Zurück in die Zukunft - Aids

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Zurück in die Zukunft - Aids
MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
2 | Mai 2015
Zurück in die Zukunft
30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz
IMPRESSUM
IMPRESSUM
Herausgeber
Aids-Hilfe Schweiz (AHS)
Bundesamt für Gesundheit BAG
Redaktion
Brigitta Javurek (jak), Journalistin BR,
Chefredaktion
Dr. jur. LL. M. Caroline Suter (cs)
MLaw Julia Hug (jh)
Dr. Andrea Six, Wissenschaftsjournalistin (six)
Lic. phil. Stephané Praz (sp),
Wissenschaftsjournalist
Roger Staub, Leiter Nationales Programm
HIV und andere STI, BAG
Bildredaktion
Mary Manser
Gestaltung
Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel
SAN Nr. 2, Mai 2015
© Aids-Hilfe Schweiz, Zürich
Die SAN erscheinen dreimonatlich
in einer Auflage von 5600 Exemplaren
mit der Unterstützung von:
Bundesamt für Gesundheit, Bern
Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG
Bristol-Myers Squibb SA
Janssen-Cilag AG
Die industriellen Partner der Swiss Aids News
nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt.
Abo-Service
Redaktion Swiss Aids News
Aids-Hilfe Schweiz
Postfach 1118, 8031 Zürich
Tel. 044 447 11 11
[email protected], www.aids.ch
MEDIZIN | GESELL SCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
2 | M A I 2015
Zurück in die Zukunft
30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz
Illustration Daniel Müller, illumueller.ch
Alle Bilder «Wir sind Aids-Hilfe Schweiz»:
Mary Manser
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Swiss Aids News 2 | Mai 2015
Inhalt
Editorial
3 Präsident der Aids-Hilfe Schweiz, Martin Klöti
Gesellschaft
4 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz – ein Erfolg
8 Gib Gummi – Präservative in Hollywood
12 Porträt: «Kranke brauchen medizinische Hilfe,
aber auch Nähe»
14 Porträt: «Man müsste hinstehen und sein Gesicht zeigen»
16 Porträt: «Das Positive im Schweren sehen»
20 «Einige Freier haben keine Ahnung von Safer Sex»
Sammelsurium
11 «Keine Tussi», «... und das Leben geht weiter»,
«Spazieren ist das neue Yoga»
Medizin
18 Alles, was Sie schon immer über HIV wissen wollten
22 Altern ohne Risiko? Jein
Recht
25 «Mit den Mitteln des Rechts Vorurteile bekämpfen»,
Kurt Pärli im Gespräch
27 Forum Recht: Sie fragen – wir antworten
EDITORIAL
Liebe Leserin
Lieber Leser
© KEYSTONE/Gian Ehrenzeller
Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie vor 30 Jahren
gemacht haben?
«Heute, 30 Jahre später, hat sich
vieles zum Guten gewendet.
Anstelle von Sterben an Aids ist
Leben mit HIV getreten.»
Auf dem Plattenteller lief möglicherweise Tina Turners «Private Dancer», in der Zeitung
lasen Sie von einem Computer namens Amiga 1000, das Radio vermeldete den Sieg des
Jünglings Boris Becker in Wimbledon und Sie träumten davon, wenigstens einmal mit dem
schnellsten damaligen Serienfahrzeug, dem Porsche 959, eine Spritztour zu unternehmen.
So oder ähnlich könnte es gewesen sein. Ich lebte 1985 mit meinem Lebenspartner in
Mogelsberg und arbeitete als Lehrer und Landwirt.
Gut möglich, dass Sie am 3. Juli 1985 für die Sendung «Menschen, Technik, Wissenschaften» vor dem Bildschirm sassen und dem äussert beliebten und bekannten Moderator André Ratti atemlos folgten, als dieser sagte: «Ich heisse André Ratti, ich bin 50,
homosexuell, und ich habe Aids.» Diese Nachricht floss innert Kürze durch sämtliche
Informationskanäle und liess niemanden kalt.
Aids, die «Schwulenseuche», hatte schlagartig ein Gesicht und konnte nicht mehr
verdrängt werden. Die Stellungnahme Rattis trug massgeblich dazu bei, dass die Schweiz
eine Vorreiterrolle im Umgang mit Aids übernahm und die Diskriminierung von an Aids
erkrankten Menschen weniger stark als in anderen Ländern war. Auch die Aids-Hilfe
Schweiz, deren erster Präsident Ratti war, sowie die gemeinsamen Plakatkampagnen des
Bundesamtes für Gesundheit BAG waren künftig untrennbar mit Aids, Solidarität und
Prävention verbunden.
Heute, 30 Jahre später, hat sich vieles zum Guten gewendet. Anstelle von Sterben an Aids
ist Leben mit HIV getreten. Die einst tödliche Krankheit ist heute behandelbar, wenn auch
nicht heilbar, und die Mehrzahl der Menschen, die HIV-positiv sind, leben mit uns: sie
arbeiten, lieben, lachen, zahlen Steuern.
Aber, und es gibt ein Aber, aller Aufklärung zum Trotz geistern noch immer Vorurteile
und Ablehnung HIV-positiver Menschen durch die Gesellschaft. Wer sich am Arbeitsplatz,
in der Familie, unter Freunden, in der Community outet, muss mit Ausgrenzung und
Unbelehrbarkeit rechnen.
Noch gibt es viel zu tun, bis die Angst und die Scham vor sexuell übertragbaren
Krankheiten, nicht nur HIV/Aids, überwunden sind.
In diesem Sinne gedenken wir André Ratti und allen Menschen, die in den letzten 30
Jahren an Aids starben, und arbeiten an einer Zukunft, die mit sexuellen Krankheiten
lebt, ohne moralischen Zeigefinger und Diskriminierung.
Martin Klöti
Präsident der Aids-Hilfe Schweiz
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G E S E L L S C H A F T 30 Jahre Aids-Hilfe Schweiz – ein Erfolg
Weitere Bilder, Filme
und Informationen zum
30-Jahre-Jubiläum:
aids.ch/30-jahre
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dem Verein Schweizer Drogenfachleute VSD
im «Au Premier» im Zürich HB zu gründen. So
erhielt die Schweiz als eines der letzten Länder
Westeuropas eine nationale Aidsorganisation.
Die Paten: Fidel C., Bertino S.
und André R.
Ich habe 1982 mein Studium als Sekundarlehrer mathematisch-naturwissenschaftlicher
Richtung abgeschlossen, fand wegen des Lehrerüberflusses keine Stelle, konnte mich aber
mit Vertretungen über Wasser halten. Die Zeit
zwischen solchen Einsätzen nutzte ich für Reisen und Sprachaufenthalte. Im Herbst 1983 war
ich mit der Brigade «José Martí» einen Monat in
Kuba und habe mich daselbst mit einer Ärztin
aus (West-)Berlin angefreundet, sie im November 1984 besucht und dabei die Schwulenszene
Berlins erkundet. Aids war in dieser Zeit wieder
über Wochen Titelthema im «Spiegel» und auch
Thema am Esstisch der Berliner Gross-WG der
Ärztin. Sie bot mir an, einen Test auf das aids-verursachende Virus, das damals noch HTLV3/LAV
hiess, zu machen, nahm am Küchentisch Blut
und schickte es in die USA. Das Resultat würde
ich in einigen Wochen telefonisch ­erfahren ...
Ohne kubanische Revolution wäre ich bei der
Gründung der AHS wohl nicht dabei gewesen.
© HAZ / Schweizerisches Sozialarchiv
Roger Staub
Mitbegründer der
Aids-Hilfe Schweiz
Leiter Nationales Programm
HIV und andere STI 2011–17
Bundesamt für Gesundheit BAG
Doch der Reihe nach: Am 18. März 1985 trafen sich Vertreter von verschiedenen lokalen
Schwulengruppen, weil die Aidsgruppe der
HAZ eine Safer-Sex-Broschüre für Schwule
nach kalifornischer Vorlage für die ganze
Schweiz herstellen wollte. Der Enthusiasmus
der Delegierten war ungleich verteilt, viel
Skepsis war zu spüren. Aber einer redete
Klartext: Herbert Riedener († 1994), Präsident
der Loge70. «Wer nicht mitmachen will, kann
jetzt gehen. Die Loge70 ist dabei. Wir fangen
gleich mit der Arbeit an.» Für die Schweizerische Organisation der Homophilen SOH blieb
Marcel Ulmann im Raum, für die HAZ Roger
Staub. Die drei «Gründerväter» der Aids-Hilfe
Schweiz AHS konnten verschiedener nicht
sein: Marcel verkörperte den homosexuellen
Mann der vergangenen «Kreis-Zeit» und vertrat
die Männer, die vom Sex mit einem Mann eher
träumen. Roger sprach für die HAZ, die eher
linke Emanzipationsbewegung und für Männer, die viel über Sex mit Männern diskutieren. Und Herbert vertrat die Ledermänner, die
Sex mit Männern einfach hatten, leben. Weil
sich mit den drei Männern drei Welten der
Schwulen trafen und kooperierten, schaffte es
die Dreiergruppe, die AHS am 2. Juni 1985 mit
14 Schwulenorganisationen der Schweiz plus
© Blick
© Andreas Lehner
Die Initiative zur Gründung der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) 1985 im Zürcher Hauptbahnhof
ging von drei sehr unterschiedlichen schwulen Männern aus. Dabei standen drei berühmte
Männer Pate: Fidel Castro, Bertino Somaini und André Ratti. Dank und mit der AHS hat sich
die Schweiz für die Lern- statt Seuchenstrategie zur Bekämpfung von Aids entschieden und
hatte den Mut, die Bevölkerung in Bezug aufs Küssen zu beruhigen und 20 Jahre später
festzuhalten, dass HIV-Infizierte unter Therapie nicht infektiös sind.
Roger Staub am Beratungstelefon der AHS
Erste Safer-Sex-Broschüre der HAZ Homosexuelle
Arbeitsgruppen Zürich und SOH Schweizerische
Organisation der Homophilen, 1985
Im Frühling 1985 stand dann Bertino Somaini, damals Sektionschef im Bundesamt für
Gesundheit BAG, Pate: Wir Gründerväter,
also Herbert, Marcel und ich, hatten einen
Termin im BAG und Dr. Somaini erklärte uns,
dass für Aufklärungsmassnahmen schon Geld
vom Bund zu haben wäre, dass er aber keine
Lust habe, mit jeder Schwulengruppe aus jeder
Stadt einzeln zusammenzuarbeiten. Wir sollten
uns gefälligst zusammentun und EINE Organisation gründen. Gehört – getan.
Kaum war die Gründung am 2. Juni erfolgt,
rief mich eines Abends André Ratti zu Hause
an: «Do isch Ratti – MTW – ich han Aids und will
öppis tue!» Ohne zu überlegen, sagte ich ihm:
«Werden Sie Präsident!» Das brauchte einiges
an Überzeugungsarbeit, aber dann sagte er zu
und wurde an einer Generalversammlung der
Aids-Hilfe Schweiz per Telefonkonferenz zum
Präsidenten gewählt. Am 2. Juli 1985 lud die
AHS zur Pressekonferenz in den Schweizerhof
in Bern ein. Die Schlagzeile auf dem «Blick»Aushang des nächsten Tages: «André Ratti (50):
Ich habe Aids!»
Highlights der Jahre vor ART 1996
«Im Wissen um die Schwierig­
keit, dauerhafte Verhaltens­
änderungen zu erreichen, bemühten wir uns von Anfang
an um einfache und lebbare
Botschaften.»
Von der Selbsthilfe zur
Professionalisierung
Die frühen Jahre der Aids-Hilfe Schweiz waren
geprägt von der Auseinandersetzung – insbesondere mit dem Verein zur Förderung der
psychologischen Menschenkenntnis VPM und
dessen Aidsorganisation «Aids-Aufklärung
Schweiz» AAS. AHS und AAS standen sich
als Gegenpole in der Debatte um die richtige
Strategie der Aidsbekämpfung gegenüber.
Doch schliesslich «gewann» die Lernstrategie
auf der Grundlage von New Public Health
– Wie können Bevölkerung, Gruppen und
Individuen den Umgang mit einem potenziell tödlichen Virus lernen und sich selbst
schützen? – über die Seuchenstrategie nach
den Konzepten von Old Public Health – Wie
identifiziert man möglichst viele Träger des
Virus und sorgt dafür, dass sie niemanden
mehr anstecken?
© SRF
Auch wenn die AHS «Aids-Hilfe» heisst, stand
schon bei der Gründung das Primat der Prävention fest: vor allem neue Ansteckungen
verhindern und in zweiter Linie Betroffenen
Hilfe anbieten. Im Wissen um die Schwierigkeit, dauerhafte Verhaltensänderungen zu
erreichen, bemühten wir uns von Anfang an
um einfache und lebbare Botschaften. Und
weil der Analverkehr der mit Abstand effizienteste Übertragungsweg für das Virus ist,
konzentrierten wir uns auf die Botschaft «Bumsen immer mit Gummi». Und entwickelten so
das US-amerikanische Konzept des Safe Sex
(Sex OHNE Risiko) zum europäischen Safer
Sex (Sex mit weniger Risiko) weiter. Und weil
die Schwulen mit Präservativen nicht vertraut
waren, schufen wir eine eigene Parisermarke
für Schwule, den HOT RUBBER.
