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Zitierhinweis Hoffmann, Christhard: Rezension über: Sebastian Klöß, Notting Hill Carnival. Die Aushandlung des Eigenen im multiethnischen Großbritannien seit 1958, Frankfurt am Main: Campus, 2014, in: Neue Politische Literatur, 59 (2014), 1, S. 163-164, heruntergeladen über recensio.net First published: http://www.ingentaconnect.com/content/plg/npl/2014/000020... copyright Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig. Einzelrezensionen der buntscheckigen regionalen Abstammung der Soldaten fiel die Herkunft der meisten Soldaten aus den unteren ländlichen und urbanen Schichten ins Gewicht: Abenteuerlust, so Koller, und das in den Autobiographien oft beschworene Bedürfnis, neue und fremde Welten zu erobern, spielten sicher als Motivationsfaktoren für den Eintritt in die Legion eine Rolle, daneben auch die durch das sogenannten „Anonymat“, also die Option unter falschem Namen einzutreten, gegebene Möglichkeit kriminellen Karrieren zu entrinnen. Aber neben diesen in mythisierenden Selbst- und Fremddarstellungen überbetonten Elementen dürften, so der Verfasser, „Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Deprivation“ (S. 40) die meisten Männer bewogen haben, sich auf die Legion zu verpflichten. Dieser in nationaler, sprachlicher und sozialer Hinsicht besonders im Vergleich mit zeitgleichen Wehrpflichtigenarmeen (die sich, zumal im 20. Jahrhundert, national definierten) ausgesprochen heterogene Zusammensetzung der Legionärstruppen wurde durch eine gezielte Identitätspolitik (Kap. 3) sowie durch ein Set von männlich kodierten Vergemeinschaftungsritualen (Kap. 4) entgegengesteuert. In beiderlei Hinsicht unterschied sich die Fremdenlegion offensichtlich nicht prinzipiell von anderen militärischen Eliteverbänden. Im Fall der Legion zielte die Symbolpolitik auf einen „Ersatzpatriotismus“, der unter der Formel „legio patria nostra“ gefasst war und vor allem im 20. Jahrhundert verstärkt in einen Denkmalskult mündete (S. 81). Die Vergemeinschaftungstechniken untersucht Koller, wie andere Historiker vor ihm, in Anschluss an Arnold van Genneps und Victor Turners Konzepte als Initiations- und Übergangsriten, unter denen er der symbolisch überladenen Unterschriftsleistung besondere Aufmerksamkeit widmet. Wie andere militärische Organisationen auch, inszenierte sich die Legion symbolisch und praktisch als Familie oder Familienersatz mit einem ausgeprägten Hang zum Paternalismus. Wenig spezifisch ist auch das breit dargestellte Disziplinierungssystem, in dem Misshandlungen selbstverständlich waren. Dasselbe gilt für den offensichtlich exzessiven Alkoholkonsum und die für Militärverbände dieser Art typischen Formen von ‚situativer‘ Homosexualität und vielfältige Abstufungen von Gewalt einschließenden heterosexuellen Beziehungen. Der letzte Hauptteil (Kap. 5) analysiert unter dem Titel „Kulturelle Transgressionen“ den „kolonialen Blick“ der Legionäre, also die Frage, inwieweit rassistische Denkmuster die Wahrnehmung der außereuropäischen Völker, mit den die Legion in Berührung kam, sei als (Junior-)Partnern oder als Gegnern der militärischen Konflikte, die sie austrug, beeinflussten. Trotz gegenläufiger Tendenzen, also Annäherungen zu den Kolonialisierten, fällt, wie der Verfasser ebenfalls wenig überraschend feststellt, „eine hochgradige Affinität zu den Stereotypen der zeitgenössischen Kolonial- und Rassendiskurse“ (S. 185) auf. Dieses Buch profitiert von der Vertrautheit des Autors mit allen einschlägigen Forschungsansätzen und -ergebnissen – von der Militärgeschichte von unten bis hin zur postkolonialen Paradigma der Außereuropäischen Geschichte. Aber diese Vertrautheit erweist sich als Nachteil insofern, als die Geschichte der Fremdenlegion gewissermaßen nur in das Prokrustesbett jener Forschungen eingepasst wird und am Ende die Frage offenbleibt, ob sich dieser militärische Verband tatsächlich so wenig von anderen unterschieden hat, wie das Buch, vielleicht ungewollt, nahelegt. Worcester, MA Thomas Kühne Multiethnische Aushandlungsprozesse in Großbritannien Klöß, Sebastian: Notting Hill Carnival. Die Aushandlung des Eigenen im multiethnischen Großbritannien seit 1958, 542 S., Campus, Frankfurt a. M./New York 2014. Die Geschichte der Einwanderung und der daraus folgenden Pluralisierung ethnisch-kultureller Identitäten in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ist erst seit kurzem Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden. Die Studie von Sebastian Klöß, 2012 an der Humboldt-Universität in Berlin als Dissertation abgeschlossen, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie untersucht den seit 1966 jährlich veranstalteten notting hill carnival in London als „eine zentrale Schnittstelle“ (S. 10), an der die afrokaribische Minderheit und die britische Mehrheitsbevölkerung das jeweils Eigene aushandelten. Der Verfasser stellt dabei die Afrokariben und die britische Mehrheitsbevölkerung nicht als geschlossene Blöcke gegenüber, sondern