Einführung in zentrale Begriffe, Forderungen und Probleme aus
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Einführung in zentrale Begriffe, Forderungen und Probleme aus
inter* Einführung in zentrale Begriffe, Forderungen und Probleme aus feministischer Perspektivei Zusammengestellt von Katja Sabisch, Ruhr-Universität Bochum Juli 2012 ZahlenMedizin und PraxisRechtFolter und MenschenrechtsverletzungPolitik und WissenschaftEmpfehlungenAktuellKontakt „Intersexuelle Menschen sind Menschen, die nicht in das medizinische und rechtliche Konstrukt zweier abgrenzbarer Geschlechter passen, die weder als klar männlich noch als klar weiblich definierbar sind. Dies ist nicht immer äußerlich erkennbar, manchmal weichen Chromosomensatz und innere Geschlechtsorgane von der herrschenden dichotomen Geschlechternorm ab. Es gibt verschiedene Variationen von X- und Y-ChromosomKombinationen, oder das durch die Chromosomen indizierte Geschlecht passt nicht zu den äußeren Genitalien; andere Körper kombinieren Hoden (die sich im Körper befinden können) mit einem Phänotyp, der sonst eher als weiblich gilt, oder weisen Geschlechtsteile auf, die entweder eine große Klitoris oder ein kleiner Penis sind. Solche Menschen werden gemeinhin als „Intersexuelle” pathologisiert. Bei intersexuellen Menschen ist das Geschlecht einer Person aufgrund der wesentlichen Geschlechtsmerkmale, d.h. der Chromosomen, der Gonaden (Hoden, Eierstöcke und gemischte Gonaden) und der Genitalien (Größe, Funktion und Lage), nicht eindeutig als „männlich“ oder „weiblich“ feststellbar. Sachverständige benutzen unterschiedliche Definitionen von „intersex“ – das einzige was feststeht, ist, dass es keine Grenze für die körperlichen Variationen gibt, mit denen Menschen geboren werden. Medizinische Definitionen von „intersex“ machen die Abweichung von der Geschlechtsnorm zum Gegenstand medizinischer Sorge, wodurch die Angleichung an eines von zwei 1 Standardgeschlechtern als „Behandlung“ einer „Pathologie“ erscheint. Dies ist offensichtlich an Definitionen wie „Jungen und Mädchen mit DSD“ (DSD: disorders of sex development, Störungen in der Geschlechtsentwicklung), wie sie auf der Consensus Conference 2005 gefunden wurde. Ein medizinisch behandlungsbedürftiger Notfall ist dies für die Betroffenen selbst nur im Ausnahmefall.ii Ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko ist überwiegend nicht nachweisbar. Vielmehr besteht allenfalls ein gesellschaftlicher Druck zur „Normalität“. Unter diesen Druck werden intersexuell geborene Kinder in Deutschland routinemäßig medizinischen Behandlungen unterworfen, die als Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einzustufen sind. Auch Jugendliche oder Erwachsene, bei denen später im Leben Intersex-Variationen festgestellt werden, können solchen Behandlungen ausgesetzt sein. Die medizinischen Behandlungen bestehen in der Regel aus zwei Elementen, die auf der Zuweisung des in der Regel weiblichen Geschlechts bei der Geburt beruhen: Dem Kind werden die Gonaden entnommen, die u.a. für die Produktion der Sexualhormone verantwortlich sind, und seine äußeren Geschlechtsteile werden operativ verändert. Die Entnahme der Gonaden führt zur Unfruchtbarkeit und zu einem schweren Hormonmangel, der in früher Kindheit in der Regel unbehandelt bleibt und später lebenslang mit Hormonpräparaten ausgeglichen werden muss, die für andere Zwecke, somit nicht für diesen Personenkreis gedacht sind. Hieraus ergeben sich schwere physische und psychische Nebeneffekte. Die operative Feminisierung des Körpers erfolgt oft durch Beschneidung der Klitoris unter Verlust der erotischen Empfindsamkeit, sowie durch operative Herstellung einer künstlichen Vagina, die dann durch traumatisierende und schmerzhafte regelmäßige Dehnung für die spätere Penetration vorbereitet wird. Dabei werden die Betroffenen oder ihre Sorgeberechtigten häufig völlig unzureichend informiert, insbesondere nicht darüber, dass diese Misshandlungen in der Regel medizinisch gar nicht erforderlich sind. Diese Behandlungsweise erzeugt schwere physische und psychische Leiden, die für das medizinische Personal vorhersehbar sind, so dass von einem vorsätzlichen Handeln auszugehen ist. Die Zufügung dieser Leiden basiert auf dem Diskriminierungsgrund Geschlecht, da sie den Betroffenen nur aufgrund der Nonkonformität ihrer Körper und Identitäten mit der vorherrschenden Geschlechternorm drohen. Da solche Behandlungen in staatlichen Krankenhäusern und mit staatlicher Krankenversicherung durchgeführt werden und private Behandlungen staatlicherseits trotz Kenntnis nicht verhindert werden, verstößt die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Pflicht zur Verhütung von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 1, 2, 16 CAT). Zudem werden die Pflichten zur Fortbildung und Information des medizinischen Personals über das Folterverbot nicht adäquat umgesetzt (Art. 10 CAT). Betroffene haben dabei aufgrund der Verjährungsfristen und der restriktiven Praxis der Akteneinsicht in Krankenhäusern erhebliche Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung. Zudem werden ihre Schäden bei der Feststellung des Grads der Behinderung nicht adäquat berücksichtigt. Dies widerspricht der Verpflichtung aus Artikel 12, 13 und 14 CAT zur Schaffung eines Rechts auf eine unparteiische Untersuchung und eines einklagbaren Rechts auf gerechte und angemessene Entschädigung und Rehabilitation.