Jetzt und wir - Droemer Knaur

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Jetzt und wir - Droemer Knaur
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Wenn man heute einen Blick auf Chartsplazierungen und
Plattenverkäufe einheimischer Musiker wirft, mag man es
kaum noch glauben, aber Musik in und aus Deutschland mit
eigener Identität, vor allem aber Rockmusik in deutscher
Sprache, das ging lange Zeit überhaupt nicht zusammen.
Warum?
Die Musik, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
ab 1945 gehört wurde, war die der Besatzer, vor allem der
englischen und amerikanischen. Zwar gab es in den 1950ern
und 1960ern durchaus populäre Musik auf Deutsch, dabei
handelte es sich aber ausschließlich entweder um banale
Schlager oder um Interpreten wie Peter Kraus und Ted Herold,
die sich als mäßig talentierte Kopien von Elvis Presley und Bill
Haley inszenierten.
Erst ab den späten 1960ern verschaffte sich (West-)Deutschland wieder eine eigene musikalische Identität, die von einer
Horde ebenso durchgeknallter wie innovativer Hippies ins
Leben gerufen wurde. »Krautrock« nannte sich deren Musik –
ein Sound, der bis dato nie gehört ward, weder im In- noch im
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Ausland. Kein Wunder, dass die so schrägen wie revolutionären Klänge in ganz Europa Anklang fanden, auch wenn ihnen Chartsplazierungen verwehrt blieben.
Doch immerhin hatten einheimische Musiker bewiesen, dass
sie durchaus (wieder) in der Lage waren, eigenständige, aufregende Kunst zu erzeugen, frei von den Selbstzweifeln der
Kriegsverlierer. Allerdings waren das Stücke, die fast ausschließlich ohne Verwendung von deutscher Sprache auskamen, Gesangsstimmen fehlten beim Krautrock entweder
völlig oder wurden weitgehend als zusätzliche Instrumente
ins Gesamtkonzept integriert.
Bei der nachfolgenden Generation eine Dekade später wiederum war das genaue Gegenteil der Fall: Das Punk-Virus aus
London war nach Deutschland geschwappt und wurde begierig von neugierigen, experimentierfreudigen Musikern von
München bis Hamburg aufgesogen, die sich davon bereitwillig infizieren ließen. Allerdings wurde dieses Mal nicht wie
noch 20 Jahre zuvor brav kopiert, sondern Bands wie Malaria,
die Neonbabies, Die Einstürzenden Neubauten oder Fehlfarben integrierten den wüsten Brit-Sound der späten 1970er
lediglich in ihre eigene musikalische Welt, die von ihrem
eigenen Lebensumfeld inspiriert war – deutsche Texte wurden
in jener Ära obligatorisch, wenn man zum Untergrund gehören wollte. Mit Schlager hatte das alles nichts zu tun, natürlich nicht. Mit Eingängigkeit, wenn auch häufig einer vertrackten, freilich schon.
Dass mit solchem Anspruch die Hitparaden gleichfalls in weiter Ferne blieben, war logisch. Doch darum ging es den Pionieren der »Neuen Deutschen Welle«, wie die Deutsch-Punks
bald nach ihrem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit genannt
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wurden, gar nicht. Entscheidend war, dass man sich selbstbewusst eine eigene deutsche Identität schuf, fernab von jeglicher Nationaltümelei.
1980 verirrte sich völlig unbeabsichtigt ein zynisch gemeintes
Anti-Optimismus- und -Opportunismus-Lied, als Hymne getarnt, in die einheimischen Hitparaden: »Ein Jahr (es geht voran)« von den Fehlfarben. Auch das nachfolgende Debütalbum
der Gruppe, »Monarchie & Alltag«, musikalisch wie textlich
tief in der Subkultur verwurzelt, preschte in den Charts stramm
nach oben.