Im Februar 1987 lancierte die AHS im Auftrag des BAG die STOP AIDS-Kampagne, um die
ganze Bevölkerung über den Schutz vor HIV
aufzuklären, den Informationsstand zu verbessern und die Solidarität mit den Betroffenen zu
fördern. Ein wichtiger Meilenstein dabei war
der Mut von BAG und AHS, der Bevölkerung
mittels Plakat und TV-Spot zu verkünden, dass
es beim Zungenküssen kein Aidsrisiko gibt,
obwohl sich diese Aussage wissenschaftlich
nicht beweisen liess.
Der TV-Journalist André Ratti erklärt:
«Ich bin homosexuell und ich habe Aids.»
3. Juli 1985.
«Blick», 17. September 1986
Plakat 1986
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GESELLSCHAFT
«2008 hatte die Schweiz den
Mut, öffentlich zu machen,
was in Sprechzimmern und
Kongressen schon länger
hinter vorgehaltener Hand
besprochen wurde: Wenn die
Therapie wirkt, die Viruslast
nicht nachweisbar ist, dann
sind HIV-infizierte Menschen
nicht infektiös.»
Angst vor dem Tod ein wirksamer Helfer bei
der ­Prävention. Denn unter der Todesdrohung
wurden viele sexuelle Wünsche verdrängt und
nicht gelebt. Und mit der Therapie kamen diese Wünsche zurück. Die Partnerzahlen steigen
seither, die Frequenz von Analverkehr ebenso,
die Prävention ist sehr viel schwieriger geworden.
Auf der «Hilfe-Seite» brach die Nachfrage
nach Begleitung, Wohngruppen und Hospizbetten dank ART ein. Diverse Projekte mussten
mangels Nachfrage in den letzten 20 Jahren
umorientiert oder eingestellt werden.
2008 hatte die Schweiz den Mut, öffentlich
zu machen, was in Sprechzimmern und Kongressen schon länger hinter vorgehaltener
Hand besprochen wurde: Wenn die Therapie
wirkt, die Viruslast nicht nachweisbar ist, dann
sind HIV-infizierte Menschen nicht infektiös.
Das Swiss Statement, oder EKAF-Statement,
wurde weltweit kontrovers diskutiert, hat sich
aber in der Zwischenzeit durchgesetzt. Fakt ist,
dass die Datenlage für dieses Statement um
ein Vielfaches besser war als beim «KüssenStatement» von 1987 ...
Mein Fazit: Die Aids-Hilfe Schweiz und die
regionalen Aids-Hilfen sind Teil der Schweizerischen Erfolgsgeschichte bei Aids und HIV.
Und auch wenn die Zeiten schwieriger geworden sind, braucht es die Aids-Hilfe Schweiz
weiterhin, vor allem, wenn sie sich weiter den
veränderten Herausforderungen stellt und sich
weiter entwickelt.
1984 erkrankten in der Schweiz etwa 20 Schwule an Aids, 1985 über 40, 1986 80 und 1987
fast 100. An diesen Zahlen lässt sich ablesen,
dass die Zahl der Hilfesuchenden bei den neu
gegrün­deten AHS in den grossen Städten rasch
zunahm. In den Anfangsjahren handelte es sich
praktisch überall um Selbsthilfe, später nahm
praktisch überall die «Helfer-Hilfe» überhand,
indem die regionalen Aids-Hilfen Beratung,
Begleitung und Unterstützung professionalisierten. Vor 1996 lebte ein Aidskranker nach
der Diagnose im Schnitt noch 2 Jahre und war
in dieser Zeit oft krank, obwohl die Behandlung der opportunistischen Infekte schnelle
Fortschritte machte. Für aidskranke Schwule
und auch für Drogenabhängige, die zu krank
waren, um zu Hause zu leben, aber nicht krank
genug für Spitalpflege, wurden erste Angebote
im Bereich «Wohnen» und «Hospiz» geschaffen,
z. B. die Wohngruppe SidAccueil mit SpitexUnterstützung in Genf oder das Hospiz Basel
Lighthouse mit eigenem Pflegedienst. Die Zeit
des Sterbens an Aids dauerte bis Mitte der 90erJahre, in diesen Jahren wurde das Konzept von
palliative Care wegen Aids massgeblich weiterentwickelt – heute eine Selbstverständlichkeit.
Highlights seit ART 1996
Seit 1996 gilt ein neues Paradigma in der «Aidsarbeit»: Rechtzeitig und richtig behandelt stirbt
man nicht mehr an einer HIV-Infektion. Dank
Tritherapie, antiretroviraler Therapie ART,
kann das Virus im Körper dauerhaft kontrolliert und die Viruslast im Blut unter die
Nachweisgrenze gedrückt werden. Wirklich
Good News für alle mit HIV. Für viele andere
waren es schwierige News, z. B. für die «Präventiönler»: Solange Aids tödlich war, war die
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Roger Staub
© Koni Nordmann
© cR, Basel
© SRF
Tagesschau, Charles Clerc, 3. Februar 1987
Happy Birthday, liebe AHS!
Plakate der STOP AIDS-Kampagne im Frühling 1987
Langzeitprojekt: «Ich kann nicht mehr leben
wie ihr Negativen», Koni Nordmann, 1988
Kampagnenplakate
1991
1992
2003
© Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz
© Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz
Spritzenabgabe am Zürcher Platzspitz, 1990
© Bundesamt für Gesundheit / Aids-Hilfe Schweiz
© Keystone / Patrick Aviolat 1998
© Gertrud Vogler / Schweizerisches Sozialarchiv
© Bundesamt für Gesundheit /Aids-Hilfe Schweiz
Meilenstein 1996: Die antiretrovirale Kombinationstherapie bringt den Durchbruch in der Behandlung mit
Aids / HIV
STOP AIDS-Kampagne, 1997
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GESELLSCHAFT
Gib Gummi – Präservative in Hollywood
Zeitgleich mit der Ausbreitung von HIV ist ein Wandel in der Kinokultur auszumachen: Es
gab immer mehr Filme, in denen Kondome gezeigt wurden. Ausgerechnet aber in Kassenschlagern, die Aids thematisierten, durften Präservative nicht mitspielen. Ist Hollywood
zu verklemmt für das Gummi? Eine Zeitreise zum Kondomgebrauch in der Filmgeschichte.
© Filmstill: Pretty Woman / Disney
Wie harmlos und wie heiter hier im Jahr 1989
mit farbenfrohen Verhütungsmitteln hantiert
wird, ist erstaunlich. Die Onlinefilmdatenbank
imdb listet eindrücklich auf, dass bis dahin lediglich etwa 2 von Tausenden von Kinofilmen
jährlich ein Kondom zeigten. Und es handelt
sich in der Tat um einen kleinen magischen
Moment der Kinogeschichte – denn nicht nur
die Zahl der Kondome in Julia Roberts Hand
schwankt mysteriöserweise, sondern auch die
Farbe der Polyisopren-, Polyurethan- oder La­
texhüllen wechselt je nach Kameraeinstellung.
Kondome ja, Thema Aids nein
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Zahl der Spielfilme, in denen ein Kondom vorkommt
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Unbekümmert und komödiantisch ging Hollywood also schon vor 26 Jahren mit dem Thema
um. Während ein Gefängniswärter 1980 in der
US-Musikkomödie «Blues Brothers» ein Kondom nicht mit spitzen Fingern anfassen wollte,
sondern lediglich mit einem Kugelschreiber
transportierte, hatte das Gummi nun offenbar
seinen Weg in die feine Hollywoodgesellschaft
gemacht. So konnte auch die Filmfigur Colin
Frisell (Kris Marshall) 2003 in der britischen
Weihnachtsschnulze «Love Actually» («Tatsächlich … Liebe») voller Vorfreude einen überdimensionalen Rucksack mit Kondomen über
den Atlantik nach Amerika transportieren,
um dort gleich auf drei spassbereite Bettgenossinnen zu treffen.
Der erfolgreiche Weg des Kondoms ins Kino
verläuft zeitgleich mit einer anderen Entwicklung: dem Bekanntwerden der Immunschwäche
Aids. Auch wenn der statistische Zusammenhang nicht bewiesen ist: Die Zahl der Kinofilme,
in denen einen Kondom vorkommt, stieg seit
Entdeckung von HIV deutlich an (siehe Grafik).
Zappelig schlägt die junge Frau ihre endlosen
Beine übereinander. Nur spärlich ist sie von
etwas Geschmacklosem bekleidet, das ihr den
Anschein einer Kreuzung aus Weisswurst und
Blaubeere gibt. Und doch lümmelt hier die
Traumfrau einer DER romantischen Komödien der Kinogeschichte auf einem Schreibtisch. Pretty Woman Vivian Ward, aka Julia
Roberts, momentan noch als Prostituierte tätig,
greift beherzt in ihren Latexstiefel und zaubert
einen «Blumenstrauss an Sicherheit» aus dem
Schuhwerk.
Atemlos buchstabiert sie ihrem Zukünftigen
Edward Lewis (Richard Gere) die Farbauswahl
an Gummis durch: «Pick one. I got red, I got
green, I got yellow. I am out of purple, but I do
have one golden circle coin left. The condom
of champions. The one and only. Nothing is getting through this sucker.» (Frei übersetzt: «Wähl
einen. Ich habe rote, grüne, gelbe, keine lila,
dafür einen goldenen, dieser heisse Gummi lässt
garantiert nichts durch, der beste und einzige.»)
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Wie absurd, dass hingegen das Thema Aids
erst Jahre später im Blockbuster «Philadelphia»
(1993) thematisiert wurde. Während Elizabeth
Taylor als Safer-Sex-Matrone die Immunschwäche bereits offen ansprach und die Stars und
Sternchen es als grosse Geste empfanden, sich
das rote Betroffenheitsschleifchen anzustecken, fand Aids keinen Weg in die Drehbücher
für die grossen Stars.
1993: Aids erreicht den
Mainstream
Zwar hatte 1985 ein Fernsehfilm des amerikanischen Senders NBC «An early Frost» («Ein
früher Frost») die neue Seuche und ihre Auswirkungen auf eine Familie erstmals behandelt, doch der Film brachte dem Sender eine
halbe Million Dollar Verlust ein, da die Wer-
«Auch wenn der statistische Zusam­
menhang nicht bewiesen ist: Die Zahl
der Kinofilme, in denen einen Kondom
vorkommt, stieg seit Entdeckung von
HIV deutlich an.»
bekunden sich bei der Ausstrahlung plötzlich
zurückzogen. Und der erste Kinospielfilm über
Aids «Longtime Companion» («Freundschaft
fürs Leben») war im Jahr 1989 erschienen, um
mit einem schmalen Budget von 1,5 Millionen
Dollar gerade einmal 4,6 Millionen Dollar einzuspielen.
Schliesslich brauchte es doch über 10 Jahre seit der Ausbreitung der Immunschwäche,
damit ein starbesetzter Spielfilm wie «Philadelphia» (1993) einen Aidskranken als zentrale
Figur enthielt. Die Medien nannten den Film
denn auch einen Wendepunkt in der Filmgeschichte, da Hollywood es nun doch endlich
geschafft habe, sich an die Krankheit zu wagen.
«Aids hat den Mainstream erreicht», kommentierte der «Spiegel». Und die hübsche Verpackung des Gerichtsdramas sollte ja auch für
ein verklemmtes und homophobes Publikum
geeignet sein. Die Rechnung ging auf: Satte 206
Millionen Dollar brachte der Kassenschlager
ein. Nur merkwürdig, dass im Aidsblockbuster
kein einziges Kondom zu sehen war. Das wollte
man den Zuschauern wohl doch nicht zumuten.
Doch halt! Im Vorspann fährt die Kamera an
einem Geschäft mit Namen «Condom Nation»
vorbei. Eine winzige witzige Geste gegen den
staubigen Moralkodex der kalifornischen Filmstadt?
Wenig später zeigte das kontroverse Independent-Drama «Kids» (1995) eine Gruppe von
Teenagern in New York, die sich mit Sex, Drogen und Skateboards durch einen Tag schlagen.
Mit einem kargen Budget spielt der Film denn
auch nur 7 Millionen Dollar ein und vereinte
dafür aber Aids und Kondome in einem einzigen Drehbuch. So weit so grossartig – nur
ein Kassenschlager wurde der Film nicht.
Neun Jahre nachdem Tom Hanks und Denzel
Washington in «Philadelphia» brilliert hatten,
wagten sich schliesslich auch Stars wie Nicole
Kidman, Meryl Streep und Julianne Moore an
einen Film, dessen berührendste Rolle wohl
Ed Harris als aidskranker Künstler spielt («The
Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit», 2002).
Doch auch wie bei «Philadelphia» läuft hier
ein Staraufgebot in einem Film mit einem Aidskranken über die Leinwand, aber ­bitte bloss
keine Kondome! 97 Millionen Dollar bringt der
oscarprämierte Streifen ein, aber ein Kondom
mochte man sich für das Geld nicht gönnen?
Das kleine Etwas
In der echten Welt hatte sich das Kondom
längst zum Allerweltsprodukt emanzipiert.
