Abwandern ist des Müllers Lust

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Abwandern ist des Müllers Lust
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stern.de - 12.11.2003 - 11:46
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Steuern
Abwandern ist des Müllers Lust
Herbstkühle liegt über dem
schwäbischen Aretsried.
Silberfarbene Milchkühltürme
blitzen in der Nachmittagssonne.
Die Gebäude der Molkerei Müller
beherrschen das 330-Seelen-Dorf
wie eine Festung. Dem Burgherrn
und seinen Leuten entgeht hier
© Stephan Sahm
nichts. Der stern-Fotograf wird von
Müllers Welt: Das schwäbische Aretsried wird von der
Molkerei beherrscht. Hier redet niemand schlecht über Herrn
einem Fahrzeug des Müllerschen
Müller - aus Angst und Respekt
Sicherheitsdienstes durchs Dorf
verfolgt. Auf offener Straße stellt
ihn der Wachmann: "Was tun Sie hier?" Dann macht er per Handy Meldung
an Deutschlands mächtigsten Milchmann Theobald Müller. Der mag keine
Fotografen, und Journalisten schon lange nicht. Ein Interview lehnt er am
Telefon ab. Nur so viel bricht aus ihm heraus: Deutschland sei
unternehmerfeindlich, "schlimmer als unter Ulbricht vor dem Mauerbau".
Deshalb begeht Müller jetzt Republikflucht. Der Steuer wegen.
Der 63-Jährige zieht mit Frau und seinen neun Kindern im Alter von drei bis
36 Jahren nach Erlenbach an den Zürichsee. Sonst würde der Staat 200
Millionen Euro Erbschaft- oder Schenkungsteuer von seinen Kindern
kassieren, sobald die Unternehmensgruppe auf sie übergeht. Und zwar nur für
sein englisches Werk nahe Manchester, wo Müller 500 Millionen Euro
umsetzt und zwei Drittel seiner Gewinne einfährt. Das behaupten jedenfalls
Müllers Steuerberater. "Die wahnsinnige und dumme Erbschaftsteuer kann
ich nicht akzeptieren", poltert der Milchbaron. "Ich werde enteignet, beraubt."
Das klingt, als jammere Dagobert Duck wieder einmal über den drohenden
Bettelstab. Und tatsächlich erinnert der Habitus Müllers stark an den
Trillionär aus Entenhausen. Beide sind autoritär, knickerig, misstrauisch und dabei höchst erfolgreich. Beide würden ihr Vermögen eher auf den Mond
schießen, als anderen etwas davon abzugeben. Auf der letzten
Hauptversammlung der Firmentochter Sachsenmilch ließ Müller für
Aktionäre nur noch Kaffee, Tee und Wasser servieren. "Lieber geizig als
verschwenderisch", blaffte Müller hungrige Kleinaktionäre an.
Mit diesem Grundsatz avancierte Müller zum Milchkönig. Die Bilanzen
seiner Fabriken sind erste Sahne. Seit 1971, als er den Vier-Mann-Betrieb
seiner Eltern übernahm, veredelt der gelernte Molkereimeister simple
Kuhmilch zu Markenartikeln. Aus Buttermilch, Milchreis oder Joghurt formt
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er Lifestyle-Produkte wie Müllermilch, Crema Joghurtschnee, Berry Booster
oder Kalinka Kefir. Jede Innovation drückt er mit einem
schwindelerregenden Marketingaufwand ("Alles Müller, oder was?") in den
Markt. Heute gibt Müller Tag für Tag über eine Viertel Million Euro für
Werbung aus. Dafür spannt er Sport- und Fernsehhelden der Nation vor
seinen Karren. Von Nationalbomber Gerd Müller bis hin zur SuperstarKnalltüte Daniel Küblböck. Popmusikant Dieter Bohlen avancierte sogar zum
Vorsitzenden der "Müller-Partei". Motto: Politiker sind schlecht, aber "Alles
wird becher."
Heute beherrscht das Müller-Logo
die deutschen Kühlregale. Zudem
versorgt der Schwabe Aldi, Lidl,
Plus, Rewe, Edeka und Penny-Markt
mit Handelsmarken. Fast 100
Prozent der Bürger kennen Müller.
Laut "Manager-Magazin" ist Müller
mit 500 bis 600 Millionen Euro
Vermögen die Nummer 131 der
reichsten Deutschen. In diesem Jahr
© Michael Hanschke/dpa
wird die Unternehmensgruppe 1,9
Müllers Werk: Der Unternehmer machte aus dem Vier-MannBetrieb seiner Eltern die größte Molkerei Deutschlands
Milliarden Euro umsetzen und mehr
als 100 Millionen Euro verdienen.
