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DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 1 / 21 DER TITICACA-SEE Landschaften – Kulturen – Menschen Einleitung In meinem Referat vor drei Jahren habe ich über die Inkas berichtet und Ihnen einen Überblick über die Vorläufer-Kulturen der Inkas in Peru gegeben. Mit den Inkas und dem Reich Tiahuanaco werden wir es auch heute wieder zu tun haben, aber Erinnerungen an meine damaligen Ausführungen werden dabei nicht vorausgesetzt. Im Mittelpunkt stehen die Kulturen rund um den Titicaca-See, inmitten der Anden, auf einer Höhe von 3800 m: es ist die Region des Altiplano, ein Grenzgebiet von Peru und Bolivien. Neben der Region Cuzco, Urubamba-Tal und Machu Picchu ist das Gebiet am Titicaca-See dank seinen landschaftlichen Schönheiten und seiner gewichtigen archäologischen Präsenz eine der meistbesuchten Gegenden Perus. Die im Titel vorgegebene Reihenfolge möchte ich leicht ändern und mit den Landschaften beginnen, deren topographische Beschaffenheit, Höhe und Klima zunächst wichtige Bedingungen für die Entwicklung der Kultur schaffen. Die extreme Höhenlage verleitet ja auch zur Annahme, dass diese Kultur zumindest in ihren Grundzügen widerstandsfähiger und dauerhafter sein werde als im Tiefland, das den Wanderbewegungen und Eroberungen schutzloser ausgeliefert ist. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 1. 2 / 21 LANDSCHAFTEN 1.1 Der Titicaca-See Der Titicaca-See liegt im nördlichen Altiplano, in den Anden, auf 3812 m Höhe, noch 400 m höher als das Jungfraujoch (3454 m). Er ist der grösste Hochlandsee und der höchste schiffbare See der Erde. Seine Wasseroberfläche, zusammen mit den Inseln, beträgt 8559 km2 und ist damit mehr als 15 Mal grösser als der Bodensee (538.5 km2). Er ist 176 km lang und maximal 70, im Mittel 50 km breit, mit einer maximalen Tiefe von 274 m. Der Wasserstand differiert jährlich um 80 cm. Die Niederschläge und 25 Flüsse liefern je rund die Hälfte des Zuflusses. Der See gefriert nie, die durchschnittliche Wassertemperatur beträgt zwischen 10° und 13° (11° im Winter, 15° im Sommer). Der Name Titicaca ist eine Zusammensetzung: „titi“ bedeutet „Wildkatze, Puma“, „caca“ bedeutet „Felsen“. Titicaca heisst also Pumafelsen; der Name war früher ausschliesslich auf die Sonneninsel, eine der Inseln im Titicaca-See beschränkt. Der See lässt sich in drei Teile unterteilen: den Lago Grande oder Mayor, der ¾ der Fläche einnimmt, den Lago Pequeño oder Menor, ca. 1/6 und die grosse Bucht von Puno, die sich zum Lago Mayor auf einer Breite von 6.5 km öffnet, mit einem Anteil von 7%. Der Grosse und der Kleine See sind miteinander verbunden durch die 850 m breite Enge von Tiquina, über die eine Fähre verkehrt. 55% der Seefläche sind peruanisches, 45% bolivianisches Hoheitsgebiet. Die Grenze verläuft mitten durch den See. Die Entfernung des Sees von Lima, der Hauptstadt Perus, beträgt – von Puno am Westufer des Sees gerechnet – 1335 km, was eine Busfahrt von 24 Stunden erfordert. Mit dem Flugzeug sind es vom 45 km entfernten Flugplatz Juliaca 1½ Stunden Direktflug. Nach Cuzco beträgt die Entfernung 390 km, das sind mit der Eisenbahn 12 Stunden – störungsfreie Fahrt vorausgesetzt - mit dem Bus 7 Stunden oder ½ Stunde Flug ab Juliaca. Nach La Paz, der Hauptstadt Boliviens, mit 1½ Millionen Einwohnern, sind es 2 Stunden Busfahrt (115 km). 1.2 Der Altiplano Der Titicaca-See ist als grösstes und wichtigstes Becken in das Hochland des Altiplano eingebettet, das sich zwischen der Westkordillere (Cordillera Occidental) und der Ostkordillere (Cordillera Oriental) im Höhenbereich von 3600 – 4200 m auf peruanischem und bolivianischem Gebiet ausdehnt. Die Ostkordillere, die mit ihren Sechstausendern den Altiplano nochmals um 2000 – 3000 m überragt, bildet den imposanten Hintergrund mit den majestätischen, schneebedeckten Gipfeln des Illimani, 6882 m, und Illampu, 6550 m, den höchsten Erhebungen der Cordillera Real, der Königskordillere. Hier findet sich die höchste Skipiste der Welt auf 5400 m: Chacaltaya. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 3 / 21 Die Ostkordillere bildet eine grosse natürliche Barriere gegen die feuchten Winde aus dem östlichen Tiefland Boliviens und ist mitverantwortlich für das trockene und kalte Klima der Region, das zwei ausgeprägte Jahreszeiten kennt: die mehr oder weniger niederschlagsfreie Zeit von Mai – August, die unserem Winter entspricht, und die Jahreszeit mit den kräftigen, oft tropisch heftigen Niederschlägen in den Monaten Dezember – März. Die durchschnittlichen Maximal- und Minimal-Temperaturen bewegen sich zwischen + 15° und – 1°. Dabei profitieren die Uferlandschaften bis zu 3° vom Wärmeausgleich des Sees. Das Thermometer kann aber im Altiplano bis auf – 20° fallen. Auf dem Altiplano wechseln Hochflächen mit Hügelketten, tiefen Schluchten und – im Süden – mit Wüste. Unendliche Flächen von Weideland schaffen einen natürlichen Lebensraum für Viehzüchter, für den Weidegang der Kameliden: der Llamas, Alpacas und Vicuñas sowie für die Schafe, die von den Spaniern eingeführt wurden. Flüsse sorgen für die Bewässerung der Gebiete, wo begrenzter Ackerbau betrieben werden kann: Kartoffeln und Quinua (der Reis der Anden), wobei die Landreserven durch die an den Hängen angelegten Anbauterrassen, die andenes, bis zum Äussersten ausgenützt wurden. Künstliche Lagunen, die cochas, dienten zur Sicherstellung der Bewässerung. Die Hochbeete, spanisch camellones, in der Sprache der Einheimischen waru-waru genannt, gewährleisteten sichere Erträge. Sie waren bis drei Meter breit und von ein Meter tiefen Gräben umgeben, in die Wasser in Kanälen hergeleitet wurde. Die Gräben dienten sowohl der Bewässerung als auch der Entwässerung. Das Wasser schuf ein Mikroklima, das die Tageswärme speicherte und nächtliche Frostschäden verhinderte. Der Schlamm, der sich zur Regenzeit periodisch absetzte, trug zur Düngung der Beete bei. Sie erwiesen sich als landwirtschaftliches Hochleistungssystem. Die Auswertung von Luftaufnahmen zeigt auf Abertausenden von Hektaren Spuren dieser Hochbeete, die dann unter den Spaniern verkümmerten. Die Entwicklungshilfe, an der auch die Schweiz beteiligt war, ermunterte die Landbewohner, zu diesem System zurückzukehren. Die Versuche verliefen erfolgreich, brachten bessere Ernten ein als die gewöhnlichen Felder und lösten einen eigentlichen waru-waru-Boom aus, der inzwischen wieder abgeflaut ist. Denn zur Wiederherstellung von 1 ha waru-waru sind etwa 760 Arbeitstage erforderlich. Diese Agrartechnologien dürften bis ca. 1000 v. Chr. zurückgehen, Viehzucht, Weidegang und Fischfang noch früher. Sie wurden bis zum Ende des Inka-Reiches praktiziert. Unter den Spaniern, die andere Prioritäten verfolgten, wurden sie dann aber sträflich vernachlässigt. Die Errungenschaften der modernen Zivilisation: Wasserversorgung, Kanalisation, Telefon etc. haben in den Dörfern erst teilweise Einzug gehalten. In den zerstreuten Siedlungen auf dem Hochland fehlen sie noch vollständig. Verkehrsmässig wird die Region durch Autobusse erschlossen, ganz entfernte Siedlungen müssen sich mit Lastwagen behelfen. Die Bewohner sind überwiegend, zu ca. 60% „Indígenas“, die eigentlichen Ureinwohner. Die Bezeichnung „Indios“ empfinden sie als abwertend. Die Bezeichnung „Indígenas“ betont dagegen den Ursprung und die Anwesenheit vor dem Eindringen der Spanier. Völlig unpassend wäre es, sie „Indianer“ zu nennen. Auf der boliviani- Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 4 / 21 schen Seite sind es die Aymarás des Departements La Paz, auf der peruanischen die Quechuas und eine Minderheit von Aymaras im Departement Puno, einem der ärmsten Departemente Perus. Ihre Lebensweise unterscheidet sie kaum, so dass wir im Folgenden auf eine Darstellung nach Nationalitäten verzichten werden. Auf dem Altiplano finden sich nur wenige grössere Städte: Puno und Copacabana. Puno, die Hauptstadt des gleichnamigen Departements, zählt über 100’000 Einwohner und gilt heute als ein Zentrum der Folklore. Zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft war Puno eine der reichsten Städte des Kontinents, „la ciudad de plata“, wegen der Silberminen von Laykakota in der Nähe der Stadt. Heute ist sie ein provinzielles Handelszentrum, idealer Ausgangspunkt für Exkursionen. 