registriert auch die jeweiligen internen Wandlungsprozesse und Spaltungen sehr aufmerksam. Dieser relativ offene Ansatz erlaubt es ihm, die Geschichte des notting hill carnivals von seinen verschlungenen Neue Politische Literatur, Jg. 59 (2014) I 163 Anfängen Ende der 1950er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts direkt aus den Quellen zu rekonstruieren und dabei gegenüber vorgegebenen Deutungsmustern und identitätsbildenden Narrativen eine kritische Distanz zu bewahren. Die Quellenarbeit, die die schriftlichen Unterlagen der Karnevalkomitees, der lokalen Behörden und der Polizei sowie die umfangreichen Debatten in der Presse akribisch auswertet, ist schlichtweg beeindruckend. Die Darstellung folgt den Quellen oft bis ins nebensächliche Detail. Dadurch entsteht ein anschauliches Bild der mit der Organisation des Karnevals verbundenen identitätspolitischen Auseinandersetzungen und praktischen Probleme. Da diese sich aber im Laufe der Jahre häufig wiederholten, wird die Darstellung zunehmend redundant und die Lektüre ermüdend. Die Studie hätte sicher an Prägnanz und Lesbarkeit gewonnen, wäre sie um circa 150 Seiten gekürzt worden. Der gewählte Untersuchungsschwerpunkt – die Konzentration auf den notting hill carnival und auf die Aushandlung des „Eigenen“ und des „Anderen“ – erweist sich als ausgesprochen fruchtbar. Klöß kann zeigen, dass die vielfältigen und sich wandelnden Konzepte eines multiethnischen Großbritannien – wie in einem Brennglas gebündelt – anhand dieses Karnevals verhandelt wurden. Die Grenze der identitätspolitischen Abgrenzungsprozesse verlief dabei streckenweise entlang der Hautfarbe, wenn zum Beispiel weiße Bewohner Notting Hills den karibischen Karneval in ihrem Stadtteil als „unbritisch“ ablehnten oder wenn Afrokariben, die mit dem Karneval die Befreiung aus Sklaverei und Unterdrückung feierten, den Rassismus der weißen Mehrheitsbevölkerung und besonders der Polizei geißelten. Auf der anderen Seite lag die Grenze der Identifikationen quer zu den ethnischen Identitäten. In der weißen Bevölkerung wurde der Karneval zunehmend als Teil des Eigenen akzeptiert: als Arena des antirassistischen Kampfes (bei den Neuen Sozialen Bewegungen), als Beispiel für Toleranz und einen problemlosen britischen Multikulturalismus (bei Behörden, Politikern und Medien), als kulturelles Ereignis (in der breiten Bevölkerung), als Touristenattraktion und gewinnträchtige Großveranstaltung (in der Wirtschaft und bei den Sponsoren). Auch die afrokaribische Minderheit grenzte sich nicht nur von der weißen Mehrheitsgesellschaft ab, sondern betonte selbstbewusst die Gemeinsamkeit der britischen Staatsbürgerschaft, die kulturelle Unterschiede nicht ausschließe und daher die ethnische Tradition der black britons als gleichberechtigt anerkennen müsse. Gleichzeitig 164 wirkte der Karneval intern durchaus nicht nur einheitsstiftend, sondern wurde von einzelnen Gruppen, die sich nicht angemessen repräsentiert fühlten, als fremd empfunden. Unterschiedliche kulturelle Traditionen zwischen Trinidad und Jamaika, divergierende Konzepte, Personen und Karnevalkomitees führten zu erheblichen Konflikten und stellten die Organisation des Karnevals immer wieder auf die Zerreißprobe. Die Fragen nach Authentizität und Kontrolle, nach Kultur, Politik und wirtschaftlichen Interessen vermischten sich dabei in einem komplizierten Aushandlungsprozess. Es ist ein nicht geringes Verdienst dieser Studie, die Vielschichtigkeit dieser Prozesse quellennah nachgezeichnet und den Wandel der identitätspolitischen Diskurse im jeweiligen zeitgenössischen Kontext verortet zu haben. Hierin geht sie über die bisherige Forschung zu diesem Thema, insbesondere über die noch immer anregende Pionierstudie des britischen Sozialanthropologen Abner Cohen „Masquerade Politics. Explorations in the Structure of Urban Cultural Movements“ (1993), hinaus. Die sprachliche Aushandlung des „Eigenen“ und des „Fremden“ ist dem Verfasser allerdings weniger geglückt. Dass fremdsprachige Zitate im Original wiedergegeben werden, ist wissenschaftlicher Usus. Dass aber der deutsche Text durch englische Termini und modische Anglizismen („perzipieren“, „performieren“, „labeln“, „Othering“) fortlaufend „hybridisiert“ wird und sogar Kapitelüberschriften auf Englisch formuliert sind, führt bei der Lektüre immer wieder zu Irritationen. Ein rein englischer Text wäre da lesbarer gewesen und hätte zudem eine Rezeption der Studie in der englischen Fachöffentlichkeit ermöglicht. Bergen Christhard Hoffmann Großbanken und Kleinkunden Gonser, Simon: Der Kapitalismus entdeckt das Volk. Wie die deutschen Großbanken in den 1950er und 1960er Jahren zu ihrer privaten Kundschaft kamen, 239 S., Oldenbourg, München 2014. Der Aufbruch der bundesdeutschen Großbanken ins Massengeschäft war einer der markanten bankenhistorischen Prozesse nach 1945, und er bietet zugleich Einblicke in die Dynamik des „Wirtschaftswunders“. Im „Drei-Säulen-Modell“ l Neue Politische Literatur, Jg. 59 (2014)