Albanien, Makedonien

Transcrição

Albanien, Makedonien
Religion &
Gesellschaft
RGOW 4 / 2012
40. Jahrgang
in
Ost
Albanien, Makedonien
Das Verhältnis von Religion
und Nation in Albanien
10
Menschenhandel in Albanien
13
Makedonien im 20. Jahrhundert
16
und
West
2|
e d i tor i a l
Nr. 4 2012
RGOW
I N H A LT
3
I M F O K US
Jasmina Opardija
Bessere Perspektiven für junge
Sozialwissenschaftler schaffen
4
R U N D S C H AU
ALBANIEN
Hans Lempert
10Das Verhältnis von Religion und Nation
in Albanien
13
Eglantina Gjermeni
Menschenhandel in Albanien
Liebe Leserin
Lieber Leser
Von den südosteuropäischen Ländern macht gegenwärtig vor allem
Griechenland Schlagzeilen. Die anderen Länder der Region verschwinden dagegen im Windschatten der griechischen Krise. Dies gilt nicht
zuletzt für die beiden unmittelbaren Nachbarn von Griechenland: Albanien und Makedonien. Mit Albanien werden in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist diffuse Vorstellungen und Schlagworte wie «Armenhaus Europas» und «Blutrache» verbunden. Im Falle Makedonien ist am
ehesten der epische Streit mit Griechenland um den Staatsnamen be-
16
MAKEDONIEN
kannt, über dessen jeweiligen Wendungen die Tagespresse in regel-
Nada Boškovska
Makedonien im 20. Jahrhundert
mäßigen Abständen berichtet. Jüngster Akt in dem nicht enden wollenden Drama war im Dezember 2011 die Verurteilung Griechenlands
durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, da Griechenland
Nenad Markovikj u. a.
19Die Rolle der EU beim Konfliktmanagement in Makedonien
2008 unrechtmäßig den NATO-Beitritt Makedoniens verhindert habe.
Ljupco S. Risteski
22Die Torbeschen in Makedonien
eine stürmische Entwicklung genommen: Albanien wurde 1990 als letz-
Hristina Cipusheva u. a.
25Arbeitsmigration aus Albanien
und Makedonien
Albanien und Makedonien, die beide eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben, haben in den letzten beiden Jahrzehnten
tes Land im östlichen Europa von der Wende erfasst, nach jahrzehnterlanger Isolation unter dem Regime von Enver Hoxha öffnete sich das
Land schrittweise Richtung Westen. Politisch und wirtschaftlich hat
das Land in den letzten Jahren zweifellos große Fortschritte gemacht,
doch leidet es an einer scharfen Polarisierung der beiden großen politischen Parteien, was immer wieder zu Blockaden im Reformprozess
P R O J E K TA R B E I T
Franziska Rich, Priester Leonid Zapok
28Aufbau eines orthodoxen
Gemeindelebens in Fernost
führt. Schwache staatliche Institutionen, Armut und Perspektivlosigkeit
sind die Ursachen für eines der gravierendsten Probleme Albaniens –
dem Menschenhandel, über den Eglantina Gjermeni berichtet.
Mit der politischen Entwicklung Makedoniens im 20. Jahrhundert macht
der Beitrag von Nada Boškovska vertraut. Makedonien konnte sich 1991
friedlich von Jugoslawien lösen, allerdings kam es im Jahr 2001 zu
BUCHANZEIGEN
Sabrina P. Ramet
30Die drei Jugoslawien
bewaffneten Zusammenstößen zwischen makedonischen Sicherheitskräften und einer albanischen Guerilla, die für eine Verbesserung der
Minderheitenrechte der albanischen Bevölkerung kämpfte. Der Konflikt
konnte jedoch rasch beigelegt werden, wie der Artikel zur Rolle der EU
31
Oliver Schmitt (Hg.)
Religion und Kultur im albanischsprachigen Südosteuropa
beim Konfliktmanagement in Makedonien veranschaulicht.
Karl Kaser
Balkan und Naher Osten
gramme in the Western Balkans» (RRPP) entstanden. An dieser Stelle
Die vorliegende Ausgabe zu Albanien und Makedonien ist in Kooperation mit dem Forschungsnetzwerk «Regional Research Promotion Promöchten wir den Koordinatoren des Netzwerks bei der Auswahl der
Autorinnen und Autoren – unter anderem mehrere Nachwuchswissenschaftler aus Albanien und Makedonien – und für die großzügige fi-
Die Zeitschrift RGOW wird vom Institut G2W,
Ökumenisches Forum für Glauben, Religion
und Gesellschaft herausgegeben, das vom
gleichnamigen Verein getragen wird.
© N achdruck von Texten und Übernahme von
Bildern nur mit Genehmigung der Redaktion.
nanzielle Unterstützung danken.
Stefan Kube, Chefredakteur
Nr. 4 2012
RGOW
im fokus
Jasmina Opardija
Bessere Perspektiven für junge Sozialwissenschaftler schaffen
Der Westliche Balkan ist nach wie vor eine Region, die durch
ethnische Konflikte, unvollendete Staatsbildungsprozesse (vor
allem in Bosnien-Herzegowina und Kosovo), beträchtliche
soziale Ungleichheiten und Armut gekennzeichnet ist. Vor dem
Hintergrund der jahrzehntelangen politischen Instabilität dieser Region vollzieht sich der politische und sozio-ökonomische
Wandel nur sehr langsam. Die Ungleichheiten sind dabei nicht
nur eine Folge der ethnischen Konflikte und Kriege der 1990er
Jahre, sondern auch ein Vermächtnis der sozialistischen Vergangenheit.
Aufbau eines Forschungsnetzwerks
Strukturelle Reformen sind besonders im Bereich der Hochschulbildung und Forschung vonnöten. Die notwendigen Reformen auf diesem Gebiet werden vor allem von der Europäischen Union (EU) vorgegeben, deren Mitgliedschaft alle
Länder des sog. Westlichen Balkans anstreben: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Makedonien, Montenegro und
Serbien. Auf ein konkretes Beitrittsdatum kann sich zurzeit
aber nur Kroatien freuen, das neben Slowenien als zweites
Land des ehemaligen Jugoslawiens im Juli 2013 als 28. Mitgliedstaat in die EU aufgenommen werden soll. Alle anderen
Länder müssen noch warten und sich vor allem noch stärker
um Staatsreformen und regionale Zusammenarbeit bemühen.
Für die Sozialwissenschaften bleibt die Region, die sich immer
noch im Wandel befindet, nach wie vor ein spannendes Forschungsgebiet.
Seit 2008 unterstützt die Schweizer «Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit» (DEZA) den Aufbau sozialwissenschaftlicher Kapazitäten im Westlichen Balkan (ohne
Kroatien). Den Auftrag, dieses Regional Research Promotion
Programme in the Western Balkans umzusetzen, hat die Universität Fribourg erhalten. Seit nun mehr als vier Jahren ist es
dem Team in Fribourg gelungen, ein großes internationales
und regionales Netzwerk von Institutionen und Personen aufzubauen, die sich mit transformationsrelevanten Themen beschäftigen. Ein zentrales Anliegen ist zudem die Förderung
von Forschung an den öffentlichen Universitäten in der Region, wo empirische Forschung häufig immer noch in den Kinderschuhen steckt. Gerade für jüngere Forschende ist es
schwierig, sich in diesem Bereich zu etablieren, da sie oft als
unerwünschte Konkurrenz betrachtet werden oder gar nicht
zu Doktorandenstellen kommen, weil diese intransparent vergeben werden. Ihre akademische Entwicklung und Förderung
wird oftmals durch veraltete und patriarchale Strukturen,
mangelnde Methodenausbildung und schlechten Zugang zu
internationalen Netzwerken und internationalem Wissen verhindert.
Regionale Forschungsteams
Langfristig gesehen sollten gerade die Resultate der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Verstehen der oft sehr
komplexen Transformationsprozesse und zur Entwicklung
von möglichen Lösungsansätzen verhelfen. Deshalb werden
im Rahmen des RRPP vor allem Projekte unterstützt, die
sich mit folgenden, auf die Region bezogenen Themen beschäftigen:
1) Rechtsstaat und Demokratie
2) Sozialer und wirtschaftlicher Wandel sowie die Herausforderungen der (neuen) sozialen Ungleichheiten
3) «Managing Diversity» (nationale, ethnische und religiöse
Identitäten, Gender, Jugendliche und Minderheiten, inkl.
Roma)
4) Staaten, Netzwerke und Informalität
Bis 2013 wird das RRPP ca. 3 Millionen Schweizer Franken in
die Forschungsprojekte im Westlichen Balkan investieren. Bisher wurden fast 40 Projekte bewilligt. Derzeit laufen zehn regionale und acht auf Serbien fokussierte Projekte (http://www.
rrpp-westernbalkans.net/en/research/Current-Projects.html).
Dadurch werden insbesondere regionale Forschungsteams
gestärkt. Diese setzen sich aus einer neuen Generation von Forscherinnen zusammen, der Vernetzungsmöglichkeiten in einer
von Krieg gekennzeichneten Region oftmals fehlen. Es sind
Forscherinnen, die gemeinsam an Projekten arbeiten möchten
und deren Anliegen es ist, die Transformationsprozesse kritisch und offen zu diskutieren – auch über die ethnischen
Grenzen hinweg.
Seminare für Nachwuchswissenschaftler
Neben den Forschungsprojekten unterstützt und organisiert
das RRPP auch Seminare zu Forschungsmethoden, vor allem
für Doktorierende und junge Forschende. Da neuere sozialwissenschaftliche Methoden an den hiesigen Universitäten kaum
unterrichtet werden, versucht das Programm unter Einbeziehung internationaler Experten diese Kluft zu überbrücken. Die
Methodenseminare werden für mehr als 100 Teilnehmende
jährlich angeboten und finden immer in regionaler Zusammensetzung im Westlichen Balkan statt. Zur Vernetzung und
zum Austausch der Forschungsideen und -resultate dienen die
Jahreskonferenzen, bei denen Forscher aus der Region mit Forschenden aus aller Welt, die sich mit der Region befassen,
zusammentreffen.
Doch was wird passieren, wenn es dieses von der Schweiz
aus finanzierte Programm nicht mehr gibt? Derzeit arbeiten
die RRPP-Koordinatorinnen mit den zuständigen Behörden
und Entscheidungsträgern vor Ort in einem «Policy Dialogue»
zusammen. Ziel ist es, Lösungsansätze zu finden, um den Status der Sozialwissenschaften in den jeweiligen Ländern längerfristig und innerhalb der bestehenden Strukturen zu verbessern. Durch die Unterstützung einer neuen Generation von
Sozialwissenschaftlern, die zum Teil in wichtige Entscheidungspositionen gelangen, möchte das Programm somit einen
längerfristigen und nachhaltigen Beitrag zu den politischen
und sozial-ökonomischen Reformen im Westlichen Balkan
leisten.
Jasmina Opardija, Programm-Managerin des von der Schweizer
«Direktion für Entwicklung und Zusammmenarbeit» (DEZA)
geförderten «Regional Research Promotion Programme in the
Western Balkans» (RRPP) an der Universität Freiburg Schweiz;
www.rrpp-westernbalkans.net.
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rundschau
Nr. 4 2012
RGOW
Albanien
Albanische Orthodoxe Kirche weiht zwei neue Bischöfe
Die Orthodoxe Kirche von Albanien hat
ihre bisher aus sechs Bischöfen bestehende Hierarchie um zwei Bischöfe erweitert. Zum 20. Jahrestag des Wiedererstehens der orthodoxen Kirche nach
ihrer völligen Unterdrückung durch das
kommunistische Regime von Enver
Hoxha weihte das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche von Albanien, Erzbischof
Anastasios (Yannoulatos) von Tirana,
Archimandrit Nathaneil (Lavriotis) und
Archimandrit Asti (Bakalbashi) Ende
Januar zu Bischöfen. Beide Hierarchen
waren am 19. Januar auf Vorschlag des
aus Geistlichen und Laien bestehenden
Konzils der Kirche einstimmig gewählt
worden.
Der 54-jährige Bischof Nathaneil wurde
in jungen Jahren Mönch der Großen
Lavra auf dem Berg Athos, absolvierte
zunächst die Athonitische Hochschule
und anschließend die Theologische Fakultät an der Universität Thessaloniki.
1991, noch vor dem offiziellen Wiedererstehen der orthodoxen Kirche wurde
er nach Albanien entsandt und wirkte
dort in der Metropolie Gjirokastër. Neben seinen bischöflichen Aufgaben
übernimmt er die Supervision über die
Klöster. Bischof Nathaneil ist gebürtiger
Grieche und spricht fließend Albanisch.
Bischof Asti ist gebürtiger Albaner und
stammt aus einer orthodoxen Familie, die
ihren Glauben jedoch nur im Geheimen
ausüben konnte. Er studierte zunächst an
der Theologischen Akademie von Vlash
und dann an der Theologischen Fakultät
der Universität Thessaloniki. Zusätzlich
zu seiner Funktion als Vikar des Erzbischofs übernimmt er die Leitung der orthodoxen Hilfsorganisation «Diakonia
Agapes» (Diakonie der Liebe).
www.orthodoxalbania.org, 23. Januar;
KNA-ÖKI, 31. Januar 2012 – O.S.
Bulgarien
Bulgarische Orthodoxe Kirche will alle Geistlichen überprüfen lassen
Der Hl. Synod der Bulgarischen Orthodoxen Kirche verzichtet auf eine offizielle Stellungnahme zum Bericht der «Kommission für die Öffnung der Akten der
Staatssicherheit», wonach elf seiner 15
Mitglieder während der kommunistischen Zeit als Informelle Mitarbeiter mit
der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben (s. RGOW 3/2012, S. 4f.). Patriarch Maksim hatte die Metropoliten
zwar zu einer einstimmigen Erklärung
aufgefordert, doch darauf konnten sich
die Hierarchen nicht einigen. Die Metropoliten Gavriil (Dinev) von Loveč und Amvrosij (Paraškenov) von Dorostol – laut
der «Kommission für die Öffnung der
Akten der Staatssicherheit» waren beide
keine Informellen Mitarbeiter – erklärten,
jeder ihrer Amtsbrüder, der kollaboriert
hätte, müsse sich persönlich entschuldigen und Verantwortung auf sich nehmen.
Einige hätten über Jahre aktiv mit den
Geheimdiensten zusammengearbeitet,
während andere lediglich Berichte über
ihre Auslandsreisen verfasst hätten.
Der Hl. Synod beschloss allerdings, der
«Kommission für die Öffnung der Akten
der Staatssicherheit» die Daten aller
Kleriker zur Verfügung zu stellen, um
diese auf mögliche Kontakte zu den
kommunistischen Geheimdiensten
überprüfen zu lassen. Da die Kommission jedoch eine solche Untersuchung
nicht ohne das schriftliche Einverständnis der betreffenden Person durchführen darf, stellen die von der Kirche vorgelegten Daten für sich genommen
jedoch keine juristische Grundlage
einer Überprüfung dar.