6 km vom Hafen von Puno entfernt stossen wir auf die Inseln der Uros, künstliche Inselchen, die aus mächtigen Bündeln von Schilfrohr, „totora“, zusammengefügt und verankert werden. Da die untersten Lagen im Wasser allmählich verfaulen, müssen die Inselchen von oben immer wieder neu beschichtet werden. Die Hütten sind aus dem gleichen Material errichtet. Die Kochstelle befindet sich ausserhalb. Ihre Boote – die „balsas de totora“ – dienen zum Fischfang und zu Fahrten mit Touristen. Von den ca. 80 künstlichen Inselchen sind fünf als grosse Attraktionen für die Touristen zugänglich. 1978 wurde das nationale Schutzgebiet Titicaca vor Puno errichtet, und der gesamte See steht unter dem Schutz der Konvention Ramsar für geschützte Feuchtgebiete. Copacabana, in Bolivien, ist ein vielbesuchter Wallfahrtsort und Ausgangspunkt für den Besuch der Sonnen- und Mond-Insel, von deren archäologischen Stätten noch die Rede sein wird. Zwischen Puno und Copacabana liegt Juli, während Jahrhunderten ein Missionszentrum der Jesuiten. Von den Inseln steht das peruanische Taquile regelmässig auf den Reiseprogrammen. Sie ist von Puno aus in dreistündiger Bootsfahrt erreichbar und wird als „Insel der strickenden Männer“ leicht belächelt. Hier sind es tatsächlich die Männer, die - in aller Öffentlichkeit – stricken. Die 1600 Bewohner führen keine Hotels und leben ohne Elektrizität. Touristen können aber privat übernachten, was ihnen die Möglichkeit zu engeren Kontakten mit den Indigenas bietet. Die Insel Amantaní, auf der 800 Familien leben, ist noch weiter entfernt als Taquile und weniger bekannt. So gewährt ein Besuch mehr Ruhe und Beschaulichkeit, insbesondere, wenn man sich die Mühe nimmt, die beiden Hügel Pachatata und Pachamama zu besteigen, wo noch heute feierliche vorchristliche Kulte begangen werden. Die Namen weisen auf den Dualismus von Vater (tata) und Mama hin. Zudem geniesst man von hier aus einen überwältigenden Rundblick auf den See. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 2. 5 / 21 KULTUREN 2.1 Die Entwicklung der frühesten Kulturen Die Region um den Titicaca-See, und der Altiplano insgesamt, veranschaulichen in eindringlicher Weise die Auseinandersetzung der frühen Bewohner mit den schwierigen topographischen und klimatischen Verhältnissen in grosser Höhe. Sie zeigen die Entstehung erster Kulturen, deren Aufstieg und Niedergang, bis zur Heranbildung von Hochkulturen wie Tiahuanaco und dem Inka-Reich. Dabei konnte jede neue Kultur auf die Errungenschaften und Traditionen der vorangehenden aufbauen und sie weiterentwickeln, bis dann mit dem Eindringen der Spanier, der Macht aus einem fremden Kulturbereich, die natürliche Entwicklungslinie jäh unterbrochen wurde. Die ersten Bewohner dürften den Altiplano, den Flussläufen folgend, um 12'000 v. Chr. besiedelt und sich ihren Lebensunterhalt als Jäger und Sammler gesichert haben. Spuren haben sie in Fels- und Höhlenzeichnungen hinterlassen. Nach dem Übergang zur Sesshaftigkeit, zur Viehzucht und zur Bebauung des Landes – gegen 2'000 v. Chr. – entwickelten sich ungefähr zur gleichen Zeit zwei erste Macht- und Kulturzentren: Chiripa, auf der Halbinsel Taraco, am Südende, auf der Ostseite des Titicaca-Sees, und Pucará, etwa 100 km vom heutigen Puno entfernt. Chiripa Die Anfänge des Reiches werden auf 1350 v. Chr. angesetzt, sein Ende auf 100 n. Chr. Um 1000 v. Chr. wurde mit dem Bau einer terrassierten Plattform begonnen, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem monumentalen Bauwerk entwickelte. Auf der obersten Stufe befand sich ein halbunterirdischer oder vertiefter Hof (so die Übersetzung des spanischen „semisubterranea“), der auf allen Seiten von 16 regelmässigen, zum Hof hin offenen Räumen umgeben war. Typisch waren bei derartigen Zeremonialbauten die Verwendung monolithischer Blöcke und der vertiefte Einbau von Höfen. Beides wurde später von Tiahuanaco übernommen. Die heute noch zu sehenden Überreste sind allerdings höchst bescheiden und warten noch auf die wissenschaftliche Bearbeitung. Eine bessere Vorstellung vom Tempelbau dieser Frühzeit gewährt uns der Tempel von Chisi, in einiger Entfernung von Chiripa, der ebenfalls halb in die Erde eingegraben ist und dessen Aussenmauern durch Monolithe abgestützt sind. Ein Pfeiler am Eingang zeigt eine menschliche Figur in Hochrelief, eines der ältesten Zeugnisse der Chiripa-Kultur. Die Verwendung von Monolithen zur Abstützung des Mauerwerks wird ein Jahrtausend später ein typisches Merkmal von Tiahuanaco sein. In Chiripa treffen wir auch erstmals auf die vorhin erwähnten Hochbeete, die camellones oder waru-waru. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 6 / 21 Pukará Ungefähr zu gleicher Zeit wie Chiripa, 250 v.Chr. bis 380 n.Chr., entwickelte sich Pukará zum wichtigsten religiösen und administrativen Zentrum des Altiplano. Es dehnte seinen Einflussbereich bis nach Cuzco im Norden, Arequipa im Westen und bis nach Bolivien aus. Auch hier treffen wir auf eine Agrikultur mit Hochbeeten. Von Interesse ist das Auftauchen des Stabgottes und des Raubtiergottes in der PukaráKultur. Das deutet auf eine Übernahme von Traditionen aus Chavín hin, einer Mutterkultur Perus, wo der Stabgott heimisch war. Der Stabgott ist später als Erbe auch von Tiahuanaco aufgenommen worden. Pukará dürfte dabei die Vermittlerrolle gespielt haben. 