Probelektion

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Probelektion
Kunstgeschichte
Lernheft 9
Gotische Kunst II
Inhaltsverzeichnis:
9.1
Einleitung ...............................................................................................
2
9.2
Übersicht................................................................................................
2
9.3
Gotische Architektur in England ............................................................
3
9.4
Gotische Kunst im übrigen Europa ........................................................
8
9.4.1
Gotische Architektur im übrigen Europa ................................................
8
9.4.1.1
Der Kölner Dom und der Veitsdom in Prag ...........................................
8
9.4.1.2
Backsteingotik in Nordeuropa................................................................
10
9.4.1.3
Gotische Hallenkirchen ..........................................................................
11
9.4.1.4
Monastische Architektur der Gotik.........................................................
13
9.4.1.5
Gotische Architektur in Südeuropa ........................................................
13
9.4.1.6
Gotische Profanarchitektur ....................................................................
15
9.4.2
Gotische Skulptur zwischen Frankreich und Deutschland ....................
16
9.4.3
Gotische Malerei ....................................................................................
18
9.4.4
Zwischen Architektur, Skulptur und Malerei: gotische Altäre ................
20
9.5
Selbstlernaufgaben ................................................................................
24
9.6
Zusammenfassung ................................................................................
25
9.7
Hausaufgabe .........................................................................................
25
9.8
Lösungen zu den Selbstlernaufgaben ...................................................
25
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DE-1080-00-00
Gotische Kunst II
9.1
Lernheft 9
Einleitung
Das Lernheft 8: Gotische Kunst I hat den Fokus auf das Geburtsland der Gotik,
Frankreich, gelegt. Insbesondere wurden die neuen künstlerischen Errungenschaften
an den so genannten ‚klassischen‘ Kathedralen in Chartres, Reims und Amiens
demonstriert. Die gotische Kunst strahlte jedoch bald schon auf viele andere europäische Gebiete aus. Der Spitzbogen ist das auffälligste Merkmal des gotischen Stils.
(Allerdings ist er auch schon in der romanischen Baukunst, etwa in Burgund, in der
Provence oder in Nordengland, anzutreffen.)
Er ist sehr variabel einsetzbar aufgrund der Veränderbarkeit des Knicks im Scheitel.
Dadurch erlaubt er verschiedene Jochbreiten mit gleichen Scheitelhöhen zu verbinden
– und umgekehrt gleiche Jochbreiten mit verschiedenen Scheitelhöhen. Ein großartiges, weil vielfach einsetzbares Stilmittel, das die Architekten zu vielfältigen
Raumlösungen inspirierte.
Am Äußeren der gotischen Kathedralen löst sich die Körperhaftigkeit des romanischen
Sakralbaus (vgl. Lernheft 7, Kapitel „Skulptur im Ostfränkischen Reich“ Abb. Dom zu
Speyer) zugunsten einer skelettartigen Bauform auf (vgl. Lernheft 8, Kapitel „Hybis
und Fall: Die Kathedrale von Beauvais“ Abb. Beauvais, Außenansicht des Chors). Das
1
Strebewerk (Strebepfeiler, Strebebogen, Fialen und Wasserspeier), das den Druck
des Mauerwerks – vor allem den der Mittelschiffe – entlastet, ist von den gotischen
Baumeistern durchaus als künstlerische Ausdrucksform verstanden worden (und nicht
nur als eine konstruktive Notwendigkeit), denn es entspricht nicht nur der Auflösung
der Wandflächen im Inneren, sondern lässt auch ganz neue Formen der
Außenarchitektur entstehen.
Lernziele:
Sie können nach Durcharbeitung dieses Lernhefts
–
einen Überblick über die gotische Kunst außerhalb Frankreichs erhalten.
–
einen Einblick in Formen der gotischen Kunst, die mit regionalen
Voraussetzungen kombiniert werden, wie etwa die italienische Gotik oder die
nordeuropäische Backsteingotik bekommen.
–
einen Überblick über die Schlüsselwerke der gotischen Kunst außerhalb
Frankreichs.
9.2
Übersicht
In diesem zweiten Lernheft zur gotischen Kunst soll ein Überblick über die Entwicklung der Gotik in den europäischen Regionen außerhalb Frankreichs gegeben
werden. Vor allem England, das mit Frankreich territorial und politisch eng verbunden
war, nahm die umstürzenden Ideen der Gotik schnell begierig auf, aber die englischen
Architekten und Künstler verschmolzen diese mit ihren eigenen, die vielfach aus der
anglo-normannischen Tradition stammten – und beeinflussten ihrerseits wiederum mit
1
Als Fialen (griech. phiale = Gefäß) werden filigrane Türmchen bezeichnet, die u. a. den
Abschluss von Strebepfeilern bilden.
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
fantasievollen Lösungen vor allem die spätgotischen Formen auf dem europäischen
Festland jenseits der Alpen. (In Italien hatte längst die sich aus der Antike speisende
Renaissance eingesetzt.) Im Heiligen Römischen Reich – also in Deutschland und
Italien – sind die französischen Vorbilder ganz unterschiedlich umgesetzt worden. In
den beiden einwohnerreichsten Städten Deutschlands im hohen Mittelalter, in Köln
und in Lübeck, entstanden mit den Neubauten des Doms und der Marienkirche
Sakralbauten, die mit ehrgeizigen Plänen zumindest mit den Vorbildern aus dem
Westen gleichzuziehen suchten, wenn sie sie nicht gar übertreffen wollten. Die
italienische Gotik hingegen verband die neuen Stilformen mit vielen Einflüssen, die
aus unterschiedlichsten Quellen stammten.