Rund 20 Milliarden Präservative werden mittlerweile jährlich produziert und müssen nicht
mehr unter dem Ladentisch durchgereicht werden. Wo etwa der Brite früher noch schamvoll
«Das kleine Etwas für das Wochenende» in der
Apotheke verlangen musste, kann er heute
problemlos im Supermarkt aus dem Sortiment
wählen. Untrennbar ist das Kondom mit dem
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
Carsten Kwast
Shop/Kundendienst
Carsten Kwast und sein zweiköpfiges Team sind die nationale
Anlaufstelle für Anfragen rund
um die Themen HIV/Aids, sexuelle
Gesundheit und sexuell übertragbare Krankheiten STI. Sie sind
die Garanten dafür, dass die unzähligen Broschüren, Faltblätter,
Präventionsmaterialien und
Kampagnenplakate immer am
Lager und up to date sind.
Weiter vertreibt der Shop/Kundendienst Kondome, Solidaritätsartikel und andere Gadgets.
Rund 21 Tonnen Material, Tendenz
steigend, wurden im Jahr 2014
versandt. Die durchschnittlich
10 Anfragen pro Tag (365 Tage)
werden mit grosser Sach- und
Sozialkompetenz abgewickelt.
In den Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch.
shop.aids.ch
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(Inklusive TV-Serien Quelle: imdb)
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GESELLSCHAFT
Kondome in der Pornoindustrie
«Die Lümmeltüte bleibt», schmetterte die Presse, als sich die amerikanische
Pornofilmindustrie 2014 erfolglos gegen die Kondompflicht beim Dreh wehrte.
Schliesslich muss jeder Angestellte der sogenannten «Adult Film Industry»
nach den strengen Sicherheitsvorschriften geschützt werden, um sich während der Arbeit nicht mit Krankheitserregern zu infizieren. Vor Erregern, die
über Blut oder andere Körperflüssigkeiten übertragen werden, sollen die
Schauspieler unbedingt bewahrt werden. Testergebnisse von medizinischer
Bedeutung für den Beruf sind zu deklarieren. Theoretisch.
Praktisch tauchen hingegen gehäufte HIV-Infektionen in der Filmindustrie
auf, die in Wellen für Aufregung sorgen, wo man sich doch angeblich so gut
schützt. Auch Chlamydien, Tripper, Herpes werden gemeldet. Mediziner aus
den USA haben denn auch in einer Studie ermittelt, dass in Pornofilmen eine
Vielzahl von Sexszenen ohne Schutz gedreht werden. Durch die Auswertung
von 100 Filmen aus den Jahren 2005 und 2006 konnten die Forscher zeigen, dass Vaginalverkehr bei heterosexuellen Paaren nur in drei Prozent der
Szenen geschützt ablief. Analverkehr unter heterosexuellen Paaren wurde
in zehn Prozent der Szenen als Safer Sex praktiziert. Besser schnitten die
homosexuellen Partner ab, die in 78 Prozent der Analsexszenen geschützten
Verkehr hatten. Oralverkehr verlief hingegen in allen Filmen ungeschützt.
Schwulenpornofilme zeigten demnach deutlich häufiger den Gebrauch von
Kondomen als Heteropornos. Insgesamt aber werden die Sicherheitsvorschriften für die Darsteller in der Realität kaum angemessen umgesetzt. six.

Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten
verbunden und enttabuisiert. Doch die Filmindustrie scheut sich, HIV und Kondome auf der
Kinoleinwand in Verbindung zu bringen – wo
doch das Publikum den Zusammenhang seit
Jahren beherzigt.
Von dem ersten in der Filmdatenbank verzeichneten Streifen, der damals skandalösen
Philip-Roth Verfilmung «Zum Teufel mit der
Unschuld» von 1969, und der ersten Kondomwerbung im Fernsehen (1975, USA) bis zu
einem der jüngsten Filme, dem US-Erotikfilm
«50 Shades of Grey» (2015), scheint das Kondom
nun aber immerhin in knapp einem halben
Prozent aller Filme weltweit pro Jahr mitzuspielen. Seit die Gebrüder Lumière im Jahr 1895
erste Kurzfilme über Fabrikarbeiter zeigten,
war der Kinofilm als historisches Dokument
geboren. Nicht mehr nur papierne Akten oder
Fotografien dokumentierten den Lauf der Zeit.
Auch die laufenden Bilder konnten von nun an
Geschichte abbilden. Doch ebenso vermochten
Filme seither die öffentliche Aufmerksamkeit
auf Themen zu lenken und so den Verlauf der
Geschichte zu beeinflussen. Ob das Kondom
mit seinem Wandel vom peinlichen Tabu-Objekt zur alltäglichen Supermarktware in unserer Zeit mit einem halben Prozent passend im
Film repräsentiert wird, werden wohl dereinst
Historiker beurteilen können. six
I N S E R AT
Gütesiegel: Nur das Beste für mich
Seit 1985 wird für Präservative als Schutz vor HIV/Aids geworben, und sehr viele Menschen schützen sich konsequent. Ein passendes Präservativ (mysize.ch),
richtig angewendet schützt hervorragend vor
einer Ansteckung mit HIV. Dies belegen unzählige Studien.
Alle in der Schweiz verkauften Präservative
müssen die weltweite Norm erfüllen und tragen deshalb das CE-Zeichen. Es gibt aber auch
Präservative, die zusätzlich zum CE-Zeichen ein
Gütesiegel haben. Diese Präservative erfüllen weit
strengere Auflagen. Dazu kommt, dass jede Produktionseinheit vor dem Verkauf durch ein unabhängiges Labor nach
strengen Gütesiegelstandards geprüft werden muss. Verein
Gütesiegel für Präservative kauft jährlich Präservative
in den Läden und lässt sie prüfen. Seit Einführung
des Gütesiegels im Jahr 1990 wurden in der
Schweiz ungefähr 500 Millionen Präservative
mit Gütesiegel verkauft und etwa 500 000
Stück nachkontrolliert. Dabei wurde nie ein
gravierendes Qualitätsproblem aufgedeckt.
Es lohnt sich, Präservative mit Gütesiegel zu
verwenden. Zum Glück sind in der Schweiz sehr
günstige Präservative erhältlich, die qualitativ zu
den Besten gehören.
BERE
10
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
CH
UE NI
TS
SAMMELSURIUM
FI L M
GESUNDHEIT
«Keine Tussi»
«... und das Leben geht
weiter»
«Spazieren ist das
neue Yoga»
«Meine Eltern nannten das Getue, sie
sagten Lass doch das Getue. Sie wunderten sich Warum benimmt Eddy sich
wie eine Tussi? Sie sagten Reg dich ab,
muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel?
Sie dachten, es sei meine Entscheidung,
dass ich mich so benahm, als wäre das
eine Ästhetik, die ich kultivierte, um sie
zu ärgern.»
Obiges Zitat stammt aus «Das Ende von Eddy», dem autobiografisch gefärbten Roman
von Édouard Louis. Das Buch ist eine Wucht.
Sprachlich, inhaltlich, formal. Eddy, das
Alter Ego des Autors, ist nicht so, wie echte
Kerle sein sollten. Schon gar nicht in diesem
Dorf in Nordfrankreich, wo der Eddy eben
kein Macker, sondern ein bisschen soso ist.
Kein schöner Land, wo auch die Frauen Kinder kriegen müssen, um als richtige Frauen
zu gelten, ansonsten es heisst, sie seien
Lesben oder frigide. Eine harte, wütende,
grollende Welt, im Dauerkampf gegen alles,
was nicht normiert, tradiert und fremd ist. In
dieser Welt behauptet sich Eddy 205 Seiten
lang. Mit einer Würde und einer Empfindsamkeit, die einem beim Lesen gefangen
nimmt und noch lange nachhallt. jak
•
Édouard Louis
«Das Ende von Eddy»
S. Fischer Verlag
978-3-10-002277-6
Amerika in den frühen 80er-Jahren.
Präsident Ronald Reagen will den Vereinigten Staaten von Amerika wieder zu
Glanz und Gloria verhelfen. Mit höheren
Militär- und tieferen Bildungs- und Gesundheitsausgaben.
So weit, so schlecht. Denn genau in dieser
Zeit sterben meist schwule Männer an einer
bislang unbekannten Krankheit. Sie sterben
schnell und es werden immer mehr. Was
hilft? Wer forscht? Wer sammelt Daten?
Haben wir es mit einem Parasiten, einem
Bakterium oder einem unbekannten Virus
zu tun? Der Film zeigt die medizinischen,
sozialen und politischen Aspekte seit Beginn
der ersten Krankheitsfälle in den USA. Und
er zeigt schonungslos den Wettkampf mit
der Zeit und die vergebliche Müh, rasch und
effizient zu handeln. Denn trotz engagierter
Ärzte, Virologen, Gesundheitspolitiker und
Aktivisten versickert die Seuchenbekämpfung in den Untiefen der Gesundheitsbürokratie, der Bigotterie und der Administration
Reagen.
«... und das Leben geht weiter» (1993)
fesselt mit dokumentarischen Bildzitaten,
einem Starensemble (alle stellten ihre Gage
der Aidsforschung zur Verfügung) und einem
intelligenten Drehbuch. jak
© photocase.de / Zweisam
© S.Fischer Verlage
© KEYSTONE / PICTURE ALLIANCE
BUCH
Der Sommer steht vor der Türe und
die Spatzen pfeifen es von allen
Dächern: Bewegung tut gut.
Allen: Kranken und Gesunden, Alten und
Jungen jeglicher sexueller Orientierung,
Religion und Herkunft. Und es muss längst
nicht immer Yoga, die Trendsportart aus
dem alten Indien, sein. Oder gar ein Halbmarathon. Moderat-intensiv körperlich aktiv
sein reicht vollkommen. Mit bereits 150
Minuten pro Woche, also rund 22 Minuten
pro Tag, wie es die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, ist man dabei. Dazu
braucht es keine hippen Sportsneakers,
keine pastellfarbenen Wohlfühlklamotten
und auch keinen Coach am Handgelenk mit
Touchscreen inklusive Distanzmesser und
Kolorienverbrennanzeige. Es genügt, das
Tram oder das Automobile links stehen zu
lassen; eine grösser Runde um die Häuserblocks zu drehen; den Hund der Nachbarn
auszuführen oder im Wald Holz zu sammeln
und ein Feuer zu entfachen. Spazieren ist
das neue Yoga. jak
•
•
Erhältlich in Videotheken oder
als DVD bei buch.ch
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
11
P O R T R ÄT
«Kranke Menschen brauchen
medizinische Hilfe, aber auch Nähe»
HIV-positiv, schweres Nierenversagen,
keine Arbeit, unsicherer Aufenthaltsstatus in der Schweiz, beide Eltern tot.
Ibu Lawal*, 26-jährig, bleibt scheinbar
nichts erspart. Trotzdem betrachtet er
sein Leben als Geschenk. Und möchte in
Zukunft anderen kranken Menschen die
wichtigste Hilfe geben, die ihm manchmal gefehlt hat: menschliche Nähe.
Herr Lawal, mit Ihnen einen Termin
auszumachen, ist nicht so einfach.
Weshalb?
Ich gehe jeden Montag, Mittwoch und
Freitag für mehrere Stunden ins Spital
zur Dialyse, bei der mein Blut gereinigt
wird. Das ist notwendig, weil ich unter
Nierenversagen leide: Meine Nieren
reinigen das Blut nicht mehr selber. Die
Dialyse ist anstrengend, ich bin danach
jeweils müde und kraftlos.
Hängt das Nierenversagen mit Ihrer
HIV-Infektion zusammen?
Das kann man nicht genau sagen. Wahrscheinlich gibt es schon einen Zusammenhang, denn meine HIV-Infektion war
ziemlich weit fortgeschritten, als ich die
Diagnose HIV-positiv erhielt. Es kann also
sein, dass die Krankheit meinem Körper
Langzeitschäden zugefügt hat, bevor die
HIV-Medikamente sie zurückdrängen und
stabilisieren konnten.
Das Nierenversagen folgte nach der
HIV-Diagnose, als Sie bereits HIVMedikamente nahmen?
Zumindest hat man es erst nachher bemerkt, als es akut wurde. Das war 2010.
Ich litt unter plötzlicher Atemnot, wurde
notfallmässig ins Spital gebracht, wo sie
acht Liter Wasser aus meinem Körper holten. Die ganzen Lungen waren voll davon.
12
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
Und wann erhielten Sie die
HIV-Diagnose?
Zwei Jahre früher, 2008, kurze Zeit nach
meiner Ankunft in der Schweiz. Ich ging
zum Arzt, weil ich mich schlecht fühlte,
unter anderem auch Fieber hatte. Der
Arzt liess mein Blut im Labor auf verschiedene Krankheiten untersuchen. Als
ich wenige Tage später ins Sprechzimmer
kam, sass er mit mir hin und schaute
sehr ernst. «Ich bin ganz Ohr», sagte ich –
und erfuhr, dass ich HIV-positiv bin.
«Unter Afrikanern ist die Angst
vor HIV gross. Viele haben falsche
Vorstellungen und denken, sie
können sich selbst bei alltäglichen
Begegnungen anstecken.»