2.2 Tiahuanaco Um Christi Geburt bahnt sich eine Ablösung und Verlagerung der regionalen Mächte von Chiripa und Pukará nach dem 20 km südlich von Chiripa und vom Titicaca-See gelegenen Tiahuanaco an. Der Name lässt zwei Übersetzungen zu: „Volk der Söhne der Sonne“ oder „Vertrocknetes Ufer“. Letztere könnte darauf hindeuten, dass der Seespiegel einst 35 m höher lag und bis Tiahuanaco reichte, wo man auch einige Mauern als Überreste von Hafenanlagen deutet. Seinen Aufstieg zum ersten echten andinen Imperium verdankte Tiahuanaco einem intensiven Ackerbau auf den Ackerbauterrassen, den andenes, und auf den Hochbeeten, waru-waru, den Bewässerungsanlagen mit den künstlichen Lagunen, den cochas, aber auch der Entwicklung der Llama- und Alpaca-Zucht. Als Ergebnis seiner Expansion beherrschte es die südliche Hochebene des Altiplano, die Südküste Perus und Nordküste Chiles sowie einen grösseren Teil Boliviens bis zum nordwestlichen Argentinien. Wirtschaftlich wertvoll waren dabei besonders die Gebiete zwischen der Hauptstadt und dem Pazifik, die auf einer Höhenskala zwischen 0 und 3800 m lagen und deren Mikroklimata es nun gestatteten, Nahrungsmittel zu produzieren, die auf dem Altiplano nicht möglich waren: u.a. Mais, Baumwolle und auch Coca. In diesen Gebieten wurden zur Sicherung eigentliche Kolonien mit administrativen Zentren angelegt und mit Leuten aus dem Altiplano besiedelt. Damit schuf nun Tiahuanaco Verbindungen zwischen der Küste, dem Altiplano und der AmazonasSeite der Anden. Voraussetzung dazu war die Errichtung eines engmaschigen Strassennetzes, das später von den Inkas übernommen und dann fälschlicherweise auch ihnen zugeschrieben wurde. Bemerkenswert ist, dass die Ausdehnung des Reiches nicht mit militärischen Mitteln erfolgte, sondern durch die Ausstrahlung, Ausbreitung und Durchsetzung einer neuen Kultur, die sich auf friedliche Weise auf die lokalen Kulturen überlagerte, insbesondere aber durch den neuen Glauben, der sich in Tiahuanaco entwickelt hatte: den Kult des Stabträger-Gottes, der die Stadt in ein Zeremonialzentrum und einen Wallfahrtsort verwandelte, wo Götter zuhause waren. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 7 / 21 Die neue religiöse Ideologie formte auch die Sozialstruktur von Stadt und Reich, mit der Elite der Priesterschaft an der Spitze. Indirekt gestützt wurde Tianhuanaco durch das Reich der Huari, ein anderes neues Grossreich, das sich von Moquegua bis zum Lambayequetal und bis Cuzco erstreckte. Die Huari hatten Religion und Kultur von Tiahuanaco ebenfalls übernommen. Zwischen den beiden Reichen bestand ein konstantes politisches Gleichgewicht, das sich auch in der gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Herrschaftsgebiete äusserte. Der Niedergang der beiden Reiche nach 1000 n. Chr. wird mit Dürreperioden in Zusammenhang gebracht, die den Zusammenbruch der Landwirtschaft und einen Bevölkerungsrückgang zur Folge hatten, möglicherweise auch gleichzeitig mit Volksaufständen gegen die herrschende Klasse. Um 1300 wurde die Stadt Tiahuanaco endgültig aufgegeben. Die Baudenkmäler in Tiahuanaco Noch heute beeindrucken die baulichen Überreste, die uns erhalten geblieben sind. Selbst der brutale Raubbau, der an den Baudenkmälern betrieben wurde, vermag deren Eindrücklichkeit nicht zu schmälern. Unzählige der exakt behauenen Blöcke aus Andesit, einem vulkanischen Andengestein wurden von der Pyramide abgetragen und für den Bau der Kathedrale im 70 km entfernten La Paz sowie für die Ortskirche und für den Unterbau der Eisenbahn verwendet. Und die oberste Stufe der Pyramide wurde durch die Spanier bei der Schatzsuche erheblich beschädigt und verunstaltet. Das archäologisch sorgfältig bearbeitete Zeremonialzentrum belegt eine Fläche von 450 x 1000 m. Dominierendes Monument ist die Akapana-Pyramide, „der Ort, wo man sieht“, mit einer Grundfläche von 180 x 135 m und einer Höhe von 18 m., wobei ein natürlicher Hügel als Kern diente. Stützmauern formten 7 Plattformen. Auf der obersten stand ein in die Erde gebauter, semisubterraner Tempel. Zum Templete semisubterraneo am Fuss der Pyramide führen 7 Stufen hinunter. Sein Grundriss ist fast quadratisch, mit Seitenlängen um 26 m. 57 Monolithe aus rotem Sandstein stützen als Pfeiler die 7 m hohen Mauern, die 2 m tief in der Erde ruhen. Die Vertiefung dürfte auf den Anden-Dualismus zurückgehen: Jedes Gebäude sollte zur Harmonie der unter- und oberirdischen Welt beitragen. In die Mauern sind 175 Nagelköpfe eingefügt, cabezas clavas, die Menschen darstellen. Jeder Kopf ist individuell gearbeitet. Wir kennen die cabezas clavas bereits aus Chavín. Sie weisen möglicherweise auf die Enthauptung von Gefangenen und Opfern hin und auf die Köpfe, die als Trophäen dienten, die cabezas trofeos. In der Mitte des Tempels stehen drei Monolithe, darunter die Barbado-Stele, die grösste. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 8 / 21 Vom Templete semisubterraneo gelangt man über eine breite Treppenanlage und durch ein Tor in die Kalasasaya, wörtlich: „stehender Stein“, mit den Ausmassen 129 x 119 m. Sie ist auf allen vier Seiten ummauert mit roten, trapezförmigen, in den Boden gerammten Sandsteinblöcken, deren Zwischenräume mit Quadersteinen ausgefüllt sind. Im vertieft angelegten Innenhof steht der Monolith Ponce. In der Kalasasaya wie in den übrigen Bauten funktionierte ein perfektes Abwasser-System mit Haupt- und Nebenkanälen, die zum Fluss führten. Das Sonnentor, die Puerta del Sol Das Sonnentor – der Name ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – ist wohl die berühmteste Skulptur der Andenwelt. Es war Teil eines gedeckten Tempels, und sein jetziger Standort dürfte nicht der ursprüngliche sein. Das aus einem einzigen Block gehauene, 100 Tonnen schwere, aber entzweiebrochene Monument, das 1908 wieder aufgerichtet wurde, ist 3.84 m breit, 2.73 m hoch und 50 cm dick. Das Sonnentor ist berühmt wegen des Flachreliefs auf dem oberen Teil der Vorderseite, das streng geometrisch gegliedert ist. Es hat schon die verschiedensten Deutungen erfahren: eine religiöse, als Ackerbaukalender und als Darstellung symbolischer Tanzszenen. In der Mitte ragt die gedrungene Figur der zentralen, menschenähnlichen Hauptperson en face hervor. Sie steht auf einer gestuften Plattform, öffnet die Arme und hält zwei Zepter oder Stäbe in den Händen. Daher der Name Stabgott. Das Haupt ist von einer Kopfbedeckung eingefasst, von der strahlenförmig 19 Anhängsel ausgehen. Unter dem Kinn hängen 5 Metallscheiben. Das Kleid ist reich verziert, mit einem Gürtel und einer Brustplatte. Unter den Augen sind Punkte oder Ringe zu sehen, die als Tränen gedeutet worden sind. An den Seiten sind symmetrisch 48 kleine Figuren angeordnet, im Profil, jede mit einem Zepter in der Hand. Sie sind beidseits in 3 Reihen von je 8 Figuren unterteilt. Die Figuren der mittleren Reihe haben eine Kondormaske vor dem Gesicht, während diejenigen der oberen und unteren Reihe Gesichter mit menschlichen Zügen tragen. Der Künstler hat sie nach einem Grundmodell geschaffen. Alle tragen Kopfbedeckungen und reichen Schmuck und sind mit Flügeln und Schwänzen ausgestattet. – Unterhalb dieser Figuren schliesst der Fries mit einem Mäanderband, auf dem 15 kleine Köpfe en face alternieren. Neu ist das Skulptur-Schema. Die Figuren sind in ein rechtwinkliges Rastersystem eingeordnet, Darstellung und Formen sind geometrisiert. Diese Stilisierung der Motive wurde durch die Textilkunst beeinflusst, die ihrerseits Merkmale aus dem Bereich der Südküste übernahm. Eine eindeutige und allgemein anerkannte Interpretation des Frieses liegt bis heute noch nicht vor. Tiahuanaco wirft – wie häufig in der Archäologie – mehr Fragen auf, als dass es gesicherte Antworten zulässt. Die plausibelste Deutung ist die religiöse, die in der zentralen Figur eine Gottheit sieht, den Gott mit den Stäben, (den Schöpfergott Viracocha?), dem die knienden Personen huldigen. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 9 / 21 Der Gott mit den Stäben findet sich bereits 1000 Jahre früher in der Mutterkultur Perus von Chavín, am eindrücklichsten dargestellt in der Raimondi-Stele: einer Gestalt mit Raubkatzenzähnen, die stehend in jeder Hand einen langen Stab oder ein Zepter hält und die wahrscheinlich die Hauptgottheit des Neuen Tempels in Chavín darstellt. Dem Gott mit den Stäben sind wir auch in Pukará begegnet und nun also in Tiahuanaco, wo ihm allerdings die Raubkatzenzüge fehlen. Das zeigt, dass Traditionen, die von Chavín ausgingen, über Jahrhunderte hinweg in anderen Kulturen weiterlebten. Der ausserhalb des Zeremonialzentrums gelegene Bereich von Puma Punku mit einer Grundfläche von 155 x 122 m, gehört zu den wichtigsten Monumenten von Tiahuanaco. Die drei Plattformen sind stark beschädigt. Riesige, bis 6 m grosse, mörtellos gefügte Steinblöcke, perfekt behauen und geglättet, sind hier anzutreffen. Hoch interessant ist die Verwendung von Bronce-Klammern zur Fixierung von Blöcken. Mit allen diesen Techniken hat Tiahuanaco die Baukunst der Inkas entscheidend beeinflusst. Nicht zu übersehen sind in Tiahuanaco die mächtigen, freistehenden Monolithe, die wie riesige Steinnadeln aus der Erde aufragen. Ihre Vorbilder stehen in Chiripa und Pukará, und auch die Stelen in Chavín (Raimondi) wären bereits dazu zu rechnen. El Ponce, 3 m hoch, trägt eine Kopfbedeckung, Maske, Ohrringe, Gürtelschärpe, Armbänder (an den Handgelenken und Fussknöcheln) und eine von kreisförmigen Sinnbildern geschmückte Hose. Seine Arme liegen rechtwinklig am Körper an. Die rechte Hand umschliesst offensichtlich ein Zeremonialmesser, die linke drückt einen kero, einen Becher, gegen die Brust. Die Gesichtszüge sind streng und grob. Die Beschaffung des Steinmaterials gibt noch heute Rätsel auf. An Ort war kein brauchbares Gestein vorhanden. Das Material musste aus Steinbrüchen in mehr als 30 km Entfernung herbeigeschafft werden, die Andesit-Blöcke 60 km weit von der Halbinsel Copacabana, zuerst auf dem See-, dann auf dem Landweg. 2.3 Die Nachfolge-Reiche von Tiahuanaco Nach dem Niedergang von Tiahuanaco entstanden neue Machtbereiche. Auf dem Altiplano waren es Colla und Lupaca, beide auf der Westseite des Titicaca-Sees, von wo aus sie sich weiter ausdehnten: Lupaca Richtung Pazifik. Die beiden Mächte hatten eine gemeinsame Sprache, das Aymará, aber auch die gleiche Siedlungsweise, Agrartechnologie und den Glauben an den Sonnengott und an die Gottheit des Sees, bei der es sich möglicherweise um den Stabgott von Tiahuanaco handelt. 2.3.1 Lupaca Wichtigstes Fürstentum im Altiplano wurde Lupaca, dessen wirtschaftliche Stärke auf der Viehzucht beruhte. Der Hauptort war Chucuito am Titicaca-See, 20 km von Puno entfernt, der den Besucher mit einem Zeremonialzentrum überrascht, das mit seinen Phallos der Fruchtbarkeit gewidmet war, was freilich einige Forscher bestreiten. Sie deuten es als astronomisches, astrologisches Zentrum und die einzelnen Steine als Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 10 / 21 Darstellung einer Bergkuppe mit zwei Erhebungen und Zeremonialzentren: die eine, die untere, als Bereich der Agrikultur, die männliche Domäne, die höhere als Symbol der Hirtentätigkeit, den Bereich der Frauen. Das erinnert an den Dualismus der zwei Hügel auf der Insel Amantaní. Die Aufstellung der Phallos ist erst in späterer Zeit vorgenommen worden. Der Charakter als Stätte der Fruchtbarkeit ist aber noch immer im Volk verankert; das beweisen die Besuche kinderloser Frauen, die am Fusse des grossen Phallos ihren Kinderwunsch gebetsweise anbringen. 2.3.2 Colla Hauptort des Reichs Colla ist Hatun Colla. Bekannter ist aber die Nekropolis, Sillustani, mit ihren Grabtürmen, den Chullpas, die grösstenteils noch aus der Zeit vor der Eroberung durch die Inkas stammen, d.h. aus dem 12. – 15. Jahrhundert. Es ist aber erwiesen, dass dann auch die Inkas einige Chullpas errichtet haben. Sillustani ist 30 km von Puno entfernt und liegt auf einer felsigen Halbinsel, die in den UmayoSee hineinragt, also nicht am Titicaca-See selbst. Hier drängen sich auf einer kleinen Fläche circa 150 Grabtürme zusammen. Die Chullpas sind meistens rund, seltener quadratisch, ihr Umfang vergrössert sich in der Regel nach oben. Die grösste, die Lagarto, ist 12 m hoch, mit einem Durchmesser unten von 7.20 m und oben von 7.60 m. Ihr Innenraum besteht aus mehreren übereinander liegenden Grabkammern, die an den Wänden mit Nischen ausgestattet waren. Eine kleine, enge Öffnung ermöglichte den Zugang. Die Toten wurden in Säcken aus Pflanzenfasern, den fardos, die nur das Gesicht frei liessen, aufrecht, in Hockerstellung, in den Nischen beigesetzt. In der Literatur findet sich der Hinweis, dass alljährlich die Toten aus den Chullpas herausgeholt und in einer Prozession herumgetragen worden seien, auch vor ihre Häuser, wo sie sich über deren Zustand und den ihrer Familie ins Bild setzen konnten: eine makabre Disziplinierungsmassnahme für die Nachkommen. Auch bei Zweifeln an diesem Brauch darf doch daran erinnert werden, dass auch in Cuzco an Festen die Mumienbündel der verstorbenen Inka-Herrscher aus der Coricancha, dem Sonnentempel der Inkas in Cuzco, herausgeholt und in feierlicher Prozession durch die Hauptstadt getragen wurden. Rätsel geben in Sillustani noch die in der Nähe der Grabtürme gelegenen Steinkreise mit einem Durchmesser von 15½ m auf. Handelt es sich um Kultplätze für den Sonnenkult, dienten sie astronomischen Zwecken, oder soll man an Plätze der Meditation denken? 2.3.3 Mollo Eine weitere Kultur, die im Gefolge der Wanderbewegungen nach dem Untergang von Tiahuanaco entstand, war diejenige der Mollo. Sie entwickelte sich bis zum Eindringen der Inkas, 1485, auf der Ostseite des Titicaca-Sees, im heutigen Bolivien, in den gebirgigen Quertälern der Anden auf Höhen zwischen 1200 und 3700 m. Die stadtartigen Siedlungen, ohne Tempel oder Heiligtümer, waren an strategischen Stellen, auf Terrassen an steilen Hängen errichtet, durch Stützmauern gesichert, zur Verteidigung gegen das Eindringen von Stämmen aus der Selva, dem Urwaldbereich. Sie waren umgeben von Hunderten von Andenes (Ackerbau-Terrassen) an unzu- Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 11 / 21 gänglich erscheinenden Orten, künstlich bewässert mit Hilfe von Aquädukten und kilometerlangen Kanälen. Die Bewohner pflanzten in mühsamer Feldarbeit Mais, Yuka (ein Knollengemüse), Tomaten, Calabazas (Kürbisse), Bohnen und Erdnüsse und nährten sich zusätzlich vom Fleisch der Llamas und Alpacas, von Meerschweinchen und von Fischen. Die repräsentativste Siedlung ist Iskanwaya, auf 1672 m Höhe, an einem steilen Hang, im Tal des Río Llika. Die Entfernung von La Paz, von wo aus wir die Exkursion unternommen haben, beträgt 325 km. Wir fahren zuerst dem Titicaca-See entlang, wo wir den Überresten kegelförmiger Hütten der Umasuyos begegnen, die zum Volk der Colla gehörten. Auf schlechten Schotterstrassen ins gebirgige Hinterland treffen wir zuerst auf einen Markt, später auf eine Bus-Haltestelle im Freien, auf 4000 m Höhe. Nach 9 Stunden erreichen wir Aucapata „Höhe des Teufels“, ein entvölkertes Dorf, das noch 200 Einwohner zählt. Vor 60 Jahren waren es noch 1700. Ein paar hundert Familien sind nach La Paz, der Hauptstadt Boliviens, ausgewandert. In Aucapata bietet uns ein grösseres Haus bescheidene, aber saubere Übernachtungsmöglichkeiten, und eine private Küche, die sich als Restaurant ausgibt, verpflegt uns mit einem währschaften Nachtessen. Die Ruinen von Iskanwaya sind anderntags von der Höhe aus gut überblickbar. Ausgegraben und gesäubert sind erst 11 von insgesamt 95 Häuserreihen, also rund 1/10. Sie sind jeweils um einen zentralen trapezförmigen Hof angelegt. Auch der Grundriss der Häuser ist trapezförmig. Sie sind zweiteilig, mit einem zum Hof hin offenen Vorraum und einem abgeschlossenen Wohnraum dahinter, zu dem man durch eine trapezförmige Öffnung, eine Art Fenster, offensichtlich eine Schutzvorrichtung, gelangt. Die Mauern sind mit Lehm verputzt und ockerrot bemalt. Die Häuser waren überdeckt mit einem stark geneigten Satteldach aus Stämmen und Zweigen und mit Stroh gedeckt. Unter dem Vorraum befand sich ein kleiner Kellerraum. Die Wohnbauten weisen keine wesentlichen Unterschiede auf, eine soziale Abstufung ist nicht erkennbar. Die ab 1450 einsetzende Invasion der Inkas führte zum Niedergang der Mollo, die durch die Eroberer zerstreut wurden. Aber die Inkas übernahmen von den Mollos die Trapezform als geometrisches und konstruktives Element. Die hundert Jahre später eindringenden Spanier liessen die Anbauterrasse veröden. Die Bevölkerung, die ursprünglich 2500 – 3000 Einwohner gezählt haben dürfte, wurde umgesiedelt, zum grossen Teil nach Potosí, wo sie in den Silberminen des Cerro Rico ein trauriges Schicksal erwartete. 