9.3
Gotische Architektur in England
Im 12. Jahrhundert waren weite Teile West- und Nordfrankreichs im so genannten
Angevinischen Reich unter englischer Herrschaft. Mit dem Bedeutungszuwachs des
französischen Königtums am Ende des 12. Jahrhunderts – der sich ja nicht zuletzt im
Bau der Kathedralen manifestierte – und der Eroberung der Normandie im Jahr 1204
durch Philipp Augustus (1180 – 1224) blieben England nur noch wenige Gebiete in
Frankreich. Nur langsam konnten im Lauf des 13. Jahrhunderts die englischen Könige
die eigene Macht festigen, was in der Errichtung der Royal Abbey in Westminster von
1245 bis 1269 seinen architektonischen Ausdruck fand. Eng verbunden mit Frankreich
entwickelten sich dennoch in England ganz eigene gotische Stilformen. Man unterscheidet im Wesentlichen drei Phasen, die sich am Maßwerk der Fenster ablesen
lassen: Early English (um 1180 – 1240), Decorated Style (1240 – 1330) und
Perpendicular Style (1330 – 1500).
Abb. 1:
Early English (vgl. Abb. Salisbury)
Abb. 2:
Decorated Style
Abb. 3:
Perpendicular Style
Der bedeutendste Bau des Early English im Süden der Insel ist die Kathedrale in
Salisbury (s. Abb.). Um 1220 – etwa zur gleichen Zeit wie in Amiens – wurde auch in
Salisbury mit dem Bau der Kathedrale begonnen. Doch wie anders ist diese englische
Gotik! Nicht das unbedingte Streben in die Höhe wie in Frankreich, damit auch nicht
das skeletthafte Strebewerk am Außenbau, sondern hier liegen die einzelnen Bauteile
ruhig nebeneinander: das Langhaus, zwei Querhäuser, schließlich der Chor mit
seinen Kapellen; einzig der hochaufragende, fast elegant zu nennende Turm lässt
etwas vom himmelsstürmenden Geist der Gotik Frankreichs ahnen. Die Wände und
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Fassaden sind bei weitem nicht so aufgelöst oder diaphan (= durchscheinend) wie bei
den ‚klassischen‘ französischen Kathedralbauten. Und der Grundriss besteht nur aus
vier- oder rechteckigen Jochen, kein polygonaler Chorumgang, keine polygonalen
Chorkapellen etwa wie in Chartres (vgl. Grundriss in Lernheft 8).
Abb. 4:
Salisbury, Cathedral
Doch das Innere ist von einer ruhigen, durch und durch gotischen Eleganz – allerdings
ohne den Willen zur absoluten Vertikalität, denn die Geschosse sind (Arkaden,
2
Triforium, Obergaden) durch horizontale Gesimse klar voneinander getrennt.
Um 1180 wurde im Westen Englands mit dem Bau der Kathedrale von Wells
begonnen. Ähnlich wie in Salisbury sind auch in diesem Mittelschiff die Zonen des
Wandaufbaus horizontal klar voneinander abgegrenzt.
Die Pfeiler des Langhauses (s. Abb.), von dünnen Diensten in Dreierbündeln umstellt,
laufen auf eine Vierung zu, deren eigenartiges Strebewerk – eine Kombination von
Spitzbogen, darüber liegendem umgekehrtem Spitzbogen und‚ dazwischen
geklemmten‘ Kreisen – ist in erster Linie kein besonders skurriler Einfall der
Architekten (wie man es bei dem Einfallsreichtum der englischen Gotik durchaus
vermuten könnte), sondern entsprang einer realen Gefahr: Als 1322 der Vierungsturm
vollendet war, drohten die ein Jahrhundert zuvor entstandenen Schiffwände einzustürzen. Um nicht die Vierungspfeiler phantasielos und möglicherweise unästhetisch
bloß verstärken zu müssen, entschloss man sich zu dieser erstaunlichen inneren
Verstrebung. Auch fällt diese Lösung schon in die Periode des Decorated Style.
2
Als Gesimse werden waagerechte Streifen bezeichnet, die aus der Mauer hervortreten, um
die waagerechten Bauabschnitte hervorzuheben.
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Gotische Kunst II
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Abb. 5:
Wells, Cathedral
König Heinrich III. (1207 – 1272) war Auftraggeber des gotischen Neubaus von
Westminster Abbey. Durch dieses Projekt wollte er – wie viele monarchische
Bauherren vor ihm – das schwache englische Königtum aufwerten.
Zweifellos diente die Kathedrale von
Reims (s. Lernheft 8) als Vorbild und
vermutlich hatte sich der König sogar
einen Architekten von dort geholt:
Heinrich von Reyns. 1245 begann
man mit dem Bau, dessen 32 m hoch
aufragendes Mittelschiff die Westminster Abbey zu Englands bis dahin
höchstem Sakralbau machte. Der
dreizonige Aufriss mit hohen Arkaden,
schmaler Emporenzone und Obergaden, der Grundriss mit dreischiffigem Querhaus und Chorumgang mit
Kapellenkranz sowie das offen
liegende Strebesystem am Außenbau
verweisen direkt auf französische
Vorbilder. Neu sind das Maßwerk in
den oberen beiden Zonen und die
Rosenfenster an beiden Querhausfronten.
Abb. 6:
London, Westminster Abbey, Mittelschiff
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Gotische Kunst II
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Allerdings werden die französischen Vorbilder nicht einszueins umgesetzt, sondern
mit Elementen englischer Tradition durchsetzt. Statt Triforium gibt es eine Emporenzone sowie auch andere Abweichungen von französischen Formen. Das mag auch
mit den Nachfolgern Heinrichs von Reyns zusammenhängen, den englischen
Baumeistern Johannes von Gloucester (seit 1253) und Robert von Beverley (seit
1260). 1269 war die Chorweihe von Westminster Abbey, mit der in gewisser Weise
der Decorated Style begann. Erst nach 1375 war das Langhaus vollendet. Heinrich III.
machte die Kirche zu seiner Grablege. Schon sein Vorgänger Edward the Confessor
(um 1004 – 1066), der 1161 heiliggesprochen wurde, war dort bestattet worden. Viele
englische Monarchen folgten ihnen, so dass Heinrichs vermutlicher Plan, mit
Westminster Abbey ein Pendant zur Abteikirche Saint-Denis zu schaffen, der
Grablege der französischen Könige, aufgegangen ist. Später wurden hier auch viele
berühmte Künstler und Wissenschaftler beigesetzt wie etwa die Komponisten Henry
Purcell und Georg Friedrich Händel, der Schriftsteller Charles Dickens oder der
Naturforscher Charles Darwin.