Die Metropoliten Neofit (Dimitrov) von
Ruse und Kirill (Kovačev) von VarnaPreslav haben bereits gegen den Syno-
dalbeschluss protestiert und erklärt, sie
würden der Kommission keine Daten
weiterleiten: Das bulgarische Gesetz
sehe nicht vor, dass Geistliche – im Gegensatz zu anderen Amtsträgern – einer
Überprüfung als Informelle Mitarbeiter unterliegen würden. In der Eparchie
Plovdiv wurden die meisten Geistlichen
bereits einer Prüfung durch die Kommission unterzogen. Metropolit Nikolaj
(Sevastianov) hatte seine Priester gleich
nach der Veröffentlichung des Berichts
der Untersuchungskommission aufgefordert, der Übergabe ihrer Daten an die
Kommission zuzustimmen. Das Resultat
dieser Überprüfung wurde nicht veröffentlicht, sondern lediglich Metropolit Nikolaj mitgeteilt.
www.portal-credo.ru, 24. Januar;
1., 18. Februar 2012 – O.S.
Polen
Streit um TV-Lizenz für katholischen Sender
Der Nationale Rundfunkrat Polens hat
dem Sender des umstrittenen Paters
und Radio Maryja-Gründers Tadeusz
Rydzyk die Lizenz für digitales terrestrisches Fernsehen verweigert. Polens
größter katholischer TV-Sender Trwam
droht somit aus dem Kabelnetz des
Landes zu fliegen. Ohne die Lizenz ist
das Programm ab August nicht mehr
über Kabel zu empfangen, sondern nur
noch per Satellit und Internet. Die Ablehnung der Digitalfrequenz für Trwam
belastet seit Wochen das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der
liberal-konservativen Regierung unter
Donald Tusk.
Rydzyk hat im Rundfunksender und
in der ebenfalls von ihm gegründeten
Tageszeitung Nasz Dziennik zu Protesten gegen die Entscheidung aufgerufen.
Alle Menschen, denen «Freiheit, Pluralismus und Demokratie» wichtig seien,
sollten Unterschriften sammeln und an
den Rundfunkrat schicken. Nach Anga-
RGOW
Rundschau
Mittlerweile machen sich Abgeordnete
der rechtskonservativen Opposition für
eine Anklage des Rundfunkratschefs,
Jan Dworak, vor dem Staatsgerichtshof
stark. Dworak hatte die Ablehnung einer
Digital-Frequenz für TV Trwam mit fehlenden finanziellen Sicherheiten des
Senders begründet. Die Mitglieder des
Rundfunkrats werden von beiden Parlamentskammern und dem Staatspräsidenten berufen. Sie dürfen laut Verfassung keiner politischen Partei oder
Gewerkschaft angehören.
Der Pressesprecher der Polnischen Bischofskonferenz, Józef Kloch, bezeichnete die Entscheidung der Behörde als
«überraschend». Die Angelegenheit
müsse aufgeklärt werden. Die Polnische
Bischofskonferenz hatte massiv auf eine
Sendelizenz gedrängt. Ihr Vorsitzender,
Erzbischof Józef Michalik von Przemyśl,
kritisierte die Begründung für die Ablehnung als «unsauber» und schrieb in
seinem Fastenhirtenbrief, die Sendegruppe werde von einer «Regierungs-
institution» diskriminiert. Laut dem Erzbischof werde die katholische Kirche
durch die häufigen Attacken «aus libertären, atheistischen und freimaurerischen Kreisen» in die Enge getrieben.
Sorge bereiteten ihm zudem die «Spaltungen innerhalb der Kirche».
Der 2003 gegründete TV-Sender Trwam
überträgt u. a. zahlreiche Gottesdienste
und die Auslandsreisen von Papst Benedikt XVI. live. In den Nachrichtensendungen wird die Regierung häufig kritisiert.
Er strahlt sein Programm bisher nicht
terrestrisch aus, sondern nur über Satellit, Kabel und Internet. An das polnische
Kabelnetz sind etwa 4,5 Millionen Haushalte angeschlossen, somit gehört es zu
den größten in der EU. Im Sommer 2013
wird in Polen das terrestrische Fernsehen von analog auf digital umgestellt.
Neben Trwam sind auch vier weitere TVSender mit Lizenzanträgen gescheitert.
Nr. 4 2012
ben des TV-Senders seien mehr als eine
Million Menschen dem Aufruf nachgekommen. Eine Sprecherin des Rundfunkrats erklärte hingegen in der Ausgabe der Zeitung Gazeta Wyborcza vom
22. Februar, bei ihr seien «nicht mehr als
200 000 Unterschriften» eingegangen.
Rydzyk will vor dem Verwaltungsgericht
in Warschau gegen die Lizenzverweigerung klagen.
In der von ihm gegründeten Tageszeitung
Nasz Dziennik warf Rydzyk der Regierung
vor, Katholiken zu diskriminieren. Der
Senderchef macht die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk dafür verantwortlich, dass der nationale Rundfunkrat TV Trwam keine Lizenz für das digitale
terrestrische Fernsehen erteilt hat. Das
Gremium werde von der Regierungspartei Bürgerplattform kontrolliert. Die Entscheidung des Rundfunkrats sei rechtswidrig und stelle einen Angriff auf die
Katholiken dar, hatte Rydzyk bereits zuvor
bei einer Anhörung im Oberhaus des polnischen Parlaments, dem Senat, erklärt.
Kathpress, 6., 20. Januar,
6., 21., 22. Februar 2012 – R.Z.
Regierung will Zahl der Militärgeistlichen halbieren
Polens Regierung will bei der Militärseelsorge sparen: Die Zahl der Militärgeistlichen soll bis zum Jahresende halbiert werden, hat Ministerpräsident Donald Tusk nach einer Unterredung mit Verteidigungsminister Tomasz
Siemoniak mitgeteilt. Zur Begründung
verwies er darauf, dass es immer weni-
ger Soldaten gebe und trotzdem in den
vergangenen Jahren zusätzliche Seelsorger eingestellt worden seien.
Bislang waren für das polnische Militär etwa 180 katholische Priester tätig.
Zudem gibt es in Polen 30 orthodoxe
und protestantische Geistliche. Rund
100 0 00 Soldaten stehen derzeit im
Dienst der an mehreren Auslandseinsätzen beteiligten polnischen Berufsarmee. Das 1991 wiedererrichtete katholische Militärordinariat zählt fast
100 Pfarreien.
Kathpress 26. Februar 2012.
Regierung bemängelt überzogene Restitution an Kirche
Die katholische Kirche in Polen hat
laut einem Regierungsgutachten zu viel
Entschädigung für ihr im Kommunismus beschlagnahmtes Eigentum erhalten. Prüfer stellten nach Angaben der
Tageszeitung Gazeta Wyborcza mehrere
hundert Fälle fest, in denen die staatliche
Restitutionskommission der Kirche seit
1989 zu Unrecht Grundstücke oder Geld
zugesprochen habe. Pfarreien und Ordensgemeinschaften hätten eine Entschädigung erhalten, obwohl ihre Restitutionsanträge bereits erfüllt gewesen
seien.
Das Blatt berichtet weiter, Mitarbeiter
der Staatskanzlei prüften im Auftrag von
Ministerpräsident Donald Tusk nach
zahlreichen Betrugs- und Korruptionsvorwürfen die Akten der Kommission.
Sie hätten bei der Kirchenentschädigung
ein «einmaliges Durcheinander» festgestellt. So habe der Zisterzienserorden in
Krakau 2004 15 Mio. Euro erhalten, obwohl er 1994 bereits durch ein Grund-
stück entschädigt worden sei. Wie hoch
der Schaden für den Staat insgesamt
sein soll, steht dem Bericht zufolge nicht
in dem Gutachten.
Der vor einem Jahr aufgelösten Restitutionskommission gehörten je sechs
Vertreter der Regierung und der Bischofskonferenz an. Gegen sechs ehemalige Kommissionsmitglieder erhob
die Staatsanwaltschaft Anklage wegen
Bestechlichkeit und Untreue. Statt dem
Gremium sind seit März 2011 Gerichte
für die wenigen übrigen Restitutionsanträge zuständig.
Die kommunistischen Machthaber hatten
der Kirche 1950 einen Großteil ihres Besitzes genommen. Beschlagnahmt wurden unter anderem rund 100 000 Hektar
Land. Laut dem Regierungsgutachten
sprach die Kommission der Kirche insgesamt 66 500 Hektar Land und umgerechnet knapp 34 Mio. Euro als Entschädigung
zu. Von mehr als 30 000 Anträgen blieben
lediglich 142 offen. Kirchliche Einrichtun-
gen erhielten meist andere als die einst
verstaatlichten Grundstücke und Immobilien, weil häufig eine anderweitige Nutzung des einstigen Kircheneigentums
eine Rückgabe ausschloss.
Kathpress, 17. Februar 2012.
An andere denken –
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Geht es nicht auch Ihnen oft so:
Sie lesen Artikel, die besonders
interessant sind.
Dabei denken Sie: Das sollte die
oder der in meinem Verwandtenund Freundes­k reis auch lesen.
Gedacht – getan:
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rundschau
Nr. 4 2012
RGOW
Lutheraner und Reformierte vereinbaren engere Zusammenarbeit
Am Aschermittwoch haben die lutherische und die reformierte Kirche in
Warschau ein Abkommen unterzeichnet,
das die Mitwirkungsmöglichkeiten reformierter Christen in den lutherischen
Gemeinden – und umgekehrt – erhöht.
Den Gliedern der jeweils anderen Kirche
wird ab sofort das aktive wie passive
Wahlrecht auf Gemeindeebene gewährt,
ohne dass sie ihre konfessionelle Identität aufgeben müssen. Demnach dürfen
sie den Pfarrer und den Gemeindevorstand mitwählen und auch diesem Gremium angehören. Zudem können sie in
den Gemeindeversammlungen etwa
über den Haushalt mitentscheiden. Der
Zugang zur Leitung der Diözese bleibt
ihnen allerdings verwehrt.
Mit dem Vertrag wollen beide Kirchen
ihren Gliedern das religiöse Leben in der
Diaspora erleichtern. Wenn es in ihrer
Umgebung keine Gemeinde ihrer Kirche
gibt, können sie sich voll in die Gemeinde
der anderen protestantischen Konfession integrieren.
Die Evangelisch-Augsburgische Kirche
in Polen zählt rund 75 0 00 Glieder in
134 Gemeinden, die Evangelisch-Refor-
mierte Kirche 3000 Glieder in acht Gemeinden. Beide Kirchen gehören zur
Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in
Europa (GEKE, Leuenberger Kirchengemeinschaft) und arbeiten auf mehreren
Gebieten gut zusammen, wie z. B. in der
Diakonie. Außerdem dürfen bereits seit
einiger Zeit Pfarrer in der jeweils anderen Kirche aushelfen. Eine Fusion beider
Kirchen ist allerdings nicht geplant.
www.protestantnews.eu/poland/14794,
22. Februar; KNA-ÖKI, 27. Februar 2012 –
S.K.
Rumänien
Reorganisation der evangelisch-theologischen Fakultät in Sibiu
Seit Herbst 2011 ist das Studium der
evangelischen Theologie im neu gegründeten «Departement für Geschichte,
Patrimonium und Protestantische Theologie» innerhalb der Fakultät für soziale
und Geisteswissenschaften an der Lucian-Blaga-Universität in Sibiu / Hermannstadt möglich. Diese Neugründung
ist ein erneuter Versuch, die theologische Ausbildung der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien zu erhalten. Die
erste eigene Fakultät wurde 1949 in Cluj /
Klausenburg gegründet, weil unter dem
kommunistischem Regime die Pfarrer
nicht mehr wie bisher im Ausland studieren konnten. 1955 erfolgte der Umzug
nach Sibiu; 2006 gelang nach längeren
Verhandlungen die Integration in die
staatliche Lucian-Blaga-Universität (s.
G2W 11/2010, S. 14-15).
Das Interesse an dem vom Departement
angebotenen Fächern hält sich allerdings bisher in Grenzen: Bei den Einschreibungen im September 2011 fanden sich keine Kandidaten für die
angebotenen Studienfächer. Die Evangelische Kirche A. B. ist damit zunehmend gezwungen, neue Wege in der
Pfarrerausbildung zu gehen. Im Gespräch sind beispielsweise Stipendien
für ein Studium im Ausland. Grundsätzlich besteht jedoch der Wunsch, die
Ausbildungsstätte in Sibiu nicht aufzugeben.
Die Evangelische Kirche A. B. zählt gegenwärtig 45 Pfarrerinnen und Pfarrer,
von denen 39 im Gemeindedienst sind.
Unter den 247 Gemeinden der Kirche
befinden sich zahlreiche Kleinstgemeinden mit nur wenigen Mitgliedern.
Gustav-Adolf-Blatt 1/2012, S. 15.
russland
Putin trifft Vertreter aller traditionellen Religionsgemeinschaften
Vertreter der traditionellen Religionsgemeinschaften haben sich am 8. Februar auf Einladung von Patriarch Kirill
mit Vladimir Putin, Ministerpräsident
und Präsidentschaftskandidat, im Moskauer Daniilkloster zu einem Austausch
über sozial-politische Themen getroffen.
Die Forderungen der Opposition oder die
sozialen Probleme des Landes wurden
nicht thematisiert, vielmehr gestaltete
sich das Gespräch als eine Unterstützung
für die Kandidatur Putins.
Patriarch Kirill begrüßte Putin als den
Kandidaten mit den besten Chancen für
die Präsidentschaft und dankte ihm für
dessen «Rolle bei der Begradigung der
Schieflage der Nation» und für das
Herausführen des Landes aus der Krise
der 1990er Jahre. Was damals gesche-
hen sei, ließe sich nur «mit der Zeit der
Wirren im 17. Jahrhundert, dem Krieg
gegen Napoleon, dem Bürgerkrieg oder
der Hitlerschen Aggression» vergleichen, denn es sei um die schiere Existenz des Landes gegangen. «Durch das
Wunder Gottes und die Mitwirkung
der Staatsmacht und ihrer Führung» sei
es gelungen, «der schrecklichen, gefährlichen Zone zu entrinnen. […] Ich als
Patriarch muss die Wahrheit sprechen,
und ich sage ohne jede Rücksicht auf
politische Konjunktur: Die wichtigste
Rolle haben Sie persönlich dabei gespielt, Vladimir Vladimirovitsch». Das
bedeute allerdings nicht, dass die Religionsgemeinschaften nicht manches
an seinem Tun oder den Vorgängen im
Land kritisch sähen.