Ein gedeihlicher Konzern, zu dem neben Sachsenmilch die Edelmarke
Weihenstephan, die Käserei August Loose, eine Handelsgesellschaft, die
Spedition Culina, Becherwerke sowie Töchter in England, Spanien und
Italien gehören.
Theo gegen den Rest der Welt: Unaufhaltsam baut er sein Milchreich aus,
greift zu, wo Subventionen oder Steuererleichterungen locken, beißt weg,
was sich seinem Erfolg in den Weg stellt. Stets nahe an der Grenze des
Erlaubten, manchmal jenseits davon. Ist der Gegner zu stark, tritt er den
Rückzug an. Steuerflucht ist die logische Konsequenz eines Unternehmers,
der fest davon überzeugt ist, mit 3.000 deutschen Arbeitsplätzen genug für
die soziale Marktwirtschaft getan zu haben. Eigentum verpflichtet, wie es im
Grundgesetz heißt? Na klar, zur Emigration. Den Fortzug in die Steueroase
bezeichnet er als "patriotische Tat", um weiter investieren zu können.
Jetzt droht Müller mit einem weiteren Dienst am Vaterland. Er will eine
eidgenössische Holding gründen. Zweck: Wenn etwa die Gewinne aus
Aretsried in die Schweiz abgeführt werden, kann er sie mit Verlusten anderer
Werke verrechnen. Der deutsche Fiskus schaut in die Röhre. Auch das - wen
wundert's - eine "patriotische Tat", um weiter investieren zu können.
Vielleicht sogar in Deutschland. Vor allem aber, um in Europa Nestlé zu
überholen und zur Nummer eins, Danone, aufzuschließen.
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Müller plagt kein schlechtes Gewissen gegenüber dem Staat, der seine
Mitarbeiter ausbildet, dessen Straßen von seinen Lkw zermürbt werden,
dessen gepflegter Markt ihn reich gemacht hat. "Ich habe jede Mark, die ich
verdient habe, ins Unternehmen gesteckt", gibt er den Gutmenschen.
Außerdem habe er insgesamt 600 Millionen Euro Steuern in Deutschland
gezahlt. Dafür werfe man ihm jetzt "Dreck und Kot" nach.
Tatsächlich wirkt manche Reaktion
auf Müllers Abschied ebenso
abwegig wie die hausgemachte
Ethik, mit der Müller sein
fiskalisches Kalkül aufzuwerten
versucht. So zürnte Deutschlands
Schuldenwart Hans Eichel, wegen
solcher Leute "müssen wir Rentnern
Geld wegnehmen". Dieter Ondracek,
© Stephan Sahm
Chef der Deutschen
Müllers Feind: Herman Schmuttermair, grüner
Kreistagsabgeordneter, deckte Umweltsünden auf
Steuergewerkschaft, forderte gar,
Steuerflüchtigen die
Staatsbürgerschaft zu entziehen. Und bei der Gewerkschaft Nahrung-GenussGaststätten (NGG) gingen anonym Anträge von Müller-Beschäftigten ein,
den verhassten Arbeitgeber zu enteignen.
Die Volksseele kocht - denn Müller ist nicht der Einzige, der Deutschland
den Rücken kehrt. Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages will fast jedes vierte Industrieunternehmen in den
nächsten drei Jahren Teile der Produktion ins Ausland verlagern. Nicht, wie
früher, um neue Märkte zu erschließen, sondern um der Steuer zu entgehen.
Ob Deutsche Bank, Infineon oder Continental: Sie kündigen den
Gesellschaftsvertrag, der besagt, dass alle Mitglieder der Gesellschaft für das
Gemeinwohl aufzukommen haben - die Reichen mehr, die Armen weniger.
Doch kann man die Manager dafür verdammen? "Wenn Unternehmer
gezwungen werden, sich finanziell massiv zu schädigen, kann niemand
erwarten, dass sie freiwillig moralisch handeln", sagt Josef Wieland,
wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Wirtschaftsethik in Wangen.
Verantwortlich für die Massenflucht sei der Staat, der der Unmoral die Tore
öffnet: "Das deutsche Steuer- und Subventionssystem ist eine Einladung,
alles zu nehmen und nichts zu geben." Ein schlechtes Signal sei Müllers
Lebewohl dennoch: "Es sorgt dafür, dass die Steuermoral in Deutschland
weiter erodiert."
Auf festem Grund steht dagegen Müllers Subventionsmoral, mit der er sein
Imperium aufgebaut hat - obwohl er sogar gegen staatliche Beihilfen wettert.