2.4 Die Inkas Im 15. Jahrhundert treten nun erstmals die Inkas im Gebiet rund um den TiticacaSee auf den Plan, wie wir bereits bei der Unterwerfung der Mollo gehört haben. Das Reich der Colla wird dabei als das Teilreich Collasuyu in das Inka-Imperium „Tahuantinsuyu“, das Reich der vier Teile, eingegliedert. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 12 / 21 Die Inkas haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, und die spanischen Chronisten, die über das Inka-Reich berichten, stützen sich auf mündliche Überlieferungen. Ein bei den andinischen Völkern verwurzelter Glaube spricht von einer grossen Überschwemmung, die von einer dichten Finsternis begleitet gewesen sei. Es ist dies die Zeit der Chamacpacha (Zeit der Finsternis). Sonne und Mond hätten sich in dieser Zeit vor der Überschwemmung in zwei Höhlen im Heiligen Felsen (der Roca sagrada) im Norden der Sonneninsel geflüchtet. Nach der Überschwemmung habe sich die Sonne triumphierend zum Himmel emporgehoben, wobei sie gigantische Fussspuren hinterlassen habe, die dem gläubigen Besucher noch heute gezeigt werden. Hier setzt die Entstehungsgeschichte ein: Der Schöpfergott Viracocha, nach einer anderen Version der Sonnengott, traurig darüber, dass die Menschen so kulturlos lebten, habe seinen Sohn Manco Cápac und seine Tochter Ocllo aus dem TiticacaSee an Land steigen, d.h. die Erde betreten lassen, versehen mit einem goldenen Stab und mit dem Auftrag, sich dort niederzulassen, wo der Stab tief in die Erde versinke, und alsdann die Menschen zu kultivieren. In der Umgebung von Cuzco zeigte ihnen der Stab, wo sie sich niederlassen und das Inka-Reich schaffen sollten. Die Gründung des Inka-Reiches wird so mit der Sonneninsel, d.h. dem Reich Tiahuanaco, in Beziehung gebracht, was einige Archäologen als historisch möglich bezeichnen. Kehren wir wieder zu den geschichtlichen Tatsachen zurück: Mit der Unterwerfung der Colla 1445-1450 und der Lupaca übernahmen die Inkas auch die kulturellen Errungenschaften der Völker am Titicaca-See, ihrer Vorgänger: die AckerbauTerrassen (andenes), die Hochbeete (camellones, waru-waru), die BewässerungsLagunen (cochas), das Strassennetz, die Kunst der Steinbearbeitung und die Verwendung grosser Blöcke sowie das geometrische Muster des Trapezes. Zu ihrem Herrschaftsbereich gehörten nun auch die Sonnen- und die Mondinsel, die für sie als heilige Inseln galten. Die Sonneninsel verwandelten sie durch umfangreiche Terrassierungen in einen riesigen Garten, von dem aber heute kaum mehr etwas zu sehen ist. Alljährlich pilgerte der Inka zur Sonneninsel, die damals noch Titicaca hiess und wo heute noch bescheidene Überreste an die Präsenz der Inkas erinnern. Der Palast von Pachacutec, Pilcocaina, im Süden der Insel, war zweistöckig, die Hauptfassade streng symmetrisch, mit trapezförmigen Nischen neben den eigentlichen Türen. Rätselhaft ist ein weiträumiger Baukomplex, Chincana, im Norden der Insel, mit einer verwirrenden Zahl von Gängen, die in Räume führen, von denen weitere Korridore ausgehen, so dass man hier von einem eigentlichen Labyrinth sprechen kann. Die Zweckbestimmung ist unbekannt. Auf der bedeutend kleineren Mondinsel, Coati, befand sich das Acllahuasi, das Haus der auserwählten Sonnenjungfrauen, das von einer Schwester des Inka geleitet wurde, eine U-förmige Anlage um einen rechteckigen Hof. Hier arbeiteten junge Frauen in klösterlicher Abgeschiedenheit für den Inka und das Reich. Sie stellten Gewänder, Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 13 / 21 Getränke und Speisen für die Rituale her, und sie pflanzten die heiligen Maissamen an, deren Ernte alljährlich an alle Heiligtümer des Landes verteilt wurde. 2.5 Die Kolonialzeit Die Eroberung Perus und Boliviens durch die Spanier, die Conquista, nach 1532, brachte für das Land, und für die Bevölkerung des Altiplano im Speziellen, die unter den Inkas nie eine Hungersnot erlebt hatten, eine tiefgreifende Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Spanier, die in erster Linie an der Ausbeutung der Goldund Silberminen interessiert waren und einen grossen Teil der Landbevölkerung von der Feldarbeit weg in die Minen beorderten, zerstörten damit das bestehende sinnvolle Öko-System. Die Anbauterrassen, die andenes, hatten die Bodenerosion, die kontrollierte Tierhaltung die Überweidung verhindert. Die Wälder waren geschützt gewesen. Unter den Spaniern verwahrlosten Anbauterrassen, Hochbeete und Bewässerungskanäle. Und je mehr die schützenden Wälder und Pflanzen verschwanden, desto schneller wurde der karge Humus-Mantel verweht oder weggewaschen. Das Land verödete. Die Gemeinschaftsarbeit der Indígenas zerfiel. Auch der militärische Sieg von 1824 über die Kolonialherren und die darauf folgende Unabhängigkeit änderten wenig an den Lebensbedingungen der Eingeborenen. Der konstituierende Kongress in Lima versprach „den edlen Söhnen der Sonne“ zwar, sie seien die erste Sorge der Versammelten. Man arbeite daran, sie sofort glücklich zu machen. Die neuen Herren waren die Nachkommen der eingewanderten und sesshaft gewordenen Spanier, die Kreolen, die während der Kolonialzeit zu grossem Landbesitz gelangt waren und die als europäisch-amerikanisch gefärbte Oberschicht weder ein soziales noch ein kulturelles Verständnis für die Indígenas hatten. Die Grossgrundbesitzer blieben die feudalen Herrscher auf dem Land, und die Indígenas blieben faktisch Leibeigene. Sie waren bis ins 20. Jahrhundert von der Politik ausgeschlossen. Damit setzte sich der jahrhundertelange Prozess der Entwurzelung, Ausbeutung, Entrechtung sowie kollektiver und individueller Demütigung fort, der klare Züge von Rassismus aufwies. Indígena sein bedeutete andersartig, minderwertig, ausgegrenzt sein aus der kolonialen und später aus der nationalen Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die politische Entwicklung in Peru und Bolivien zeitweise chaotisch verlief. Bolivien erlebte seit der Unabhängigkeit nach 1824 über 60 Revolutionen, 70 Staatspräsidenten und 11 verschiedene Verfassungen. In Peru beendeten von den 102 Regierenden nur 16 ihre Amtszeit regulär. So ist es denn auch verständlich, dass die Indígenas am meisten unter der Rechtlosigkeit, Armut und Korruption litten. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts scheint sich nun allerdings eine Wende abzuzeichnen. In Peru und Bolivien kamen Präsidenten aus den Reihen der Indígenas an die Macht: in Peru Toledo, in Bolivien Evo Morales, ein Aymará, ursprünglich Anführer der Coca-Pflanzer, der mit der Verfassung vom Januar 2009 eine erhebliche rechtliche und kulturelle Besserstellung der Indígenas durchsetzte und dem man nur wünschen kann, dass er sich durch die überwiegende Bestätigung in seinem Amt Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 14 / 21 nicht zu autoritären Tendenzen verleiten lasse. Bolivien ist nach wie vor das ärmste Land Südamerikas, zwei Drittel seiner Bevölkerung leben in Armut, und im SalpeterKrieg 1879 hat das Land noch seine Küstenprovinz und damit den Zugang zum Meer verloren. Wenden wir uns nun in einem letzten Kapitel den Menschen, den Indígenas zu, die das Hochland bewohnen. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 3. 15 / 21 DIE BEWOHNER DES ALTIPLANO Rund 2 Millionen Menschen leben in den beiden Departementen, die den TiticacaSee und den Altiplano umschliessen, die Städte La Paz (1.5 Millionen) und Puno (über 100'000) nicht miteingerechnet: 1.2 Millionen sind es auf peruanischer und 800'000 auf bolivianischer Seite. In beiden Departementen beträgt der Anteil der Indígenas ca. 60%. Die ausserhalb grösserer Ortschaften lebenden Hochlandbewohner (in der Schweiz würden wir von Bergbauern sprechen) wohnen in einfachen, selbstgebauten Hütten aus Adobes, luftgetrockneten Ziegeln. Das Dach ist mit dem zähen Ichu-Gras, mit Stroh oder – eine anspruchsvollere Lösung – mit Wellblech gedeckt. Der Innenraum mit einem kleinen Fenster und mit dem Boden aus gestampftem Lehm hat in der Regel die Ausmasse von ca. 6 x 4 m und dient als Wohnraum, Küche, Schlafraum und gleichzeitig als Vorratskammer. Allenfalls bietet er auch noch einem Llama Unterschlupf. Möbel fehlen meistens. Über Elektrizität, Telefon und Wasserversorgung verfügen nur die paar Städte und grösseren Ortschaften. Und selbst hier fehlen sie häufig. Viele Häuser sind oft nur dürftig oder erst provisorisch gebaut, die meisten unverputzt. Auch hier, in den Städten, finden sich noch viele Behausungen – von Wohnungen zu sprechen, verbietet sich – in denen grössere Familien in einem einzigen kleinen Raum zusammengepfercht leben müssen. Heizungen fehlen allgemein in Wohnhäusern und Büros, wo die Angestellten in den kalten Monaten in ihren Wintermänteln arbeiten. Hotels stellen heute kleine Elektro-Öfen zur Verfügung. Die Bewohner beider Departemente, die ihrerseits zu den ärmsten ihrer Länder gehören, sind mehrheitlich sehr arm; auf peruanischer und bolivianischer Seite sind es zwei Drittel der Bevölkerung. Aber auch in den Städten und grösseren Ortschaften sind viele Männer gezwungen, noch einem zweiten Beruf nachzugehen. Und so kann man Lehrern und Polizisten auch als Taxifahrern begegnen. Oder sie sichern sich das Existenzminimum mit einer kleinen Parzelle zum Gemüseanbau ausserhalb des Ortes. Die Familien sind in der Regel mit zahlreichen Kindern gesegnet, die auf dem Lande ihre Schulpflicht oft nicht erfüllen können und vorzeitig zur Mitarbeit auf dem Felde oder – die Mädchen – zum Viehhüten benötigt werden. Entsprechend hoch ist die Zahl der Analphabeten: durchschnittlich 19%; bei den Mädchen, für die die Schulbildung offenbar als weniger lebensnotwendig eingestuft wird, ist sie noch einiges höher als bei den Knaben. Die Landflucht, die häufig noch durch Erbteilungen verschärft wird, bereitet weiterhin Sorgen, weil die Flucht in die Stadt die sozialen Probleme nicht löst, sondern eher noch verschlimmert, wenn man an die trostlosen Armenviertel in Lima und La Paz denkt. Der Ackerbau wird zum Teil noch wie zu Zeiten der Inkas betrieben: mit dem Spaten (tailla), dem Holzpflug und mit Ochsengespannen. Maschinen fehlen weitgehend, aus Kostengründen oder weil die topographischen Verhältnisse es nicht zulassen. Mit der Agrar-Reform von 1953 gelangten nun viele Indigenas erstmals in den Besitz von Land, das die Hacienda-Besitzer abtreten mussten. Es entstanden auch genossenschaftlich organisierte Dorfgemeinschaften. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 16 / 21 Angepflanzt werden Quinua, ein stark proteinhaltiges Berggetreide, das heute auch Eingang in unsere Lebensmittelgeschäfte gefunden hat. Das Departement Puno produziert 31'000 Tonnen Quinua, das sind 80% der Landesproduktion von Peru. Die Kartoffelernte beläuft sich auf ½ Million Tonnen. Ein Teil der Kartoffelproduktion wird dehydriert, d.h. wechselweise der Kälte und der Sonnenwärme ausgesetzt und ihr so das Wasser entzogen: eine Prozedur wie zu Zeiten der Inkas, die die Kartoffeln lange haltbar macht. – Die Region um den Titicaca-See soll das Ursprungsgebiet des Kartoffelanbaus sein. Auf den Märkten findet unter den Indígenas noch immer Tauschhandel, ohne Geld, statt. Erhalten haben sich auch die Gemeinschaftsarbeiten wie die Instandstellung der Bewässerungskanäle. Auch privat leisten sich die Bewohner gegenseitig Hilfe etwa beim Bau eines Hauses. Weiden werden meist kommunal bewirtschaftet. Von den 7-8 Millionen hockerlosen Kleinkamelen Südamerikas leben 90% in den Anden Perus und Boliviens. Die Llamas und Alpacas gehören zu den ersten seit 5000 Jahren domestizierten Tieren. Beide stammen von den Guanacos ab, die heute vor allem noch in Patagonien heimisch sind. Die Llamas sind ein ideales Lasttier auf den Höhen des Altiplano von 4000 m. Sie vermögen 35 kg über eine Tagesstrecke von 30 km zu tragen, verlieren aber mit zunehmender Motorisierung an Bedeutung. Ihre Wolle ist nicht so wertvoll wie die der Alpacas. Das Departement Puno liefert mit 2600 Tonnen Alpaca-Wolle den grössten Anteil, 60%, an der gesamten Produktion des Landes. Die Qualität der Alpaca-Wolle übertrifft fast alle Schafwoll-Sorten. Die zierlicheren Vicuñas, die lange von der Ausrottung bedroht waren, sind heute wieder mit 150'000 Tieren in den Anden vertreten, oberhalb der Baum- und unterhalb der Schneegrenze. Peru hat zwei grosse Reservate geschaffen. Die Vicuña-Wolle ist die feinste und teuerste der Welt. Schon im Inka-Reich war sie dem Inka und seinen höchsten Würdenträgern vorbehalten. Heute unterliegt der Handel mit Vicuña-Wolle strengsten Vorschriften. Die Schur im April ergibt nur etwa 200 g pro Tier. Nicht unerwähnt bleiben darf der Anbau und der Konsum von Coca. Wenn Sie nach dem Flug von Lima nach Cuzco oder nach Juliaca innerhalb von 1½ Stunden den enormen Höhenunterschied von 3500 bzw. 3800 m überwunden haben, wird Ihnen das Hotel zum Empfang eine Tasse Coca-Tee offerieren, ein gesundheitlich völlig unbedenkliches Mittel gegen die gefürchtete Höhenkrankheit Soroche. Auf der Heimreise werden Sie aber darauf verzichten müssen, einen Beutel getrockneter Coca-Blätter mit nach Hause zu nehmen. Der Zoll stellt die Einfuhr unter Strafe, weil Sie damit gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen. Die Bewohner der Anden konsumieren Coca als nährstoffreiches Lebensmittel, das eine Reihe von Spurenelementen, Mineralstoffen und Vitaminen enthält. Es dient ihnen zur Dämpfung der Hungergefühle und zur leistungsfördernden Stimulierung und gehört so zu den Überlebensstrategien insbesondere der Minenarbeiter. Für die Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 17 / 21 Anden-Bewohner ist Coca jedoch noch mehr: Es ist eine