“ [Schattenbericht Lucie Veith]iii ZAHLEN“Die Zahl der Menschen, die intersexuell geboren werden, ist vor allem wegen der unterschiedlichen Definitionen unklar. Die deutsche Regierung verwendet eine eher enge Definition und schätzt, dass eines von 4.500 Kindern mit äußerlichen „genitalen Anomalien“ geboren wird, die tatsächlich medizinisch behandelt „werden“, d.h. ungefähr 150 Kinder im Jahr, dem entsprechend 8.000 bis 10.000 Menschen insgesamt in 2 Deutschland. Auf der Deutschen Ärztekonferenz 2008 belief sich die Schätzung auf mehrere Zehntausend Personen. Andere Quellen nehmen an, dass eine von 59 Lebendgeburten „genitale Missbildungen“ aufweist. Nach welcher Definition auch immer gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine beträchtliche Zahl von Menschen in Deutschland, denen „Behandlung“ unter Verletzung der CAT droht, Menschen, deren Rechte vom Staat nicht geschützt werden.“ [Schattenbericht Lucie Veith]iv MEDIZIN UND PRAXIS „Die Medikalisierung von Geschlechtsvarianten basiert auf den wissenschaftlich unfundierten medizinischen Experimenten von John Money, dem zufolge ein Kind „in seiner Geschlechterrolle erfolgreich“ sein werde, wenn das uneindeutige Geschlecht des Kindes operativ vereindeutigt wird und das Kind dies nie erfährt. Money’s Vorzeige-Fall („John/Joan“) dagegen endete mit dem Selbstmord des inzwischen erwachsenen Patienten. Dennoch hat dieser Ansatz die moderne Medizin der letzten 60 Jahre dominiert, so dass Ärzte und Ärztinnen die Operationen an intersexuellen Kindern so früh wie möglich durchführten. In der Mehrzahl der Fälle (85-90 %) wird der Körper zu einem weiblichen Körper gemacht: „it is easier to make a hole than to build a pole“ (es ist einfacher, ein Loch zu machen als einen Pfahl zu errichten). Grundlage für die überwiegende Zuweisung zum weiblichen Geschlecht ist jedoch nicht nur die chirurgische Machbarkeit, vielmehr entspricht dies der sexistischen Grundannahme, dass Frauen einfacher ohne erfüllende Sexualität leben können als Männer. Selbst die Fähigkeit im Stehen urinieren zu können wird dabei höher gestellt, als weibliches Lustempfinden. An diesen Vorgaben orientiert sich die Operation: Während feminisierende Operationen darauf abzielen, den Körper für traditionellen heterosexuellen Geschlechtsverkehr durch Penetrierung bereit zu machen, steht bei den selten vorgenommen Operationen zu einem männlichen Geschlecht die Größe und Funktion des Phallus im Mittelpunkt. Die meisten medizinischen „Behandlungen“ intersexueller Körper bestehen aus drei Elementen: Entfernung der Gonaden (Kastration), Genitaloperationen und Hormonersatztherapie. Aufgrund dieser Behandlungen sind die meisten Intersexuellen unfruchtbar, unempfänglich für sexuellen Stimulus und unfähig, lebenswichtige Hormone zu produzieren. Daraus ergeben sich schwere Folgeerkrankungen, zusätzlich zum psychischen und körperlichen Leiden, das aus der „Behandlung“ resultiert.v Gonadektomie (Kastration) und Hormonersatztherapie Die Gonade ist das Organ – Hoden oder Eierstöcke oder eine Mischung aus beidem – das für die Produktion von Keimzellen verantwortlich ist, also Spermien oder Eizellen. Zusätzlich zu dieser Fortpflanzungsfunktion produzieren die Gonaden, auch Keimdrüsen genannt, lebenswichtige Hormone. Diese Hormone haben Einfluss auf die Entwicklung jener sekundären Geschlechtsmerkmale, die mit dem weiblichen oder männlichen Geschlecht assoziiert werden, sowie auf die körperliche Leistungsfähigkeit und allgemeine Gesundheit. Diese Gonaden „entsprechen“ nicht immer den äußerlichen Geschlechtsteilen, befinden sich nicht immer in der „üblichen“ Lage im Körper und sind nicht immer voll ausgeprägt. Bei intersexuellen Menschen werden die Gonaden häufig im Kindesalter operativ entfernt, um die ursprüngliche, weibliche Geschlechtszuweisung aufrecht zu erhalten und Vermännlichung von XY-intersexuellen Menschen (XY-Frauen) durch gonadale Hormonproduktion in der Pubertät zu verhindern. Manchmal erfolgt die Gonadektomie erst nach der Pubertät, häufig nachdem ein scheinbares Mädchen nicht menstruiert. Die meisten Klientinnen (XYFrauen) sind gonadektomiert. Die Operation besteht aus einem operativen Eingriff in den Körper – Skrotum oder Unterleib – und Entfernung der Organe; sie ist unumkehrbar. Da die Gonaden sowohl für die Gameten- als auch für die Hormonproduktion verantwortlich sind, führt die Gonadektomie immer auch zur irreversibler Unfruchtbarkeit. 