Der Leiter des Kirchlichen Außenamtes
des Moskauer Patriarchats, Metropolit
Ilarion (Alfejev), dankte Putin für dessen
Sorge um die Auslandsrussen, für welche die Gemeinden der Russischen Orthodoxen Kirche zu neuen Heimstätten
geworden seien. Eine der wichtigsten
Aufgaben «unserer Kirche ist das Sammeln der Heiligen Rus’, wie Patriarch
Kirill es formuliert. Nicht zufällig besucht er so oft die Ukraine und andere
Länder des nahen Auslands». Putin tue
sehr viel dafür, «damit die zentrifugalen
Kräfte im postsowjetischen Raum zu
zentripetalen» würden und die Autorität Russlands wachse.
Auch die anderen Religionsvertreter
lobten Putin und seine Politik: Großmufti Talgat Tadjudtin erklärte, Putin
RGOW
rundschau
Putin dankte den Religionsvertretern
und sagte, der Staat stehe nicht zuletzt
materiell «noch immer in der Schuld der
Kirche und unserer traditionellen Religionen» und versprach ein ganzes Maßnahmenpaket: Für die Renovation religiöser Gebäude werde der Staat in den
nächsten drei Jahren insgesamt umgerechnet 106 Mio. CHF freigeben und den
Religionsgemeinschaften mehr Sendezeit am staatlichen Fernsehen zur Verfügung stellen. Zudem sollen künftig
auch Geistliche das Fach «Religiöse
Kultur und Ethik» an öffentlichen Schulen unterrichten dürfen, was bisher nicht
gestattet war. Darüber hinaus sprach
sich Putin für die Einführung von Theologie als geisteswissenschaftliches Fach
an Fachhochschulen und Universitäten
aus und für eine rechtliche – und damit
auch finanzielle – Gleichstellung religiöser und säkularer Lehreinrichtungen.
Bereits zuvor hatte Putin am 28. Januar
einen Erlass über die Einführung der
«Grundlagen religiöser Kultur und weltlicher Ethik» für das Schuljahr 2012/2013
in der 4. Klasse als obligatorisches Unterrichtsfach unterzeichnet (s. nachfolgende Meldung) und ein großangelegtes
Ausbildungsprogramm für die Lehrer
des neuen Fachs gutgeheißen.
Nr. 4 2012
habe durch sein «direktes Handeln das
Land vor dem Zerfall bewahrt», dank ihm
wachse «das Ansehen Russlands auf der
internationalen Bühne von Tag zu Tag.»
Oberrabbiner Berl Lasar dankte Putin
«für alles, was Sie für die Juden und die
Religion im Allgemeinen getan haben»
– die Zukunft werde noch besser. Pastor
Sergej Rjachovskij von den Evangeliumschristen-Baptisten sagte: «Ihre Vorschläge legen sich einem geradewegs
aufs Herz. […] Wir verbinden die Zukunft
mit Ihnen, ohne Wenn und Aber!» Pastor
Vasily Stoljar von den Adventisten erklärte: «Sie haben uns die Gegenwart
gesichert und wir erwarten eine große
Zukunft mit Ihnen. Wir beten für Sie,
weil wir glauben, dass jede Staatsmacht
von Gott ist. Gott segne Sie.»
www.patriarchia.ru, 8. Februar;
www.religion.ng.ru, 9. Februar;
www.portal-credo.ru, 8.–15.Februar;
www.interfax-reliigon.ru, 9. Februar;
APD 48/2012 – O.S.
Definitive Einführung des schulischen Religionsunterrichts
Ende Januar 2012 hat die russische Regierung die definitive Einführung des
schulischen Religionsunterrichts für die
4. Klasse des Schuljahres 2012/13 in ganz
Russland bestätigt. Bis Ende März müssen sich die Schüler und ihre Eltern für
eines der sechs angebotenen Module
(mit den Schwerpunkten Ethik, Weltreligionen, Orthodoxe Kultur, Islam, Buddhismus oder Judentum) einschreiben.
Damit soll gewährleistet werden, dass
alle Schulen rechtzeitig genügend Lehrmaterial bestellen können. Ab Februar
finden Weiterbildungskurse für eine bessere Qualifizierung des Lehrpersonals
der Module statt. Der Mangel an Lehrbüchern und Vorbereitung der Lehrer ist
in der Pilotphase des Projekts kritisiert
worden (s. RGOW 1/2012, S. 9f.).
Die Russische Orthodoxe Kirche unterstützt das Projekt und hat am 8. Februar
im Kirchlichen Außenamt des Moskauer
Patriarchats eine Pressekonferenz zum
Thema veranstaltet. Die Fragen der Journalisten wurden von dessen Leiter,
Metropolit Ilarion (Alfejev), von Erzbischof Sigitas Tamkevičius, dem Vorsitzenden der Litauischen Bischofskonferenz, und von G. Demidov, einem Vertreter der Abteilung für religiöse Bildung
und Katechese der Russischen Orthodoxen Kirche, beantwortet.
Erzbischof Tamkevičius stellte das litauische Modell des schulischen Religionsunterrichts vor, der von der 1. bis 9.
Klasse einmal wöchentlich stattfindet
und bei den Schülern auf viel Interesse
stoße. Das Lehrpersonal werde vorwiegend an der theologischen Fakultät in
Kaunas ausgebildet. Metropolit Ilarion
sprach sich dafür aus, dass der Religionsunterricht auch an russischen
Schulen nach dem litauischen Modell
auf die ganze Schulzeit ausgedehnt wird.
Der schulische Religionsunterricht diene
der religiösen Begründung ethischer
Normen, der Stärkung der nationalen
Identität, der Überwindung religiösen
Unwissens und der Bildung eines moralischen Klimas in den Schulen.
Kritische Stimmen in Russland weisen
dagegen darauf hin, dass die Förderung
von Toleranzfähigkeit in einem einzigen,
nicht einer einzelnen Religion gewidmeten Kurs wohl besser gelänge, als durch
die Aufteilung der Schüler in diverse
Module. Außerdem fehlen Module für
katholische oder protestantische Schüler, und woher jede Schule sechs Lehrpersonen für alle Module hernehmen
(und bezahlen) solle, bleibe nach wie vor
unklar.
www.portal-credo.ru, 3., 8. Februar;
www.pravmir.ru, 3., 8. Februar;
www.mospat.ru, 8. Februar 2012 – R.Z.
Russische Orthodoxe Kirche weist Behauptungen über Reichtum von Patriarch Kirill zurück
Die Informationsabteilung des Hl. Synods der Russischen Orthodoxen Kirche
hat einen Bericht der Novaja gazeta dementiert, dass Patriarch Kirill in den
1990er Jahren ein Vermögen mit dem
Handel von Zigaretten und Öl gemacht
habe. Der Artikel aus der Feder von
Alexander Soldatov entbehre jeglicher
Grundlage und stelle «eine bewusste
Verleumdung des Heiligsten Patriarchen
und der gesamten Russischen Orthodoxen Kirche» dar. Sein Artikel basiere
«ausschließlich auf Gerüchten und
Klatsch sowie unbewiesenen und nicht
nachprüfbaren Behauptungen und Vorurteilen». Soldatov wiederhole «bloß
eine Reihe negativer Gerüchte und Mythen, die einige Journalisten bereits in
den 1990er Jahren in die Welt gesetzt»
hätten, obwohl deren «Haltlosigkeit und
Verlogenheit» als wiederholt gerichtlich erwiesen gelte.
Patriarch Kirill sei als damaliger Leiter
des Kirchlichen Außenamtes keineswegs in den Handel mit Tabak, Erdöl oder
anderem involviert gewesen. Dazu lägen
keine überzeugenden Beweise vor. Da
Soldatov nichts beweisen könne, sei er
auf das Niveau offener Beleidigung und
Klischees gesunken. Sein Beitrag stelle
«eine demonstrativ grobe Missachtung
der Leser» dar und sei geprägt von
«Missgunst gegenüber Millionen orthodoxer Gläubiger». Er schade so dem
guten Ruf der Novaja gazeta. Dass
diese unbegründete Behauptungen über
die Kirche publiziere, sei höchst befremdlich.
Alexander Soldatov hatte Mitte Februar
in der russischen Tageszeitung Novaja
gazeta einen Artikel mit der Überschrift:
«Wofür der Knecht Gottes Kirill dem
‹Galeerensklaven› dankbar ist» veröffentlicht. Demnach soll Patriarch Kirill
in den 1990er Jahren die Grundlage für
sein Vermögen als Metropolit und Leiter
des Kirchlichen Außenamtes mit dem
Handel von Zigaretten gelegt haben:
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8|
rundschau
Nr. 4 2012
Diese seien als «humanitäre Hilfe»
zollfrei nach Russland importiert und
auf dem freien Markt verkauft worden.
Am lukrativsten seien die Geschäfte
der vom Kirchlichen Außenamt gegründeten Aktiengesellschaft MES
(Meždunarodnoe Ėkonomičeskoe
Sotrudničestvo / Internationale Wirt-
schaftliche Zusammenarbeit) gewesen,
die dank der Fürsprache von Patriarch
Alexij II. steuerfrei Erdöl exportiert
haben soll.
Meldungen über Verstrickungen des
heutigen Patriarchen in den Tabak- und
Erdölhandel hatten bereits in den 1990er
Jahren hohe Wellen geschlagen. Patri-
R GOW
arch Kirill hat dies in der Vergangenheit jedoch immer wieder bestritten.
www.novayagazeta.ru/inquests,
14. Februar; www.portal-credo.ru,
20. Februar; epd-Wochenspiegel
Nr. 8/2012 – O.S.
Ukraine
Vereinigung von UOK-KP und UAOK gescheitert
In der Ukraine sind auch im dritten
Anlauf die Verhandlungen über eine
Vereinigung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – Kiewer Patriarchat (UOK-KP)
und der Ukrainischen Autokephalen
Orthodoxen Kirche (UAOK) gescheitert
(s. RGOW 1/2012, S. 11). Patriarch Filaret
(Denisenko) von der UOK-KP und der Hl.
Synod brachen die Gespräche ab, weil
die UAOK einen Rücktritt Filarets zur
Bedingung für eine Vereinigung erklärt
habe. Bereits 2001 und 2005 waren
Verhandlungen über eine Fusion gescheitert.
Am 9. Februar hat das Bischofskonzil der
UAOK den Entschluss bekräftigt, die
Kommunikation mit der Leitung der
UOK-KP zu unterbrechen, solange kein
neuer Patriarch gewählt werde. Auf der
Ebene individueller Gespräche zwischen
Bischöfen und Priestern solle der Dialog jedoch weitergehen.
Durch ein Interview der Website «Autokephalia» mit Metropolit Mefodij (Kudrjakov), dem Patriarchenstatthalter der
UAOK, sind zudem innere Spannungen
in der UAOK publik geworden. Metropolit Mefodij kritisierte den Ungehorsam einzelner Bischöfe und bezeichnete
sie als «regionale Taschenpatriarchen».
Insbesondere beschuldigte er Bischof
Andrij (Abramčuk) von Halytsch und
Ivano-Frankivsk für das Scheitern des
Vereinigungsprozesses mit der UOK-KP
verantwortlich zu sein. Bischof Andrij
hatte der Kommission der UAOK für die
Vereinigungsverhandlungen mit der
UOK-KP vorgestanden.
Das Oberhaupt einer Bruderschaft der
UAOK in Lviv, Taras Dmitryk, kommentierte diese Anschuldigungen mit dem
Verdacht, dass Metropolit Mefodij ein
alter Feind der ukrainischen Orthodoxie
und ein treuer Günstling Moskaus sei,
der Zwietracht säen solle. Bischof Evstratij (Zorja), Sekretär des Hl. Synods der
UOK-KP, zweifelt angesichts der Spannungen innerhalb der UAOK an der
Möglichkeit, über eine Vereinigung zu
verhandeln.
risu.org.ua, 17., 19. Februar;
www.portal-credo.ru, 20. Februar 2012 –
R.Z.
Patriarch Filaret: Alle Bischöfe haben mit dem KGB kollaboriert
Im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der informellen Zusammenarbeit von Hierarchen der Bulgarischen
Orthodoxen Kirche mit der bulgarischen
Staatssicherheit (s. in diesem Heft, S. 4)
hat das Oberhaupt der Ukrainischen
Orthodoxen Kirche – Kiewer Patriarchat,
Patriarch Filaret (Denisenko), in einem
Interview mit der Zeitschrift Weekly.ua
zu Vorwürfen Stellung genommen, er
selbst sei ein Informeller Mitarbeiter (IM)
gewesen. Patriarch Filaret erklärte, ausnahmslos alle Hierarchen der Russischen Orthodoxen Kirche hätten als
IMs fungiert und niemand habe ohne
die Zustimmung des sowjetischen Geheimdienstes Bischof werden können:
«Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich nicht mit dem KGB ver-
knüpft gewesen wäre. Ich war es –
genau wie alle anderen.» Entgegen gewissen Behauptungen habe er jedoch
keinerlei Rang bekleidet, das sei «reine
Erfindung. Man darf nicht vergessen,
dass im sowjetischen totalitären Staat
alles unter Kontrolle stand. Ich musste
jede Tätigkeit mit dem Staat absprechen.
Zum Beispiel hatte kein Bischof das
Recht, ohne die Zustimmung des KGB
einen Priester in eine Gemeinde zu entsenden». Der Geheimdienst habe ihm
gegenüber Vorbehalte gehabt und Versuche, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen, hätten nichts gefruchtet: «Sie
wussten, dass ich keinen meiner Amtsbrüder denunzieren würde.»
Patriarch Filaret hat damit zum ersten Mal
eine Zusammenarbeit mit dem Geheim-
dienst öffentlich zugegeben. Nach der
Wende in der UdSSR war bekannt geworden, dass Patriarch Filaret – von 1966 bis
1992 Metropolit von Kiew und Mitglied
des Hl. Synods der Russischen Orthodoxen Kirche – unter dem Decknamen «Antonow» als IM vom KGB geführt worden
war. Metropolit Filaret war im Mai 1992
auf Beschluss der Bischofssynode wegen
seines skandalösen Lebenswandels sowie – unausgesprochen – wegen seiner
damals in der russischen Presse ausführlich erörterten Zusammenarbeit mit dem
KGB abgesetzt, im Juni 1992 laisiert und
1997 wegen der Gründung des Kiewer
Patriarchats exkommuniziert worden.
www.portal-credo.ru,
23. Januar 2012 – O.S.
Anpassungen der Gesetzgebung für religiöse Organisationen
Das Kulturministerium hat einem Vorschlag des «Allukrainischen Rates der
Kirchen und religiösen Organisationen»
zugestimmt, einzelne Gesetzesänderun-
gen hinsichtlich religiöser Organisationen zu erarbeiten. Angepasst werden
sollen u. a. die Gesetze zur staatlichen
Registrierung von juristischen Personen,
über Erziehung sowie über die Restitution von früherem Kircheneigentum.
Die Restitution von Kircheneigentum ist
gemäß dem Jahresbericht der Menschen-
R GOW
Rundschau
bäude. Im Jahr 2011 sind 4760 Eingaben
von 99 486 Personen bezüglich der Verbesserung des Gesetzes über Kultus- und
Religionsfreiheit gemacht worden. Laut
Karpatschova muss eine Harmonisierung
des nationalen Modells der sozialen, reli-
giösen und Kirche-Staat-Beziehungen mit
europäischen Standards sowie die Anpassung der entsprechenden Gesetzgebung
möglichst rasch erreicht werden.