Da war die Infektion bereits weit
fortgeschritten.
Ja, nach einigen weiteren Tests im Unispital erklärten mir die Ärzte, ich müsse
sofort mit den HIV-Medikamenten beginnen. Meine Blutwerte waren schlecht.
Sie gingen im Alter von zwanzig Jahren
wegen unbestimmten Krankheitszeichen zum Arzt – und erfuhren da, dass
Sie sofort mit einer lebenslangen
Therapie gegen HIV beginnen sollten?
Es war ein harter Schlag. Zuerst dachte
ich: «Das kann nicht sein. Warum ich?»
Aber es war mir schnell klar, dass ich
das akzeptieren muss, wenn ich leben
will. Alle haben ihre Prüfungen zu
bestehen.
Gerieten Sie nie in eine Lebenskrise
wegen der Krankheit?
Ich glaube an Gott, ich bin mit ihm in
Frieden. Zweimal pro Woche gehe ich in
die Kirche und danke ihm, dass es eine
Lösung gibt für mich. Die Medikamente
retten mein Leben, das ist ein grosses
Geschenk. Im Vergleich mit all jenen, die
an Ebola erkranken und keine Hilfe erhalten, kann ich mich glücklich schätzen.
Sie sind mit der Therapie gut
klargekommen?
Ja. Medizinisch gesehen.
Und nicht medizinisch gesehen?
Da gab es Probleme. Ich teilte zu dieser
Zeit mit fünf anderen Männern ein Zimmer im Asylheim. Ich schämte mich sehr
und wollte unbedingt vermeiden, dass
meine Zimmergenossen von meiner HIVInfektion erfuhren. Deshalb rief mich der
Leiter des Heims jeden Tag unter einem
Vorwand in sein Büro, wo ich meine
Medikamente einnehmen konnte, ohne
dass es die anderen bemerkten. Trotzdem
erfuhren sie es.
Wie?
Nach einer Weile bekam ich ein Einzelzimmer. Die Leitung hielt das für besser.
Doch wenn man ein Einzelzimmer erhält,
ist für die anderen eigentlich schon klar,
dass man irgendeine Krankheit hat.
Wahrscheinlich hat dann einfach jemand
gesagt: «Ibu hat sicher Aids», und schon
stand es für alle fest.
Die Folgen?
Ich war augenblicklich isoliert: Alle
mieden mich, hielten Distanz. Da habe
ich gelernt, dass ich besonders unter
Afrikanern, nicht zuletzt unter meinen
Landsleuten aus Nigeria, kein Wort über
die Infektion verlieren darf.
Das gilt immer noch?
Unter Afrikanern ist die Angst vor HIV
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
gross. Viele haben falsche Vorstellungen
und denken, sie können sich selbst bei
alltäglichen Begegnungen anstecken.
Deshalb kann ich niemandem in der
afrikanischen Gemeinschaft von meiner
Infektion erzählen. Wenn das die Runde
macht, wenden sich alle ab.
Ich habe schon über 180 Bewerbungen
geschrieben, bisher leider ohne Erfolg.
Beim Schweizerischen Roten Kreuz
­konnte ich einen Pflegekurs machen. In
dieser Richtung sehe ich meine Zukunft.
Und ihre Familie?
Kranke Menschen brauchen medizinische Hilfe, aber auch menschliche
Nähe. Denn Distanz tötet innerlich, das
weiss ich aus eigener Erfahrung. Umso
wichtiger ist es mir, nun anderen Menschen zu helfen und ihnen die notwendige Nähe zu geben. sp
Meinen Eltern habe ich es gesagt. Das
musste ich einfach. Meine Mutter hat viel
geweint.
Aber die Eltern sind zu Ihnen
gestanden?
Ja. Es gab keine schlechten Gefühle.
Leider sind beide 2010 gestorben.
Wer unterstützt Sie heute?
Ich erhalte viel Unterstützung vom
medizinischen Personal, ebenso von der
kantonalen Aids-Hilfe. Auch in meinem
Privatleben habe ich mittlerweile gute
Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel war
die Infektion für meine Ex-Freundin, eine
Schweizerin, kein Problem. Sie wusste,
wenn wir uns schützen, kann nichts
passieren. Wenn es die Leute wissen und
gut reagieren, dann ist HIV schnell kein
Thema mehr. Es ist, als ob man es ganz
vergisst. Aber wenn man nicht darüber
sprechen kann, dann bleibt es immer
da, unausgesprochen, aber unangenehm
präsent.
Ihre Nierenschwäche schränkt Sie
stark ein. Schmieden Sie dennoch
Zukunftspläne?
Erklärt sich das aus Ihrer eigenen
Geschichte?
* Name geändert
Barbara Caroline Schweizer
Migration
Das Programm Migration ist zuständig für HIV-/STI-Information und
-Prävention bezogen auf die Migra­
tionsbevölkerung in der Schweiz.
Ein weiterer Fokus liegt in enger
Zusammenarbeit mit Vertretenden
der verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf dem Abbau von Stigma
und Diskriminierungen von HIVpositiven Menschen.
Dabei kommt eine zentrale Rolle
dem Programm Afrimedia zu, in
dem interkulturelle Mediatorinnen
und Mediatoren mit Herkunft
aus Subsahara-Afrika in ihren je
eigenen Communitys über HIV/STI
und Test- und Beratungsangebote
informieren.
aids.ch/migration
Auf jeden Fall. Mein Traum ist eine
eigene Familie. Doch als Erstes muss ich
eine Arbeit finden. Dann kann ich den
B-Ausweis beantragen. Und wenn ich
den erhalte, kann ich langfristig planen.
Zugegeben, das ist nicht ganz einfach:
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
13
P O R T R ÄT
«Man müsste hinstehen und
sein Gesicht zeigen»
Sara L, ist eidgenössisch diplomierte Pflegefachfrau HF, Mutter
von zwei Kindern, alleinerziehend, HIV-positiv und bei bester
Gesundheit. Mit viel Kraft bringt sie Familie und Beruf unter
ein Dach. Sie gehört zu den Working Poor in unserem Land,
aber darüber klagen ist nicht ihr Ding.
Sara L. lebte zwei Jahre mit ihrem Partner zusammen, als dieser
ihr rät, einen HIV-Test zu machen. Er selbst hatte sich kurz zuvor,
auf Anraten seiner Ex-Partnerin, testen lassen. Zum 20. Geburtstag,
man schreibt das Jahr 1997, erhält Sara L.* die Diagnose HIV. Unerwartet, aber ohne Stress. «Ich nahm das alles easy. Ich dachte, diese
Diagnose kann jeden treffen. Wir blieben zusammen, die Infektion
war für mich kein Trennungsgrund. Ich stellte mir auch nie die
Frage, warum ich? Es war einfach so. Punkt. Rückblickend finde ich
es himmeltraurig. Denn er infizierte mich und seine Ex-Partnerin.»
Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt in ihrem ersten Ausbildungsjahr. Sie teilt einer Fachlehrerin die Diagnose mit. Als sie kurz
darauf auch noch feststellt, dass sie schwanger ist, ermutigt sie
die junge Frau, die Lehre weiterzuführen. Auf dem Aids-Pfarramt
erhält sie ebenfalls Unterstützung. Sie bricht die Schwangerschaft
ab. Zu unsicher sind ihre Lebenssituation und die Aussichten für
HIV-positive Schwangere. Parallel dazu beginnt sie sofort mit der
antiretroviralen Therapie. Das heisst jeden Tag, alle 8 Stunden täglich 13 bis 15 Pillen einzunehmen. Sara L., die bis dahin einzig die
Alternativmedizin kennt, so ist sie aufgewachsen, legt eine erstaunliche Therapietreue an den Tag. Zehn Jahre lang wird sie jeden Tag,
ohne das Ganze einmal zu hinterfragen, ihre Tabletten einnehmen.
Nebenwirkungen spürt sie praktisch keine.
Outen: Ja oder Nein?
Von ihrer Diagnose erfahren einzig ihre Eltern und Geschwister. Für
ihre Mutter ist die Diagnose ihrer Tochter ein Schock. Sie reagiert
mit gesundheitlichen Problemen.
Mit Männern, mit denen sie nach der Diagnose gerne eine Beziehung eingehen möchte, macht sie unterschiedliche Erfahrungen. Ein
langjähriger Bekannter kann nicht mit der Diagnose umgehen. Er hat
grosse Angst vor dem Virus und kann, trotz fachlicher Information,
nicht über seinen Schatten springen. Andere Männer haben gar kein
Problem mit Safer Sex.
Vom Aids-Pfarramt wird sie angefragt, ob sie in einer Fernsehsendung anonym, jedoch mit eigener Stimme, über ihre Infektion
sprechen mag. Sara L. sagt zu. «Als meine Stimme erkannt wird,
beschliesse ich, nur noch gänzlich unerkannt über meinen HIVStatus zu sprechen. Zwar überlege ich mir immer wieder mal, mich
zu outen. Es ist wichtig, dass HIV-positive Menschen hinstehen und
14
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
ihr Gesicht zeigen, aber solange meine Kinder klein sind, geht das
für mich einfach nicht.»
Auch heute wissen an ihrem Arbeitsplatz einzig ihre Vorgesetzten von ihrer Infektion. «Man kann einfach nie voraussagen, wie
das Gegenüber reagiert.» Früher wäre sie gerne einer Selbsthilfegruppe beigetreten. Doch diese waren meist auf Homosexuelle
und Menschen mit Suchtproblemen ausgerichtet, eine Gruppe für
heterosexuelle Frauen fand sich nicht, oder die junge Frau hatte
keine Kenntnisse davon.
Kinderwunsch und Kindererfüllung
Nach rund fünf Jahren stellt Sara L. ihre Medikamente um. Das
bedeutet nur noch zwei Tabletten am Tag und ist eine grosse Erleichterung. An ihrem damaligen Arbeitsplatz lernt sie auch den Vater
ihrer Kinder kennen. Er ist Pfleger und leidet seit einer erfolgreich
überwundenen Drogentherapie unter Hepatitis C. «Er hatte überhaupt keine Probleme mit meiner chronischen Krankheit, er hatte
ja selbst eine», erzählt Sara L.«Dass er ausserdem unter einem
Alkoholproblem litt, sah ich nicht oder wollte es nicht sehen. Mir
gefielen die stundenlangen Gespräche bei einem Glas Wein.»
«Ich wollte immer eine Bilderbuchfamilie,
aber so war das eben nicht.»
Als sie mit 27 Jahren schwanger wird, ist für Sara L. klar, dass sie
das Kind behalten will. «Ich wollte immer Kinder, ich wollte immer
Mami sein, daran änderte auch die Diagnose HIV nichts.» Und jetzt
stimmt auch der Zeitpunkt, zumal die Medizin grosse Fortschritte
in Bezug auf HIV gemacht hat. Sara L.s Töchterlein kommt, entgegen der damaligen Vorschriften, nicht per Kaiserschnitt, sondern
durch eine Spontangeburt zur Welt und erhält unmittelbar nach
der Geburt eine antiretrovirale Therapie. Sie wird der damaligen
Praxis folgend nicht gestillt und ist HIV-negativ. Bald realisiert die
junge Mutter, dass der Alkohol ihren Partner stark im Griff hat. Er
ist unzuverlässig und der jungen Familie keine Stütze. Im Gegensatz
zu seinem Beruf, da arbeitet er professionell, niemand weiss von
seiner Sucht. Doch zu Hause zeigt er ein anderes Gesicht. Immer
wieder unternimmt er Versuche, um vom Alkohol wegzukommen.
Erfolglos. Das Zusammenleben funktioniert schlecht. Sara L. beschliesst, ihr Kind alleine aufzuziehen. «Ein Lebensentwurf, den ich
mir nie erträumte hatte. Ich wollte immer eine Bilderbuchfamilie,
aber so war das eben nicht.»
Die junge Mutter organisiert ihren Alltag mit Kind und Arbeit.
Jeder Tag muss bewältigt werden und braucht viel Kraft. Ihre HIV-
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
Medikamente setzt sie auf eigene Verantwortung ab. Ihre Werte
sind gut. Später kommt das Paar wieder zusammen. Sara L. ­möchte
dem Vater ihres Kindes helfen, ihm in seiner Sucht beistehen. Sie
unterstützt und ermutigt ihn, eine Weiterbildung in Angriff zu nehmen. Und dann wird sie erneut schwanger. Im vierten Monat ihrer
Schwangerschaft beginnt sie wieder mit der Therapie, um eine HIVÜbertragung auf das Ungeborene zu verhindern. Ihr zweites Kind
bringt Sara L. ohne Probleme zu Hause auf die Welt. «Eigentlich war
alles perfekt. Er hatte seine Ausbildung abgeschlossen und nochmals
einen begleiteten Entzug gemacht. Ich gebar einen gesunden HIVnegativen Sohn, stillte entgegen der Empfehlungen und er kümmerte
sich rührend um uns im Wochenbett. Genau sechs Tage lang. Dann
stürzt er erneut ab. Es war hart, sehr hart. Niemand, der kochte,
keine Haushaltshilfe. Ich hätte alles selber bezahlen müssen und
hatte schlicht kein Geld. Einzig meine Eltern unterstützten mich
finanziell und moralisch.»