3 Der gonadektomierte intersexuelle Mensch wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zudem lebenslang regelmäßige Hormonersatztherapie benötigen, die dem zugewiesenen Geschlecht entspricht, oft kontra-chromosomal – d.h. Östrogentherapie für XY-Personen –, ohne dass feststünde, welche Hormonpegel der Körper natürlich erzeugt hätte. Feminisierende Operationen Die feminisierende Operation der äußeren Genitalien besteht in der Entfernung gesunden Gewebes von einem als zu klein angesehenen Penis bzw. einer als zu groß angesehenen Klitoris. Dies führt häufig zum Verlust sexuellen Empfindens. Gleichzeitig werden auch brutale Behandlungsmethoden zur Konstruktion einer künstlichen Vagina eingesetzt, die traditionellen heterosexuellen Geschlechtsverkehr durch Penetration ermöglicht. Allerdings vermeiden viele Behandlungsopfer aufgrund der psychologischen Folgen dieser Methoden den Geschlechtsverkehr oder empfinden ihn als problematisch.vi Bis in die 1980er Jahre wurde die Klitoris/der Penis regelmäßig vollständig entfernt (Klitoridektomie); heute wird die Klitorisreduktion bevorzugt. Neben der Klitoris-OP wird eine vaginale Öffnung hergestellt, die Geschlechtsverkehr durch Penetration erlaubt. Manche Kinder haben eine kurze Vagina, andere haben keine. Wenn es keine Öffnung gibt oder diese zu klein für eine Ausdehnung (Dilatation) ist, werden kleine Teile des Darms oder anderer Hautteile benutzt, um eine Neo-Vagina zu konstruieren.vii Vaginoplastie- Verfahren ziehen aufgrund von Komplikationen wie Fistelbildungen, Verwachsungen und Entzündungen, aber auch zur Vergrößerung häufig Folgeoperationen nach sich. Um eine funktional „adäquate“ vaginale Öffnung im Erwachsenenalter zu gewährleisten, wird die Öffnung dann mechanisch oder manuell gedehnt (Dilatation oder Bougieren), bis regelmäßiger Geschlechtsverkehr stattfindet (zweimal wöchentlich). „Druck-Dilatation“ kann auch eine Alternative zur OP darstellen, um eine Vagina zu vergrößern. Dieses Verfahren besteht aus der Einführung eines festen Dilators in die Vagina (zweimal täglich für 15 Minuten, über Monate oder Jahre). In vielen Fällen nehmen die Eltern die Dilatation an ihren Kindern vor. Kinder mit operativ hergestellter Vagina müssen einmal jährlich in Krankenhäusern bougiert werden, bis sie als penetrierbar gelten, normalerweise etwa bis zum Alter von 14 Jahren.viii Keine psychologische Rechtfertigung der medizinischen „Behandlung“! Mediziner und Medizinerinnen behaupten weiterhin, dass die Eingriffe zur Vermeidung zukünftiger psychologischer Störungen der intersexuellen Person erforderlich seien. Allerdings gibt es keinen Beweis, dass die Nichtvornahme dieser Eingriffe tatsächlich zu psychologischen Störungen führt. Im Gegenteil – vieles deutet daraufhin, dass der operative Eingriff selbst negative psychologische Auswirkungen auf intersexuelle Menschen hat. Die oben benannten Vaginaloperationen zur „Normalisierung“ der äußeren Genitalien sollen den Zweck erfüllen, eine stabile Geschlechtsidentität zu garantieren sowie eine normale Sexualentwicklung im zugewiesenen Geschlecht. Wie aktuelle Studien jedoch eindrücklich zeigen, stellt auch ein klares eindeutiges (äußeres) Geschlecht nicht notwendigerweise eine eindeutige Geschlechtsidentität sicher.“ix [Schattenbericht Lucie Veith]x „Wer sich mit einem Neugeborenen, das am Genital etwas anders aussieht, an einen Arzt wendet, wird hören, dass dieses Kind ein Patient sei. Das Genital entspricht nämlich nicht der Norm; das Kind habe ein Problem und sei deshalb nicht gesund. Man sagt ihm das aber selbstverständlich in weich gewaschener Sprache – diplomatischer. Man redet von Disorder of Sex Development (DSD), von Störung oder neuerdings vielleicht nur noch von „differences“, also Unterschieden, der sexuellen Entwicklung. Die Klassifikation der Ärzte, die „International Classification of Diseases“ (ICD 10), hat viele verschiedene Benennungen zur Auswahl. Natürlich bieten die Ärzte auch sofort Hilfen an: „geschlechtsangleichende Operationen“. Da greifen Eltern, die überrascht und natürlich schwer betroffen sind, gleich 4 zu und übernehmen fast immer und dann meist diskussionslos den Vorschlag zu Prozedere und Terminplan des behandelnden Arztes. Wer will sein Kind denn nicht geheilt sehen und es mit einem Problem ins Leben schicken, ohne wenigstens das bestmögliche zu seiner Lösung versucht zu haben? […] Es sollte dementsprechend zum Ziel werden, primär eine nichtoperative professionelle Unterstützung flächendeckend und qualitativ gesichert als selbstverständlich anzubieten und die Diskussion über die medizinische Indikation in den Hintergrund treten zu lassen. Wer heute noch denkt, Intersexualität „heilen“ zu können, hat die Problematik nicht verstanden und sollte von den Kindern ggf. mit rechtlichen Mitteln ferngehalten werden. In juristischer Hinsicht steht bis jetzt letztlich den Eltern die Entscheidung über medizinische Eingriffe zu. Dies ist mit dem geltenden Recht gedeckt. Genau hier muss Einspruch eingelegt werden. Die Eltern sind nicht befugt, das Selbstbestimmungsrecht des Kindes in einer so grundlegenden Frage zu vertreten. Der Betroffene muss sein Selbstbestimmungsrecht auch selbst wahrnehmen. Ein Psychologe, der unabhängig denkt, darf solche medizinischen und nicht überlebenswichtigen Behandlungen nicht zulassen. Es gibt keine Notwendigkeit, dass diese Kinder operiert werden. Diese Kinder brauchen Liebe und nicht solche psychologischen Tröster, die mit Endokrinologen und Chirurgen die Kinder mit „genitalangleichenden Operationen“ auf eine falsche Fährte lenken.