mystische Pflanze, die seit Jahrhunderten zur Heilung physischer und psychischer Krankheiten verwendet wird. Und Schamanen lesen aus Coca-Blättern die Zukunft. Für Evo Morales, den Staatspräsidenten Boliviens, beruht der Konsum von CocaBlättern für die Bewohner der extrem hoch gelegenen Regionen auf einer physiologichen Notwendigkeit. Er sagt Ja zu Coca, aber Nein zu Kokain. Die Coca-Blätter, eines Strauchs der Storchenschnabelpflanzen, der bis 5 m hoch wird und leicht anzubauen ist, können jährlich bis viermal geerntet werden. Sie werden im Andenraum seit mehreren Jahrtausenden konsumiert: von der Priester-Elite in Tiahuanaco ebenso wie von den Inkas, wo die Coca-Pflanzungen Staatseigentum des Inka und seiner Würdenträger waren. Coca wurde aber bei den Inkas auch an die Truppen als Stimulans bei langen Märschen und am Vorabend einer Schlacht abgegeben. Die europäischen Kolonialherren wussten mit Coca nichts anzufangen, es entsprach nicht dem europäischen Geschmack. Die Spanier versuchten zuerst den Anbau und Konsum der „Teufelsblätter“ zu verbieten, erfolglos. Sie entdeckten dann aber doch einen wirtschaftlichen Vorteil darin, dass mit Coca die Leistungsfähigkeit, d.h. die Ausbeutung der Minenarbeiter gesteigert werden konnte, weil Coca Hunger und Erschöpfung verdrängte. So wurde der Coca-Anbau für die Gutsbesitzer doch noch zu einem lukrativen Geschäft, auch für die Krone und die Kirche. Coca ist nicht Kokain Die Herstellung von Kokain, des gefährlichen Suchtmittels, entwickelte sich nach 1860 und schuf eine neue Situation. Zur Herstellung von 5 kg Kokain sind 1 Tonne Coca-Blätter erforderlich. Die getrockneten Coca-Blätter werden von den pisaderos zusammen mit den notwendigen Chemikalien mit blossen Füssen zur Kokain-Basis-Paste zusammengestampft, die dann zu Kokain raffiniert wird. Die Bekämpfung der Droge am Ort der Entstehung war bisher erfolglos und scheint hoffnungslos zu sein. Die Anbaufläche bleibt allen Eindämmungsbemühungen und Ausmerzaktionen zum Trotz stabil. Für 1 kg getrockneter Blätter werden Höchstpreise von 3-5 $ pro kg bezahlt. Die Ware wird in den Dörfern abgeholt und – was wichtig ist - bar bezahlt. Von den alternativen Pflanzungen, die von den Regierungen gefördert werden: Kartoffeln, Kaffee, Kakao oder Ölpalmen, verhilft keine zu vergleichbaren Einkünften. Die grossen Gewinne kassieren jedoch die Zwischenhändler und die Kokain-Maffia, was den Gegensatz zwischen Reich und Arm noch weiter verschärft und bis in die Politik hineinspielt. Justiz und Polizei scheinen diesen Machenschaften machtlos gegenüberzustehen. Oft sind sie selber in die Aktivitäten des Untergrundes verwickelt, in Schmuggel und Bestechung. „Korruption“ – so hat sich ein Präsidentschaftskandidat in Peru geäussert – „ist die stabilste Institution des Landes“, Ende Zitat. Sie ist nicht zu entschuldigen, so wenig wie die Kriminalität, die vor allem in den Städten des Landes grassiert. Aber für leichte Formen der Korruption kann man ein gewisses Verständnis aufbringen, weil oft bittere Not und nicht moralische Verwerflichkeit die Ursache illegaler Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 18 / 21 Handlungen ist. So etwa, wenn etwa ein Polizist eine völlig illegale Gebühr für das Befahren einer Nebenstrasse erhebt oder sich eine Verkehrsbusse mit einigen Scheinen in die eigene Tasche abkaufen lässt. Polizisten sind, wie übrigens auch die Lehrer, sehr schlecht bezahlt. Fehlender Schutz durch den Staat zwingt die Indígenas oft zur Selbsthilfe, etwa mit Bauernpatrouillen (rondas campesinas) gegen Viehdiebe. Oder wie auf einer der Inseln, wo ein junger Macho, der einem Mädchen Gewalt angetan hatte, eines Morgens tot vor seinem Haus aufgefunden wurde. Niemand wusste etwas von einem Täter, das ganze Dorf hielt dicht, niemand konnte bestraft werden. Der Dorfpolizist hatte nicht den Mut gehabt, gegen den jungen Macho, Sohn einflussreicher Eltern, vorzugehen. In diesem Zusammenhang interessieren auch zivilrechtliche Fragen. Mann und Frau gelten nach Verfassung in beiden Ländern als gleichberechtigt. Sie haben, gegen den Widerstand der Kirche, ein Recht auf eine Zivilehe und auf Scheidung. Die Frau verrichtet die Hausarbeit im engeren Sinn, muss aber meistens auch bei den Feldarbeiten mithelfen: bei Aussaat und Ernte, beim Viehhüten und beim Verkaufen auf dem Markt. Bei wiederholten Besuchen gewinnt man den Eindruck, dass die Frau erheblich mehr leistet als der Mann, zusätzlich zur Kinderschar, die sie zur Welt bringt und die sie als Kleinkinder, kunstvoll auf den Rücken gebunden, mit sich trägt. Dass sich unter den Männern auch zahlreiche Machos finden, ist leider unbestreitbar, was bereits auf die Erziehung zurückgeht, die die Knaben bevorzugt behandelt. So bedienen sich beispielsweise Ehefrau und Töchter beim Essen als letzte, nach dem Mann und den Söhnen. Die Hochland-Indígenas kennen als Besonderheit die Probe-Ehe (Sirvañacuy), zu der zwei Menschen zusammenziehen, um die Aussichten für eine lebenslange Bindung zu prüfen. Die Probe-Ehe kann bis drei Jahre dauern. Führt sie nicht zu einem positiven Ergebnis, so trennen sich die Partner wieder problemlos, ohne dass ihnen der geringste Makel der Trennung anhaftet, auch allenfalls zur Welt gekommene Kinder werden keineswegs als unehelich stigmatisiert. Nach der Darstellung all der harten Lebensbedingungen im Altiplano soll nun auch noch die Frage der Lebensaussichten zur Sprache kommen. Die Lebenserwartung im Departement Puno ist ansteigend, liegt aber noch 10 Jahre unter dem schweizerischen Durchschnitt. Sie betrug im Durchschnitt der letzten 5 Jahre 69,2 Jahre: 66,8 Jahre für die Männer und 71,7 Jahre für die Frauen. Auch hier ein Plus von 5 Jahren zugunsten der Frauen. Ein wichtiger Faktor ist die Kindersterblichkeit: Auf 1000 Lebendgeborene sterben auf peruanischer Seite 34 Kinder im ersten Lebensjahr, auf bolivianischer Seite sind es 56. Evo Morales, der Präsident Boliviens, hatte 6 Geschwister, von denen nur zwei überlebten. Das staatliche Gesundheitswesen liegt auf dem Lande, auf den abgelegenen Siedlungen noch im Argen. Ein Krankenschiff versucht vom See aus die kleinen Uferorte und deren Hinterland medizinisch zu versorgen. Bei Geburten sind mit Motorrädern ausgerüstete Hebammen im Einsatz. Aber grosses Vertrauen geniessen immer noch die Curanderos oder Schamanen, die durchweg über hervorragende Kenntnisse der Heilkräuter verfügen, die vom Vater auf den Sohn übergehen. Und sie behandeln die Krankheiten im Einvernehmen mit den alten Gottheiten. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 19 / 21 Unter den Schamanen – wir sprechen nur von den vertrauenswürdigen – sind die Callawayas auf der bolivianischen Seite des Sees besonders bekannt und erfreuen sich hoher Achtung im Volk. Sie finden auch zunehmend Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen. Sie wohnen in einer bergigen Provinz, in der 96 % der Bewohner in extremer Armut leben. Der Hauptort heisst Charazani mit ca. 300 Einwohnern. Die Existenz dieser Schamanen reicht bis in die Tiahuanaco-Zeit zurück. Die Praktiken der sogenannten „heidnischen Hexer“ vertrugen sich aber nicht mit dem Missionseifer der Spanier, was sie zur Flucht und Rückkehr in die entlegenen Gemeinden ihrer Herkunft zwang, wo sie weiterhin das Vertrauen der einheimischen Bevölkerung besassen. Ihre Zahl verringerte sich aber im 20. Jahrhundert bis auf 50. 