Strenger Alltag
Sozialhilfe beantragen will Sara L. nicht, obwohl sie Anspruch darauf
hätte. Doch sie will unabhängig und nicht kontrolliert sein. Heute
arbeitet sie halbtags in ihrem Beruf, während ihre beiden Kinder
die Schule besuchen. Sara L. über ihren Beruf: «Als Mädchen wollte
ich immer Ärztin werden, doch als Pflegefachfrau bin ich viel näher
an den Menschen und das gefällt mir.» Sie wohnt in einem kleinen
Eckhaus, das ihre Eltern für sie und die Kinder gekauft haben. Im
Garten hoppeln zwei Chüngel und eine Katze fängt Mäuse. Ein
junger Hund tobt sich aus und im Gemüsebeet stehen noch ein
paar Fenchel. Diese überlässt Sara L. den Schmetterlingsraupen,
aus denen nächstes Jahr Schwalbenschwänze schlüpfen werden. Ihr
Alltag ist streng und nicht immer einfach. Der Vater ihrer beiden
Kinder ist heute trocken, doch gesundheitlich angeschlagen. Er leidet
unter Leberzirrhose und wartet auf eine Spendenleber. Wenn es
sein Zustand zulässt, schaut er ab und an zu seinen Kindern, wenn
Sara L. Elternabend oder dergleichen hat. Wenn der Himmel über
ihr einzustürzen droht, besucht sie temporär ihre Therapeutin. Dort
ist der Ort, wo sie sich aussprechen und ausheulen kann.
«Man kann ja nicht jeden Tag dieselbe Leier spielen. So ist es
aber, jeden Tag dieselbe Melodie. Oft wünsche ich mir Hilfe, aber
ich gehe nicht gerne betteln. Ich kämpfe jeden Tag und manchmal
habe ich die Schnauze gestrichen voll. Aber es ist mein Weg und den
muss ich gehen. Es ist streng, aber die Kinder werden grösser.» Sara
L.s grösster Wunsch sind Ruhe, Gelassenheit und tolle Ferien mit
den Kindern. Doch Letzteres kann sie sich bis heute nicht leisten.
jak
Nathan Schocher
Leben mit HIV
Das Programm Menschen mit HIV
kümmert sich um die Belange von
HIV-positiven Menschen in der
Schweiz. Es hält stets aktualisierte
Informationen über viele Aspekte
des Lebens mit HIV bereit, sowohl
in gedruckter Form als auch auf der
Website aids.ch
Das Programm bietet zudem
HIV-positiven Menschen finanzielle Nothilfe durch einen eigens
dafür eingerichteten Fonds. Auf
politischer und gesellschaftlicher
Ebene setzt sich das Programm für
die Interessen von Menschen mit
HIV ein, indem es Solidarität und
Antidiskriminierung propagiert.
aids.ch/leben-mit-hiv
* Name geändert
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
15
P O R T R ÄT
«Das Positive im Schweren sehen»
René W.* lebt seit bald 13 Jahren mit der Diagnose HIV. Als er
von seiner Diagnose erfuhr, haderte er lange mit seinem Leben.
Erst mit seinem verständnisvollen Partner lernte er, über seine Krankheit zu sprechen und die Isolation zu durchbrechen.
Noch immer ist sein Leben von Ups and Downs geprägt, aber
er hat gelernt, damit umzugehen.
Bereits vor seiner Diagnose wusste René W. viel über Aids und HIV.
1985 outete sich André Ratti, ein bekannter Fernsehjournalist, vor
laufender Kamera als schwul und an Aids erkrankt. Ein Jahr darauf
verstarb er. «Ratti war für mich schon immer eine beeindruckende
Persönlichkeit gewesen. Als ich ihn so krank im TV sah, war das
ein Schock für mich und zeitgleich der Auslöser für meinen ersten
HIV-Test.» Der Zweite folgte kurz darauf. René W. machte sich selbstständig und benötigte dazu ein Attest eines Vertrauensarztes. Von da
an liess sich René W. jedes Jahr auf HIV testen. «Ich war ja viel unterwegs und mir der Risiken bewusst. Trotzdem steckte ich mich an.»
Aus Angst Status verheimlicht
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts führte René W. eine Beziehung
mit einem HIV-positiven Mann, der ihm aber seinen Status verheimlichte. Nach einem halben Jahr Safer Sex schlägt René W. vor, man
möge doch gemeinsam einen HIV-Test machen, damit man künftig
ohne Präservativ bumsen könne. René W.: «Mein Test fiel negativ
aus, seiner positiv. Ich fiel aus allen Wolken. Als ich ihn darauf
ansprach, erklärte er mir, dass er mir ausVerlustangst seinen Status
verheimlicht habe. Denn wenn immer er sich als HIV-positiv outete,
wurde er verlassen.» Also doch Safer Sex. Kurz darauf erkrankt
René W.s Partner. Er weigert sich, einen Arzt aufzusuchen, weil er
das Warten auf den Befund psychisch nicht aushält. Bald ist sein
Immunsystem sehr geschwächt. René W.: «Er war schwer krank.
Zusätzlich zu HIV litt er auch noch unter Warzen (Papillomaviren).
Sein Selbstwertgefühl war klein, er fühlte sich mies, er brauchte
und suchte meine Nähe. In so einem Moment der körperlichen Nähe
‹vergass› ich das Präservativ. Und obwohl er bereits Medikamente
einnahm, infizierte ich mich.»
Liebeskummer und Suizidgedanken
Als ihm sein Arzt den positiven Status mitteilt, ist das für René W.
eine Katastrophe. Aber eine, die er mit keinem Menschen teilen will,
teilen kann. Nicht mit seinen konservativen Pflegeltern, denn die
hatten bereits grosse Mühe mit seiner Homosexualität und seinem
Coming-out. Auch nicht mit seinem leiblichen Vater, nicht mit Freunden. Kurz vor der Diagnose hatte er sich auch von seinem Partner
getrennt. René W.: «Ich liess mir nichts anmerken. Ich markierte den
starken Mann, dabei fühlte ich mich total mies. Ich habe mich so ge-
16
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
schämt. Die Mischung aus Liebeskummer und Diagnose HIV-positiv
brachte mich beinahe um. Doch als Selbständigerwerbender musste
ich funktionieren.» René W. fällt in eine Depression. Telefonanrufe
nimmt er nicht ab, er pflegt keine Kontakte mehr. Einzig bei der Arbeit funktioniert er. Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller.
Er denkt an Selbsttötung. Er will sich die Pulsadern aufschneiden,
schafft es aber nicht und fühlt sich noch schlechter. René W. dachte:
«Ich bin so ein Feigling, ich kann mich nicht mal umbringen. Und
jetzt?» Er will sterben und jeden Tag fordert er seine Viren auf, sich
rasant zu vermehren und ihn bald zu erlösen. An seinem Geburtstag
sind seine Werte so schlecht, dass sein Arzt dazu rät, sofort mit
der Behandlung zu beginnen. Nicht wirklich überzeugt von deren
«Sein Selbstwertgefühl war klein, er fühlte sich
mies, er brauchte und suchte meine Nähe. In so
einem Moment der körperlichen Nähe ‹vergass›
ich das Präservativ.»
Wirkung, willigt René W., quasi als Geburtstagsgeschenk für sich
selber, ein. Die Nebenwirkungen sind happig und bald denkt der
Arzt über einen Therapiewechsel nach. Ein Apotheker gibt ihm einen
entscheidenden Tipp zur Medikamenteneinnahme – kurz vor dem
Einschlafen einnehmen –, der Wirkung zeigt. Langsam, langsam
findet er aus seiner Lethargie und sein Leben pendelt sich wieder
ein, mehr oder weniger.
Skål und eine neue Liebe
Ein Freund aus der Ferne, der als einer der wenigen weiss, wie es
um René W. wirklich steht, lädt ihn zu Ferien auf Gran Canaria ein.
«Weihnachten stand an und ich hatte überhaupt keine Lust, mit
meiner Familie zu feiern. Dieses Friede-Freude-Eierkuchen-Getue
war für mich zu diesem Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit. Und
dann geschah es am Jahreswechsel, an der Tür zu einem Fetischclub.
«Er überreichte mir einen Drink, sagte Skål! und ich war hin und
weg. So ein erotisch schöner Mann!» Bald darauf ist der erste Flug
nach Dänemark gebucht und die Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf.
Auch das Positiv-Outing von René W. schreckt den neuen Mann in
seinem Leben nicht ab. Denn der schöne Mann aus Skandinavien
lebte bereits mit einem HIV-positiven Mann zusammen. Eine neue
Erfahrung für René W., zogen doch bis anhin alle seine Bekanntschaften, die über eine Sexgeschichte hinausgingen, die Reissleine, wenn
sie von seinem Status erfuhren. «Weisst du, ich habe keine Angst
vor einer Ansteckung. Aber ich könnte dich nicht pflegen oder gar
in den Tod begleiten», hört René W. mehr als einmal.
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
Überhaupt staunt er immer wieder darüber, dass unter Schwulen
das Thema HIV und Aids oft nicht zur Sprache kommt. Man weiss
vieles rund um die Infektion, man weiss, dass dieser oder jener
Mann positiv ist, aber darüber sprechen, sich damit auseinandersetzen, mag man nicht.
Im Leben angekommen
Auf der Regenbogenwolke schwebend, entschliesst sich René W., sein
Leben wieder in die Hand zu nehmen und sich mehr auf die Ups
und weniger auf die Downs zu konzentrieren. Er realisiert auch,
wie viel er in Bezug auf seine Homosexualität, in Bezug auf HIV,
seine Kindheit bei Pflegeeltern etc. verdrängt hat. Ein Psychologe des
Checkpoint Zürich (mycheckpoint-zh.ch) unterstützt ihn auf seinem
Weg. Er macht die Erfahrung, dass das Darüberreden heilsam ist.
Erzählen, sich öffnen als Therapie. Im Rückblick bezeichnet René
W. seine Diagnose als Startschuss zu einer Metamorphose: «Die
Verwandlung eines Würmchens in einen selbstbewussten Schmetterling, der seine Flügel ausbreitet und das Leben geniesst.» Das
schönste Geschenk macht ihm sein leiblicher Vater zu seinem
50. Geburtstag. 13 Jahre nach seiner Diagnose zeigt er u.a. voller
Stolz vor versammelter Festgemeinde einen TV-Bericht über seinen
HIV-positiven Sohn. Renè W. ist angekommen.
jak
* Name geändert
«Ich habe mich so geschämt. Die Mischung
aus Liebeskummer und Diagnose
HIV-positiv brachte mich beinahe um.»
Andreas Lehner
MSM – Männer, die Sex
mit Männern haben
Das Programm MSM trägt aktiv
dazu bei, die sexuelle Gesundheit
von Männern, die Sex mit Männern
haben, zu fördern und diese zu
einem für sich und ihre Sexualpartner risikofreien Sexualverhalten
zu motivieren. Das Programm MSM
setzt dafür auf internetgestützte
Beratungsangebote, plant nationale
Kampagnen, vernetzt die regionalen Aids-Hilfen und unterstützt
die Checkpoints.
Mit den jährlich wiederkehrenden
Kampagnen «Break The Chains –
Gemeinsam gegen HIV» und
«Stopp Syphilis» spricht das Programm MSM gezielt sexuell aktive
Männer an und hält ein grosses
Test- und Beratungsangebot bereit.
Eingebunden ins Programm MSM ist
auch alles rund um Dr. Gay.
breakthechains.ch/dr.gay.ch
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
17
PROGRAMM MSM
Alles, was Sie schon immer über
Sex wissen wollten
Dr. Gay, ein Team von Redaktoren, beantwortet seit Jahren zuverlässig, kompetent und rasch
Fragen von Männern zu Männern. Eine Auswahl.
Mücke?
Kann man sich durch einen Mückenstich mit HIV anstecken?
Nein, das ist nicht möglich. HIV überträgt sich in erster Linie durch
ungeschützten Sex.
Rollenteilung?
Wer ist in einer Schwulenbeziehung der Mann und wer die Frau?
Es ist ein sich hartnäckig haltender Mythos, dass in Schwulenbeziehungen einer der Mann
und einer die Frau ist. Eine klare geschlechtliche Rollenverteilung gibt es aber nicht. Wozu
auch? Schwule haben den Vorteil, ihre Rollen unabhängig vom Geschlecht zu gestalten. Was
zählt, ist, dass es für die Partner stimmt. Übrigens: Auch in Heterobeziehungen werden die
Rollen immer mehr unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen.
HIV-Test?
© Blick / Geri Born
Ich hatte Sex mit einem Mann und trotz Safer Sex ein ungutes Gefühl.
Soll ich einen HIV-Test machen?
Vinicio Albani
Vinicio Albani gehört zum
Dr.-Gay-Team. Alle zwei Wochen
beantwortet er im «Blick am
Abend» Fragen von Männern
zu (Safer) Sex, Homosexualität,
Comingout, Liebe, Beziehung,
HIV/Aids und anderen sexuell
übertragbaren Infektionen.