Um 1275 begann man auch in Exeter mit dem Bau einer gotischen Kathedrale, deren
Vorgängerbau ohne Unterbrechung von Ost nach West im Decorated Style erneuert
wurde. Es entstand einer der wunderbarsten Innenräume gotischer Sakralbauten in
England. Der von 1316 bis 1342 wirkende Architekt Thomas von Witney schuf
vermutlich zwischen 1327 und 1346 die Westfassade (s. Abb.), die auf höchst
originelle Weise Elemente der französischen Fassadenarchitektur aufgreift, sie aber
ganz anders komponiert. Die drei Portale sind in drei übereinander liegende Figurenreihen eingelassen; darüber – leicht nach hinten versetzt – das die Fassade
beherrschende Maßwerkfenster, das in sich die Idee der Rosette aufgreift: bekrönt
vom wiederum zurückgesetzten Giebel des Mittelschiffs.
Abb. 7:
Exeter, Cathedral, Westfassade
Die 1446 begonnene Kapelle des King’s College in Cambridge ist ein herausragendes
Beispiel für den Perpendicular Style. Der fast 100 m lange rechteckige, kastenförmige
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Gotische Kunst II
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Saal wurde erst 1515 beendet. Erneut dienten französische Kapellen als Vorbilder wie
etwa die Pariser Sainte-Chapelle (s. Lernheft 8).
Abb. 8:
Cambridge, King’s College Chapel
Die Gewölbe, die sich aus vier Trichtervierteln zusammensetzen, sind ganz und gar
mit Maßwerk (vgl. Lernheft 8) überzogen und heben die klaren Strukturen des
Kreuzrippengewölbes auf (vgl. Kapitel 8.3.1). Durch die vielleicht fantastischsten
Gewölbe der ausgehenden Gotik entsteht ein unglaublich schwebender Eindruck, zu
dem auch die zu riesigen Fenstern geöffneten Seitenwände beitragen.
Abb. 9:
Schema Trichtergewölbe
7
Gotische Kunst II
Lernheft 9
9.4
Gotische Kunst im übrigen Europa
9.4.1
Gotische Architektur im übrigen Europa
9.4.1.1
Der Kölner Dom und der Veitsdom in Prag
Der ehrgeizigste (und größte) Sakralbau der Gotik in Deutschland wurde zweifellos in
Köln projektiert. Aber die 1248 nach einem Plan des Dombaumeisters Gerhard von
Rile begonnene Kathedrale (Grundsteinlegung durch den Bischof Konrad von
Hochstaden) war offensichtlich in ihren Dimensionen zu gewaltig, als dass sie noch im
Mittelalter hätte vollendet werden können. Eine Ahnung davon kann man noch heute
bekommen, wenn man das Gotteshaus betritt.
Abb. 10: Ansicht des Kölner Doms, um 1824
Erst das von der Gotik enthusiasmierte 19. Jahrhundert sah sich imstande (vor allem
durch die im Industriezeitalter entwickelten Stahlkonstruktionen und andere
technische Errungenschaften), die gewaltigen mittelalterlichen Planungen zu
realisieren. Nur der 1322 geweihte Chor und die etwa seit 1350 entstandenen Sockel
der Türme wurden in gotischer Zeit errichtet. Der nach den originalen Plänen zu Ende
geführte Bau begann nach der 1842 erfolgten Grundsteinlegung durch den
preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und wurde 1880 in Anwesenheit Kaiser
Wilhelms I. eingeweiht.
Vermutlich waren die avanciertesten der so genannten ‚klassischen‘ französischen
Kathedralen in Amiens (s. Lernheft 8) und die Kathedrale von Beauvais Vorbilder für
den Kölner Dom. Aber ihr schier unglaublicher Höhendrang wurde durch die Idee der
Kölner Architekten noch überboten, das durchfensterte Triforium und den Obergaden
gleichsam zu verschmelzen, um damit aus einem dreiteiligen Wandaufriss einen mehr
oder weniger zweiteiligen entstehen zu lassen (s. Abb. Mittelschiff nach Osten und
Abb. Aufriss). Diesen Eindruck macht in gewisser Weise schon die Lösung in der
Kathedrale von Beauvais.
Die Gewölbehöhe des Kölner Mittelschiffs von ca. 43, 45 m übertrifft zwar das Vorbild
in Amiens mit ca. 42 m nur um ein Weniges, hat jedoch nicht diejenige der eingestürzten Chorgewölbe der Kathedrale von Beauvais erreicht. Überboten wurden die
‚klassischen‘ französischen Kathedralen in dem von vornherein geplanten fünfschiffi-
8
Gotische Kunst II
Lernheft 9
gen Langhaus, das dem Innenraum eine in vergleichbaren Sakralbauten selten
erlebbare Weite und Großzügigkeit verschafft.
Abb. 11: Köln, Dom, Außenansicht
Abb. 12: Mittelschiff nach Osten
Prag war während der Herrschaft Kaiser Karls IV. (1316 – 1378, deutscher König
1346, König von Böhmen 1347, Kaiser 1355) zwischen 1346 und 1378 die eigentliche
Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Mit dem vermutlich ab
1344 begonnenen Chorneubau des Veitsdoms, als Prag (bis dahin abhängig vom
Erzbischof von Mainz) zum Erzbistum erhoben wurde, beauftragte der in Paris
erzogene Karl IV. zunächst den französischen Architekten Matthias von Arras.