Der Düsseldorfer Band um Sänger/Texter Peter Hein wurde
von der Underground-Szene rasch wütend Verrat vorgeworfen – für die Chartsplazierungen wie für die Tatsache, dass die
Fehlfarben-Platten durch das Majorlabel EMI auf den Markt
kamen. Das Interesse der Industrie an den neuen Klängen in
deutscher Sprache war jedenfalls durch diesen Überraschungscoup geweckt.
Und nur ein Jahr später ging es rasend schnell weiter, von den
Plattenfirmen-Riesen wurde jeder unter Vertrag genommen,
der eine Gitarre in die richtige Richtung halten konnte –
Hauptsache, es wurde deutsch gesungen. Unter dem Signet
der »Neuen Deutschen Welle« wurden über Nacht so unterschiedliche Künstler wie Nena, Markus, Joachim Witt, D.A.F.,
UKW, Hubert Kah, ja selbst die bayerische Rock’n’Roll-Truppe Spider Murphy Gang vermarktet – drei kurze Sommer lang
mit immensem Erfolg.
Doch letztendlich handelte es sich bei diesem Phänomen nur
um eine poröse Marketingblase, die rasch platzen musste, da
kein Mensch mehr bei der einheimischen Musikszene durchblickte, am wenigsten der Konsument, der sich schließlich
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verweigerte. Der Kollaps kam 1985. Etliche Jahre war es fortan für deutsche Musiker wieder verpönt, in ihrer Muttersprache zu singen.
Knapp 20 Jahre nach dem Ende der Neuen Deutschen Welle
tummeln sich – passend zum Beginn des aktuellen Jahrtausends – wieder jede Menge Musiker, die ausschließlich Texte
in deutscher Sprache singen, in den obersten Regionen der
nationalen Hitparaden – und das bis ins Jahr 2008 hinein!
Rosenstolz, Juli, Wir sind Helden, Sportfreunde Stiller, MIA.,
und etliche mehr wurden in kürzester Zeit die modernen PopHeroen der Nation. Und oftmals klingen sie textlich wie musikalisch, als wären sie eine verspätete Fortsetzung der NDWStars von einst.
Allerdings lautet das Fazit aus nahezu allen Interviews, die wir
mit den Musikern der sogenannten Neuen Deutschen Bands
führten: Es gibt keine Neueste Deutsche Welle. Die deutschsprachigen Künstler des neuen Jahrtausends beriefen sich vielmehr auf keine spezifisch zu identifizierende musikalische Kultur wie z. B. den Punk. Es existieren keine geschlossenen Gruppierungen, geschweige denn eine geschlossene Gesamtszene.
Trotzdem sind gewisse Bezüge zur NDW zweifellos vorhanden: das Beharren auf der deutschen Sprache, die Ironie und
Provokation in den Texten, die teilweise punkähnliche Musik,
die Offenheit für neue Einflüsse, die Energie, mit der Musik
gemacht wird – und nicht zuletzt der Wirbel von außen, der
die Bands in den Fokus der Öffentlichkeit rückt und sie Erfolg
haben lässt.
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Auch die Gründe für den Erfolg sind ähnlich: Das Publikum
kann sich mit den Musikern identifizieren, weil sie aufgrund
der deutschen Sprache und der Liedinhalte verstanden werden und weil sie Themen ansprechen, die das Publikum von
heute interessieren.
Das Interesse der einheimischen CD-Käufer an der Musik war
und ist überwältigend, was gleichfalls den Künstlern hinter
den Songs gilt. Das Publikum will wissen, wer diese Musiker
sind, woher sie kommen, wie ihr Werdegang ist, was sie bewegt und was sie mit ihrer Musik ausdrücken wollen.
Die Antworten auf all diese Fragen liefert Jetzt und wir. Darüber hinaus liefert das Buch auch einen spannenden Streifzug
zu den Wurzeln dieser Ausnahmeerscheinung der deutschen
Musikgeschichte. Denn das ist sie in der Tat: diese neue Generation junger Musiker, die den Nerv der Zeit getroffen hat
und damit atemberaubend erfolgreich seit einigen Jahren in
der Lage ist, einen nationalen Flächenbrand der deutschen
Musikkultur auszulösen. Wie erkannte schon Kraftwerk folgerichtig:
»Es wird immer weitergeh’n/Musik als Träger von Ideen.«
In diesem Sinne müssen wir uns um eine aufregende, innovative Zukunft der einheimischen Musikszene garantiert keine
Sorgen machen!