Dr. Gay ist aber auch ein Onlineberatungsangebot für Männer,
die Sex mit Männern haben.
drgay.ch
18
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
Du hast die Safer-Sex-Regeln eingehalten, also ein Kondom benutzt und kein
Sperma in den Mund genommen, deshalb ist ein HIV-Test nicht nötig. Wenn du
dir aber trotzdem Sorgen machst oder unsicher bist, könnte dich ein Test beruhigen und dir Sicherheit geben. Weitere Informationen zum Test findest du unter
mycheckpoint.ch
Syphilis?
Vor zwei Wochen hatte ich Sex und bekam jetzt ein kleines entzündliches Knötchen
neben dem Penisansatz, welches nässte und nun nach einer Woche langsam abheilt.
Die Lymphknoten sind nicht geschwollen. Könnte es sich um Syphilis handeln?
Eine Syphilis durchläuft drei Stadien. Im Primärstadium entsteht circa 1–5 Wochen nach der
Infektion ein schmerzloses Geschwür an der Eintrittsstelle des Bakteriums. Syphilis überträgt
sich durch direkten Kontakt, denn das offene Geschwür sondert eine sehr ansteckende Wundflüssigkeit ab. Die Lymphknoten können anschwellen, dies ist aber nicht immer der Fall. Ohne
Behandlung verschwinden die Symptome nach einiger Zeit von selbst und es folgt das zweite
Stadium. Unbehandelt kann eine Syphilis schwerwiegende Folgen mit sich ziehen. Detaillierte
Informationen findest du im Sex-Wiki auf meiner Website drgay.ch. Nach deiner Beschreibung
ist es durchaus möglich, dass es sich bei dir um eine Syphilis handelt. Eine ­Ferndiagnose ist
aber leider nicht möglich. Ich empfehle dir darum, dich möglichst bald von einem Arzt unter­
suchen zu lassen. Nur so kann eine Syphilis mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden.
HIV heilbar?
Ist HIV heutzutage nicht heilbar?
Eine HIV-Infektion ist nach wie vor nicht heilbar, aber behandelbar. Die Einnahme
der antiretroviralen Medikamente wurde in den letzten Jahren einfacher und die
Nebenwirkungen geringer, trotzdem ist ein Leben mit HIV kein Zuckerschlecken.
Lebenslang Medikamente einnehmen, Nebenwirkungen, Diskriminierung, Mobbing,
Ausgrenzung, Geheimniskrämerei und hohe Behandlungskosten sind nur einige der
Probleme, mit denen sich HIV-positive Menschen auseinandersetzen müssen. Es ist
darum nach wie vor wichtig, sich durch Safer Sex zu schützen.
Hepatitis C?
Kann ich mich in einer öffentlichen Toilette mit Hepatitis C anstecken?
Was sind die Anzeichen?
Nein, das ist nicht möglich. Das Hepatitis-C-Virus (HCV) überträgt sich in erster Linie durch
Blut-zu-Blut-Kontakt. Ein Risiko kann zum Beispiel das Teilen von Rasierklingen, Zahnbürsten
oder Drogenutensilien (Spritzen, Röhrchen zum Sniffen) sein. Auch bei härteren Sexpraktiken,
wo Blut im Spiel ist, kann ein Risiko bestehen. Bei 75% verläuft die Infektion symptomlos oder
mit unspezifischen Symptomen. Bei anderen Betroffenen können Symptome wie Müdigkeit,
Appetitlosigkeit, Übelkeit, Fieber, unspezifische Oberbauchbeschwerden, Leistungsschwäche
oder Juckreiz auftreten. Hepatitis C wird mit antiviralen Medikamenten behandelt. In deutlich mehr als der Hälfte der Hepatitis-C-Infektionen wird eine dauerhafte Virusbeseitigung
erreicht. Erfreulich: Von rund 1000 getesteten schwulen Männern in Zürich ist nur einer
HCV-positiv.
Gleitmittel?
Welches Gleitmittel ist für Safer Sex zu empfehlen?
Für den Sex mit Präservativen ist neben wasserlöslichen Gleitmitteln auch silikonbasiertes
Gleitgel geeignet. Dieses ist zwar etwas teurer, dafür umso ergiebiger und gleitfähiger. Gerade
wenn der Sex etwas länger dauert, ist silikonhaltiges Gleitmittel die bessere Wahl. Fetthaltige
oder ölige Substanzen wie zum Beispiel Handcrème, Vaseline, Salatöl, Butter, Body-Lotion usw.
sind als Gleitmittel ungeeignet, weil sie das Kondom angreifen. Auch ohne sichtbare Schäden
werden Kondome so durchlässig und reissen eher.
Sperma im Mund?
Ich habe gehört, dass Sperma im Mund kein HIV-Risiko mehr sei. Stimmt das?
Hauptübertragungsweg von HIV bei schwulen Männern ist ungeschützter Analverkehr. Das
Risiko ist dort sehr gross. Bei Sperma im Mund ist das Risiko zwar viel kleiner, aber trotzdem
vorhanden. Die Viruslast spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wenn dein Sexpartner sich erst
vor Kurzem angesteckt hat und in der Primoinfektionsphase ist, ist die Virenanzahl im Blut
sehr hoch und das Risiko entsprechend höher. Grundsätzlich kann eine Ansteckung darum
nicht ausgeschlossen werden. Wenn versehentlich Sperma in den Mund kommt: Ausspucken
und mit Alkohol nachspülen (nicht Zähneputzen!) ist eine Möglichkeit, das Risiko zu reduzieren.
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
19
GESELLSCHAFT
«Einige Freier haben schlicht keine
Ahnung von Safer Sex»
es dann auch «ohne» stattfindet, aber
zumindest fragen viele Freier danach.
Ich muss aber betonen, dass ich hier vom
Strassenstrich spreche. In anderen
Settings sieht das teilweise anders aus.
Die Zürcher Aids-Hilfe konzentriert
ihre Präventionsarbeit im Freiermilieu
momentan ausschliesslich auf den Strassenstrich.
Weshalb?
© Thomas Radlwimmer
Marijn Pulles arbeitet seit 2009 in
der aufsuchenden Freierprävention.
Er leitet bei der Zürcher Aids-Hilfe den
Bereich Freierprävention sowie den
operativen Teil der Teststelle TEST-IN.
Freier, die Sex ohne Kondom suchen,
gelten als schwer erreichbar für die
HIV- und STI-Prävention. Marijn Pulles
spricht im Interview über Freier und
über die Strategien, diese von Safer Sex
zu überzeugen.
Herr Pulles, weshalb wollen Freier
Sex ohne Kondom?
Dafür gibt es viele Gründe. Einige meinen, dass ihnen nichts passieren kann,
andere bekommen mit Kondom keine
Erektion oder denken, mit Kondom ist es
kein richtiger Sex. Und ganz wichtig:
Einige Freier haben schlicht keine Ahnung von Safer Sex und STI.
Wie viele Freier wollen Sex
ohne Kondom?
Wir haben letztes Jahr eine Umfrage bei
Sexarbeiterinnen auf dem Strichplatz Zürich gemacht. Unabhängig voneinander
sagten die meisten, dass etwa drei Viertel
aller Freier nach Sex ohne Kondom
fragen würden. Das heisst nicht, dass
20
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
Wir setzen unsere beschränkten Ressourcen dort ein, wo die Situation der
Sexarbeiterinnen unserem Wissen nach
am prekärsten ist. Denn das führt dazu,
dass sie sich eher auf ungeschützten Sex
einlassen. Natürlich bieten auch einige
Klubs «Natursex» oder «gefühlsecht» an.
Doch auf dem Strassenstrich ist, so viel
wir wissen, der Druck zu ungeschütztem
Sex gross.
«Die vermeintlich allgemein be­
kannten Argumente sind überhaupt
nicht allgemein bekannt. Bildungs­
ferne und fremdsprachige Freier
werden zum Beispiel von der LoveLife-Kampagne nicht erreicht.»
Können Sie das erklären?
Viele Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich arbeiten nicht auf eigene Rechnung, sie müssen täglich eine bestimmte
Mindestsumme abliefern. Wenn eine
Frau heute ein paar hundert Franken
abliefern muss, aber sie hat erst hundert
eingenommen, dann lässt sie sich halt
beim x-ten, der ohne sucht, darauf ein.
Auch weil sie mehr verlangen kann.
Zudem arbeiten auf dem Strassenstrich
zum Teil unerfahrene oder wenig gebildete Frauen, die ihrerseits nicht gross
Ahnung von Safer Sex, STI oder sogar
von Schwangerschaftsverhütung haben.
Diese Frauen stehen wirtschaftlich und
sozial unter grossem Druck.
Sie stellen die Sexarbeiterinnen auf
dem Strichplatz als verletzlich dar.
Sind die Freier im Gegensatz dazu
rücksichtlose Ausbeuter, welche die
prekäre Situation der Sexarbeiterinnen knallhart ausnutzen?
Nein. Dieses Bild trifft nur auf wenige
zu. Die Bandbreite bei den Freiern ist
gross. Sie reicht von Freiern, die in der
Sexarbeiterin nichts als eine Ware sehen,
bis zu jenen, die bezahlten Sex mit Liebe
verwechseln. Aber es ist wahrscheinlich,
dass viele Freier, die ohne wollen, das
auf dem Strassenstrich suchen. Und
eher nicht in einem Club, wo die soziale
Kontrolle grösser ist. Der Strassenstrich
ist von der Hierarchie her die niedrigste
Stufe. Wenn man ohne sucht, bekommt
man es hier wahrscheinlich am ehesten.
Nun ist es Ihre Aufgabe, die Freier zu
Safer Sex zu motivieren. Wie machen
Sie das?
Wir sprechen mit ihnen. Face to face. Das
ist das, was meiner Meinung nach am besten funktioniert. Und zwar vor Ort, auf
dem Strichplatz. Dabei sind wir ziemlich
direkt: Wir stoppen – ausgerüstet mit
Leuchtweste, am Strassenrand ein aufblasbares Riesenkondom – jedes einzelne
Auto, sprechen die Freier an und geben
ihnen Kondome und Infobroschüren ab.
Einige sagen einfach danke und fahren
weiter, mit anderen kommen wir so ins
Gespräch.
Welche Argumente für Safer Sex
können Sie bieten, die nicht sowieso
schon jedem bekannt sind?
Die vermeintlich allgemein bekannten
Argumente sind überhaupt nicht
allgemein bekannt. Bildungsferne und
fremdsprachige Freier werden zum
Beispiel von der Love-Life-Kampagne
nicht erreicht. Zudem sind Missverständnisse und Halbwissen weit verbreitet.
Schwer verständlich scheint etwa zu sein,
dass Oralsex – ohne Sperma oder Blut
im Mund – zwar kein HIV-Risiko, aber
für beide Beteiligte das Risiko einer STI
birgt. Das erklären wir immer und immer
wieder.
Wie aussichtsreich ist es, Freier zu
Oralsex mit Kondom zu bewegen?
Wahrscheinlich kommt diese Botschaft
nur bei wenigen an. Es geht darum, dass
sich die Freier bewusst sind, dass sie
sich mit einer STI infizieren können. Und
dass sie damit dann allenfalls auch eine
Partnerin infizieren können. Der Schutz
der Partnerin ist auch ein sehr wichtiges
Argument, um beim Geschlechtsverkehr
ein Kondom zu verwenden. Auch wenn
es nicht hundertprozentig vor einer STI
schützt, aber dennoch ziemlich gut. Die
Unterscheidung zwischen dem Schutz vor
HIV und dem Schutz vor STI ist generell
schwierig, aber wichtig. Denn HIV ist für
viele kaum noch ein aktuelles Thema.
Sie erklären also im Wesentlichen die
möglichen Übertragungsrisiken und
Schutzmöglichkeiten bei verschiedenen sexuellen Praktiken, sozusagen
einfach zielgruppengerecht?
Das ist ein wichtiger Teil. Aber sehr viele
Missverständnisse beziehen sich spezifisch auf die Situation auf dem Strich. Oft
sagen Freier, wenn wir ihnen ein Kondom
geben: «Ja, haben die denn Aids? Ich
dachte, die werden getestet.» Das heisst,
die Freier schieben die Verantwortung
ganz den Sexarbeiterinnen, dem Staat
oder sonst jemandem zu. Wir hingegen
vertreten die Ansicht, dass der Freier
verantwortlich für den Schutz von beiden
ist. Unsere zentrale Botschaft, die wir
in jedem Gespräch vermitteln, umfasst
deshalb drei Punkte. Erstens: Respektiere
die Frauen, zweitens: Erwarte nicht zu
viel, mache klare Abmachungen, drittens:
Benütze ein Kondom.
wahren, zugleich aber spontan und mit
Humor auf die individuelle Situation und
den einzelnen Freier eingehen. Aus einem
Auto mit vier Achtzehnjährigen kommt
zum Beispiel der Spruch: «Die Kondome,
die ihr verteilt, sind mir zu klein.» Dann
sag ich: «Komm, wir messen schnell
nach, ob es passt.» Und schon sind wir im
Gespräch.
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
Ist Ihre Arbeit erfolgreich?