Abb. 13: Prag, Veitsdom, Triforium
9
Gotische Kunst II
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Neben vielen anderen neuen, überraschenden Lösungen gotischen Sakralbaus ist
auch die Gestaltung des Triforiums erstaunlich, das zusammen mit dem lichtvollen
Obergaden von 1374 bis 1385 errichtet wurde. Eine Brüstung aus Maßwerk setzt vor
dem Triforium ein gewichtiges horizontales Element. Dahinter – entsprechend der
Gliederung der Obergadenfenster – finden sich fünf schlanke Säulen, hinter denen die
Wand durchfenstert ist: ein räumliches Element, das erneut einen emporenähnlichen
Eindruck verschafft, ohne Empore zu sein.
9.4.1.2
Backsteingotik in Nordeuropa
Neben Köln war Lübeck im hohen Mittelalter zeitweise die größte Stadt in
Deutschland. Die Lübecker Marienkirche ist zweifellos das imposanteste Beispiel
norddeutscher Backsteingotik. Die in der zweiten Hälfte des Mittelalters reiche und
damit auch mächtige Handelsstadt, die Oberhaupt des wirtschaftlich und kulturell
einflussreichen Hansebundes war, ‚Königin der Hanse‘ genannt, konnte es sich
leisten, dem nur wenige hundert Meter entfernt liegenden Sitz des Bischofs mit
seinem Dom – eine Stiftung Heinrichs des Löwen (s. Lernheft 7) im Jahr 1173 – eine
Kirche der Bürgerschaft entgegenzusetzen. Sie sollte dem Machtanspruch der Kirche
Paroli bieten.
Dafür griffen die französisch geschulten Baumeister auf das Formenrepertoire der
westlichen Kathedralgotik zurück und übersetzten es mit ihrem Baumaterial, dem
roten Backstein, in eine ganz eigentümliche Form gotischer Architektur, die sich von
Lübeck aus über den gesamten Ostseeraum ausbreitete.
Der Vorgängerbau, eine um
1200 entstandene große
romanische Basilika, sollte
schon etwa fünfzig Jahre
später durch eine riesige
gotische Hallenkirche
(s. „Backsteingotik in
Nordeuropa“) ersetzt werden.
Aber in nur wenigen Jahren
setzte sich die Idee eines
Kathedralbaus durch, dessen
Chor in der Zeit zwischen 1260
und 1280/90 entstand. 1304
wurde mit dem Nordturm, 1310
mit dem Südturm begonnen,
bevor das Langhaus zwischen
Chor und Turmfront um 1330
vollendet wurde.
Abb. 14: Lübeck, St. Marien
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Gotische Kunst II
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Das Äußere des Baus ist von schnörkelloser Monumentalität und wird von den fast
125 m hohen Türmen und dem ca. 70 m langen Mittelschiff mit den kraftvollen
Strebebögen bestimmt, die die Last der Hochschiffwände auf mächtige Strebepfeiler
ableiten.
Die Wirkung des Inneren wird
bestimmt von der gigantischen
Gewölbehöhe des Mittelschiffs,
das mit fast 39 m sogar noch
etwas die Kathedrale in Reims
übertrifft (vgl. Lernheft 8); die
Seitenschiffe sind mit ca. 20 m
nur etwa halb so hoch.
Mächtige, im Kern quadratische
Bündelpfeiler steigen in den
Obergaden, der – mehr noch als
im Kölner Dom – das Triforium
gleichsam in sich aufsaugt, in
dem das Licht nur durch den
oberen Teil der Fensterbögen
einfällt, während der untere Teil
bemalt ist. So entsteht ein
zweizoniger Aufriss.
Abb. 15: Lübeck, St. Marien, Chor
Es mag noch einmal daran erinnert sein, dass die frühgotischen Wandgliederungen
des Mittelschiffs – etwa in Noyon oder Laon – neben Arkadenzone, Obergaden und
Triforium noch durch eine Emporenzone charakterisiert waren. Dann hatte der
Architekt von Chartres die weitreichende Idee, den Aufriss zu straffen, indem er auf
die Emporenzone verzichtete. Dadurch wurde eine immer extremer werdende
Vertikalisierung des Raumes möglich.
Sie wurde in der Lübecker Marienkirche besonders durch die an den Pfeilern
emporsteigenden schmalen Stäbe betont, die in den Gewölberippen fortgesetzt
werden und das Mittelschiffgewölbe wenn nicht fragil, so doch fast elegant erscheinen
lassen. Dieser Eindruck von Eleganz wird durch die feinsinnigen Wandmalereien auf
spektakuläre Weise unterstützt.
9.4.1.3
Gotische Hallenkirchen
Die vermutlich vor 1400 entstandene wunderbare Kirche St. Maria zur Wiese in Soest
ist ein herausragendes Beispiel für eine Hallenkirche. Sie setzt dem Siegeszug der
‚Urform‘ gotischen Sakralbaus, der Basilika, eine faszinierende, ebenso lichtdurchflutete Alternative entgegen. Bei dem fast quadratischen (so genanntes westfälisches
Quadrat), rechteckigen Hauptraum von neun Jochen mit Mittel- und Seitenschiffen
von gleicher Höhe und drei Apsiden sind die Außenwände zugunsten eines überwältigenden Lichteinfalls ganz und gar durchbrochen. Die Gurten und Rippen der
(dünnen) Pfeiler setzen sich ohne gliedernde und damit unterbrechende Kapitelle bis
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Gotische Kunst II
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in die Gewölbe fort und demonstrieren den aufstrebenden Charakter des gotischen
Raumes, wenngleich anders als in den basilikalen Formen.
Abb. 16: Soest, St. Maria zur Wiese, Innenansicht und Chor
Hallenkirchen haben entweder ein hohes Einheitsdach über den Schiffen, parallele
Dächer über jedem einzelnen Schiff – wie beispielsweise die Danziger Marienkirche
(s. Abb.) – oder aber ein Längsdach über dem Mittelschiff und Querdächer über den
Seitenschiffen.