“ [Online-Diskurs Intersexualität, Deutscher Ethikrat, Dr. med. Woweries]xi RECHT „Nach deutschem Recht muss ein Patient oder eine Patientin in eine medizinischen Behandlung einwilligen; anderenfalls macht sich der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin strafbar (z.B. Körperverletzung) und schadensersatzpflichtig. Es obliegt dem Arzt oder der Ärztin, Patient oder Patientin über die Diagnose und den Eingriff mit Konsequenzen und Risiken (einschließlich Heilungschancen), sowie über mögliche gefahrlosere Behandlungsmethoden oder Nichtbehandlung (Alternativen) aufzuklären. Nicht ausreichende oder nicht zutreffende Informationen können die Einwilligung unwirksam machen. Das Maß der erforderlichen Aufklärung hängt von der Schwere und der Erforderlichkeit der medizinischen Behandlung ab. Für rein kosmetische Behandlungen ohne medizinische Indikation, wie sie an den äußeren Genitalien intersexueller Menschen durchgeführt werden, ist der Standard besonders hoch, auch fernliegende Risiken müssen erklärt werden. Erwachsene werden oft nicht ausreichend aufgeklärt. Selbst wenn ein Erwachsener in eine Operation einwilligt, kann die Einwilligung unwirksam sein, wenn der Patient oder die Patientin nicht vollständig über die möglichen Probleme und Risiken der Behandlung aufgeklärt wurde, oder nicht darauf hingewiesen wurde, dass über die Notwendigkeit und die Folgen der Behandlung nur unzureichende Informationen bestehen. Der Verein Intersexueller Menschen e.V. kann von mehreren Fällen berichten, in denen die Bedingungen für eine wirksame Einwilligung nicht gegeben waren. Eltern willigen ohne ausreichende Aufklärung in schädliche Eingriffe ein. Der Großteil der Operationen wird an intersexuellen Kindern durchgeführt, die, soweit sie noch nicht selbst als einwilligungsfähig gelten, durch ihre Eltern oder anderen Sorgeberechtigten vertreten werden. Die einwilligenden Eltern beklagen zumeist dieselben Aufklärungsprobleme wie erwachsene Patient_inn_en. Nach deutschem Zivilrecht wird jede elterliche Entscheidung zudem am Kindeswohl gemessen (§ 1627 BGB). Da der medizinische Nutzen von Intersex-OPs außer in medizinischen Notfällen wie erwiesener hoher Krebsgefahr sehr zweifelhaft ist, die Folgen aber schwer sind, verstoßen diese OPs klar gegen das Kindeswohl. In Vaginaloperationen, die als rein kosmetische Eingriffe anzusehen sind (oben II.2., III.2.), kann mangels Kindeswohl durch die Eltern nicht wirksam eingewilligt werden. Da die Sterilisation eine unumkehrbare Beseitigung des höchstpersönlichen Rechtes auf Fortpflanzung bedeutet, können Eltern 5 (oder auch das Kind selbst) zudem generell nicht wirksam in die Sterilisierung ihres Kindes einwilligen (§ 1631c BGB). Selbst das deutsche Gesetz zur Kastration (männlicher) Sexualverbrecher erlaubt die Einwilligung in eine Kastration erst ab dem Alter von 25 Jahren (§§ 2 Abs. 1, 3 KastrG). Da die Gonadektomie nur in Ausnahmefällen medizinisch indiziert ist (oben III.1.), aber ebenso wie Sterilisation und Kastration die Fortpflanzungsfähigkeit beseitigt, kann in sie regelmäßig nicht wirksam eingewilligt werden. Bei größeren Kindern und Jugendlichen ist der Kindeswille entsprechend dem Alter und der Reife des Kindes bei das Kind betreffenden Entscheidungen einzubeziehen, auch bei Entscheidungen über medizinische Behandlungen. Dies fordert auch Art. 12 KRK und ist in Deutschland höchstrichterlich anerkannt. Wegen der Schwere und der Intensität der medizinischen Behandlungen wird jedoch regelmäßig angenommen, dass intersexuelle Kinder und Jugendliche die Entscheidung nicht ausreichend überblicken. Statt aber abzuwarten, bis sie alt genug sind, um selbst über diese schwerwiegenden, lebensverändernden OPs zu entscheiden, wird dieses Recht ihren Eltern überlassen. Dabei berichten viele Eltern und Patien_inn_en, die vom Verein intersexueller Menschen e.V. vertreten werden, sie hätten der Behandlung niemals zugestimmt, wenn sie gewusst hätten, welches Leid dies im späteren Leben bedeutet. Der deutsche Staat ist somit direkt verantwortlich für die medizinisch nicht notwendigen Misshandlungen, die in öffentlichen Krankenhäusern an intersexuellen Kindern vorgenommen und von gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt werden und kommt seiner Pflicht nicht nach, intersexuelle Menschen vor großem Leiden zu schützen.“ [Schattenbericht Lucie Veith]xii FOLTER UND MENSCHENRECHTVERLETZUNGEN „Die Behandlungsmethoden, denen intersexuelle Menschen in Deutschland ausgesetzt sind, führen zu schweren seelischen und physischen Leiden. Ärzte und Ärztinnen führen diese Behandlungen mit dem diskriminierenden Zweck durch, ein Kind in das binäre Geschlechtersystem einzupassen, trotz umfangreicher Belege für das dadurch erzeugte Leiden. Der deutsche Staat ist für diese Folterhandlungen durch staatlich bezahlte Ärzte und Ärztinnen mit Unterstützung gesetzlicher Krankenkassen verantwortlich. Obwohl diese Behandlungsweise allgemein bekannt ist, unterlässt es der deutsche Staat, diese Handlungen in öffentlichen oder privaten Einrichtungen zu unterbinden. Deutschland verletzt dadurch seine Pflicht, Folterhandlungen durch legislative, administrative, justizielle oder andere Maßnahmen zu verhindern (Art. 2 CAT). Zudem ist die Pflicht zur Verhinderung von anderen Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt (Art. 16 CAT). Offenbar sind auch die deutschen Bemühungen zur Fortbildung und Information medizinischen Personals über das Folterverbot in schwerwiegender Weise unzureichend, was die Behandlung intersexueller Menschen betrifft (Art. 10 CAT). Obwohl Folter in Deutschland strafbar ist, wenn auch nicht eigenständig geregelt (Art. 4 CAT), bestehen für Folteropfer gravierende Hindernisse bei der Verfolgung ihres Rechts auf eine unparteiische Untersuchung (Art. 12, 13 CAT) und auf Wiedergutmachung, gerechte und angemessene Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation (Art. 14 CAT).