Freunde spricht:
Jahrmarkt des Lebens, so groß – so klein!
„Warte, das Mädel entkommt uns nicht!
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Siehst du, sie guckt; brillant, famos!
(Aus: Moderne Dichter-Charaktere. Hrsg. von Wilhelm
Arent. Berlin: Kamlah 1885. S. 278 ff.)
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