Ja, wir bewirken auf jeden Fall etwas. Wir
erhalten Rückmeldungen bei den Telefonund E-Mail-Beratungen, auch bei unserer
Teststelle TEST-IN melden sich vermehrt
Freier. Leider erhält die Freierprävention
allerdings nicht gerade üppige Mittel, sodass sich unsere Möglichkeiten in engen
Grenzen halten. Man müsste meiner
«Erstens: Respektiere die Frauen,
zweitens: Erwarte nicht zu viel, ma­
che klare Abmachungen, drittens:
Benütze ein Kondom.»
Meinung nach die aufsuchende Arbeit im
Freiermilieu auf nationaler Ebene stärker
gewichten. Hier überschneiden sich
verschiedene Zielgruppen und sexuelle
Netzwerke, von der heterosexuellen
Allgemeinbevölkerung über MSM zu
Transgender und verschiedenen Migrationsgruppen. Die Bedeutung der Freierprävention für die gesamte Präventionsstrategie wird allgemein unterschätzt.
sp
Tipps und Infos für Männer, die für
Sex bezahlen: don-juan.ch
Barbara Beaussacq
Sex Work
Das Programm Sex Work setzt sich
für eine nachhaltige und breit
abgestützte HIV/STI-Prävention im
Sexgewerbe ein. Das Programm Sex
Work vertritt die Anliegen von Sexarbeitenden gegenüber Behörden
und anderen Organisationen und
unterstützt die APiS-Fachstellen
(Aidsprävention im Sexgewerbe).
Ein weiterer Programmschwerpunkt liegt auf der Vermittlung von
Information zu HIV/STI. National
und international ist das Programm
mit den wichtigen Akteuren im
Bereich Sexarbeit vernetzt.
aids.ch/sexwork
Verfängt das beim frauenverachtenden Macho?
Einfach so als Info nicht. Deshalb ist das
individuelle Gespräch sehr wichtig. Da
spüre ich heraus, was verfangen könnte.
Man muss dabei einerseits stets die Rolle
des Experten, also ein wenig Autorität
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
21
M E D I Z I N Altern ohne Risiko? Jein
Alterskrankheiten treten bei älteren HIV-Patienten häufiger auf als bei HIV-negativen älteren Menschen. Daran haben die HIV-Infektion und die Therapie vermutlich einen Anteil.
Allerdings einen eher geringen. Wichtiger ist der Lebensstil.
HIV war eine tödliche Krankheit, die vorwiegend junge Menschen betraf. Sie infizierten
sich in jungen Jahren und starben in jungen
Jahren. Das Bild hat sich gewandelt: Heute sind
vier von fünf HIV-Patienten in der Schweiz über
vierzig Jahre alt, von diesen wiederum fast die
Hälfte über fünfzig. Die Lebenserwartung von
HIV-Patienten hat dank der antiretroviralen
Therapie deutlich zugenommen, HIV ist zu einer chronischen Krankheit geworden. Von «the
graying epidemic», der ergrauenden Epidemie,
ist mittlerweile die Rede.
HIV-Patienten dürfen heute also mit einem
langen Leben rechnen. Aber dürfen sie auch
damit rechnen, ein langes Leben bei guter Ge-
sundheit zu führen? Diese Frage stellen sich
viele HIV-Patienten mit einiger Sorge. Denn
obwohl in der Schweiz fast neunzig Prozent
aller HIV-Patienten das Therapieziel einer nicht
mehr nachweisbaren Viruslast erreichen, und
obwohl sich bei den meisten das Immunsystem
gut erholt, sind sie überdurchschnittlich oft
von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Altersdiabetes, Gedächtnisverlust und weiteren Alterskrankheiten betroffen.
Der Zusammenhang zwischen HIV und
dem Alterungsprozess des Körpers ist deshalb
in den Fokus der medizinischen Forschung gerückt. Altern HIV-positive Menschen anders
als HIV-negative? Altern sie schneller? Wenn
© KEYSTONE / IMAGE SOURCE
«Der ältere HIV-Patient ist
immer mehr auf die Kompe­
tenz der Allgemeinmedizin
angewiesen: der umfassende
Blick auf alle gesundheits­
relevanten Aspekte eines
Patienten, von der Erkennung
und Behandlung diverser
Krankheiten bis zu Fragen
des Lebensstils.»
22
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
es Unterschiede gibt: Welche Faktoren sind entscheidend? HIV selbst? Die Medikamente der
Therapie? Koinfektionen wie Hepatitis? Andere
Risikofaktoren wie Rauchen oder die genetische
Veranlagung? Die vorläufige Antwort auf die
meisten Fragen lautet: Es ist unklar.
Studie: Alterskrankheiten häufiger,
nicht früher
Den Alterungsprozess von HIV-Patienten mit
jenem von HIV-negativen Menschen zu vergleichen, ist schwierig. Denn es gibt keine
Gruppe von HIV-negativen Menschen, die in
allen potenziell wichtigen Faktoren wie Alter,
Koinfektionen, Alkoholkonsum, Rauchverhal­
ten etc. mit der HIV-Patientengruppe übereinstimmt. Hinzu kommt, dass HIV-Patienten
medizinisch viel exakter untersucht werden
als die Allgemeinbevölkerung, sodass man bei
ihnen zum Teil nur deswegen früher und mehr
Alterskrankheiten entdeckt.
Vor diesem Hintergrund erhält eine im Oktober 2014 veröffentlichte Studie einige Bedeutung: Forscher verglichen über 30 000 HIV-positive mit fast 70 000 HIV-negativen Personen,
die alle an der grossen US-amerikanischen
Veterans Aging Cohort Study teilnehmen. Das
heisst, sowohl HIV-positive wie HIV-negative
Teilnehmer werden seit Jahren von denselben
Ärzten nach denselben Kriterien untersucht.
Analysiert wurden in der Studie Herzinfarkte,
fortgeschrittene Nierenkrankheiten und nichtaidsdefinierende Krebsarten. Ergebnis: Bei
HIV-Patienten traten alle drei Erkrankungen
häufiger auf. Allerdings nicht früher, sondern
im gleichen Alter wie bei HIV-negativen Patienten. Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn
sie relativiert die oft geäusserte Vermutung,
HIV und die HIV-Medikamente beschleunigten
den Alterungsprozess. Auf der anderen Seite
bestätigt sie, dass HIV und die HIV-Medikamente das Risiko für bestimmte Alterskrankheiten erhöhen.
Stop Smoking!
Weshalb das so ist, ist Gegenstand zahlreicher
Forschungsansätze. Wahrscheinlich scheint,
dass verschiedene Ursachen zusammenspielen: chronische Entzündungsprozesse und die
konstante Aktivierung des Immunsystems als
direkte Folgen der HIV-Infektion, aber auch
langfristige Nebenwirkungen der HIV-Therapie, vor allem von älteren Medikamenten. ­Diese­
Zusammenhänge zu klären und ihnen entgegenzuwirken, ist wichtig. Allerdings dürften sie
nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich
sein, dass Alterskrankheiten bei HIV-Patienten
häufiger auftreten. Die meisten Forscher sind
sich einig, dass klassische Risikofaktoren
­eine grössere Rolle spielen. Dazu zählen das
Alter selbst, die genetische Veranlagung, das
Geschlecht, Ernährung, Bewegungsverhalten
sowie Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum.
Einige davon sind nicht einfach gegeben, sondern lassen sich beeinflussen. Doch sie sind
unter HIV-Patienten überdurchschnittlich
verbreitet, wie die Daten der Schweizerischen
HIV-Kohortenstudie bestätigen. Für Thomas
Frey, Hausarzt mit HIV-Schwerpunkt, ist deshalb klar: «Viele HIV-Patienten haben es in der
Hand, ihre Risiken für Alterskrankheiten zu
senken. Und zwar deutlich.»
Frey betont, dass infolge der gestiegenen
Lebenserwartung die Prävention von Begleit­
erkrankungen, die nicht nur auf HIV zurückzuführen sind, grosse Bedeutung erhalte. Er
diskutiert deshalb bereits mit jungen Patienten
regelmässig Verhaltensmassnahmen wie mehr
Bewegung, ausgewogenere Ernährung und reduzierten Suchtmittelkonsum, vor allem von
Nikotin. Denn eine jüngst veröffentlichte Studie zeigt gar, dass HIV-positive Raucher mehr
Lebensjahre durch das Rauchen verlieren als
durch HIV. «Trotzdem erscheinen diese Risiken
oft sehr abstrakt», sagt Frey, «und ein Rauchstopp ist sehr schwierig.» Umso wichtiger sei es,
den Patienten die biologischen Zusammenhänge genau zu erklären. «Dabei sollte man einen
Patienten nicht einfach unaufgefordert mit
Ratschlägen überhäufen», erklärt er. «Voraussetzung für eine erfolgreiche Verhaltensänderung ist in jedem Fall, dass jemand tatsächlich
daran interessiert ist.»
«Eine zentrale Herausfor­
derung ist es, die verschie­
denen Medikamente für
verschiedene Erkrankungen
so aufeinander abzustimmen,
dass sie sich gegenseitig
nicht beeinträchtigen und
sich Nebenwirkungen nicht
verstärken.»
HIV-Patienten – ein Fall für die
Allgemeinmedizin
Auch wenn sich immer mehr HIV-Patienten
auf ein längeres Leben einstellen und ihren
Lebensstil darauf ausrichten, werden in den
kommenden Jahren Patienten mit mehreren
Alterskrankheiten eine der wichtigen Herausforderungen in der Praxis bleiben. Dabei am
häufigsten sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
bestimmte Krebsarten, Erkrankungen der Niere und der Leber, Osteoporose und Diabetes.
«Sowohl für Patienten wie Ärzte bedeutet das
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
23
M E D I Z I N eine Verschiebung der Aufmerksamkeit», sagt
Barbare Hasse, Infektiologin am Universitätsspital Zürich, «HIV ist nicht mehr das alleinig dominierende Gesundheitsthema.» Eine zentrale
Herausforderung ist es, die verschiedenen Medikamente für verschiedene Erkrankungen so
aufeinander abzustimmen, dass sie sich gegenseitig nicht beeinträchtigen und sich Nebenwirkungen nicht verstärken. Das gelingt in aller
Regel sehr gut, wie eine Studie der Schweizerischen HIV-Kohorte zeigt: Obwohl ältere HIVPatienten nebst den HIV-Medikamenten oft
noch mehrere andere Wirkstoffe einnehmen,
fanden die Forscher keine negativen Auswirkungen. Weder auf die HIV-Therapie noch auf
die Behandlung der anderen Erkrankungen.
Ältere HIV-Patienten unterscheiden sich
also kaum mehr grundlegend von anderen
älteren Patienten. HIV ist für sie oft lediglich
eine von mehreren Erkrankungen, die jedoch
gut kontrolliert ist. Das hat auch Folgen für
die medizinische Betreuung: War bisher der
Infektiologe der erste Ansprechpartner für
alle Fragen, ist er zunehmend nur noch einer
von mehreren Fachspezialisten, der bei Bedarf
hinzugezogen wird. «In Zukunft dürften Haus­
ärzte in der Betreuung von HIV-Patienten an
Bedeutung gewinnen», sagt Frey. Der ältere
HIV-Patient ist immer mehr auf die Kompetenz
der Allgemeinmedizin angewiesen: der umfassende Blick auf alle gesundheitsrelevanten
Aspekte eines Patienten, von der Erkennung
und Behandlung diverser Krankheiten bis zu
Fragen des Lebensstils. Denn die Frage, ob man
mit HIV ein langes, aber auch gesundes Leben
führen kann, hängt nicht nur von Viruslast und
CD4-Werten ab. sp
I N S E R AT
Angebot für Frauen, die mit HIV leben:
PFS – Positive Frauen Schweiz
Selbststärkungsgruppen: Wir beschäftigen uns mit allen Aspekten des
Lebens mit HIV wie Diagnose, Medikamente, Therapiestart, Sex,
Selbstwertgefühl, Lebenserwartung. Mit einem eigens entwickelten
Trainingsprogramm für Frauen mit HIV.
Gegenseitige solidarische Hilfestellung
Training: Umgang mit schwierigen Situationen
Erfahrungsaustausch
Geleitet von Frauen, die selbst seit vielen Jahren mit HIV leben.
Zürich: erster Samstag im Monat von 9–11 Uhr, monatlich,
Info via Zürcher AIDS-Hilfe, 044 455 59 00 oder [email protected]
Bern: erster Dienstag im Monat von 19–21 Uhr, 2-monatlich ab 5.5.,
Info via AIDS Hilfe Bern, 031 390 36 36 oder [email protected]
Weinfelden: letzter Donnerstag im Monat von 19-21 Uhr, monatlich,
Info via Selbsthilfethurgau, 071 620 10 00 oder www.selbsthilfe-tg.ch
Positive Frauen Schweiz ist eine Initiative von HIV-positiven Frauen und HIV-Ärztinnen mit
Unterstützung durch die Aids-Hilfe Schweiz, regionale Aids-Hilfen und unabhängige finanzielle
Gaben der Firmen BMS, AbbVie und Gilead.
24
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
RECHT
«Mit den Mitteln des Rechts
Vorurteile bekämpfen»
Seit 18 Jahren bietet die Aids-Hilfe Schweiz unentgeltliche Rechtsberatung an. Gegründet wurde sie 1997 von Prof. Dr. iur. Kurt Pärli. Jeweils am Dienstagvormittag
beriet er Mitarbeitende der regionalen Aids-Hilfen und Menschen mit HIV/Aids in
rechtlichen Angelegenheiten. Das Angebot war und ist auch heute noch sehr gefragt.