“ [Schattenbericht Lucie Veith]xiii POLITIK UND WISSENSCHAFT“Zwischengeschlechtlich geborene Menschen müssen sich nicht nur mit der Problematik auseinandersetzen, dass ein Zweigeschlechtssystem ihre geschlechtlich "uneindeutigen" Körper nicht gelten lässt und mittels Skalpell der Norm anpasst. Sie werden zusätzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass homosexuelle und transsexuelle Bewegungen sowie feministische Frauenbewegungen ihre geschlechtlich "uneindeutigen" Körper wiederholt als Mittel zum Zweck für eigene 6 Interessen verwenden. Zwitter dienen als Demonstrationsobjekt zur Dekonstruktion des Zweigeschlechtersystems, Androgynismus wird als Ideal verherrlicht, die Anliegen der realen, zwangsoperierten Zwischengeschlechtlichen werden hingegen geflissentlich ignoriert. In der öffentlichen Wahrnehmung sind zwischengeschlechtlich geborene Menschen längst im (Trans-)Gender-Diskurs untergegangen. Regelmäßig stellen Gruppen öffentlich Forderungen im Namen der Zwitter auf, stellen aber dabei ihre eigenen Anliegen ins Zentrum und die berechtigten Forderungen der Zwangsoperierten hinten an (oder lassen sie gleich ganz aus). Intersex wird hauptsächlich als Forschungsobjekt verstanden, um den Begriff der Zweigeschlechtlichkeit (und des Sexismus, sowie der Homophobie) zu dekonstruieren, und nicht als ein Thema gesehen wird, das in der realen Welt Implikationen für reale Leute hat. Auch wenn die Lehrenden die besten Absichten hegen, untergraben fehlendes Bewusstsein für und die fehlende Beachtung der Realitäten von Intersexuellen die adäquate Darstellung des Themas. Dabei werden unbeabsichtigt die Nicht-Sichtbarkeit und die Objektivierung der Intersexuellen perpetuiert. Zwischengeschlecht.org ruft alle fortschrittlichen LGBTQs und ihre Organisationen dazu auf, *ihre Positionen und Praktiken kritisch zu reflektieren *den Jahrzehnte langen Kampf der Zwitter gegen Genitalverstümmelungen als eigenständigen Kampf um das Recht intersexueller Kinder auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit zu respektieren *die Zwitter in ihrem Kampf gegen Genitalverstümmelungen nach Kräften solidarisch zu unterstützen, NICHT die Leiden der Zwitter bloß als Aufhänger oder 'Material' für die eigenen Forderungen und Kämpfe zu benutzen!“ [zwischengeschlecht.org]xiv EMPFEHLUNGEN „1. Folter, grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung verhindern (Art. 1, 2, 16 CAT): a. Beendigung aller Gonadektomien an Kindern außer in Fällen eines medizinisch nachgewiesem medizinischem Notfall, sowohl in staatlichen als auch in privaten Institutionen. b. Beendigung jeglicher kosmetischer Operationen an den Genitalien von Kindern, sowohl in staatlichen als auch in privaten Institutionen. c. Sicherstellung aufklärungsbasierter Einwilligung von Eltern, jungen und erwachsenen Betroffenen, sowohl in staatlichen als auch in privaten Institutionen: Vollständige Information, mündlich und schriftlich, über die Quantität und Qualität der Forschung die die Behandlung empfiehlt; über die Behandlungsalternativen, einschließlich der Nichtbehandlung, und ihre zu erwartenden Folgen; über erforderliche Folgebehandlungen wie Hormonersatztherapie für Gonadektomie oder Dilatation für Vaginal-OPs, einschließlich der physiologischen und psychologischen Nebenwirkungen und Langzeitwirkungen; über die Rechtslage in Bezug auf elterliche Einwilligung einschließlich des Rechtes des Kindes auf eine offene Zukunft; über die Existenz von Selbsthilfegruppen. d. Vermeidung von Situationen der Machtlosigkeit in Krankenhäusern, staatlichen wie privaten: Sicherstellung dass den Eltern bewusst ist, dass kein Entscheidungsdruck besteht außer in echten medizinischen Notfällen; Ermöglichung der Gewöhnung der Eltern an die Besonderheiten ihres Kindes; Bereitstellung finanzieller und struktureller Unterstützung für Selbsthilfegruppen Intersexueller und aufsuchende Elternarbeit in Krankenhäusern. 2. Sicherstellen, dass Fortbildung und Information über das Folterverbot umfassend in der Ausbildung medizinischen Personals berücksichtigt werden (Art. 10 CAT): a. Einbeziehung spezifischer Ausbildung medizinischen Personals zu Intersexualität in allen medizinischen Disziplinen. b. Sicherstellung dass sämtliches medizinisches Personal sich bewusst ist, dass nichtindizierte Gonadektomie und feminisierende Operationen Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen und strafbar sind. 3. Sicherstellen, dass jeder intersexuelle Mensch, der sich als Folteropfer sieht, das Recht auf 7 Beschwerde bei den zuständigen deutschen Behörden und das Recht auf unverzügliche und unparteiische Untersuchung hat (Art. 13 CAT) und im Rechtssystem sicherstellen dass ein intersexuelles Folteropfer Wiedergutmachung erhält und