Nr. 4 2012
rechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, Nina Karpatschova, ein dringendes Problem. Der Restitutionsprozess
müsse von einem effizienten Gesetz geregelt werden; nur 69 % der religiösen Organisationen verfügten über eigene Ge-
risu.org.ua, 13., 14. Februar 2012 – R.Z.
weissrussland
Vatikan möchte mit Lukaschenko im Dialog bleiben
Der Vatikan strebt weiter ein Kooperationsabkommen mit Weißrussland an.
Der neue Vatikanbotschafter in dem
osteuropäischen Land, Erzbischof Claudio Gugerotti, übergab dem Außenministerium in Minsk einen Vertragsentwurf, wie er dem weißrussischen
Staatsfernsehen in einem Interview
sagte. Erzbischof Gugerotti äußerte
sich zugleich kritisch zu den ausländischen Sanktionen gegen Weißrussland. «Wenn möglich» sollten Strafmaßnahmen vermieden und «stattdessen auf einen Dialog gesetzt» werden. Derzeit warte er auf eine Antwort
des Ministeriums, berichtete der Erzbischof. Ziel des geplanten Abkommens
sei eine bessere Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat. Einzelheiten
zum Vertragsentwurf sind bislang nicht
bekannt.
Der weißrussische Präsident Lukaschenko hatte im November 2011 erklärt,
ein Abkommen zwischen dem Vatikan
und Weißrussland werde erst «auf
lange Sicht» zustande kommen. An dem
Vertrag werde noch gearbeitet. 2008
hatten Kardinalstaatssekretär Tarcisio
Bertone und Lukaschenko in Minsk Verhandlungen über einen Grundlagenvertrag zwischen dem mehrheitlich orthodoxen Land und dem Heiligen Stuhl
vereinbart. Mit der orthodoxen Kirche
hatte die weißrussische Regierung bereits 2003 ein weitreichendes Abkommen geschlossen.
Derweil fordert die katholische Kirche
Weißrusslands zusammen mit der nicht
im Minsker Parlament vertretenen Opposition ein Moratorium für Hinrichtungen. Hintergrund ist die geplante
Hinrichtung zweier wegen des U-BahnAnschlags von Minsk zum Tode verurteilten Männern, die inzwischen vollstreckt worden ist (s. RGOW 2/2012,
S. 6f.). Staatspräsident Alexander Lukaschenko lehnte eine Begnadigung
der beiden 25-Jährigen ab. Die EU und
der Europarat haben Weißrussland vor
einer Vollstreckung beider Todesurteile
gewarnt.
Wegen der Verfolgung von Oppositionellen in Weißrussland verschärfte die
EU unterdessen ihre Sanktionen gegen
Minsk. Die EU, der Europarat und die
USA fordern von der weißrussischen
Regierung die Freilassung von zahlreichen politischen Häftlingen. Nach den
Präsidentschaftswahlen Ende 2010 hatte
Lukaschenko angeordnet, mehrere Gegenkandidaten sowie Dutzende weitere Oppositionelle festnehmen und zu
Gefängnisstrafen verurteilen lassen (s.
G2W 2/2011, S. 11).
Der Rat der EU-Außenminister verhängte
am 28. Februar gegen 21 weitere Perso-
nen Einreiseverbote und Vermögenssperren. Insgesamt sind nach EU-Angaben mehr als 200 Mitglieder der
weißrussischen Führung von den Sanktionen betroffen. Auch die Guthaben von
drei Unternehmen mit Verbindungen
zum Regime bleiben eingefroren. Zudem
dürfen weiter keine Waffen nach Weißrussland exportiert werden. Auch das
Exportverbot für Güter, die zur Unterdrückung verwendet werden könnten, besteht fort.
Kathpress,
29. Februar, 15. März 2012.
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albanien
Nr. 4 2012
R GOW
Hans-Ulrich Lempert
Das Verhältnis von Religion
und Nation in Albanien
In Albanien wird gerne auf das friedliche Zusammenleben der Religionsgemeinschaften (Islam,
Orthodoxie, Katholizismus) hingewiesen. Der Autor macht in seinem Beitrag deutlich, dass
Debatten um die Rolle der Religionsgemeinschaften einen wichtigen Teil des Nationsbildungsprozesses darstellten. Auch in der postkommunistischen Zeit gab es mehrere Auseinandersetzungen um das Verhältnis von religiöser Zugehörigkeit und nationalem Selbstverständnis. – S. K.
«Der Glaube des Albaners ist das Albanertum!»1 – Wohl kaum
ein anderer Satz ist bekannter und wird, wenn es um die Beziehung von Nation und Religion geht, in Albanien häufiger zitiert,
als der des romantischen Dichters Pashko Vasa. Dessen Gedicht
«O Albanien, armes Albanien», zwischen 1878 und 1880 erstmals veröffentlicht, sollte nicht nur zum Leitbild der sich etablierenden Nationalbewegung Rilindja (alb. Wiedergeburt), sondern
auch zum Fundament eines die Zeit überdauernden Selbstbildes
der Albaner werden: Danach spiele Religion für die albanische
nationale Identität keine Rolle, lebten die verschiedenen Religionen in Albanien friedlich zusammen und seien die Albaner besonders tolerant bzw. indifferent gegenüber Religiosität. Dennoch
hatten und haben die Religionsgemeinschaften, entgegen diesem
Bild, eine bedeutende Funktion im nationalen Selbstverständnis
inne, der nach der rigorosen Verfolgung und Unterdrückung
während der kommunistischen Diktatur heute wieder ein größeres Gewicht in der albanischen Gesellschaft zukommt.
Der Mythos der religiösen Toleranz
Vasas eingangs erwähntes Gedicht ist eine Klage über die Zerrissenheit der Albaner; Fremde würden das einst stolze und
ruhmreiche Volk beherrschen und insbesondere die Religionen,
deren «Priester und Hodschas» hätten es «irregeführt, um euch
zu spalten und in Armut zu halten». Um sich aus dieser Herrschaft zu befreien, müssten die Albaner einen Eid leisten, «nicht
auf Kirche oder Moschee zu schauen», und sich stattdessen im
Bewusstsein einer gemeinsamen Nation vereinen. In dem Gedicht wird die Programmatik des albanischen Nationalismus
bereits deutlich erkennbar.
Die Ablehnung der Religion als identitätsstiftende Gemeinschaft ist weniger Realität als geforderter und erhoffter Idealzustand: die Religion der Albaner ist nicht das Albanertum, sondern
soll eine notwendige Bedingung für das gemeinsame Ziel eines
nationalen Bewusstseins sein. Diese Projektion, wie etwas wieder
sein soll, ist charakteristisch für politische Mythen, die aus der
Verklärung der Vergangenheit in der Gegenwart eine Vision für
die Zukunft konstruieren. Der politische Mythos der religiösen
Toleranz bestimmt nicht nur das Verhältnis der Nation zu den
Religionsgemeinschaften, sondern dient auch als Abgrenzungsund Zuordnungsmerkmal für die Beziehungen nach außen.
Die Religionen im Nationsbildungsprozess
Albanien, frühzeitig christianisiert, lag im frühen Mittelalter
im Grenzgebiet der beiden christlichen Reiche von Rom und
Byzanz. Während im Norden Albaniens die katholische Kirche
ihren Einfluss aufrechterhalten konnte, dominierte mit Byzanz
im südlichen Albanien die orthodoxe Kirche. Mit der osmanischen Eroberung Südosteuropas gelangte ab dem 15. Jahrhun-
dert der Islam als dritte Religion in die albanischen Siedlungsgebiete. Die Islamisierung verlief jedoch in unterschiedlichen
zeitlichen Phasen mit räumlich verschiedenem Ausmaß und in
vielfältigen Formen. Ende des 19. Jahrhunderts war eine deutliche Mehrheit der Albaner muslimischen Glaubens.
Das Aufkommen der Nationalbewegungen bedeutete für die
Gesellschaften in ganz Südosteuropa eine Veränderung der Zugehörigkeitsgefühle. Waren es bis dahin vor allem die Religionsgemeinschaften, die Zugehörigkeit definiert hatten, sollte, so
das Ziel jeder Nationalbewegung, die Nation an diese Stelle
treten. Für die Gesellschaften in Serbien, Griechenland und Bulgarien war die Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche das zentrale Mittel, Gemeinschaft herzustellen und sich gegen die osmanische Herrschaft abzugrenzen. Religion und Nation bildeten in diesen Staaten eine Einheit. Für die albanische Nationalbewegung war die religiöse Heterogenität jedoch ein Hindernis
bei der Schaffung eines gemeinschaftlichen Nationalbewusstseins. Mit den expansionistischen Nationalismen Serbiens und
Griechenlands konfrontiert, verbot sich einerseits eine ähnliche
Instrumentalisierung der Orthodoxie, für die angestrebte Loslösung vom Osmanischen Reich war andererseits die Betonung
der muslimischen Identität hinderlich. Auch bei den europäischen
Großmächten galten die Albaner aufgrund ihres mehrheitlich
muslimischen Glaubens nicht als eigenständige Nation, deren
Unabhängigkeitsambitionen unterstützt werden sollte, wie es
insbesondere der für die Albaner enttäuschende Berliner Kongress 1878 zeigte. Eine Idee des bedeutenden Vordenkers des
albanischen Nationalismus, Naim Frashëri, der in dem islamischen Derwisch-Orden der Bektashi die Möglichkeit sah, eine
Nationalreligion zu begründen, die eine Brücke zwischen muslimischem Osten und christlichem Westen bilden könnte, setzte
sich nicht durch.
Statt der Religion wurden vielmehr die gemeinsame Sprache
und die angenommene Abstammung von den Illyrern zu den
zentralen identitätsstiftenden Merkmalen. Nach der erfolgreich
erlangten nationalen Unabhängigkeit 1912 war der sich laizistisch verstehende Staat bestrebt, äußere Einflüsse auf die Religionsgemeinschaften einzugrenzen. Vor allem die 1908 in Boston
gegründete, aber erst 1937 vom Patriarchat in Istanbul anerkannte autokephale Orthodoxe Kirche von Albanien, von dem in
der Diaspora lebenden Priester und 1924 kurzzeitigen Ministerpräsidenten Fan Noli vorangetrieben, sollte den griechischen
Einfluss auf die orthodoxen Gemeinden in Albanien begrenzen.
Atheistische Religionspolitik
Mit der Machtergreifung der Kommunisten 1944 erfuhr die
Stellung der Religionsgemeinschaften in Albanien eine dramatische Wende. Wie in anderen kommunistischen Staaten auch,
Nr. 4 2012
Photo: Hans Lempert
Das Partisanendenkmal der fünf Helden in Shkodra, im Hintergrund die
Große Moschee und die Franziskanerkirche. Mittlerweile wurde das
Denkmal der fünf Partisanen entfernt und steht am Stadtrand. Der Platz
wurde von «Platz der fünf Helden» in «Platz der Demokratie» umbenannt.
sah das albanische Regime unter Enver Hoxha in der Religion
seinen ideologischen Gegner und versuchte die religiösen Institutionen unter seine vollständige Kontrolle zu bringen. Berüchtigt wurde Enver Hoxhas Politik 1967 durch die Ausrufung
Albaniens zum ersten atheistischen Staat der Welt. Dem war
eine von der Partei der Arbeit Albaniens (PAA) koordinierte
Protestbewegung gegen religiöse Einrichtungen vorausgegangen. Eine Rede Enver Hoxhas am 6. Februar 1967, in der er
«rückständige religiöse Bräuche» anklagte – unter Berufung auf
einen Ikonen malenden Hafenarbeiter in Durrës und auf die
Verheiratung bzw. den Verkauf junger Mädchen zur Heirat in
nördlichen Landregionen –, soll, so die Darstellung der PAA,
Jugendliche in Durrës dazu gebracht haben, Kirchen und
Moscheen zu stürmen und zu zerstören. Innerhalb weniger
Wochen wurden bis Mai 1967 landesweit alle 2160 religiösen
Einrichtungen geschlossen, zerstört oder umfunktioniert. 2
Die Ausübung der Religion, durch die Verfassungen von
1946 und in ihrer novellierten Form von 1950 noch als Grundrecht garantiert, wurde jedoch erst 1976 mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung auch offiziell verboten und alle
Bezüge zu Religion und Glauben daraus entfernt. Besonders
Artikel 37 und 55 verdeutlichten diese Politik: §37: «Der Staat
erkennt keine Religion an und unterstützt und entwickelt atheistische Propaganda, um in den Menschen die wissenschaftliche materialistische Weltanschauung zu verwurzeln.»
§55: «Verboten ist die Schaffung jeglicher Organisation faschistischen, antidemokratischen, religiösen und antisozialistischen Charakters. Verboten ist faschistische, antidemokratische, religiöse, kriegshetzerische und antisozialistische Propaganda sowie Aufhetzung zu nationalem und Rassenhass.»3
Mit dem vollständigen Auslöschen des religiösen Lebens in
der Öffentlichkeit setzte Enver Hoxha den eingangs zitierten
Grundsatz der Rilindja in seiner extremsten Form um. An die
Stelle der Religion traten neben einem übersteigerten Personenkult um Enver Hoxha die Mythisierung nationaler Helden wie
Skanderbeg und die Betonung der illyrischen Abstammung. War
die Religion aus der Öffentlichkeit verschwunden, so bestanden
ihre Traditionen und Bräuche jedoch trotz umfassender Repressionen und Bespitzelungen im Privaten insgeheim weiter.4
Erst mit dem Tod Enver Hoxhas 1985 und einer vorsichtigen
Öffnung des Landes nach Westen unter Ramiz Alia lockerten
sich die Restriktionen gegen die Religionsausübung. Bereits
1989 besuchte die in den Folgejahren zur Nationalheiligen erkorene Mutter Teresa Albanien. Zu dem im Mai 1990 beschlossenen 25-Punkte-Reformplan, der das marode System stabilisieren und letztendlich nur dessen Zerfall beschleunigen sollte,
zählte auch, dass die Ausübung der Religion zur Privatsache
erklärt wurde und somit, wenn schon nicht offiziell erlaubt, im-
RGOW
albanien
merhin toleriert wurde. In den folgenden Wochen und Monaten
wurden erste öffentliche Messen abgehalten sowie Kirchen und
Moscheen, die zuvor als Kinosäle, Viehställe und Lagerhallen
gedient hatten, wiedereröffnet. Aber nicht nur die traditionell
etablierten Religionsgemeinschaften lebten wieder auf, auch
zahlreiche neue Gruppierungen entsandten Missionare nach Albanien, um einen angenommenen Bedarf an Religiosität mit
neuen Angeboten abzudecken. Neben protestantischen Gemeinden fassten so auch die Zeugen Jehovas, Scientology und
konservative islamische Gruppierungen, wie wahabitische und
salafitische Gruppen, in Albanien Fuß. Wirkliche gesellschaftliche Bedeutung erlangten jedoch nur die bereits vor dem Kommunismus etablierten Religionsgemeinschaften.