Michael Fuchs-Gamböck
und Thorsten Schatz
im März 2008
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Come On ’n’ Roll
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Die Geschichte der neuen deutschen Popbands beginnt nicht
erst mit dem Auftauchen von Wir sind Helden, MIA., Juli und
anderen Gruppen, die durch ihren Erfolgsweg ein erstaunliches und erfolgreiches Phänomen erschaffen haben. Vielmehr hat sie einen Vorlauf, der mit der Geburt der populären
Musik in den fünfziger Jahren und dem Rock ’n’ Roll als erste
massenwirksame Spielart des Pop seinen Anfang findet.
Damals wie heute gilt: Pop ist immer zuerst ein musikalischer
Ausdruck von Jugendkulturen. Die junge Generation entwickelte seit dem Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre den zeitgenössischen Pop als ihre Sprache. Das geschah in Deutschland
genauso wie überall in der Welt. Jedoch brauchte man hierzulande sehr lang, bis so etwas wie eine eigenständige deutsche Popmusik entstand.
Eingesetzt hat diese Entwicklung in der Nachkriegszeit erst,
als die wirtschaftlichen Hilfen der alliierten Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich ab 1948
wirksam wurden, denn dadurch stand die existenzielle Not
nicht mehr im Vordergrund. Nach der Währungsreform
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desselben Jahres florierten die Industrie und der Handel des
Landes. Es begann die Ära des »Wirtschaftswunders«, das
meist mit der Zeit um 1955 in Verbindung gebracht wird. Die
Deutschen verdrängten die nahezu unerträglichen ungeheuerlichen Erfahrungen des Dritten Reiches und die Mitschuld
an den Greueltaten der Nationalsozialisten. All das schob die
Erwachsenengeneration beiseite und setzte eine Fröhlichkeit
auf, was sich auch im Musikgeschmack der Bevölkerung abzeichnete. Singend und klingend wurde die Blütezeit des
deutschen Schlagers eingeläutet, der Probleminhalte mied
und lieber eine heile Welt beschwor, vorzugsweise durch die
musikalische Flucht in ferne Länder.
Doch auch in der Realität wurden die Deutschen zu wahren
Reiseweltmeistern. So wurde schon 1949 Rudi Schurickes
Version der »Capri-Fischer« ein echter Hit und eines der
meistgesungenen Lieder der Nachkriegszeit. Dieser verträumtschwärmerische und ziemlich sentimentale Ohrwurm zeichnet genau das Bild einer Idylle fernab von der deutschen Alltagswirklichkeit – und Nazi-Vergangenheit –, nach der sich
die Deutschen so sehnten: 4,5 Millionen Deutsche fuhren
allein 1956 mit dem Goggo-Mobil, unzähligen VW-Käfern
und Heinkel-Motorrollern in meist italienische Gefilde. Friedel Hensch & die Cyprys besangen dies 1953 mit »Ja, für eine
Fahrt ans Mittelmeer«. Ähnlich sehnten sich die Ostdeutschen
ebenfalls nach einer Reise ans Mittelmeer, was sich, etwas
verzögert, auch in der dort aufblühenden Schlagerwelt und in
DDR-Titeln wie »A-mi-amore« niederschlug, den Günter
Hapke 1964 trällerte.