Caroline Suter und Julia Hug, Juristinnen bei der Aids-Hilfe Schweiz, stellten Kurt
Pärli Fragen zur Geschichte der Rechtsberatung.
Vor der Lancierung des Angebots HIV
und Recht arbeitete ich als Sozialarbeiter
am Inselspital Bern. Bereits an meinem
ersten Arbeitstag wurde ich mit der
IV-Anmeldung eines 25-jährigen Mannes
mit der Diagnose Aids im fortgeschrittenem Stadium konfrontiert. In dieser Zeit
herrschte grosse Unsicherheit. Aufgrund
meiner ersten Erfahrungen aus der Beratung und der Lektüre des Buches «Recht
gegen Aids» kam ich zur Erkenntnis, dass
das Recht gegen Aidskranke eingesetzt
werden kann. Aber dass es auch möglich
ist, HIV/Aids mit den Mitteln des Rechts
und durch den Abbau von Vorurteilen zu
bekämpfen.
Menschen mit HIV erleben auch heute
noch Diskriminierung und Stigmatisierung. Obwohl HIV heute in der Regel
gut therapierbar ist und die meisten
Menschen besser über HIV informiert
sein sollten, werden uns immer wieder
unglaubliche Fälle zugetragen.
In den ersten Wochen und Monaten
meiner Tätigkeit wurde mir die Bedeutung der Menschenrechte in der HIV/
Aids-Arbeit bewusst. Einmal war ein
junger Mann in der Beratung, der von
seinen Eltern im Estrich versteckt wurde,
wenn Bekannte zu Besuch kamen. Der
Mann litt unter einem, an unbekleideten
Körperstellen sichtbaren, Kaposi-Sarkom.
Kaposi bedeutete «Schwulenseuche». Ich
erinnere mich auch an einen unterdessen
längst verstorbenen, damals bekannten
Volksmusiker, der seine Diagnose
versteckte. Ärzte, Krankenpfleger und
auch ich als Sozialarbeiter mussten vor
Angehörigen von einer Krebsdiagnose
sprechen. Der «soziale Tod» bedrohte viele
Patienten lange vor dem Ausbruch der
Krankheit und dem medizinischen Tod.
Nicht auszudenken, was geschehen wäre,
wenn das Umfeld des Volksmusikers von
seiner Diagnose erfahren hätte. Es gab in
dieser Zeit auch zahlreiche fristlose Entlassungen. Insbesondere im Gastgewerbe
wurden viele Menschen nach Bekanntwerden der HIV-Diagnose von einem auf
den anderen Tag entlassen.
«Die Verfahren zur Abklärung von
Ansprüchen dauerten sehr lange,
zu lange für viele Patienten; sie
starben und erhielten nach ihrem
Tod rückwirkend IV-Leistungen
zugesprochen.»
Heute ist der Grossteil der Menschen
mit HIV erwerbstätig. Bevor es eine
wirksame Therapie gab, kam meist irgendwann die Erwerbsunfähigkeit. Wie
reagierte das Sozialversicherungsrecht
auf HIV/Aids?
© Ursula Hersperger
Warum engagierten Sie sich für eine
Rechtsberatung zum Thema HIV/Aids?
Prof. Dr. iur. Kurt Pärli leitet das
Zentrum für Sozialrecht der Zürcher
Hochschule für angewandte Wissenschaften und ist Privatdozent für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
an der Universität St. Gallen. Er ist
bekannt für sein grosses Engagement
und Autor mehrerer Publikationen im
Bereich HIV/Aids und Recht. 2002 bis
2006 war er Präsident der Aids-Hilfe
Bern.
Wer an Aids erkrankte, war zwingend mit
einem auch heute noch sehr komplexen
System konfrontiert (IV, Taggeld, Lohnfortzahlung, Pensionskasse, Krankenpflegeversicherung usw.), das anfänglich
überhaupt nicht auf die Krankheit
Aids vorbereitet war. Die Verfahren zur
Abklärung von Ansprüchen dauerten
sehr lange, zu lange für viele Patienten;
sie starben und erhielten nach ihrem Tod
rückwirkend IV-Leistungen zugesprochen.
Später kam das Gegenteil. Sobald eine
Aidsdiagnose vorlag, wurde gar nicht
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
25
R E C H T «Das Recht kann also einen klei­
nen, ganz bescheidenen Beitrag
leisten zu einem rationaleren
Umgang mit Krankheit. Es dauert
natürlich seine Zeit, bis sich dann
die Einstellung in den Köpfen
ändert.»
mehr genau geprüft, ob beispielsweise
noch Eingliederungsmassnahmen möglich wären. Man ging davon aus, dass die
Person dem Tode schon sehr nahe ist, das
traf auf viele zu, aber nicht auf alle.
Die Zeit bis 1995 war für viele Betroffene geprägt durch den Satz «Den Jahren
Leben geben». Die womöglich nur noch
kurze Zeit zu nutzen, bedingte aber auch,
dass die materielle Existenz gesichert
war, was aus den genannten Gründen
manchmal schwierig war. So bildete das
Auftreiben finanzieller Unterstützung
einen gewichtigen Teil meiner damaligen
Arbeit. Auch der Kündigungsschutz war
ein Thema, primär ging es aber vor allem
um Geld und um Ersatzleistungen zum
Lohn.
Und wie kam es zur Gründung der
Rechtberatung der Aids-Hilfe Schweiz?
1997 stellte ich der damaligen Geschäftsführerin der Aids-Hilfe Schweiz Ruth Rutman meine Vision einer Rechtsberatung
zu HIV und Recht vor. Ich schlug vor, die
Stelle auf vier Säulen abzustellen:
Beratung zu HIV und Recht
Weiterbildung von Mitarbeitenden
der regionalen Stellen und Aktivisten
Grundlagenarbeit (Positionspapiere
etc.)
Lobbying
Ruth Rutman unterstütze meinen Plan
und zwei Monate später führte ich das
erste Beratungsgespräch durch. Ich
war mit einem 25%-Pensum angestellt
und zwei Stunden pro Woche war das
Beratungstelefon offen. Zeitgleich fing
ich an, Stellungnahmen zu schreiben,
zum Beispiel zu Gesetzesrevisionen im
Gesundheits- und Sozialbereich. Rasch
sprach sich das Angebot herum. Nach
wenigen Monaten stockte ich das Pensum
auf 40% und dann auf 70% auf und bald
waren wir dann zu Dritt in der Rechtberatung.
Heute arbeiten Sie als Dozent und Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der
Zürcher Hochschule für angewandte
Wissenschaften. Darüber hinaus sind
26
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
Sie noch immer mit der Aids-Hilfe
Schweiz und dem Thema HIV verbunden. Was ist derzeit aktuell?
Ende Juni 2015 werde ich an einer Konferenz in Amsterdam drei Rechtsfälle analysieren, die 2013 entschieden wurden.
Einen Entscheid des Zürcher Obergerichts, einen aus Deutschland und einen
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Alle drei Gerichte haben
entschieden, dass eine Entlassung wegen
HIV unzulässig ist. Es ist spannend, dass
2013 – also 30 Jahre nach Auftauchen
von HIV – an drei unterschiedlichen
Orten in der Sache gleich entschieden
wurde. Es gibt keine Pflicht, über HIV
zu informieren, deshalb ist ein Vertragsrücktritt nicht gültig. Der Züricher
Entscheid, von den Medien aufgenommen, löste einmal mehr eine Diskussion
rund um HIV und Arbeit aus. Worum
ging es? Der FC Zürich löste den Vertrag
eines Profifussballers auf, nachdem sich
dieser geweigert hatte, seine Mitspieler
über seine HIV-Diagnose zu informieren.
Aber auch ein FC Zürich musste zur
Kenntnis nehmen, dass wenn die FIFA
und alle Fachleute sagen, es gibt keine
Übertragung beim Fussball – dafür gibt
es Evidenz –, man den Vertrag mit einem
Profifussballer nicht auflösen kann, weil
er angeblich über die HIV-Infektion hätte
informieren müssen. Ein solches Verhalten wäre irrational oder verpönt rational.
Das Recht kann also einen kleinen, ganz
bescheidenen Beitrag leisten zu einem
rationaleren Umgang mit Krankheit. Es
dauert natürlich seine Zeit, bis sich dann
die Einstellung in den Köpfen ändert.
Aber die Symbolik, die ist wichtig und
nicht zu unterschätzen.
jh /cs
FORUM RECHT
Sie fragen – wir antworten
Anfrage von Frau B. E.
Wie kann ich mich gegen einen negativen Entscheid wehren?
Ich habe bei der Invalidenversicherung
eine Rentenerhöhung beantragt, welche
mit einer Verfügung abgelehnt wurde.
Mit dieser Ablehnung bin ich nicht einverstanden und möchte mich dagegen
wehren. Können Sie mir sagen, wie ich
nun vorgehen soll?
Antwort von
Dr. iur. Caroline Suter
Am Ende der Verfügung sollte eine
Rechtsmittelbelehrung (meistens unter
der Rubrik «Wichtige Hinweise») enthalten sein. Diesem Absatz können Sie entnehmen, innert welcher Frist, an welche
Adresse und in welcher Form Sie eine
Eingabe machen können, wenn Sie mit
dem Entscheid nicht einverstanden sind.
Sehr wichtig ist, dass Sie die Frist einhalten, denn eine verpasste Frist führt
dazu, dass Sie von den Behörden und
Gerichten nicht mehr angehört werden,
auch wenn Sie sehr gute Argumente haben. Fristen können entweder mit einem
Datum (z. B. bis 14. August 2015) oder in
Tagen (z. B. innert 30 Tagen) angegeben
sein. Die schriftliche Eingabe (gegen
eine Verfügung wird sie «Beschwerde»
genannt) muss spätestens am letzten
Tag der Frist der Schweizerischen Post
übergeben worden sein. Damit Sie später
beweisen können, dass Sie die Frist
eingehalten haben, sollten Sie die Beschwerde per Einschreiben verschicken.
Die Frist in Tagen beginnt übrigens erst
am ersten Tag nach dem Empfang der
Verfügung zu laufen.
Das Invalidenversicherungsverfahren kennt sogenannte Gerichtsferien.
Während diesen steht die Frist still und
läuft erst nach den Gerichtsferien weiter.
Gerichtsferien bestehen vom siebten Tag
vor Ostern bis und mit dem siebten Tag
nach Ostern, vom 15. Juli bis 15. August
und vom 18. Dezember bis und mit
2. Januar.
Ihre Beschwerde muss schriftlich sein
und einen Antrag (z. B. «die Verfügung
der IV-Stelle vom X.X. sei aufzuheben»,
«mein IV-Grad sei zu erhöhen»), eine
­kurze Darstellung des Sachverhalts sowie
eine Begründung enthalten. Sie sollten
die Beschwerde im Doppel zusammen
mit einer Kopie der Verfügung und dem
Briefumschlag, in dem sie zugestellt wurde, schicken. Wichtig ist auch, dass Sie
der Beschwerde allfällige Beweismittel,
z. B. ein aktuelles Arztzeugnis, beilegen.
Ein Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig, Sie müssen meistens im Voraus
eine Gerichtsgebühr entrichten. Es steht
Ihnen frei, sich anwaltlich vertreten zu
lassen. Wenn Sie eine Rechtsschutzversicherung haben, werden die Anwaltskos­
ten allenfalls übernommen. Klären Sie
dies frühzeitig ab.
«Erst wenn das Verfahren abge­
schlossen ist, wird entschieden,
wer die Verteidigung bezahlen
muss.»
Die Rechtsberatung der Aids-Hilfe
Schweiz unterstützt Sie kostenlos beim
Abfassen von Einwänden, Einsprachen
und Beschwerden. Bei Bedarf kann sie
Sie in Sozialversicherungsverfahren auch
rechtlich vertreten. Nehmen Sie nach
Erhalt eines negativen Entscheids so
schnell wie möglich mit uns Kontakt auf,
damit genügend Zeit bleibt zur Akteneinsicht und Eingabenprüfung/-verfassung.
Wir sind:
Aids-Hilfe Schweiz
Caroline Suter
Rechtsberatung
Die Rechtsberatung beantwortet
kostenlos Rechtsfragen im Zusammenhang mit HIV in folgenden
Gebieten:
Sozialversicherungsrecht
Sozialhilferecht
Privatversicherungen
Arbeitsrecht
Datenschutzrecht
Patientenrecht
Einreise- und Aufenthaltsrecht
Die Aids-Hilfe Schweiz ist die
eidgenössische Stelle für Diskriminierungen und Persönlichkeitsverletzungen im HIV/Aids-Bereich. Sie
sammelt die ihr gemeldeten Fälle
und leitet diese zweimal jährlich an
die Eidgenössische Kommission für
sexuelle Gesundheit (EKSG) weiter.
Öffnungszeiten
Di und Do 9–12, 14–16 Uhr
Tel. 044 447 11 11
[email protected]
Swiss Aids News 2 | Mai 2015
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I N S E R AT
NACH
DEM SEX
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