Religion und Nation im Postkommunismus
Mit dem Wiederaufleben religiöser Institutionen in Albanien
verstärkte sich auch wieder deren Einfluss und Stellung im nationalen Diskurs. Der politische Mythos der religiösen Toleranz
bleibt jedoch insofern identitätstragend, dass fortwährend gerade die unpolitische Stellung der Religionen in Albanien betont
und der Anschein einer Bevorzugung oder Benachteiligung
einer der drei Gemeinschaften vermieden werden muss.
Das Verhältnis von religiöser Zugehörigkeit und nationalem
Selbstverständnis galt es nicht nur nach innen, sondern mit der
angestrebten Rückkehr in internationale Strukturen auch nach
außen neu auszuhandeln. Vor allem der Islam und die orthodoxe Kirche, weniger die römisch-katholische Kirche müssen
sich dem Generalverdacht stellen, für ausländische Einflüsse
empfänglich zu sein. So weckte 1992 der Beitritt Albaniens zur
Organisation der Islamischen Konferenz IOC (jetzt Organisation der Islamischen Zusammenarbeit) in Teilen der albanischen Gesellschaft die Befürchtung, Albanien könne sich stärker dem islamischen als dem westlichen Raum zuwenden bzw.
von Europa diesem zugerechnet werden. Auch der zunehmende
finanzielle Einfluss salafitischer und wahabitischer Gruppen
auf neugegründete Koranschulen wurde kritisch beobachtet.
Ein Teil der albanischen Elite, zu der der international bekannte Schriftsteller Ismail Kadare als prominentester Sprecher
zählt, sieht im Erstarken des Islam eine Gefahr für die europäische Identität der Albaner. In einem Essay mit dem Titel «Die
europäische Identität der Albaner» veröffentlichte Ismail Kadare
2006 seine Thesen einer nicht nur geographisch, sondern auch
kulturell untrennbaren Einheit der Albaner mit Europa.5 Albaniens kulturelle Herkunft und Zugehörigkeit sei das christliche
Europa. Der Islam ist in dieser Argumentation ein historischer Unfall bzw. fremdverschuldeter Irrweg. Jede Betonung und Förderung des Islam würde Albanien nur weiter von seinen kulturellen
Wurzeln entfernen. Der kosovo-albanische Linguist Rexhep Qosja veröffentlichte eine Replik auf die Thesen von Kadare unter
dem Titel «Die vernachlässigte Realität. Kritische Betrachtung
der Ansichten Ismail Kadares über die albanische Identität.»6 In
dieser weist Qosja darauf hin, dass der Islam integraler Bestandteil der albanischen Kultur sei und betont die Brückenfunktion,
welche die Albaner zwischen Ost und West einnehmen können.
Jede Abwertung einer der drei Religionen würde gegen das Prinzip der religiösen Toleranz verstoßen und sei somit gegen die Nation gerichtet. Infolge der beiden Essays entspann sich 2006 in
Albanien eine teilweise sehr polemisch geführte Debatte, in die
zahlreiche albanische Intellektuelle involviert waren. In dieser
erstmals so intensiv diskutierten Auseinandersetzung um die nationale Identität stand nicht nur das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften, sondern auch die nationale Historiographie,
insbesondere die Bewertung der Epoche der osmanischen Herrschaft, auf dem Prüfstand. Die bereits in den 1970er Jahren durch
den Orientalisten Hasan Kaleshi aufgestellte These, die Islamisie-
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albanien
Nr. 4 2012
R GOW
rung hätte das ethnische Überleben der Albaner gesichert, indem
es vor einer Gräzisierung bzw. Slawisierung geschützt hätte7,
dient nationalistischen Autoren wie Abdi Baleta dazu, die traditionellen Feindbilder der Serben und Griechen zu aktualisieren
und eine stärkere Hinwendung zum Islam zu fordern.
Der rasch erhobene Vorwurf, jegliche Bewertung einer der
Religionsgemeinschaften sei ein Angriff auf die nationale Einheit, basiert auf dem Imperativ des Mythos der religiösen Toleranz. Dabei betrachten sich die Religionsgemeinschaften gegenseitig mit Argwohn. Die jeweilige andere Religion steht unter
dem Verdacht, das schwache Glied in der Verteidigung nationaler Interessen und fremden, äußeren Einflüssen gegenüber
empfänglich zu sein. 8
Besonders deutlich wird dies im Verhältnis der orthodoxen
Kirche zur griechischen Minderheit im Süden Albaniens. Während der Diskurs über die islamische Religionsgemeinschaft
vor allem historische und kulturelle Aspekte umfasst, sind mit
der Stellung der orthodoxen Kirche wesentlich stärker politische
Fragen verknüpft. Zwar ist die Orthodoxe Kirche von Albanien
seit 1937 als autokephale Kirche anerkannt, doch wird ein Einfluss Griechenlands auf religiöse und ethnische Fragen nach wie
vor als bedrohlich wahrgenommen. Die im Süden Albaniens lebende griechische Minderheit ist eines der Kernthemen, das die
Beziehungen zwischen Albanien und Griechenland immer wieder bestimmt. Der Umfang der griechischen Minderheit ist zudem umstritten und liegt zwischen 350 0 00 nach griechischer
und nur 60 0 00 nach albanischer Sichtweise. Da in Griechenland die Orthodoxie maßgeblich die nationale Identität bestimmt, ist deren Rolle immer ein kritischer Punkt. Mangels
eines albanischen Kandidaten wurde 1991 dem griechisch-stämmigen Anastasios (Yannoulatos) temporär und seit 1993 als
Erzbischof offiziell die Führung der Orthodoxen Kirche von
Albanien übertragen. Der Umstand, dass er kein albanischer
Staatsbürger war, führte kontinuierlich zu Angriffen und Befürchtungen, Griechenland führe mit Hilfe von Yannoulatos
und der orthodoxen Kirche in Südalbanien eine Hellenisierungskampagne durch, um so griechische Ansprüche auf das von ihnen als Vorio-Epiro (Nordepirus) bezeichnete Gebiet zu stärken.
nizität zu machen, um einfachere Einreiseregelungen nach Griechenland zu erhalten oder um von den von Griechenland finanzierten Pensionen für Griechen in Albanien zu profitieren.
Vor allem Kreshnik Spahiu, bis Anfang Februar noch stellvertretender Leiter des Obersten Gerichtshofs in Albanien,
führte mit der von ihm gegründeten Bewegung Aleanca kuq e zi
(nach den Farben der albanischen Fahne: rot-schwarze Allianz)
eine in der Bevölkerung zunehmend erfolgreiche nationalistische Kampagne gegen die Volkszählung durch und forderte die
Menschen auf, die freiwilligen Fragen zu Religion und Ethnizität unbeantwortet zu lassen bzw. diesen Teil des Fragebogens
abzureißen. Selbst Vertreter der Religionsgemeinschaften kritisierten, die Angabe von Religion würde nicht nur die nationale
Identität, sondern auch das friedliche Zusammenleben der Religionen in Albanien gefährden.
So schnell das Wiederaufleben der Religionsgemeinschaften
auch erscheinen mag, es darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die über 40 Jahre währende kommunistische Diktatur mit extremer Repression gegenüber den Religionen in der
überdurchschnittlich jungen Bevölkerung Albaniens bleibende
Spuren hinterlassen hat. Dass die Ergebnisse des Zensus jedoch
ein genaues Bild der Realität zeichnen werden, ist zu bezweifeln.
Das Bekenntnis zu einer Religion muss nicht zwingend mit einem
tatsächlichen Glauben verbunden sein. Oft gilt es als Merkmal
kultureller Herkunft, auch für die junge, zumeist atheistische
Bevölkerung. Wie viele Menschen in Albanien tatsächlich religiös sind, lässt sich deshalb nur vermuten. Eine interessante,
wenn auch nicht repräsentative Studie im Zusammenhang der
Parlamentswahlen aus dem Jahr 2005 zeigt auf, dass von den
1148 Befragten sich 70% als Muslime verstehen, jedoch nur
7,5% wissen, ob sie zu der Glaubensgemeinschaft der Sunniten
oder der Bektashi zählen. Nur 1,9% gaben an, keiner Religion
anzugehören. Zugleich gaben 46,4% an, noch niemals in eine
Moschee, Kirche oder Teqe gegangen zu sein.9 Letztendlich
kann davon ausgegangen werden, dass, ähnlich wie in den Gesellschaften Westeuropas, ein Großteil der Bevölkerung nicht
sonderlich religiös ist.
Anmerkungen
Umstrittene Volkszählung
Genaue Zahlenangaben über ethnische Minderheiten oder religiöse Gruppierungen sind mit äußerster Vorsicht zu betrachten.
Die immer wieder präsentierte religiöse Aufteilung in 70%
Muslime, 20% Orthodoxe und 10% Katholiken beruht auf den
Ergebnissen der Volkszählung von 1942, bei der bis 2011 letztmalig Angaben zur Religionszugehörigkeit erhoben wurden. In
den dazwischen liegenden Jahrzehnten hat eine 45-jährige kommunistische Herrschaft die Bedeutung der Religion stark
zurückgedrängt, hat sich die Bevölkerung verdreifacht, und
haben sich die Gesellschaft und die Lebensentwürfe stark gewandelt. Aktuelle Angaben zu den einzelnen Religionsgemeinschaften könnte der im vergangenen Jahr durchgeführte Zensus
bringen. Erstmals seit 1942 wurden in die allgemeine Volkszählung auch wieder Fragen nach der Religionszugehörigkeit
und der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit aufgenommen. Im
Vorfeld dieses Zensus wurde über diese beiden (freiwillig zu
beantwortenden) Fragen eine Debatte geführt, die in aller Deutlichkeit das Verhältnis von Religion und Nation in einem sich
laizistisch verstehenden Albanien aufzeigte:
Die Regierung begründet ihr Vorgehen mit dem Argument,
einen Zensus nach EU-Vorgaben durchzuführen. Kritiker des
Zensus befürchten, die Angabe der Religionszugehörigkeit
würde die griechische Minderheit stärken und Forderungen
nach mehr Rechten nach sich ziehen. Albanische Bürger könnten motiviert sein, falsche Angaben bezüglich Religion und Eth-
1)
Deutsche Übersetzung von Elsie, Robert: Einem Adler
gleich. Anthologie albanischer Lyrik vom 16. Jahrhundert
bis zur Gegenwart. Stuttgart 1988 (http://www.elsie.de/
pdf/B1988Adler.pdf, S.30f.).
2)Ceka, Egin: Atheismus und Religionspolitik im kommunistischen Albanien. In: Schmitt, Oliver Jens (Hg.): Religion
und Kultur im albanischsprachigen Südosteuropa.
Frankfurt/M. 2010, S. 215-231, hier S. 223.
3)Schmidt-Neke, Michael: Die Verfassungen Albaniens. Wiesbaden 2009, S. 205, 207.
4) Ceka, Atheismus und Religionspolitik (Anm. 2), S. 227-230.
5) Kadare, Ismail: Identiteti evropian i shqiptarëve. Tirana 2006.
6) Qosja, Rexhep: Realiteti i shpërfillur. Tirana 2006.
7)Schmitt, Oliver Jens: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen
Orient und Okzident. München 2012, S. 61.
8)Endresen, Cecilie: «Do not look to church and mosque?»
Albania’s post-communist clergy on nation and religion. In:
Schmitt, Religion und Kultur (Anm. 2), S. 233-258, hier S. 244.
9)Ilirjani, Altin: Political Choice in Albania. The 2005 Albanian Parliamentary Election. In: Albanian Journal of Politics 1 (2005), S. 75-86, hier S. 84f.
Hans-Ulrich Lempert, Dipl. Sozialwissenschaftler, Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.
Nr. 4 2012
RGOW
albanien
Eglantina Gjermeni
Menschenhandel in Albanien
Die massive Zunahme des Handels mit Mädchen und Frauen in den 1990er Jahren ist eine
negative Folge des Systemwechsels in Ost- und Südosteuropa. Seit einem Jahrzehnt bemüht
sich die albanische Regierung in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen
vermehrt um die Bekämpfung des Menschenhandels. Die erfolgreichste Prävention ist laut der
Autorin der Zugang von Frauen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu Bildung
und die Förderung ihrer eigenständigen ökonomischen Handlungskompetenz. – R. Z.
Menschenhandel ist eine weltweite Verletzung der Menschenrechte und gleichzeitig ein äußerst profitables Unternehmen für
Menschenhändler. Die betroffenen Menschen werden durch
Bedrohung, Gewalt und Betrug zu einer Arbeit rekrutiert, von
deren Ertrag andere profitieren.
Seit 1990 haben in Albanien bedeutende politische und soziale Veränderungen stattgefunden. Das Land befindet sich in
einem schwierigen Transitionsprozess in Richtung Demokratie,
Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Von den vielen Problemen,
die noch einer Lösung harren, ist der Frauen- und Mädchenhandel aus Südosteuropa eines der dringendsten. Dabei ist hervorzuheben, dass Frauen- und Mädchenhandel kein isoliertes und
auch keine spezifisch albanisches Phänomen darstellt. Menschenhandel zwecks Prostitution ist in Albanien eine Folge von
vielerlei Faktoren, die vor allem mit der schwierigen ökonomischen Situation zusammenhängen. Albanien war zuerst als
Ursprungs- und Transitland für Menschenhandel betroffen und
wurde erst später vor allem zu einem Ursprungsland.
Transit- und Ursprungsland von Frauenhandel
Das UN-Zusatzprotokoll vom 15. November 2000 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung von Menschenhandel, insbesondere von Frauen- und Kinderhandel, bezeichnet diesen als
eine Form von Sklaverei und Zwangsarbeit, die auf Zwang,
Betrug und Entführung beruhen. Menschenhandel wird hier
definiert als «die Anwerbung, Beförderung, Verbringung,
Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der
Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch
von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder
durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder
Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person,
die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der
Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder
sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.»
Illegale Migration und Prostitution sind Erscheinungen,
die eng mit dem Frauenhandel verbunden sind. Gemäß internationalen Definitionen und Standards ist Frauenhandel eine
tiefgreifende Menschenrechtsverletzung, und die Mehrheit der
Opfer (vor allem Frauen und Kinder) endet in der Zwangsprostitution. Die drei Phänomene – Migration, Prostitution und
Frauenhandel – überschneiden sich jedoch nicht zwangsläufig,
und es ist sehr wichtig ihre Unterschiede präzis zu definieren.
Die Ursprungsländer sind vor allem unterentwickelte ost- und
südosteuropäische Länder, während die Destinationen häufig
wirtschaftlich gut entwickelte Länder in West- und Nordeuropa sind.