Wie kein anderer Schlagerstar der 50er und 60er Jahre repräsentierte Freddy Quinn die Fernweh-Abteilung. Seine Titel
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»Heimweh«, »Die Gitarre und das Meer«, »Unter fremden
Sternen«, »La Paloma« und »Junge komm bald wieder« wurden für Freddy, wie er sich damals kurz nannte, zu absoluten
Bestsellern. Zwischen 1956 und 1966 gelangen dem Hamburger damit zehn Nummer-1-Hits und machten ihn zum populärsten Schlagersänger dieser Jahre. Freddys weibliches
Pendant war Lolita, die Meeres-Schlager sang wie »Der weiße
Mond von Maratonga« aus dem Jahr 1957 oder drei Jahre
später ihren großen Hit »Seemann, deine Heimat ist das
Meer«, der sogar die US-Charts erreichte.
Neben diesen Titeln aus der Feder deutscher Komponisten erschienen bald auch Hits aus anderen Ländern, die eingedeutscht und damit in die hiesigen Charts gehievt wurden. So
sang Caterina Valente 1954 »Ganz Paris träumt von der Liebe«, das der berühmte Musical-Komponist Cole Porter im
Original »I Love Paris« nannte, und verkaufte eine halbe Million Singles davon – für damalige Verhältnisse eine atemberaubende Zahl. Schlagerstar Peter Alexander machte mit Leila
Negra 1953 »Die süßesten Früchte fressen nur die großen
Tiere« zum Gassenhauer, die deutsche Fassung eines italienischen Songs von Nilla Pizzis mit dem Titel »Papaveri e papere« aus dem Jahr 1952.
Diese Stücke waren vor allem auf erwachsene Hörer zugeschnitten, sie fanden aber auch beim Großteil der Jugendlichen Anklang. Inhaltlich versprühten sie Frohsinn und malten das Bild einer idyllischen Welt, die nur kleine Sorgen und
Nöte kennt. Mit der realen Situation Jugendlicher, einem Ausdruck ihrer Lebenswelt, ihrer Sehnsüchte und Probleme hatten diese Lieder herzlich wenig zu tun. Stattdessen zielten sie
immer wieder auf das große Glück, das sich am Ende nur
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durch Hochzeit und Familiengründung einstellt, eine Vorstellung, die die Erwachsenen vermittelten. Damit einher ging
eine Tabuisierung von Sexualität, so dass der Nachwuchs bei
diesem Thema meist von seinen Eltern allein gelassen wurde.
Und auch die so enorm populäre biedere Musik erfüllte für
die junge Generation nicht die Funktion, die Musik oft hat:
ein Ausdruck ihrer Emotionen zu sein.
Dies allerdings sollte Mitte der 50er Jahre ein Ende haben.
Die Rettung kam aus den USA, wo ein neuer Stil entstanden
war, der zum einen vom Rhythm & Blues gespeist wurde, der
sich in den 40er Jahren entwickelt hatte und bei dem es häufig ziemlich eindeutig und deftig um erotische Begierden und
Erlebnisse ging, das Ganze präsentiert in einem aufreizenden,
rhythmusbetonten Sound, mit erdigem und kehligem Gesang.
US-Radio-DJs entdeckten die neuen faszinierenden Rhythmand-Blues-Stücke und verbreiteten sie seit 1952 über den
Äther. Einer der ersten von ihnen war Alan Freed. Er spielte in
seinen Shows Songs schwarzer Künstler wie Ray Charles,
Chuck Berry und Little Richard. Von der schwarzen VokalTruppe The Dominoes und ihrem Song »Sixty Minute Man«
lieh er sich 1951 zwei Begriffe aus, die er zu einem neuen
Ausdruck für den Rhythm & Blues verband: Rock ’n’ Roll. Die
Radio-DJs spielten aber nicht nur Songs der Schwarzen, sondern hatten genauso weiße Musiker im Programm, die den
Rhythm & Blues für sich entdeckt hatten. Allen voran entwickelte Bill Haley bereits Ende der 40er Jahre seine eigene
Version des Rhythm & Blues. Er mischte ihn mit Dixieland,
Countrymusic und Hillbilly. Von Haleys Song »Rock A Beatin’
Boogie« übernahm Alan Freed auch die Textzeile »Rock, rock,
rock everybody, Roll, roll, roll everybody!« als Erkennungs16
melodie für seine Radio-Show »The Moondog Rock ’n’ Roll
House Party«, in der er beide Strömungen spielte, die zusammengefasst als Rock ’n’ Roll entgegen allen rassistischen Ressentiments schwarze und weiße Jugendliche begeisterten.