ein durchsetzbares Recht auf gerechte und angemessene Entschädigung, einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation (Art. 14 CAT): a. Sicherstellung des individuellen umfassenden Zugangs zur gesamten eigenen Krankenakte in der Praxis. b. Prüfung der spezifischen Probleme Intersexueller bei der Rechtsverfolgung im Hinblick auf Verjährungsfristen. c. Einrichtung eines Hilfs- und Wiedergutmachungsfonds für Betroffene, Zugang zum OEG. d. Bereitstellung spezifischer Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen sowie erhöhte Rentenansprüche für Intersexuelle, deren berufliche Laufbahn durch Traumatisierung und Nebenwirkungen von Hormonbehandlungen beeinträchtigt wurde. e. Zugang zu Medizinprodukten ohne Diskriminierung, einschließlich von Hormonersatzprodukten im Einklang mit der Geschlechtsidentität der intersexuellen Person. f. Einrichtung eines adäquaten gesonderten Index für die Feststellung des Grads der Behinderung aufgrund von Behandlung, Nichtbehandlung und Fehlbehandlung Intersexueller.“ [Schattenbericht Lucie Veith]xv AKTUELLDer Deutsche Ethikrat stellte am 23. Februar 2012 seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vor. Er ist der Auffassung, „dass intersexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand immer wieder die Frage, ob chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen von Menschen mit Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung (DSD – differences of sex development) und insbesondere bei betroffenen Kleinkindern überhaupt zulässig sein sollten. Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei Menschen mit uneindeutigem Geschlecht stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar. Die Entscheidung darüber ist höchstpersönlich. Daher empfiehlt der Ethikrat, dass sie grundsätzlich von den Betroffenen selbst getroffen werden sollte. Bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen sollten solche Maßnahmen nur erfolgen, wenn dies nach umfassender Abwägung aller Vor- und Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich ist. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn die Maßnahme der Abwendung einer konkreten schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben der Betroffenen dient. Wenn, wie im Falle des Adrenogenitalen Syndroms (AGS), das Geschlecht festgestellt werden kann, sollte bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen die Entscheidung über die operative Angleichung der Genitalien an das Geschlecht nur nach umfassender Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor- und Nachteile einer frühen Operation erfolgen. Maßgeblich ist auch hier das Kindeswohl. Im Zweifel sollte auch bei solchen geschlechtsvereindeutigenden Eingriffen die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen abgewartet werden. Die medizinische Diagnostik und Behandlung von DSD-Betroffenen sollte nur in einem speziell dafür qualifizierten interdisziplinär zusammengesetzten Kompetenzzentrum von Ärzten und Experten aus allen beteiligten Disziplinen vorgenommen werden. Die fortlaufende medizinische Betreuung soll in unabhängigen qualifizierten Betreuungsstellen bei gleichzeitiger Beratung durch andere Betroffene sowie Selbsthilfeeinrichtungen fortgeführt werden. Alle 8 Behandlungsmaßnahmen sollten umfassend dokumentiert werden und den Betroffenen für mindestens 40 Jahre zugänglich sein. Die Regelungen zur Verjährung bei Straftaten an einem Kind sollten auf solche Straftaten erweitert werden, durch die die Fortpflanzungsfähigkeit und/oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit irreversibel beeinträchtigt wurde. Für Betroffene, die Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten haben, weil sie Behandlungen unterzogen wurden, die nach heutigen Erkenntnissen nicht (mehr) dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik zugerechnet werden können und auf ausgrenzenden gesellschaftlichen Vorstellungen von geschlechtlicher Normalität beruhten, sollte ein Fonds errichtet werden, der ihnen Anerkennung und Hilfe zukommen lässt. Darüber hinaus sollten Selbsthilfegruppen und Betroffenenverbände öffentlich finanziell gefördert werden. Der Ethikrat ist zudem der Auffassung, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht „weiblich“ noch „männlich“ zuordnen können, rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen. Es sollte daher geregelt werden, dass von diesen Personen neben der Eintragung als „weiblich“ oder „männlich“ auch „anderes“ gewählt werden kann bzw. dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat. Um Personen, die im Personenstandsregister als „anderes“ eingetragen sind, die Möglichkeit einer Beziehung zu eröffnen, die staatlich anerkannt und rechtlich geregelt von Verantwortung und Verlässlichkeit geprägt ist, schlägt der Ethikrat mehrheitlich vor, Menschen mit dem Geschlechtseintrag „anderes“ die eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen. Ein Teil des Ethikrates plädiert darüber hinaus dafür, ihnen auch die Möglichkeit der Eheschließung zu eröffnen. Als Grundlage für künftige Entscheidungen des Gesetzgebers sollte geprüft werden, ob eine Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt noch notwendig ist.