Im kommunistischen Regime vor 1990 war der Handel mit
und die Prostitution von Frauen und Kindern verboten, und
aufgrund der Abschottung gegenüber der Außenwelt gab es
nicht viele Möglichkeiten, den Handel auf diesem Gebiet zu
entwickeln. Der Systemwechsel zog viele negative Folgen für
die soziale, politische und ökonomische Entwicklung des Landes nach sich, darunter den Frauen- und Mädchenhandel seit
den 1990er Jahren. Albanien wurde sowohl zu einem Transitland für den Frauenhandel aus Rumänien, Moldova, Bulgarien und der Ukraine als auch zu einem Ursprungsland für
den Verkauf von albanischen Frauen in westeuropäische Länder. Das begann nach 1992, als kriminelle Elemente in Albanien mit ihren Parallelorganisationen in anderen Ländern
Kontakt aufnahmen. Am intensivsten florierte der Frauen
handel zwischen 1992 und 1998, weil die staatlichen Institutionen während dieser Periode nur minimale Gegenmaßnahmen ergriffen. Als «Rechtfertigung» wurde angeführt, dass
die Frauen das Land aus freiem Willen verließen. Das Phänomen wurde nicht als Ausbeutung wahrgenommen, und es gab
keine lokalen oder internationalen Instrumente, den Menschenhandel ins Visier zu nehmen und systematisch zu
bekämpfen. Für die Periode zwischen 1990 und 1998 gibt es
deshalb kaum Informationen und Daten über den Menschenhandel in Albanien.
Zwischen 1999 und 2001 hat die Nichtregierungsorganisation Vatra (Herd) 831 Frauen interviewt, die über die südalbanische Hafenstadt Vlora nach Italien gelangt sind oder von dort
zurückkehrten (1999: 136; 2000: 267; 2001: 428), wobei die
Gesamtzahl von verschleppten Frauen natürlich größer ist. Laut
Vatra hat deren Zahl seit 2002 jährlich abgenommen, weil die
albanische Regierung ihre Anstrengungen zur Bekämpfung des
Menschenhandels intensiviert und regionale Anti-Menschenhandel-Polizeieinheiten eingesetzt hat. 2009 musste Vatra nur
noch 36 Frauen unterstützen.
Ursachen des Menschenhandels
Die Ursachen von Menschenhandel sind vor allem Armut,
Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung und fehlender Zugang zu
Ressourcen. Frauen sind davon besonders betroffen.
Armut und Arbeitslosigkeit sind Folgen der drastischen
wirtschaftlichen Veränderungen in Albanien nach dem Systemumbruch. Frauen und Mädchen waren die ersten, die isoliert
zu Hause blieben. Der Zusammenbruch der Landwirtschaftskooperativen, die auf dem Land die größten Arbeitgeber gewesen waren, hatte eine massive Arbeitslosigkeit zur Folge. Die
Frauen in ländlichen Gebieten waren nicht nur arbeitslos,
sondern auch isoliert vom Arbeitsmarkt und dem Sozialleben,
was sie von allen realen Möglichkeiten abschnitt, sich als ökonomische Kräfte und Einkommensquelle für sich selbst und ihre
Familien einzubringen.
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albanien
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R GOW
Mehrere psychologische und kulturelle Faktoren stehen mit
dem Menschenhandel in einem Zusammenhang. Viele junge
Frauen wollten ein anderes Leben als ihre Eltern führen und aus
der Isolation und patriarchalen Mentalität der Dorfgemeinschaft ausbrechen. Besonders in den ländlichen Gebieten fehlten
ihnen Informationen über legale Möglichkeiten der Emigration
wie auch über die Tatsache des Menschenhandels.
Eine weitere Ursache ist die Schwäche der Regierung und
fehlende Maßnahmen angesichts der Herausforderungen der
Transitionsperiode. Gleichzeitig zeigte sich die Regierung anfangs gegenüber dem neuen Phänomen gleichgültig, als die illegale Migration als Ventil für Armut und Arbeitslosigkeit geduldet wurde. Erst unter dem Druck der Zielländer ergriff die Regierung allmählich Maßnahmen gegen die illegale Migration,
wobei die Reduktion des Menschenhandels nur ein Nebenprodukt dieser Aktionen und kein primäres Ziel war.
Eine unangemessene Gesetzgebung und/oder Schwierigkeiten bei deren Umsetzung sind ebenfalls direkt mit dem Problem
des Menschenhandels verbunden. Die Grenzen wurden schlecht
überwacht, das Polizeisystem war nicht sehr effektiv.
Der Glaube an ein besseres Leben wurde durch unrealistische Bilder verstärkt, welche die Medien sowie ausgewanderte
Verwandte und ehemalige Nachbarn vom Leben im Ausland
vermittelten. Die massive Emigration von Männern in den
1990er Jahren ließ viele Familien ohne Väter, Brüder und Ehemänner zurück. Dies machte viele, vor allem junge Frauen zu
Opfern der Zwangsprostitution.
Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind vor allem
in den ländlichen Regionen im Norden Albaniens noch immer
stark traditionell geprägt, insbesondere durch diverse Versionen
des Kanun, einer Sammlung von Verhaltensregeln aus dem Mittelalter. Enge Familienbande, Ehre, Rache und männliche Kontrolle über Frauen und Kinder legitimieren zwar nicht deren
Verkauf oder Ausbeutung, erlauben jedoch die Bestrafung der
Frauen und Racheaktionen für die Entehrung der Familie, was
die Betroffenen in einen Opferkreislauf zwängt und ihren Zugang zum Justizsystem schwächt. Auch häusliche Gewalt ist mit
dem Frauenhandel verbunden. In vielen Fällen waren die Opfer
von Frauenhandel bereits Opfer von häuslicher Gewalt in ihren
Familien.
Durch das Geschäft mit dem Frauen- und Mädchenhandel
kamen die Zuhälter in kurzer Zeit zu riesigen Geldsummen.
Das ist einer der Faktoren, welche die Kontinuität und die Zunahme des Phänomens garantieren. Die albanische Mafia und
die Zuhälter arbeiten sehr eng mit den Netzwerken organisierter Kriminalität in den Nachbarländern wie auch in Westeuropa
zusammen.
Ein wichtiger Faktor, der bei der Analyse des Phänomens oft
vergessen wird, ist, dass in den Zielländern eine hohe Nachfrage nach Opfern des Menschenhandels besteht. Gleichzeitig
steigt die Nachfrage in Albanien selbst, so dass zusammen mit
der verbesserten Grenzkontrolle ein Zuwachs des internen Menschenhandels festgestellt werden kann.
Profil und Situation der Opfer
Viele, vor allem junge unverheiratete Frauen sind durch falsche
Heiratsversprechungen, vorgetäuschte Arbeits- und Studienplätze, Zwang oder Entführung Opfer des Frauenhandels
zwecks Prostitution geworden. Eine große Zahl von ihnen landet in Italien oder Griechenland. Einzelne Frauen wurden von
Familienmitgliedern oder einem vermeintlichen Verlobten zur
Hochzeit dorthin gelockt. Die Opfer sind zwischen 15 und 35
Jahre alt – jünger als Opfer des Frauenhandels aus anderen Ländern; gewisse offizielle Daten besagen, dass bis zu 80 % der
Opfer Mädchen unter 18 Jahren sind. Viele Frauen und Mäd-
chen, die bei ihrer Rückkehr von der Organisation Vatra betreut wurden, gaben an, bereits als 13- bis 14-Jährige rekrutiert
worden zu sein. Die meisten von ihnen kommen vom Land. Fast
alle von Vatra interviewten Frauen stammten aus armen Familien mit einem niedrigen Bildungsniveau. Einzelne von ihnen
gaben an, den Zuhältern aus diversen Gründen «freiwillig»
gefolgt zu sein, obwohl sie von diesen gleichzeitig ständig
physisch und sexuell missbraucht und bedroht wurden.
Gewalt ist im Menschenhandel ständig gegenwärtig: Drohungen, Freiheitseinschränkungen, Schläge, Vergewaltigung,
Folter bis zu Mord sind die Methoden, vor denen die Schlepper
und deren Komplizen nicht zurückschrecken, um maximalen
Profit aus den Frauen zu schlagen. Zudem sind gemäß einer Studie von Vatra 80 % der Opfer von ihren Zuhältern zu Abtreibungen gezwungen worden, um weiter arbeiten zu können. Der
Kontakt zur Familie wurde zumeist abgebrochen oder nur unter
Aufsicht der Zuhälter erlaubt.
Unter diesen Bedingungen leiden die Opfer von Frauenhandel während, aber auch schon vor und nach dem Menschenhandel oft unter diversen psychologischen Problemen und Traumata: Persönlichkeits-, Emotions-, Angst- und Gemütsstörungen, Depressionen, Hoffnungsverlust und Pessimismus usw.
Den Sozialarbeitern von Vatra, die sich vor allem um zurückkehrende Frauen kümmern, fällt es oft sehr schwer, deren Vertrauen zu gewinnen, weil diese grundsätzlich das Vertrauen zu
Menschen verloren haben.
Im Zielland angekommen, merken die betroffenen Frauen,
wie feindlich ihre Umgebung ist und wie wenig sie darüber
wissen. Sie beherrschen die Sprache nicht und finden sich unter dem «Schutz» und in völliger Abhängigkeit von ihren Zuhältern wieder. Ihre Gefühle sind verwirrt, weil sie von diesen
einerseits Kleider geschenkt bekommen, andererseits geschlagen
und vergewaltigt werden. Der Gang zur Polizei ist schwierig,
weil sie meistens falsche Papiere besitzen, und weil sie auch vor
der Polizei Angst haben. Es ist ihnen kaum möglich, Alternativen zu finden.
Maßnahmen der albanischen Regierung
Gemäß der albanischen Verfassung von 1998 genießen Frauen
dieselben politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen
Rechte wie Männer. Albanien hat die meisten internationalen
Konventionen über Menschen- und Frauenrechte ratifiziert und
sie in die nationale Gesetzgebung übernommen: Ein neues
Familiengesetz, das Gesetz gegen häusliche Gewalt, das Gesetz
zur Gleichberechtigung der Geschlechter und das Gesetz gegen
Diskriminierung sind die wichtigsten gesetzlichen Schritte,
Wikimedia Commons / Dori
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Über die südalbanische Hafenstadt Vlora werden viele Opfer des
Menschenhandels – häufig nach Italien oder Griechenland – verschleppt.
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welche die albanische Gesellschaft in Richtung einer gleichberechtigten und integrierten Gesellschaft unternommen hat.
Das Hauptproblem bleibt aber die Kluft zwischen der de iureund der de-facto-Situation der Frauen in Albanien.
Was den Frauen- und Mädchenhandel betrifft, hat es die albanische Regierung zuerst abgelehnt, die Ernsthaftigkeit des
Problems anzuerkennen. Doch der Druck durch albanische
Nichtregierungsorganisationen wie auch durch die internationale Gemeinschaft hat vermehrt zu Maßnahmen geführt, um
den Menschenhandel einzuschränken und auf die Bedürfnisse
der Opfer einzugehen. Am 24. Januar 2001 hat das albanische
Parlament das Gesetz Nr. 8733 gutgeheißen, das im Strafgesetzbuch erstmals Sanktionen vorsah für die strafbaren Handlungen, die mit Menschenhandel zu tun haben. Im Juni 2001 hat
der Premierminister das Ministerium für öffentliche Ordnung
autorisiert, eine inter-ministerielle Arbeitsgruppe zu schaffen,
die eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Menschenhandel ausarbeiten sollte. Die Gruppe wurde von einem nationalen Koordinator geleitet und bestand aus Vertretern der Ministerien für öffentliche Ordnung, Arbeit und soziale Angelegenheiten, Auswärtige Angelegenheiten, Erziehung und Wissenschaft, Justiz, Kultur, Jugend und Sport, dem Büro des Generalstaatsanwalts und dem nationalen Nachrichtendienst. In
Konsultation mit internationalen Organisationen und lokalen
Nichtregierungsorganisationen wurde eine Strategie erarbeitet,
die im Dezember 2001 vom Parlament angenommen wurde. Sie
enthält konkrete Maßnahmen gegen Menschenhandel, bezeichnet die verantwortlichen Institutionen und präsentiert ein
Budget für alle Aktivitäten.
In den darauffolgenden Jahren ist die Gesetzgebung laufend
an westliche Standards und internationale Konventionen angepasst worden (z. B. Ratifizierung des Palermo-Protokolls im
Jahr 2002). Albanien gehört auch zu den Ländern des Europarats, welche die Europarat-Konvention über die Aktion gegen
Menschenhandel (Warschau 2005) unterzeichnet und ratifiziert
haben.
Im März 2004 wurde vom Justizministerium ein Zeugenschutzgesetz eingeführt, was bei der Verfolgung und Bestrafung
der Zuhälter und dem Opferschutz einen Schritt vorwärts ermöglichte. 2005 ist ein Nationales Zuweisungssystem etabliert
worden, das die Koordination zwischen diversen Akteuren verbessert, die für den Schutz potentieller Opfer und für zurückkehrende Opfer in Albanien zuständig sind. Das Zuweisungssystem sieht Maßnahmen für jede Stufe des Prozesses von der
ursprünglichen Identifikation bis zur Unterbringung, Repatriierung und Reintegration der Opfer vor.
2006 verfügte die albanische Regierung ein Moratorium mit
einem Verbot von Motorbooten, mit denen die Menschenhändler ihre Opfer oft auf dem Seeweg in die EU-Länder schmuggeln;
dies hatte eine große Auswirkung auf die Prävention und Reduktion des Menschenhandels.
Die Unterstützung der Opfer von Menschenhandel in Albanien wird von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen
gewährleistet. Ihre Hilfeleistungen umfassen: eine geschützte
Unterkunft, medizinische Hilfe, Rechtsberatung, psycho-soziale Unterstützung, Mediation mit den Familien, Besuche und
Beratung der Familien, Hilfe für die Kinder der Opfer, Erziehung und Berufsberatung, Lese- und Schreibkurse, Schulregistrierung, sozio-kulturelle Aktivitäten, ökonomische Starthilfe
für Kleinunternehmen, Monitoring und weitere Begleitungsleistungen.
Das Büro des nationalen Anti-Menschenhandel-Koordinators ist für die Implementierung der Strategien und Aktionspläne zuständig und fördert ein gesteigertes öffentliches Bewusstsein für die Problematik.
R GOW
albanien
2011 hat der Ministerrat zudem Standardvorgehensrichtlinien anerkannt, welche die opferzentrierte Vorgehensweise
verbessern, für eine erhöhte Verantwortlichkeit und Haftung
der staatlichen Strukturen hinsichtlich Identifikation und
Schutz der Opfer sorgen und die Verwendung von nationalen
Ressourcen für den Opferschutz erleichtern.
Menschenhandel heute...
Als Resultat all dieser Maßnahmen hat der Menschenhandel in
Albanien substantiell abgenommen. Doch obwohl die Opferzahlen abnehmen, bleibt Albanien ein Ursprungsland für Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit.