1914 waren sie beim Bau des Panama-Kanals am Kampf gegen die Malaria beteiligt. Und noch heute begegnet man ihnen als Wanderärzten im übrigen Bolivien, in Peru und in den Nachbarstaaten, wo sie zu Fuss oder auf einem Esel unterwegs sind. Sie leben von freiwilligen Honoraren und von der Gastfreundschaft ihrer Patienten. Ein junger Callawaya kennt nach einer Lehrzeit von 8-10 Jahren etwa 600 Pflanzen, deren Heilkraft, die Anwendung, den Fundort, die Zeit des Pflückens und die Art, sie aufzubewahren. Die alternative Kräuter-Medizin wäre aber nicht denkbar ohne die Rituale und die Gebete zu den alten Gottheiten der Indígenas, insbesondere zu Pachamama, der Mutter Erde, aber auch zu den Achachilas, den beschützenden Geistern der Vorfahren, sowie den Apus, den Gottheiten auf den Bergen. Ihnen allen werden Opfer dargebracht: Esswaren, Tiere, Baumwolle und Coca. Die Callawayas werden nicht nur bei Verletzungen, und Krankheiten beigezogen, bei Todesfällen stehen sie den Hinterlassenen bei der Trauerarbeit bei. Die Behandlung gynäkologischer Leiden bleibt jedoch den Frauen vorbehalten. Die Methode der Callawayas beruht auf der ganzheitlichen Behandlung des kranken Menschen. Sie wirken gleichzeitig als Ärzte, Psychologen und Seelsorger. Es kommt auch vor, dass sie einem Klienten aus Coca-Blättern die Zukunft lesen. Sie erfreuen sich nach wie vor hoher Wertschätzung; ihr Eheleben gilt als vorbildlich, ebenso ihre Enthaltsamkeit von Alkohol. In vielen Provinzen Boliviens, die medizinisch nicht versorgt sind und wo die Versorgung mit westlicher Medizin unerschwinglich ist, sind sie die einzige und letzte medizinische Hilfe. Angeregt durch die Callawayas hat die Kräuter-Medizin auch in Peru einen grossen Aufschwung erlebt und wird nun auch auf wissenschaftlicher Basis betrieben, und das mit erheblichen finanziellen Einsparungen. Das Vertrauen der Indigenas in die Naturheiler ist Bestandteil der andinen Weltanschauung, die heute noch praktisch gleichberechtigt neben dem katholischen Glauben weiterlebt. Nach wie vor werden Pachamama, Mutter Erde, die Achachilas, die Geister der Vorfahren, und die Apus, die Berggötter, verehrt und mit Opfern wohlgesinnt erhalten. Ausbleibende oder übermässige Regenfälle deuten auf eine Störung des Verhältnisses zwischen Menschen und Gottheiten hin, die mit Opfern behoben Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 20 / 21 werden muss. Pachamama, die den Menschen Speise und Trank schenkt, muss auch eine Gegengabe erhalten, und so ist ihr der erste Schluck eines Getränks und das beste Coca-Blatt gewidmet. Mehr und mehr verschmilzt sie mit der Jungfrau Maria, ähnlich wie Santiago mit dem Donner- und Blitzgott Illapa. So verstehen die Indígenas die Religion in ihrem eigenen, von alten Traditionen geprägten Sinn. Der Klerus verhält sich gemässigt fortschrittlich tolerant und drückt bei heidnischen Praktiken oft beide Augen zu. 96% der Bewohner beider Länder sind katholisch. Die Missionierung der Heiden galt seinerzeit als Vorwand für die Suche nach Gold und Silber, die die Spanier zu ihren Expeditionen nach Peru und Bolivien trieb. Das bedeutendste Symbol der katholischen Kirche in Bolivien ist heute der Wallfahrtsort Copacabana, wo eine schwarze Madonna verehrt wird. Sie gilt als Beschützerin der Autofahrer, und so bilden sich dann häufig Schlangen von Lastwagen, Autobussen und Privatautos, die hier gesegnet werden wollen. Die Pflege alter Traditionen oder, wo sie bereits verloren gegangen waren, die Rückbesinnung darauf, und die Wiederbelebung alter Techniken fällt auch auf kulturellem Gebiet auf. Sie ist unübersehbar bei den Kleidern, die für den Eigenbedarf noch in vielen Familien nach alten Mustern selbst hergestellt werden, zum Teil noch auf den aus der Inka-Zeit überlieferten Web-Einrichtungen. So begegnen wir an Sonn- und Feiertagen Männern und Frauen in den typischen Gewändern ihrer Gegend (Trachten würden wir sagen), in denen starke Farben vorherrschen. Frauen tragen dabei bis 7 Röcke und Unterröcke und dazu Filzhüte, die es einem Kenner sogleich ermöglichen, sie einer bestimmten Ortschaft zuzuordnen. Vielerorts geben die Hutbänder auch Auskunft über den Zivilstand der Trägerin, ob sie noch ledig, verheiratet oder verwitwet ist. Neben Mützen werden noch Handschuhe, Strümpfe und Pullover gestrickt, die bei Touristen sehr gefragt sind. Und auf den Web-Rahmen stellen die Frauen Wandbehänge und Teppiche her. Zu einem Erlebnis wird auch immer der Besuch eines Marktes, wo die IndígenasFrauen Gemüse und Früchte tauschen und auch ihre Textilien und Keramik verkaufen, die in der Regel fabrikmässig hergestellt ist. Freilich stellt man gerade an den Märkten auch auf dem Altiplano, auf 4000 m, das Eindringen moderner Produkte fest: Plastik ersetzt Tonwaren, Kunstfasern die Wolle, Jeans die bisherigen Hosen. Die Jungen kaufen sich Baseball-Mützen, wenn möglich mit den Schriftzügen Coca Cola oder BMW. Radio- und Fernsehapparate haben längst Eingang gefunden, und auch das Handy hat seinen Siegeszug angetreten. So ist die Welt der Indígenas mit Phänomenen konfrontiert, die viele der traditionellen Lebensformen zu verdrängen drohen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass sie sich unter dem Einfluss der Modernisierung weiter wandeln werden. Fiestas Dass die Indigenas dem Leben auch frohe Seiten abgewinnen können, zeigen die zahlreichen Fiestas, die ihnen die Gelegenheit bieten, aus der Monotonie des Alltags Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010 DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen Vortrag von Dr. Robert Flury 21 / 21 und dem Leben in Armut auszubrechen, die Mühen des Alltags eine Zeitlang zu vergessen und sich den Freuden eines Festes, dem Tanz, der Musik, der folkloristischen Buntheit eines Umzugs hinzugeben und anschliessend das dörfliche Zusammensein zu geniessen. So haben denn kirchliche Feiertage, der Namenstag des Dorf-Schutzheiligen, staatliche Gedenktage und der Abschluss grösserer gemeinschaftlicher Arbeiten ihren unverrückbaren Platz im Jahresablauf. Eine wichtige Rolle spielt die Musik. Nicht nur die Blechmusikkorps, die jeden Umzug anführen, sondern auch die Instrumentalgruppen, mit Panflöte (zampoña), Querflöte (quena), Charango (der fünfsaitigen Mandoline), Gitarre, Harfe und Trommel. Sie haben abends ihre Auftritte in den Wirtschaften mit oft virtuosen Darbietungen und spielen an Festtagen auch zum Tanz auf. Jede Region hat ihren eigenen musikalischen Stil. Charakteristisch ist aber für die Musik des Altiplano eine gewisse Melancholie, eine leise Traurigkeit, was nach all dem, was ich Ihnen über den Altiplano vorgetragen habe, nicht überraschen kann. Dies alles: die Musik, die Folklore, die Menschen, die sich im Kampf mit einer grossartigen, aber unerbittlichen Natur ihren Lebensunterhalt abringen müssen, die Zeugen einer grossen Vergangenheit (Tiahuanaco und Inka), die unbeschreiblich schönen Landschaften, die einzigartige Ruhe und Erhabenheit des Titicaca-Sees mit den Kordilleren im Hintergrund: dies alles macht einen Besuch im Altiplano zu einem unvergesslichen Erlebnis und hinterlässt jedes Mal Hochachtung und Bewunderung für diese Menschen und ihre Vorgänger und für die Kulturen, die sie geschaffen haben. Novartis Pensionierten-Vereinigung Basel, 7. September 2010