Abb. 17: Danzig, Marienkirche
12
Gotische Kunst II
9.4.1.4
Lernheft 9
Monastische Architektur der Gotik
1294 begannen die Franziskaner
den Neubau ihrer Kirche Santa
Croce in Florenz (s. Abb.), die um
1385 fertiggestellt wurde. 3 Sie wurde
mit ihren Dimensionen von 115 m
Länge, fast 75 m Breite und gut
38 m Höhe die größte italienische
Franziskanerkirche überhaupt und
zeigt Macht, Einfluss und Ansehen
des Bettelordens in der Stadt. Der
Popularität des Ordens war es auch
geschuldet, dass sich in seiner
Kirche auch gerne reiche Florentiner
Bürger durch Grabmale oder
Kunstwerke verewigen ließen, um
sich von ihren Sünden erlösen zu
lassen.
Abb. 18: Florenz, Santa Croce
Auch viele berühmte Italiener wie Michelangelo, Niccolò Machiavelli, Galileo Galilei
oder Gioacchino Rossini haben hier ihr Grabmal.
Der Architekt des Florentiner Doms, Arnolfo di Cambio (um 1240/45 – 1302) soll auch
Santa Croce geplant haben – wie der Architekt, Maler und Künstlerbiograf Giorgio
Vasari überliefert hat. Der Grundriss ist alles andere als den klassischen gotischen
Vorbildern verpflichtet: ein sehr ausladendes Langhaus mit Querschiff und sehr
kurzem Chorraum; der offene Dachstuhl und die weit geöffneten Arkaden des
Mittelschiffs zu den Seitenschiffen tragen zu dem weiträumigen Eindruck von Santa
Croce bei, der trotz der basilikalen Form einen fast hallenkirchlichen Raum empfinden
lässt (vgl. „Gotische Hallenkirchen“). Über der Arkadenzone verläuft eine Galerie, die
vor dem Querschiff ansteigt (s. Abb.): als würde der Kirchenraum in östlicher Richtung
höher werden.
9.4.1.5
Gotische Architektur in Südeuropa
Wie an der Fassade des Doms in Siena (begonnen 1284 von Giovanni Pisano) findet
man auch an der des Doms in Orvieto (s. Abb.), die um 1300 entstanden ist, im
Gegensatz zu den französischen Kathedralfassaden einen klareren, gestraffteren
zweizonigen Aufbau. Das Portalgeschoss wird durch ein schmales Arkadenband vom
Giebelgeschoss getrennt. Klare geometrische Formen sind beherrschend, die den
reichen Fassadenschmuck umgrenzen.
3
Nicht selten wird Santa Croce als ein früher Sakralbau der Renaissance behandelt.
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Gotische Kunst II
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Die (relativ wenigen) gotischen Fassaden
italienischer Sakralbauten zeichnen sich
durch eine Flächigkeit aus, die zwar das
gotische Formenrepertoire wie etwa
Spitzbogen, Wimperge, Fialen oder das
von einem Skulpturenfries umgebene
Rosenfenster (1354 von Andrea Arcagna,
s. Detailabbildung) aufgreifen, es jedoch
in ganz eigentümlicher Weise einsetzen,
so dass durch eine reduzierte Plastizität
ein zeichnerischer Eindruck die
skulpturale Wirkung der französischen
Portalarchitektur überwiegt. So entsteht
geradezu eine Zweidimensionalität, die
allenfalls gotischen Architekturzeichnungen französischer Provenienz
entspräche (s. Abb. Straßburg, Münster).
Interessant dabei ist, dass vermutlich
Architekten aus Straßburg am Dombau in
Orvieto beteiligt waren.
Abb. 19: Orvieto, Dom, Westfassade
Abb. 20: Straßburg, Münster, Westfassade (Entwurf um 1275)
Abb. 21: Orvieto, Dom, Westfassade
(Detail)
Die gotische Baukunst berührte Italien mehr, als dass sie wirklich dort Fuß fasste.
Nach der byzantinisch beeinflussten Romanik (s. Lernheft 7, Kapitel „Romanische
Malerei“) entstanden dort schon bald erste Zeugnisse der Renaissance
(s. Lernheft 10).
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Gotische Kunst II
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Lernheft 9
Gotische Profanarchitektur
Der Dogenpalast (ital. Palazzo Ducale) in Venedig (s. Abb.) ist einer der bedeutendsten Profanbauten der Gotik. Sitz des Dogen und anderer Regierungs- und
Justizorgane der Republik Venedig, Versammlungsort des Großen Rats, repräsentiert
er glanzvoll ihre Macht. Er zeichnet sich durch eine besonders raffinierte Architektur
aus.
Abb. 22: Venedig, Palazzo Ducale
Die untere zweiteilige Arkadenfront trägt ein blockartiges Obergeschoss, das nur
durch wenige breite Fenster geöffnet ist. Die mittleren spitzbogigen Arkaden mit ihrem
Maßwerkdekor kontrastieren scharf mit dem festungsartig wirkenden Obergeschoss.
Hier wirken Einflüsse islamischer Baukunst, die der im Mittelalter so einflussreichen
See- und Handelsmacht Venedig bekannt war.
Ab 1340 begann der gotische Neubau, der sich über hundert Jahre hinzog. Der reiche
Skulpturenschmuck an den Kapitellen wurde von dem Bildhauer und Architekten
Filippo Calendario von 1340 bis zu seinem Tod 1355 geschaffen, als er, angeklagt der
Mitverschwörung im Fall des Dogen Falieri gegen die Staatsverfassung, hingerichtet
wurde.
In den reichen flämischen Handelsstädten entstand im 13. Jahrhundert eine
besondere Form von profaner Großarchitektur, die durchaus mit der Sakralarchitektur
in Konkurrenz trat: die ‚Hallen‘, die als Warenlager und Umschlagplätze sowie als
Versammlungsräume der Kaufmanns- und Bürgerschaft dienten.
Die Tuchhallen in Brügge (s. Abb.) sind eines der mächtigsten Beispiele für diese
städtischen Repräsentationsbauten. Die beiden quadratischen Geschosse des
Belfried genannten Turms (Höhe ca. 83 m) entstanden im letzten Drittel des
13. Jahrhunderts. Durch den oktogonalen Aufbau von 1482 bis 1486 erhöhte man den
Belfried um mehr als ein Drittel.