Ein ernsthaftes Problem ist der landesinterne Menschenhandel.
Um dieser Tatsache zu begegnen, ist eine verbesserte Koordination zwischen den verantwortlichen Behörden und eine noch
intensivere Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen,
regionalen und internationalen Partnern in den Ursprungs-,
Transit- und Zielländern notwendig. Die Verfolgung der Straftäter muss durch proaktive Ermittlungsmethoden und Sicherheitsgarantien für die Opfer, welche vor Gericht aussagen, verbessert werden.
Notwendig sind auch spezifische medizinische Behandlungszentren für die Opfer von sexueller Gewalt: Viele von
ihnen leben unbehandelt wieder bei ihren Familien mit dem Risiko, sexuell übertragbare Krankheiten (Hepatitis A, B und C)
zu verbreiten. Viele leiden auch unter Drogensucht und mentalen Problemen.
Im Fokus aller Programme und Projekte sollte auch die
Förderung der ökonomischen Handlungskompetenz der Bevölkerung stehen: Investitionsstrategien, Arbeitsmöglichkeiten,
gleichberechtigte Ausbildungsmöglichkeiten, Kleinkredite und
Darlehen, die ein normales Leben ermöglichen können.
Für einen umfassenden Umgang mit dem Problem des Menschenhandels in Albanien sind in der Praxis vor allem zwei Aspekte wichtig: Erstens muss ein stärkerer Fokus auf den Handel
mit Männern gelegt werden. Zweitens muss das Problem des
landesinternen Menschenhandels angegangen werden, da die
bisherigen Anstrengungen sich vor allem auf den transnationalen Menschenhandel konzentriert haben.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen Maßnahmen, die den
am stärksten betroffenen Gruppen – vor allem Frauen, Roma
und den sog. Balkan-Ägyptern, die ihre ethnische Herkunft aus
Ägypten herleiten – Zugang zu Bildungs- und Arbeitsplätzen
verschaffen. Die albanischen Regierungsinstitutionen sollten
das Bewusstsein der Öffentlichkeit weiterhin für Fragen der
Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung schärfen, um
die Marginalisierung der betroffenen Gruppen zu bekämpfen.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Literaturauswahl
Ekonomi, Milva; Gjermeni, Eglantina; Danaj, Ermira; Lula,
Elvana; Beci, Ledia: Creating economic opportunities for
women in Albania: A stragegy for the prevention of human
trafficking. Tirana 2006; http://www.unifem.sk. Report
by Hearth (Vatra): The evolution of trafficking in human
beings 2002-2009. Vlorë 2010. Meshi, Marjana; Picari, Blerta; Pinderi, Reta: Study on the social economic reintegration of victims of trafficking in Albania. Tirana 2009; www.
differentandequal.org.
Eglantina Gjermeni, Ph. D. in Sozialarbeit, Dozentin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der
Universität Tirana, seit 2009 Abgeordnete der
Sozialistischen Partei im albanischen Parlament.
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Makedonien
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Nada Boškovska
Makedonien im 20. Jahrhundert
Die heutige Republik Makedonien ist ein Teil des geographischen Gebiets Makedonien, das während
Jahrhunderten zum Osmanischen Reich gehörte. In seiner bewegten Geschichte im 20. Jahrhundert hat
das Land als Teil des Königreichs bzw. als Republik des sozialistischen Jugoslawien einen klassischen
Nationsbildungsprozess durchlaufen. Die gegenwärtigen Streitigkeiten mit Griechenland um den Staatsnamen haben zu einer Verschärfung der außen- und innenpolitischen Probleme geführt. – R. Z.
Wer in Makedonien kurz nach 1900 zur Welt kam, begann sein
Leben als Untertan des Osmanischen Reichs, lebte von 1913 bis
1915 im Königreich Serbien, anschließend in Bulgarien und fand
sich Ende 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
wieder. Im Zweiten Weltkrieg kam er wieder unter bulgarische
Herrschaft, um sein Leben nach dessen Ende im sozialistischen
Jugoslawien fortzusetzen. Langlebige konnten, ohne ihr Dorf je
verlassen zu haben, die letzten Jahre in einem siebten Staat, der
1991 unabhängig gewordenen Republik Makedonien, verbringen. Das war ein rasanter Wechsel, vor allem im Vergleich zum
halben Jahrtausend davor, während dem Makedonien konstant
zum Osmanischen Reich gehört hatte.
Salade macédoine oder die makedonische Völkervielfalt
Die heutige Republik Makedonien ist ein Teil des geographischen Makedonien, das seit den 1370er Jahren bis 1912 osmanisch war und über dessen Grenzen unter den Geographen im
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend Konsens
bestand: Sie bezeichneten als Makedonien das Gebiet, das im
Norden vom Šar-Gebirge, im Süden von Olymp und Pindus, im
Osten von den Rhodopen und im Westen vom Ohrid-See
begrenzt wird. Insgesamt handelt es sich um ein Territorium von
etwa 63 000 km 2 , auf dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund
zwei Millionen Menschen gelebt haben dürften.1
Ausländische Diplomaten, Journalisten und Abenteuerreisende, die Makedonien in der Endphase des Osmanischen
Reiches besuchten, waren immer wieder von der Vielfalt der
«Rassen» beeindruckt, der sie dort begegneten. Die kulinarischen Begriffe salade macédoine (Gemüsesalat) oder Macedonia di frutta sind Resultate dieses Eindrucks. Woraus diese
Macedonia bestand, insbesondere auch welcher Anteil daran
wie groß war, wurde damals leidenschaftlich diskutiert, auf
dem Balkan wie anderswo. Wenn man die Auseinandersetzung
über die Zahlen außer Acht lässt, so herrschte weitgehend Konsens darüber, dass im osmanischen Makedonien Türken, Albaner, Juden, Vlachen, Griechen, Roma und andere, kleinere
Volksgruppen lebten. Die Differenzen betrafen die größte Bevölkerungsgruppe, die christlichen Slawen, welche je nach
Standpunkt als Bulgaren, Serben, Slawen, makedonische Slawen oder Makedonier bezeichnet wurden. Der deutsche Geograph Theobald Fischer hatte einen pragmatischen, aber nicht
konsensfähigen Vorschlag: Es sei schwer zu entscheiden, ob die
Slawen Makedoniens Serben oder Bulgaren seien, deshalb solle
man sie «heute am besten als Makedonen» bezeichnen. 2
Um die nationale Zugehörigkeit dieser Menschen entbrannte
im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein erbitterter Kampf.
Ein nationales Bewusstsein war den meisten von ihnen noch
fremd; für ihre Selbstidentifikation, aber auch für die Zuordnung aus obrigkeitlicher Sicht war in erster Linie maßgeblich,
dass sie Christen waren; an zweiter Stelle folgte die Zugehörigkeit zum griechischen Patriarchat oder bulgarischen Exarchat.
Davon abhängig wurde der slawische Christ Makedoniens als
Grieche oder Bulgare gesehen und bezeichnete sich in der Regel
auch selbst so. Es handelte sich dabei um eine kirchliche, nicht
um eine ethnische Kategorie. Genauso galten alle Muslime als
Türken, ob sie nun ethnisch tatsächlich Türken waren oder Slawen, Albaner, Tataren oder Tscherkessen.
Die Schwäche des Osmanischen Reiches, sein absehbarer
Zerfall und die strategische Bedeutung Makedoniens weckten
die Begehrlichkeiten der kleinen Balkanstaaten, die ihren Anspruch auf mehr Territorium und Bevölkerung einerseits historisch zu legitimieren versuchten, andererseits ethnisch, indem
sie die slawischen christlichen Untertanen der Pforte je zu ihren
Ko-Nationalen erklärten. Im Ersten Balkankrieg von 1912 vertrieben Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland die
Osmanen mit vereinten Kräften fast gänzlich von der Balkanhalbinsel. Nach einem weiteren Krieg, nunmehr zwischen den
Bündnispartnern um die eroberten Gebiete, wurde im Vertrag
von Bukarest am 10. August 1913 die Aufteilung Makedoniens
besiegelt. Etwa die Hälfte (das sog. Ägäisch-Makedonien) fiel
an Griechenland, rund 40 % (Vardar-Makedonien) an Serbien
und ein kleines Stück (Pirin-Makedonien) ging an Bulgarien.
Die damaligen Grenzen sind im Wesentlichen die gleichen wie
heute. In der Folge hatten die drei Länder freie Hand, in den
ihnen zugefallenen Teilen ihr nationales Programm umzusetzen
und zu versuchen, aus der dort ansässigen slawischen Bevölkerung Griechen, Serben oder Bulgaren zu formen. In Griechenland und Bulgarien wird seitdem im Wesentlichen durchgehend
eine strikte Assimilierungspolitik verfolgt, welche keine makedonische Minderheit anerkennt. Aus diesem Grund sind auch
keine Zahlen verfügbar.
«Südserbien» im Königreich Jugoslawien
Einen anderen Verlauf nahm die Entwicklung im Teil, der an
Serbien fiel und aus dem die heutige Republik Makedonien entstanden ist. Als Teil des Königreichs Serbien ging Makedonien
1918 in das neu entstandene Königreich der Serben, Kroaten
und Slowenen ein, das 1929 in Königreich Jugoslawien umbenannt wurde. Die Politik gegenüber Makedonien wurde von
serbischen Politikern bestimmt, welche ein serbisches nationales
Programm umzusetzen versuchten. 3 Makedonien, das nunmehr
als «Südserbien» bezeichnet werden musste, wurde mit serbischen Beamten und Lehrern überzogen. Durch einen entsprechenden Unterricht sollte der Jugend eine «korrekte» nationale
Gesinnung anerzogen werden. Serbische Kolonisten wurden
angesiedelt, um das serbische «Element» zu stärken. Darüber
hinaus waren in den 1920er Jahren 35 0 00 Mann Sicherheitskräfte damit beauftragt, in Makedonien für Ruhe und Ordnung
zu sorgen. Grund dafür waren die Aktivitäten der Inneren
Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), die
von Bulgarien aus aktiv war und durch Einfälle und Anschläge
eine Destabilisierung des jugoslawischen Staates und eine neue
Lösung für Makedonien erreichen wollte. Schon bei den Pariser
Friedensverträgen hatten makedonische Organisationen für
Nr. 4 2012
Photo: maknews.com
eine Autonomie lobbyiert, allerdings vergeblich. Danach waren
immer noch verschiedene Szenarien über eine alternative Zukunft in Umlauf. Ein Teil der großen makedonischen Diaspora
in Bulgarien war für einen Anschluss an Bulgarien. Andere
wünschten ein unabhängiges Makedonien als Protektorat des
Völkerbundes oder Englands und Frankreichs.
Was in Makedonien selbst darüber gedacht wurde, ist schwer
festzustellen, da sich wegen der Repression niemand offen
äußern konnte. Hermann Wendel, ein deutscher Sozialist, der
Makedonien 1920 bereiste, berichtete z. B. von einem jungen
Mann aus Bitola, der «ein autonomes Makedonien mit Landesregierung und Landesparlament zu Skopje im Gefüge eines
südslawischen Bundesstaates» forderte. 4 Auch Studenten aus
Ohrid, die in Graz und Wien studierten, träumten von einem
autonomen Makedonien. Davon war auch ein serbischer nationalistischer Gymnasiallehrer in Prilep überzeugt, der 1926 dem
Innenministerium hinterbrachte, dass die jungen Studenten aus
Makedonien (sic!) in Wien, Graz, Berlin, Paris und Montpellier
über ein autonomes Makedonien, über die Theorie der makedonischen Nationalität und über eine eigene makedonische
Sprache diskutierten: «In letzter Zeit spürt man sowohl hier als
auch in diesen Studentengrüppchen im Ausland eine lebhafte
Freude, die aus der Hoffnung kommt, dass eine baldige Möglichkeit für die Abspaltung eines eigenständigen Makedonien
besteht und dass das Makedonische Komitee in dieser Frage
erfolgreich sein wird.»5 Für die serbischen Machthaber kam
aber eine Autonomie nicht in Frage. 1924 erklärte Außenminister Momčilo Ninčić dem britischen Botschafter, dieses Gebiet
sei die Wiege des Serbentums.
Laut Ideologie war «Südserbien» für Belgrad ein zurückgewonnenes Kerngebiet Serbiens, die dortigen Brüder endlich
aus türkischer Knechtschaft befreit und mit dem Norden wiedervereint. Praktisch wurde Makedonien aber wie Feindesland
behandelt, der Bevölkerung schlugen Misstrauen und Verachtung entgegen. Politische oder kulturelle Vereinigungen auf regionaler Basis wurden nicht geduldet. Die Folge war, dass sich
an den Schaltstellen der Macht niemand für die Interessen Makedoniens einsetzen konnte. Dabei war der Handlungsbedarf
enorm. Makedonien war in jeder Beziehung unterentwickelt
und hatte zudem als Schauplatz der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs große Zerstörungen erlitten. Die Analphabetenrate war 1921 mit 84 % die höchste im Land, ein Gesundheitswesen kaum vorhanden. Erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg
wurden wirtschaftliche Fördermaßnahmen für Makedonien
ernsthaft ins Auge gefasst, meistens aber nicht umgesetzt, denn
sobald die staatlichen Mittel konkret zugeteilt wurden, konnten
sich Regionen mit mehr politischem Einfluss durchsetzen. Die
2011 wurde im Zentrum Skopjes, der Hauptstadt Makedoniens, eine
22 m hohe Statue Alexander des Großen errichtet.
RGOW
Makedonien
fortgesetzt stiefmütterliche Behandlung durch Belgrad war
einer der Faktoren, die dazu beitrugen, dass die makedonische
Identität zunehmend an Boden gewann und sich in der zweiten
Hälfte der 1930er Jahre, als die Repression nachließ, auch vermehrt äußerte. Es war eine junge Elite herangewachsen, die, da
sie sich dem Serbentum weitgehend verweigerte, am politischen
Leben nicht partizipieren konnte und nun zunehmend die alte
Idee einer Autonomie für Makedonien aufnahm.
Makedonien im sozialistischen Jugoslawien
Die politischen Umwälzungen in Europa seit 1938 und insbesondere die Revision von Grenzen vor und nach Beginn des
Zweiten Weltkriegs ließen es erstmals seit den Pariser Friedenskonferenzen als realistisch erscheinen, dass sich auch in Makedonien etwas am Status quo ändern könnte. Während die einen
erwarteten, dass Deutschland und Italien Makedonien von der
serbischen Herrschaft befreien würden, setzten die Kommunisten ihre Hoffnungen auf die Sowjetunion. Jugoslawien, das im
April 1941 kapitulierte, trauerte kaum jemand nach. Die Hoffnungen auf «Befreiung» wurden allerdings enttäuscht. Während des Krieges wurde der größte Teil des jugoslawischen
Makedoniens von Bulgarien besetzt, das umgehend ein Bulgarisierungsprogramm einleitete. Der westliche Teil wurde dem
von Italien kontrollierten Großalbanien zugeschlagen.