So flossen mindestens 80 Millionen Euro in seine Sachsenmilch AG in
Leppersdorf - für heute gerade einmal 1.000 Arbeitsplätze. 650.000 Euro
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sprach ihm das Dresdner Wirtschaftsministerium für Gemeinschaftsaufgaben
Ost zu. Für das Werk in Aretsried kassiert er seit 1993
Marktstrukturförderung. Und selbst Markt Fischach, die Gemeinde, zu der
Aretsried gehört, zog mehr als eine halbe Million Euro aus dem Stadtsäckel,
um Müller zum Bau einer eigenen Kläranlage zu bewegen. Nicht
auszurechnen sind die millionenschweren Agrarsubventionen, von denen
Müller indirekt profitiert.
Gestärkt mit diesem Geld, trieb
Müller seinen Aufstieg ohne
Rücksicht auf Gesetze und
Ratsbeschlüsse voran. So
verdonnerte ihn Anfang der 90er
Jahre das Landratsamt Augsburg zu
91.000 Mark Bußgeld wegen zwölf
Schwarzbauten in Aretsried,
darunter Becherwerke,
Produktionshallen,
Dampfkesselanlagen, fast 50 Tanks
© Tim Brakemeier/dpa
Müllers Schrecken: Finanzminister Hans Eichel verliert mit
und Silos sowie 41 Lastwagendem Abgang des Milchmanns einen potenten Steuerzahler
Abstellplätze. 375.000 Mark musste
er zahlen, weil er aus einem firmeneigenen Brunnen ohne Genehmigung
fünfmal mehr Grundwasser als erlaubt entnommen hatte. "Sin and
pay" (sündige und zahle) nennen Amerikaner diese Methode. Bußgelder sind
Peanuts, verglichen mit dem geschäftlichen Vorteil, den er aus den Delikten
zieht.
In Fischach und Aretsried will niemand über Müller sprechen - aus Angst und
Respekt. Die Gewerkschaft hat keinen Zugang zum Werk, der Betriebsrat ist
ein Papiertiger. Noch heute erinnern sich Mitarbeiter daran, wie Theo Müller
den Betriebselektriker Manfred Kirschner eigenhändig so heftig
durchmischte, dass dieser Blutergüsse davontrug. Müller sagte später, er habe
Kirschner "die Gewerkschaft rausschütteln" wollen.
"Müller ist ein hervorragender Unternehmer", sagt Hermann LocarekJunge, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Dresden, "aber in
seinen Betrieben geht es zu wie zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus." Der
Gelehrte vertritt die Kleinaktionäre der Leppersdorfer Sachsenmilch AG, die
Müller 1996 mit einem lukrativen Steuerverlustvortrag von mehr als 125
Millionen Euro übernommen hat. Seitdem investiert er zwar kräftig, um das
Werk zur größten Milchfabrik der Welt auszubauen, wendet aber alle
Bilanztricks an, um keine Dividende ausschütten zu müssen. "Müller - hier
werden Sie gemolken", spotten die Anteilseigner frustriert.
In Aretsried und Umgebung hat Müller mit Drohungen Widerspenstige
eingeschüchtert und mit Kleinspenden Abhängigkeiten geschaffen. Mal lässt
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der leidliche Posaunist der Blaskappelle etwas zukommen, mal dem Pfarrer
für die Kirchturmsanierung - obwohl das CSU-Mitglied selbst den Schoß der
Mutter Kirche verlassen hat, weil der Bischof nicht mit ihm über die Höhe
der Kirchensteuer feilschen wollte. "Die Menschen hier haben vor Müller
resigniert", sagt Hermann Schmuttermair, 48, Lehrer und Grünen-Politiker
aus dem benachbarten Kutzenhausen. "Müller weidet sich daran, wenn
andere funktionieren", beschreibt Raimund Kamm, 51, die Land-LordMethodik des Milchmoguls. Der ehemalige grüne Landtagsabgeordnete, der
heute Unternehmer berät, deckte gemeinsam mit Schmuttermair die
Umweltsünden Müllers auf. Müller versuchte, Kamm zu demontieren und
demoralisieren, trieb ihn mit einer Fünf-Millionen-Mark-Klage bis vor den
Bundesgerichtshof - und verlor.
Wenn Unternehmer wie Müller den Gesellschaftsvertrag kündigen, der den
Sozialstaat zusammenhält, geraten nicht zuletzt die Gemeinden an den Rand
des Ruins. In Fischach, wo 4.700 Menschen leben und der Haushalt äußerst
knapp bemessen ist, zahlt Müller gut zwei Drittel der 1,6 Millionen Euro
Gewerbesteuer. Fallen diese weg, wenn Müller seine Geschäfte von der
Schweiz aus führt, steht der tapfere Bürgermeister Josef Fischer vor einem
Scherbenhaufen. "Ich kann nicht mehr tun als warten, was geschieht", sagt
der 54-Jährige. "Wir können nur die Infrastruktur schaffen, damit ein
Unternehmen arbeiten und wachsen kann."
von Rolf-Herbert Peters
Meldung vom 12. November 2003
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