Schnell entdeckte die weiße Musikindustrie den Rock ’n’ Roll.
Die erotischen Texte wurden entschärft, um die jugendlichen
Fans nicht zu verschrecken, schließlich sollten sich die Songs
ja verkaufen. Wie Bill Haley es vorgemacht hatte, wurden die
Rhythm-and-Blues-Elemente vor allem mit Country und Hillbilly angereichert. Und bald war ein junger Sänger gefunden,
der wie kein anderer den Rock ’n’ Roll in die Welt tragen
sollte: Elvis Presley.
Die Jugendlichen in den USA reagierten geradezu ekstatisch
auf den Rock ’n’ Roll. Der Sound brachte sie dazu, sich ihre
Seele aus dem Leib zu tanzen. Sie spürten sich selbst und
entdeckten ihre Sexualität. Die Sittenwächter der Kirche, Pädagogen und Politiker hingegen schrien auf, als der Rock ’n’
Roll um sich griff. Sie witterten Dekadenz, Sittenverfall und
den Untergang des Abendlandes. Damit war der Rock ’n’ Roll
für die Jugendlichen noch interessanter, weil er sich nicht nur
als Ausdruck von Sexualität anbot, sondern auch als Protestmittel gegen Werte und Normen der älteren Generation.
Der große Durchbruch des Rock ’n’ Roll und seiner Kultur
gelang 1955 in den USA durch einen Song, der wie keiner
sonst für den neuen Stil steht und mit 25 Millionen verkauften
Kopien der erfolgreichste Titel des Genres werden sollte:
»Rock Around the Clock« von Bill Haley und seinen Comets.
Haley hatte ihn bereits 1954 aufgenommen und veröffentlicht, allerdings mit mäßigem Erfolg. Als der Song jedoch
1955 als Song für den Film »Blackboard Jungle«, in dem es
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um jugendliche Kriminalität an einer Schule ging, ausgewählt
worden war, wurde »Rock Around The Clock« explosionsartig
populär. Das Lied schoss als erstes Rock ’n’ Roll-Stück auf die
Pole-Position der US-Charts und hielt sich dort acht Wochen.
»Blackboard Jungle« verschaffte dem Rock ’n’ Roll durch
»Rock Around the clock« in der ganzen Welt schnell große
Popularität, so auch in der Bundesrepublik. Mit »Saat der Gewalt« – so der deutsche Filmtitel – hielt der neue Rock ’n’ Roll
Einzug in die Musikboxen der Milchbars und gelangte auf die
heimischen Plattenteller deutscher Teenager.
Allerdings konnte die Musik bei weitem nicht so viele Jugendliche begeistern wie in den USA. Doch genauso wie bei den
Minderjährigen dort schäumte der Rock ’n’ Roll die Emotionen der deutschen Fans hoch. In völliger Ekstase zertrümmerten die Fans 1958 bei der ersten Tournee von Bill Haley
and The Comets die Konzertsäle in Hamburg, Essen, Stuttgart
und Berlin. Die Rock ’n’ Roll-Anhänger demolierten im Westberliner Sportpalast den Innenraum und die Fensterscheiben.
35 Menschen wurden verletzt, es entstand ein Sachschaden
von damals 50 000 DM.
Die Fans lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Zwischen 1956 und 1958 summierten sich größere Krawalle und
Massenschlägereien auf 350.