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Abb. 23: Brügge, Tuchhallen
9.4.2
Gotische Skulptur zwischen Frankreich und
Deutschland
Die Deutungen des Bamberger Reiters
im Bamberger Dom (vgl. Lernheft 7) sind
legendär. Untersuchungen haben weiße
Farbe am Pferd und rote am Mantel
nachgewiesen. Deswegen hat man den
Reiter als ‘König der Könige’ interpretiert,
der in der Apokalypse des Johannes
(19, 1 – 13) beschrieben wird: “Und ich
sah den Himmel aufgetan; und siehe ein
weißes Pferd, und der darauf saß, hieß:
Treu und Gerechtigkeit. / Seine Augen
sind eine Feuerflamme und auf seinem
Haupt viele Kronen [...] / Und er war
angetan mit einem Kleide, das mit Blut
besprengt war, und sein Name heißt: das
Wort Gottes“.
Abb. 24: Bamberg, Dom, Reiter
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Der Reiter wäre also eine Darstellung von Christus als Weltenrichter. Aber die Skulptur hat auch viele andere Deutungen erfahren. Einig war man sich jedoch immer über
die außergewöhnliche künstlerische Qualität des würdevoll in die Ferne schauenden
Reiters und seines Pferds.
Schon früh wurde angenommen, dass der anonyme Bildhauer die französischen
Kathedralskulpturen gekannt haben muss, ja dass er möglicherweise sogar in der
Reimser Bauhütte gearbeitet hat.
Abb. 25: Naumburg, Westchor des
Doms, Ekkehard
Abb. 26: Naumburg, Westchor des
Doms, Uta (Detail)
Die möglicherweise berühmtesten Skulpturen der Gotik in Deutschland sind die
Stifterfiguren im Naumburger Dom – allen voran das Paar Ekkehard und Uta. Zwölf
lebensgroße Figuren stehen vor den Seitenwänden und den Gewölbediensten des
Westchors, an Stellen also, wo normalerweise Heiligenfiguren stehen – in einem
hohen, hellen Raum, dessen zweibahnige Maßwerkfenster noch die weitgehend
erhaltenen Glasmalereien schmücken. Dargestellt sind die adligen Stifter des 11. und
12. Jahrhunderts, die in einem Dokument von 1249 als ‚primi fundatores‘ (lat. erste
Stifter) bezeichnet werden.
Kunsthistorisch bedeutsam ist die außergewöhnliche Lebendigkeit der Figuren
zusammen mit ihren individuellen Gesichtszügen. Aufgrund dessen hat man lange
angenommen, dass es französische Bildhauer gewesen sein müssten, die vermutlich
über Mainz nach Naumburg gekommen waren, um auch hier die immer lebendiger
werdenden Figurendarstellungen französischer Kathedralskulptur Gestalt werden zu
lassen.
Die Kühnheit jedoch, mit der der so genannte Naumburger Meister Gestalt und
Haltung mittelalterlicher Aristokraten ins Bild gesetzt hat, ist unvergleichlich: Selbstbewusst und distanziert, zugleich von lebendiger innerer Bewegung durchdrungen,
tritt das Markgrafenpaar Ekkehard und Uta mit seinen feinen Gesichtszügen dem
Betrachter entgegen.
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Gotische Kunst II
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Mit dem Andachtsbild ist um 1300 neben dem Kultbild und der Bauskulptur der
Kathedralen eine neue Form von Bildwerken entstanden. Dazu gehören etwa
Darstellungen Marias mit dem Leichnam ihres Sohns, die so genannte Pietà (Mitleid),
des leidenden Christus, des Schmerzensmannes (Empathie), und der vor allem in
Südwestdeutschland verbreiteten Christus-Johannes-Gruppen (Liebe), eine
Formation, die aus Abendmahlsdarstellungen herausgelöst wurde.
Beim letzten Abendmahl Christi, so
berichtet die Bibel, ‚war aber einer
unter seinen Jüngern, welchen
Jesus lieb hatte, der lag bei Tische
an der Brust Jesu‘ (Joh. 13, 23).
Diese intime Zuneigungsgeste
wurde im Mittelalter zu einem
Paradigma vertrauensvoller
Bindung zwischen zwei Menschen.
Die vor allem in Klöstern
verbreiteten Bildwerke zeigen wie
die heute in Berlin verwahrte um
1330 entstandene ChristusJohannes-Gruppe (vermutlich aus
Sigmaringen, s. Abb.) eine ruhige,
intime Zweisamkeit, in der sich
durchaus auch sublimierte
erotische Empfindungen
widerspiegeln.
Abb. 27: Südwestdeutschland, Christus-Johannes-Gruppe,
heute Berlin, Bode-Museum
9.4.3
Gotische Malerei
Wie die genialen gotischen Baumeister ihre gewaltigen Kathedralen proportioniert und
vermessen haben, so stellte man sich um 1250 auch den Weltenbaumeister Gott vor.
Dieses erste Blatt der so genannten ‚Bible moralisée‘ zeigt Gott in der linken Hand das
Weltenrund haltend.
In seiner rechten hält er einen Zirkel, dessen einen Schenkel er in die Mitte des Runds
gestoßen hat, um mit dem anderen den ‚Weltenkreis‘ zu ziehen. Man sieht in ihm
schon Sonne und Mond, eine wolkenartige Struktur und in der Mitte ein klumpenförmiges Gebilde: die Erde. Diese vielschichtige Darstellung zeigt die mittelalterliche
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Vorstellung einer rational durchgeplanten Welt. Zu dieser Zeit begann auch die
Bedeutung der neugegründeten Universitäten zuzunehmen.
Abb. 28: Bible moralisée, Gott als Vermesser der Welt
Jan van Eyck (um 1390 – 1441) gilt als der bedeutendste Repräsentant altniederländischer Malerei. Sein vermutlich um 1426 entstandenes Gemälde Maria in der
Kirche (Abb. links), ein kleines Format von 31 x 14 cm, zeigt den Maler als Virtuosen
der (gotischen) Architekturmalerei.