“ [Stellungnahme Ethikrat]xvi Die Öffentliche Anhörung im Bundestag am 25.6.2012 konzentrierte sich zunächst auch auf den Aspekt der Körperlichen Unversehrtheit. „Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Konstanze Plett von der Universität Bremen führte an, dass die unteilbaren Menschenrechte, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert worden seien, ab der Geburt Geltung hätten. Zu diesen Menschenrechten gehöre unzweifelhaft die körperliche Unversehrtheit. Ein fremdbestimmter körperlicher Eingriff dieses Ausmaßes sei deshalb nicht hinzunehmen. Lediglich wenn es um die Frage von Leben oder Tod gehe, sei dies statthaft. Erst wenn ein Kind sich in dieser Frage unzweifelhaft selbst äußern könne, dürfe eine Entscheidung gefällt werden. Und es müsse geprüft werden, dass die Entscheidung des Kindes für das eine oder andere Geschlecht ohne Beeinflussung von außen, etwa durch die Eltern, getroffen worden sei. Dies könne beispielsweise durch ein Familiengericht geschehen. Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen aus NeuWulmstorf, schloss sich diesem Plädoyer an: Weder Eltern, Ärzte, Psychologen noch ein Parlament hätten das Recht, das Geschlecht eines Menschen zwangsweise festlegen zu lassen. Dr. Jörg Woweries, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, führte an, dass es keinen medizinischen Beweis dafür gebe, dass eine Operation zur Geschlechtsfestlegung bei Kleinkindern ungefährlicher oder erfolgversprechender sei als bei einem Erwachsenen. In jedem Fall seien operative Eingriffe mit einem "hohen Risiko" behaftet und stellten einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen dar. In jedem Fall müsse vor jeder Operation eine neutrale Beratung stattfinden. Für deutlich verbesserte Beratungsangebote für die Eltern intersexueller Kinder sprach sich Julia Marie Kriegler von der Elterngruppe der 9 XY-Frauen aus. Sie berichtete dem Ausschuss von ihren eigenen Erfahrungen mit einem nunmehr sechsjährigen intersexuellen Kind. Eltern seien nach der Geburt mit einer solchen Situation völlig überfordert. Vor allem dürften sie jedoch nicht von Ärzten und Behörden zu einer schnellen Entscheidung gedrängt werden. Die Gesellschaft müsse erst langsam lernen, dass es neben den beiden "klassischen" Geschlechtern auch ein drittes Geschlecht gebe. Einmütig stellten die Experten zudem fest, dass das deutsche Personenstandsrecht nicht den Bedürfnissen von intersexuellen Menschen Rechnung trägt. Dr. Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat sprach sich dafür aus, neben den Eintragungen "männlich" und "weiblich" auch die Eintragung "anderes" zu ermöglichen. Woweries plädierte dafür, auf eine Geschlechtsfestlegung im Personenstandsrecht bis zur Volljährigkeit ganz zu verzichten. Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Tobias Helms von der Universität Marburg wies jedoch darauf hin, dass Änderungen im deutschen Recht auch zu Problemen im internationalen Rechtsverkehr führen könnten.“ [Dokumentation der öffentlichen Anhörung im Bundestag]xvii KONTAKT Prof. Dr. Katja Sabisch, Juniorprofessur Gender Studies, Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, GC 04/159, Postfach 10 21 48, 44780 Bochum 0234-32-22988 [email protected]. i Die Textbausteine stammen größtenteils aus dem „Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT)“ (Schattenbericht), der von Lucie Veith (Intersexuelle Menschen e.V.) zusammengestellt wurde. Der gesamte Bericht ist unter folgender Adresse einzusehen: http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf. Außerdem wurden Artikel der Organisation zwischengeschlecht.org verwendet, einzusehen unter http://zwischengeschlecht.org/. Die im Februar 2012 veröffentlichte Stellungnahme des Deutschen Ethikrates (http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf) und die Dokumentation der Öffentlichen Anhörung im Bundestag zum Thema Intersexualität am 25. Juni 2012 (http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39209706_kw26_pa_familie/) sind ebenfalls Bestandteil der Zusammenstellung. ii Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ): Störungen der Geschlechtsentwicklung (No. 027/022, zuletzt aktualisiert 10/2010) S. 4 und 5: „Im Neugeborenenalter ist in der Regel keine chirurgische Therapie indiziert”; „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung ... stellen bei einem Neugeborenen keinen chirugischen, jedoch in der Regel einen psychosozialen Notfall dar.”; s.a. Chase (1998), Surgical progress is not the answer to intersexuality, J. Clin. Ethics 398. iii http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf , S. 5. iv http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf , S. 8. v http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf, S. 9f. vi Brinkmann et al. (2007), Geschlechtsidentität und psychische Belastung von erwachsenen Personen mit Intersexualität, ZfS 2007, 140: Über die Hälfte der Operierten weist Unsicherheiten in sexuellen Sozialkontakten und sexuellen Interaktionen auf, die ihre Sexualität behindern oder negativ beeinflussen. vii Genitale Dilatation, die regelmäßige Dehnung der Neo-Vagina nach der Operation zur Vermeidung der Rückbildung des Gewebes, wird als eine äußerst verletzende Erfahrung beschrieben. Die Einführung eines festen Gegenstandes in die Vagina eines jungen Menschen ist nicht nur schmerzhaft sondern stellt ein traumatisierendes Erlebnis dar. Derartige Eingriffe in den Körper, die ohne das Einverständnis des Opfers durchgeführt werden, stellen eine Vergewaltigung dar. In der AkayesuEntscheidung stellte der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda klar, dass unter Vergewaltigung nicht nur die Penetration der Vagina durch einen Penis zu verstehen ist, sondern auch die Penetration durch andere Objekte oder Körperteile. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sah eine vaginale „Untersuchung” mit dem Finger als Vergewaltigung und als Folter an, ein Eingriff, der demjenigen bei der Dilatation sehr ähnelt. Da Vergewaltigung „tiefe seelische Narben bei den Opfern zurücklässt, die im Unterschied zu den Folgen anderer Formen von körperlicher oder seelischer Gewalt wesentlich mehr Zeit benötigten, um zu heilen“, wurde sie in zahlreichen internationalen Kontexten als Folter eingestuft.90 Intersexuelle Menschen, die als Kinder Dilatation ausgesetzt waren, berichten später häufig davon, jegliche Art von Penetration nicht ertragen zu können, und Körperlichkeit als verstörend zu empfinden. [Schattenbericht Lucie Veith, S. 20] 10 viii Leitlinien: Störungen der Geschlechtsentwicklung (No. 027/022, zuletzt aktualisiert 10/2010) der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, S. 5. ix Genauere Definitionen und Auswirkungen der Eingriffe: Harnröhrenkorrekturen – Hypospadie, Fehlbildungen der Harnröhre: Harnröhrenausgang liegt irgendwo zwischen Penisspitze und Hodensack. Der Penis wird auseinandergeschnitten und es wird versucht, eine künstliche Harnröhre u.a. aus Vorhaut oder Mundschleimhaut zu konstruieren mit Ausgang an der Penisspitze. Sehr hohe Komplikationsraten, offizielle Diagnose für hoffnungslos Kaputtoperierte: "Hypospadie Krüppel". "Hypospadie" ist mittlerweile die wohl häufigste Diagnose für kosmetische Genitaloperationen im Kindesalter. Die aktuelle AWMF-Leitlinie 006/026 (Evidenzstufe 1 = niedrigste) empfiehlt ausdrücklich Operationen „auch aus ästhetisch-psychologischen Gründen.“ Die meisten Kliniken empfehlen OPs „zwischen dem 12. und 24. Lebensmonat“. Klitorisamputation, Klitorisreduktionsplastiken – Klitorishypertrophie, Adrenogenitales Syndrom (AGS/CAH), Androgenresistenz (AIS): Erscheinungsform des äußeren Genitals "zwischen" Klitoris und Penis, je nach Betrachtungsweise "vergrößerte Klitoris" oder "Mikropenis mit Hypospadie". „Adrenogenitales Syndrom (AGS)“ ist die wohl zweithäufigste Diagnose für kosmetische Genitaloperationen. Die aktuelle AWMF-Leitlinie 027/047 (Evidenzstufe 1 = niedrigste) empfiehlt unter "Operative Therapie": "[...] Die chirurgische Korrektur umfasst die Klitorisreduktionsplastik unter Schonung des Gefäß-Nervenbündels, die Labienplastik und die Vaginalerweiterungsplastik. In der Regel wird die Operation in Deutschland im ersten Lebensjahr durchgeführt." Bis in die 1980er Jahre wurde eine "zu grosse Klitoris" oder ein "uneindeutiges Genitale" kurzerhand amputiert – unter Berufung auf medizinische Studien, die "wissenschaftlich bewiesen", das für Frauen die Klitoris für das sexuelle Empfinden unwesentlich sei. Nach dem ChirurgInnenmotto "It's easier to dig a hole than to build a pole" ("Es ist einfacher, ein Loch zu graben als einen Mast zu bauen") wurden bis Anfang des 21. Jahrhunderts die meisten Kinder mit "atypischen" Genitalien "zu Mädchen gemacht". Kastration, Orchidopexie, Hodenverlagerung – Komplette Androgenresistenz (CAIS), Androgenresistenz (AIS), Kryptorchismus, Bauchhoden: Bei Kompletter Androgenresistenz (CAIS) sowie bei "feminisierender Genitalkorrektur" bei AIS werden die gesunden hormonproduzierenden Hoden chirurgisch aus Bauchraum, Leisten oder Schamlippen entfernt und weggeschmissen – mit allen lebenslangen Folgen einer Kastration. Bei "maskulinisierenden Korrekturen" werden nicht abgestiegene Hoden versucht chirurgisch in den Hodensack zu verlegen und zu anzunähen – erwachsene Betroffene beklagen bleibende Schmerzen und unnötige Fertilisierungsexperimente ohne Evidenz. Anlegen Neovagina – Vaginalaplasie: Fehlen von Vagina und Gebärmutter, chirurgisches Anlegen einer künstlichen Vagina, ausgekleidet mit transplantierter Haut oder Darm, zunehmend laparoskopische 'Einbuchtungs-/Dehnungsmethoden' – im Kindesalter unnötig, traumatisierend und ohne Einwilligung (http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/03/23/Genitalverstuemmelung-typische-Diagnosen-undEingriffe). x http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf, S. 9-13. xi http://diskurs.ethikrat.org/author/joerg-woweries/. xii http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf , S. 14ff. xiii http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf , S. 27/28. xiv http://zwischengeschlecht.org/post/7.-Das-Problem-der-Instrumentalisierung-durch-LGBTQ. xv http://intersex.schattenbericht.org/public/Schattenbericht_CAT_2011_Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf , S. 29/30. xvi http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf. xvii http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39209706_kw26_pa_familie/. 11