Die Hauptfiguren dieser Ausschreitungen waren, ähnlich wie
in den USA, junge Männer, die sich zu einer vergleichsweise
kleinen Subkultur verbanden. Ein Name war schnell gefunden: die »Halbstarken«. Sie bestanden in der Bundesrepublik
aus einem Grüppchen junger Männer meist aus dem Arbeitermilieu, das nur etwa fünf Prozent der 14- bis 19-jährigen
westdeutschen männlichen Jugendlichen ausmachte. Sie klei18
deten sich in dunkles Leder, frisierten sich Entenschwanztollen und gaben sich betont lässig wie ihre Idole, zu denen
nicht nur die Rock ’n’ Roller gehörten. Dazu gesellten sich
auch Filmstars wie James Dean, der in »… denn sie wissen
nicht, was sie tun« genau wie Marlon Brando in »Der Wilde«
den rebellischen zornigen jungen Mann spielte, der jeder
Halbstarke gern selbst sein wollte.
Während die Medien über die Halbstarken in der Bundesrepublik laufend berichteten, führten die ostdeutschen Vertreter dieser Bewegung ein Schattendasein. Doch es gab auch in
der DDR einige dieser Cliquen, die dem US-Rock ’n’ Roll verfallen waren, der über westliche Radiosender wie RIAS Berlin
Mitte der 50er Jahre auch in Ostdeutschland Einzug gehalten
hatte. Davor bot man der DDR-Jugend nur gemütliche Schlagermusik und wenig mitreißenden, biederen tanzbaren Jazz.
Kein Wunder, dass die junge Generation den neuen hitzigen
Sound sofort begeistert aufnahm. Der Staatsführung war das
jedoch ein Dorn im Auge, stammte er doch vom »kapitalistischen Klassenfeind«. Als Maßnahme gegen den westlichen
Heißmacher wurde 1958 in der »Anordnung über die Programmgestaltung bei Tanz- und Unterhaltungsmusik« eine
DDR-Quote eingeführt. 60 Prozent der Rundfunkmusik sollten
von ostdeutschen Interpreten oder aus den sozialistischen Bruderländern stammen – was bei den Halbstarken überhaupt
nicht ankam. Sie hörten heimlich weiter den US-Rock.
Im Osten wie im Westen hatte der Rock ’n’ Roll so entscheidend dafür gesorgt, dass die erste, wenn auch kleine, Popmusikkultur Jugendlicher entstand. Ihr kleiner Kreis bildete unter
den deutschen Jugendlichen eine Randerscheinung. Denn die
große Masse gehörte der Teenagerkultur an. Diese Jugend19
lichen waren brav, angepasst und alles andere als aufmüpfig.
Die 1956 ins Leben gerufene Jugendzeitschrift BRAVO versorgte sie in der Bundesrepublik mit den neuesten Starnachrichten, die Industrie mit Teenagermode, Accessoires und
Kosmetik und die Unterhaltungsbranche mit der passenden
leichten Muse dazu. Die Idole dieser Teenies waren Peter
Alexander, Caterina Valente, Heintje, alles Interpreten, die
auch den Eltern nicht unangenehm auffielen, sondern gern
gehört wurden.
Doch der Rock ’n’ Roll hatte erkennbar tiefere Spuren hinterlassen. Schnell etablierten sich Gesangsstars wie vor allem
Peter Kraus und Ted Herold, die versuchten, den US-Rock ’n’
Roll einzudeutschen. Bei Peter Kraus führte das zuerst zu
Coverversionen z. B. von Little Richards »Tutti Frutti« im Jahr
1956. Er sollte damit von der Musikindustrie als eine weichgespülte deutsche Elvis-Version etabliert werden. Später
wandte er sich dem beschwingt-harmlosen Teenager-Schlager
wie seinem berühmten »Sugar Baby« oder »Wenn Teenager
träumen« zu, beide aus dem Jahr 1958. In einem Interview,
das wir im Jahr 2006 mit ihm führten, erinnerte Kraus sich:
»Damals sagten die Erwachsenen, dass die Sachen von Chuck
Berry oder Little Richard schreckliche Negermusik seien, ein
Kulturschock! Was ich gemacht habe, war nicht der wirkliche
Rock ’n’ Roll, sondern eher eine Milky-Version davon. ›Sugar
Baby‹ war kein Rock ’n’ Roll. Das Original durfte ich aber
nicht singen.«
Näher dran am US-Rock war Kollege Ted Herold, der viele
Elvis-Songs mit deutschen Texten nachsang und Hits wie
»Hula Rock« hatte. Bei ihm wie bei Peter Kraus drehten sich
die Texte zwar zum Großteil um die Liebe, sie kamen aber
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meist ähnlich harmlos und keusch daher wie die deutschen
Schlager.