In der äußerst filigranen Darstellung des Inneren einer gotischen Kirche – mit dem
beispielhaften Aufriss von Arkadenzone, Triforium und Obergaden (vgl. Lernheft 8) –,
deren großartig gestaltete Perspektive die Abbildungen architektonischer Formen
früherer Zeit weit hinter sich lässt, schwebt Maria mit dem Jesuskind in Übergröße mit
prachtvoller Krone, bewegtem Gewand und feinsinnig gestaltetem Gesicht. Gegenüber den dramatischeren und zugleich intimeren Mariendarstellungen von Matthias
Grünewald etwa drei Generationen später zeigt die Jan van Eycks eine abgeklärte, in
sich ruhende Figur der Gottesmutter.
Die vermutlich um 1450 entstandene Grablegung Christi von Rogier van der
Weyden (um 1400 – 1464, 110 x 96 cm) zeigt deutliche Einflüsse italienischer
Renaissancemalerei (vgl. Lernheft 10), die der Maler auf einer Italienreise um 1450
kennen gelernt hat.
19
Gotische Kunst II
Lernheft 9
Abb. 29: Jan van Eyck, Maria in
der Kirche
9.4.4
Abb. 30: Rogier van der Weyden,
Grablegung Christi
Zwischen Architektur, Skulptur und Malerei:
gotische Altäre
Der vermutlich großartigste gotische Altar in
Norddeutschland ist der für die Hamburger
St.-Petri-Kirche geschaffene Hochaltar von
Meister Bertram aus Minden
(um 1340 – 1414/15). Eine mittelalterliche
Urkunde berichtet: ‚Anno 1383 wort de tafel
des hogen altares tho S. Peter tho
Hamborch gemaket. De se makede, hetede
mester Bartram van Mynden.
Abb. 32: Meister Bertram, ehem. St.-Petri-Hochaltar, Erschaffung der Tiere
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Der Altar hat im geöffneten Zustand eine Breite von 7,26 m, dabei eine Höhe von
2,77 m und beeindruckt den Betrachter schon allein durch seine Größe.
Es ist ein Wandelaltar, dessen Flügel den Gläubigen eine jeweils andere Ansicht
gemäß den Wochen-, Sonn- und Feiertagen vorstellte. Der Altar befindet sich heute in
der Hamburger Kunsthalle. Der geöffnete Altarschrein überwältigt den Betrachter mit
einer Unzahl von fast achtzig geschnitzten sitzenden oder stehenden Heiligenfiguren.
Über den in zwölf spitzbogigen Nischen platzierten Figuren des Unterbaus (der
Predella) erhebt sich ein zweigeschossiger Aufbau, in dessen Zentrum eine sich über
die zwei Geschosse erstreckende Kreuzigung befindet, das Zentrum christlicher
Heilslehre.
Die Malereien des Innenflügels des Altars zeigen in geöffnetem Zustand Gottes
Erschaffung der Welt, den Sündenfall des Menschen, die jüdischen Patriarchen und
Szenen aus der Kindheit Christi. Gern wüsste man, ob Meister Bertram von Minden
einmal in Hildesheim gewesen ist. Wäre er dort gewesen, so hätte er sicher auch die
knapp 300 Jahre zuvor geschaffenen bronzenen Bernwardstüren von St. Michael
gesehen (vgl. Lernheft 6, Kapitel „Ottonische Skulptur“).
Die drastische Darstellung der
Verurteilung Adams und Evas nach
dem Sündenfall durch Gott setzt
Bertram in seinem Hamburger Altar
auf fast gleiche Weise um, nur dass
Gott nicht – wie in Hildesheim – auf
Adam, sondern auf den Baum der
Erkenntnis zeigt. Das Gewundene von
Adams Leib setzt er genauso ins Bild
wie die Schuldzuweisungen, wenn
Adam auf Eva und diese auf die am
Boden kriechende Schlange deutet.
Im Gegensatz zu dem von alttestamentarischer Wucht durchdrungenen
Hildesheimer Relief wirkt die Malerei
Meister Bertrams gleichsam naiv und
durch die Nähe der Figuren zueinander weit weniger dramatisch.
Abb. 32: Meister Bertram, ehem. St.-Petri-Hochaltar, Strafrede Gottes
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
In fast allen gotischen Kirchen findet
man einen Flügelaltar, nicht selten
auch mehrere. Ob nun als Hochaltar
im Chor, als (Seiten-)Altäre in
Kapellen oder auch einfach nur vor
Wänden oder Pfeilern – als zentrale
Ausstattungsstücke gotischer Kirchen
wurden mit zunehmender Heiligenund Reliquienverehrung immer mehr
Altäre aufgestellt.
Abb. 33: Schema Flügelaltar
Der Aufbau eines Flügelaltars (s. Abb.) besteht im Allgemeinen aus einem als Stipes
(lat. Klotz) bezeichneten Unterbau (f) und einer Mensa genannten Altarplatte (e).
Darüber beginnt mit der Predella (d) die eigentliche künstlerische Gestaltung des
Altars, über der sich der Schrein (b) mit den daran angesetzten Flügeln (c) befindet.
Diese drei Teile enthalten geschnitzte oder gemalte Bildwerke. Vor allem über
spätgotischen Altarschreinen befindet sich häufig ein so genanntes Gesprenge (a),
eine filigrane Anordnung von Maßwerk, Fialen und Baldachinen, unter denen sich
nicht selten weitere Heiligenfiguren befinden.
Einer der faszinierendsten Schnitzaltäre der Spätgotik (manchmal wird er auch schon
der Renaissance zugerechnet – vor allem wegen der Perspektivkonstruktionen der
Tafelbilder) ist der vollständig erhaltene, zwischen 1471 und 1481 entstandene
Hochaltar der Pfarrkirche von St. Wolfgang im Salzkammergut mit einer Gesamthöhe
von 11,10 m und einer Breite in geschlossenem Zustand von 3,16 m und von 6,50 m
bei geöffneten Flügeln.