Doch der Rock ’n’ Roll hatte endgültig Einzug in die deutsche
Musikszene gehalten. So entstanden ab etwa 1959 auch die
ersten Bands, die die US-Originale von Rock-Hits nachspielten.
Diese Entwicklung bekam einen kräftigen Schub, als aus der
musikalischen Substanz des Rock ’n’ Roll Anfang der 1960er
ein neuer Stil entstand, der die Popmusik endgültig zum Massenphänomen machen sollte: der Beat.
Er entstammte der jungen Musikszene Großbritanniens, in
der unzählige Bands gegründet wurden. Sie waren Fans des
Rock ’n’ Roll, aber genauso liebten sie eine damals auf der
Insel enorm beliebte schnelle Folkmusic namens Skiffle, der
mit Gitarre, Banjo, Schlagzeug und Utensilien wie Eimer,
Waschbrett und Gießkanne gespielt wurde. Beides zusammen vermengten die jungen Musiker ab 1960 zu einem Stil,
der lauter, schneller, härter gespielt wurde als der Rock ’n’
Roll. Wegen seiner betont starken Rhythmik nannte man ihn
Beat. Die Besetzung bestand aus zwei bis drei E-Gitarristen,
einem Musiker am elektronischen Bass und einem Schlagzeuger, die allesamt einen mehrstimmigen Gesang zum Besten gaben.
Die brodelnde Beat-Szene hatte ihre Zentren in Liverpool und
London. Zum wichtigsten deutschen Anlaufpunkt für die neuen Gruppen entwickelte sich der Hamburger »Star Club«, der
am 13. April 1962 seine Pforten öffnete.
Auch eine noch unbekannte Band, die schon seit 1960 in
Hamburg aufgetreten war, verschlug es 1962 gleich dreimal
für längere Zeitabschnitte in den »Star Club«: die Beatles, die
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kurz darauf zur erfolgreichsten Beat- und Popband überhaupt
werden sollten.
Doch nicht nur sie machten in der ersten Hälfte der 60er Jahre
den Beat populär. Mit ihnen schafften es Bands wie The Animals, The Kinks, The Yardbirds, The Pretty Things und The Who,
zu chartstürmenden Protagonisten der Szene zu werden. Das
fast so erfolgreiche und die Musikgeschichte prägende Gegenstück zu den Beatles wurden die Rolling Stones. Sie bekamen
ein Image als »Bad Boys« verpasst, das sie durch ihren skandalträchtigen Lebenswandel und einen mehr am Rhythm & Blues
orientierten verschwitzten Rock-Stil pflegten.
Die Rolling Stones, die Beatles und andere britische Bands
dominierten die Hitlisten weltweit. Und auch in Deutschland
hielt die »British Invasion« in Windeseile durch die Auftritte
ihrer Stars Einzug in die Öffentlichkeit, die Radioprogramme
von BBC, BFBS und – als einer der ersten Sender des europäischen Festlandes – Radio Luxembourg spielten ihre Songs
rauf und runter. Dazu kam als Katalysator der Beat-Hysterie
eine legendäre TV-Sendung von Radio Bremen, die seit 1965
ausgestrahlt wurde: der »Beat-Club«. Doch nicht nur der
neue, wilde Sound, sondern auch das Protestpotenzial, das
darin steckte, machte den Beat für Jugendliche so reizvoll.
Der Beat etablierte im Zuge seines atemberaubenden globalen Erfolges damit die Popmusik in aller Welt endgültig als
massenkompatible Sprache der jungen Generation.
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