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Abb. 34: Michael Pacher, St. Wolfgang, Hochaltar (Schrein)
Sein Schöpfer ist der in Bruneck in Südtirol und in Salzburg wirkende Maler und
Bildhauer Michael Pacher (um 1435 – 98). In seinem berühmtesten, vollständig
erhaltenen Werk stellen lebensgroße Figuren im Schrein, dem Zentrum des Altars, die
Krönung der Gottesmutter Maria dar. Oberitalienische Einflüsse der Renaissance wie
eine perfekt perspektivische Gestaltung sind verbunden mit gotischen Elementen, die
zur Zeit der Entstehung des Altars für die Kunst nördlich der Alpen noch ungebrochen
Geltung hatten:
Bewegte Gewänder, das Maßwerk mit seinen filigranen Formen und Baldachine über
den zentralen Figuren sind durchaus noch von gotischem Geist durchdrungen und
sind auf eindrucksvolle Weise miteinander verbunden. Zum Eindruck des Kostbaren
trägt auch die farbige, größtenteils goldene Fassung bei – und so kann von dem
Mittelschrein (s. Abb.) als von der wunderbarsten Bildschnitzerei des 15. Jahrhunderts
gesprochen werden.
Tilman Riemenschneider (um 1460 – 1531) hat mit seiner Werkstatt in Würzburg mit
dem berühmten Heilig-Blut-Altar in der St.-Jakobs-Kirche in Rothenburg ob der
Tauber (s. Abb.) einen Reliquienaltar geschaffen (1499 – 1504), der zur Verehrung
eines angeblich dort aufbewahrten Blutstropfens Christi diente. Dieser noch später als
der von Michael Pacher geschaffene Altar scheint aber noch viel mehr als Pachers
Werk den gotischen Gestaltungsprinzipien verhaftet. Der dreiteilige Hintergrund (des
Chors einer gotischen Kirche) versammelt die Jünger Jesu beim letzten Abendmahl
vor der Kreuzigung. Zudem zeigt er auch charakteristische Züge spätgotischer
Formgebung: ihre immer unruhigere Linienführung und ihre ausschweifender
werdende Formfantasie.
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Gotische Kunst II
Lernheft 9
Abb. 35: Tilman Riemenschneider, Heilig-Blut-Altar (Detail)
Aber auch ikonografisch geht Riemenschneider neue und ungewöhnliche Wege: Nicht
Jesus, sondern der ‚Verräter‘ Judas wird zur zentralen Figur, die als einzige stehend
dargestellt ist.
9.5
Selbstlernaufgaben
1.
Welche Perioden unterscheidet man in der englischen Gotik und wie würden Sie
diese stilistisch beschreiben?
2.
Welche sakrale Bauform hat die Gotik neben der Basilika geschaffen?
3.
Beschreiben Sie die (ikonografischen) Gemeinsamkeiten und Unterschiede der
Sündenfall-Darstellungen der Hildesheimer Bernwardstür und der Altarmalerei
Meister Bertrams.
4.
Nennen Sie Formen des mittelalterlichen Andachtsbildes und erläutern Sie ihre
Funktion.
5.
Wie nennt man die verschiedenen Teile, aus denen ein (spät) gotischer Flügelaltar besteht?
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Gotische Kunst II
9.6
Lernheft 9
Zusammenfassung
Die aus Frankreich kommenden Formen der gotischen Kunst haben sich in ganz
Europa ausgebreitet, allerdings in ganz eigenen Formen. In England entstanden
gewaltige Sakralbauten, die die französischen Anregungen mit eigenen Traditionen
verbanden und daraus äußerst fantasievolle Formen entwickelten. In Nordeuropa
entwickelte sich die Backsteingotik. In Italien schufen die Architekten mit dem
gotischen Formenrepertoire einen ganz eigentümlichen Stil. Auch die städtische
Architektur erhielt in gotischer Zeit durch repräsentative Bauten ein neues Gesicht.
Die französische Kathedralskulptur fand besonders in Deutschland bedeutende
Nachfolgelösungen, so in Bamberg und in Naumburg.
In der Gotik bildet sich neben der Buch- und Glasmalerei die Tafelmalerei mehr und
mehr aus und bleibt auch nicht länger auf die Altarmalerei beschränkt. Erstmals im
Mittelalter werden so einzelne Künstler individuell und namentlich wahrgenommen.
9.7
Hausaufgabe
Stellen Sie die Besonderheiten der Entwicklungen der gotischen Kunst dar, indem Sie
den jeweiligen Ländern (England, Deutschland, Italien) in Abgrenzung zur
französischen Gotik Ihre Aufmerksamkeit widmen.
9.8
Lösungen zu den Selbstlernaufgaben
1.
Man unterscheidet im Wesentlichen drei Phasen: Early English
(um 1180 – 1240), Decorated Style (1240 – 1330) und Perpendicular Style
(1330 – 1500). Sie lassen sich am Maßwerk der Fenster ablesen, das immer
aufwändiger und fantasievoller gestaltet wurde.
2.
Den Typus der Hallenkirche, bei der Mittel- und Seitenschiffe gleiche Höhe
haben.
3.
Im Gegensatz zur dramatischen Strenge des Hildesheimer Reliefs mit der
Distanzierung der Figuren voneinander wirkt das Gemälde Meister Bertrams
gleichsam naiv und durch die Nähe der Figuren zueinander weit weniger
dramatisch.
4.
Dazu gehören etwa die Pietà, der Schmerzensmann und die Christus-JohannesGruppe. Sie sollen bei ihren Betrachtern Mitleid, Empathie (Einfühlung) und Liebe
zu/mit ihren Mitmenschen hervorrufen.
5.
Stipes, Mensa, Predella, Schrein mit Flügeln, Gesprenge (von unten nach oben).
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