Unmittelbar nach dem Krieg sah es zunächst so aus, als
könnte sich der Wunsch nach Autonomie und Wiedervereinigung der drei makedonischen Teile im Rahmen einer Balkanföderation erfüllen. Mit dem Bruch zwischen Hitler und Stalin
1948 wurde dieser ohnehin schwer umzusetzende Plan jedoch
vollends Makulatur. Allerdings eröffneten sich für Vardar-Makedonien neue Perspektiven, denn Jugoslawien wurde nach dem
Krieg neu als föderalistischer Staat konzipiert, um seinem multiethnischen Charakter Rechnung zu tragen. Makedonien erhielt im August 1944 den Status einer Republik mit allen dazugehörigen Institutionen wie Verfassung, Regierung, Parlament,
Gerichtsbarkeit, einem eigenen Bildungswesen, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen usw. Im November 1944
wurde die Standardisierung der makedonischen Sprache in Angriff genommen und war im Mai 1945 vollendet. Erstmals war
es möglich, sich zur makedonischen Nation zu bekennen und
die eigene Sprache frei in allen Lebensbereichen zu verwenden.
Die Quasistaatlichkeit der Republik ermöglichte eine Förderung des nation-building, inklusive einer eigenen Geschichtsschreibung. Damit wurde eine Entwicklung zu Ende geführt,
die ihre frühen Vertreter im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts
hatte, sich in der Zwischenkriegszeit in weitere Kreise verbreitete und nach dem Krieg, auch aufgrund der Alphabetisierung,
die Massen erreichte. Es handelte sich um einen klassischen Nationswerdungsprozess, wie ihn etwa Miroslav Hroch mittels
seines Drei-Phasen-Modells beschrieben hat. 6
Teil dieses Prozesses war die Abspaltung von der Serbischen
Orthodoxen Kirche, der die orthodoxen Gläubigen VardarMakedoniens seit 1919 unterstanden. Der Wunsch nach einer
unabhängigen Kirche war schon in der Zwischenkriegszeit vorhanden und wurde während des Zweiten Weltkriegs und danach wieder vorgetragen, stieß aber auf Ablehnung seitens des
Belgrader Patriarchats, das zwar Autonomie, aber keine Unabhängigkeit gewährte, obwohl es von den jugoslawischen wie den
serbischen Behörden dazu gedrängt wurde. Im Juli 1967 erfolgte die einseitige Erklärung der Autokephalie durch die makedonische Kirche. Bis heute wurde dieser Akt weder von der
serbischen noch von einer anderen kanonischen orthodoxen
Kirchen anerkannt, obwohl es in der Geschichte der Orthodoxie immer wieder einseitige Abspaltungen gegeben hat, die jeweils nach einer gewissen Zeit des Grolls akzeptiert wurden.
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Makedonien
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Die Gründe für die Nichtanerkennung sind somit in erster Linie
politischer Natur.
Die sozialistische Phase brachte Makedonien in mancher
Hinsicht einen großen Entwicklungsschub. Es wurde in Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur investiert und eine
Industrie aufgebaut, wobei die Republik von Ausgleichszahlungen des jugoslawischen Entwicklungsfonds profitieren konnte.
Gleichzeitig wurde aber der Abstand zu den reicheren Republiken des Nordens nicht kleiner, sondern größer. Makedonien
blieb zudem, wie im ersten Jugoslawien, politisch ein Leichtgewicht. In den hohen Rängen von Partei- und Staatsführung
sowie in Titos innerem Kreis waren keine Makedonier zu finden. Aber angesichts der eigenen Schwäche, der von den Nachbarstaaten negierten Nationsbildung und der multiethnischen
Zusammensetzung sah sich Makedonien in Jugoslawien gut
aufgehoben und war eine loyale Republik, die zusammen mit
Bosnien-Herzegowina bis zuletzt versuchte, den Zerfall des
Landes zu verhindern. Als dies nicht möglich war, schlug es mit
einem Referendum am 8. November 1991 notgedrungen ebenfalls den Weg in die Unabhängigkeit ein.
Die unabhängige Republik Makedonien
Für die erste Phase war es von entscheidender Bedeutung, dass
Makedonien im Präsidenten Kiro Gligorov einen umsichtigen
und sehr erfahrenen, auf inneren und äußeren Ausgleich bedachten «Landesvater» fand, der von breitesten Kreisen der Bevölkerung als solcher empfunden wurde und auch das Vertrauen der
Minderheiten genoss. Nachdem sich die Republik ohne militärische Zwischenfälle aus Jugoslawien hatte lösen können, schien
sie auf einem guten Weg zu sein. Sie hatte allerdings von Anfang
an mit drei Problemfeldern zu kämpfen, die mehr als 20 Jahre
nach der Unabhängigkeit immer noch aktuell sind:
Zu erwarten waren angesichts der ökonomischen Schwäche
erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, die durch die Transformation und die gegen Jugoslawien verhängten Sanktionen an
Schärfe gewannen. Auch mit ethnischen Spannungen war angesichts der Zusammensetzung der Bevölkerung (laut Volkszählung von 1994: 66,5 % Makedonier, 23 % Albaner, 10 % andere Minderheiten) und der Situation im Kosovo zu rechnen.
Was das Land aber ziemlich unvorbereitet traf, war die massive
Feindschaft Griechenlands, das einen Staat namens Makedonien unter allen Umständen verhindern wollte. Ein griechischer
Politiker erklärte im Januar 1992 sogar, der Gebrauch des Namens Makedonien sei ein casus belli, und forderte «eine aktive
Vernichtungspolitik gegen diesen Zwergstaat».7
Infolge seiner Mitgliedschaft in EU und NATO verfügt Griechenland über erhebliche Druckmittel und sabotiert seit 1991
Makedoniens internationale Beziehungen in jeder erdenklichen
Weise. Um nur die wichtigsten Fälle zu nennen: Bis 1993 konnte
es die internationale Anerkennung verhindern, wodurch Makedonien von Finanzorganisationen wie der Europäischen Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung, der Weltbank und dem
Internationalen Währungsfonds keine Finanzhilfe erhalten
konnte. 2008 verhinderte Griechenland den Beitritt zur NATO,
wozu es gemäß einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs in
Den Haag vom 5. Dezember 2011 kein Recht hatte. Das Verdikt
wird aber nichts daran ändern, dass an eine EU-Mitgliedschaft
Makedoniens unter diesen Umständen nicht zu denken ist.
Bulgarien hat seinerzeit als erster Staat Makedonien anerkannt und damit ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Gleichzeitig
weigert es sich, eine makedonische Nation und Sprache anzuerkennen, es betrachtet Makedonien faktisch als einen zweiten
bulgarischen Staat.
Die wirtschaftlichen Probleme und die ausweglose außenpolitische Lage verschärften von Anfang an die ethnischen
Spannungen im Innern. Zwar führte Makedonien, in der Tradition des sozialistischen Jugoslawiens, einen im internationalen
Vergleich sehr guten Minderheitenschutz ein und beteiligte die
albanische Minderheit stets an der Regierung. Allerdings waren
die ethnischen Albaner in vielen Bereichen von Staat, Bildung
und Kultur untervertreten. Insbesondere forderten sie aber,
nicht als Minderheit betrachtet und behandelt zu werden, sondern als zweites Staatsvolk. Seit den Zusammenstößen zwischen
einer albanischer Guerilla und makedonischen Sicherheitskräften im Jahr 2001, die unter internationaler Vermittlung mit dem
sog. Rahmenabkommen von Ohrid beendet werden konnten,
werden die Forderungen der makedonischen Albaner allmählich umgesetzt. Der Streit mit Griechenland um den Namen erschwert auch die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung. Für die Makedonier ist der Name von
existentieller Bedeutung, weil er untrennbar mit ihrer Nation
verknüpft ist. Die anderen Volksgruppen, insbesondere die
größte, die Albaner, hängen nicht daran und sind unzufrieden,
dass die Regierung keine Konzessionen in dieser Frage macht,
um die außenpolitische Lage und damit auch die wirtschaftlichen Chancen des Landes zu verbessern.
Griechenlands jahrzehntelange Veto- und Bulgariens Negierungspolitik sowie die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft haben dazu geführt, dass die in die Ecke gedrängten
Makedonier ebenfalls ihre Nation in prestigereichen historischen Tiefen zu verorten versuchen: bei den alten Makedonen,
die zwar keine Griechen waren, aber auch nicht die Vorfahren
der heutigen slawischen Makedonier sind. Seit einigen Jahren
lassen die Behörden die Städte, insbesondere die Hauptstadt,
mit Alexander- und Philipp-Statuen vollstellen und pseudoantike Gebäude errichten. Das und vieles andere wäre dem Land
erspart geblieben, hätte es nach 1991 unbehelligt seinen Weg
gehen können.
Anmerkungen
1)Schultze, Leonhard: Makedonien. Landschafts- und Kulturbilder, Jena 1927, S. 1-4.
2)Fischer, Theobald: Die südeuropäische (Balkan-) Halbinsel.
In: Kirchhoff, Alfred (Hg.): Länderkunde von Europa. Leipzig 1893, S. 151.
3)
Vgl. Boškovska, Nada: Das jugoslawische Makedonien
1918–1941. Eine Randregion zwischen Repression und Integration. Wien 2009.
4)Wendel, Hermann: Kreuz und quer durch den slawischen
Süden. Von Marburg bis Monastir – Von Belgrad bis Buccari
– Krainer Tage. Frankfurt/M. 1922, S. 101f.
5)Državen arhiv na Republika Makedonija, 1.1038.8.21/1.
Vl. Nešković, Prilep, 18.12.1926.
6)Hroch, Miroslav: Nationales Bewusstsein zwischen Nationalismustheorie und der Realität der nationalen Bewegungen. In: Schmidt-Hartmann, Eva (Hg.): Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in
Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991. München 1994, S. 39-52.
7)Zit. nach Tsakiris, Dimitris: Griechenland und die Makedonische Frage. In: Eggert Hardten u. a. (Hg.): Der Balkan in
Europa, Frankfurt/M. 1996, S. 50.
Nada Boškovska, Dr. phil., Professorin für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich; forscht und lehrt
insbesondere zur russischen und zur Geschichte
des Balkans.
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RGOW
Makedonien
Nenad Markovikj, Zoran Ilievski, Ivan Damjanovski, Vladimir Bozinovski
Die Rolle der EU beim Konfliktmanagement in Makedonien
Mit dem Rahmenabkommen von Ohrid konnte im Jahr 2001 der gewalttätige Konflikt zwischen
einer albanischen Guerilla und makedonischen Sicherheitskräften beigelegt werden.
Die entscheidende Rolle bei der Konfliktlösung spielte gemäß der vorliegenden Studie die USA,
während die EU in der Folge maßgeblich zur politischen Stabilisierung im Land beigetragen hat.
Das Rahmenabkommen, das vor allem der Integration der albanischen Minderheit dient,
genießt heute immer stärker auch den Rückhalt der ethnisch makedonischen Bevölkerung. – R. Z.
Im letzten Jahrzehnt hat sich Makedonien zum Lieblingsbeispiel
der Europäischen Union für erfolgreiches Konfliktmanagement
entwickelt – insbesondere aufgrund der entscheidenden Rolle,
welche die EU 2001 bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen von Ohrid und dessen Implementierung in der Periode nach dem Konflikt zwischen einer albanischen Guerilla und
makedonischen Sicherheitskräften gespielt hat. Deshalb wird
Makedonien als seltenes Beispiel für friedliche interethnische
Koexistenz im «balkanischen Pulverfass» gelobt.1
Neben dem Konflikt von 2001 haben jedoch zwei weitere
politische Ereignisse die Stabilität der interethnischen Beziehungen in der Republik Makedonien erschüttert: das Territorialverwaltungsgesetz von 2004 und das sog. Mai-Abkommen
von 2007. Auf die Probe gestellt hat dies auch die Fähigkeit der
internationalen Gemeinschaft, insbesondere die EU und die
USA als die wichtigsten Akteure, mit adäquatem Konfliktmanagement darauf zu reagieren.
Für diesen Beitrag wurde die Rolle der EU bei der Konfliktlösung und der demokratischen Konsolidierung der Republik
Makedonien untersucht. Die Ergebnisse beruhen auf bisherigen
Forschungsergebnissen, einer öffentlichen Meinungsumfrage
und Interviews mit beteiligten Akteuren der drei in der Folge
beschriebenen politischen Prozesse.
Das Rahmenabkommen von Ohrid (2001)
Im Jahr 2001 kam es zu gewalttätigen Konflikten zwischen der
«Nationalen Befreiungsarmee», die für eine Verbesserung der
Minderheitenrechte der albanischen Bevölkerung in Makedonien kämpfte, und den makedonischen Sicherheitskräften, denen
vornehmlich ethnische Makedonier angehören. Deshalb hatte
der Konflikt eine starke interethnische Dimension. Der Konflikt
hatte einerseits innerstaatliche, aber auch externe Ursachen,
zum Beispiel Nachwirkungen des Kosovo-Konflikts. 2
Der hart erkämpfte Kompromiss enthält folgende Punkte:
1.
Grundprinzipien: Verzicht auf Gewaltanwendung zu politischen Zwecken, Anerkennung der Souveränität des makedonischen Staates, Erhalt des multiethnischen Charakters des öffentlichen Lebens und Stärkung der lokalen Selbstverwaltung.
2.Angriffsstopp und freiwillige Entwaffnung der «ethnischen
albanischen bewaffneten Gruppen» unter Supervision der
NATO.
3.Entwicklung einer dezentralisierten Regierung.
4.Keine Diskriminierung und gleichberechtigte Vertretung.
5.Besondere parlamentarische Prozeduren bezüglich der Gesetze, welche die lokale Selbstverwaltung betreffen – die sog.
«Badinter-Mehrheit».
6.Erziehung und Sprachgebrauch: Jede Sprache, die von mindestens 20 % der Bevölkerung gesprochen wird, gilt als offi-
zielle Sprache der Republik Makedonien, kann in der lokalen Selbstverwaltung der Region, in der mindestens 20 % der
Bevölkerung diese Sprache spricht, sowie in der Kommunikation mit der zentralen Regierung verwendet werden; zudem wird der Besuch von Schulen bis und mit Universitätslevel in dieser Sprache gewährleistet.
7.Ausdruck der Identität: An lokale öffentliche Gebäude dürfen Embleme der mehrheitlichen Bevölkerungsgruppe neben
dem Emblem der Republik Makedonien angebracht werden.
Diese Punkte sind inzwischen alle in das gesetzliche und politische System Makedoniens zum Schutz der Rechte von ethnischen Gemeinschaften aufgenommen worden.
Das Territorialverwaltungsgesetz (2004)
Im Zuge der Dezentralisierungsbestimmungen des Ohrid-Rahmenabkommens sind in der ersten Jahreshälfte 2004 die Gemeindegrenzen revidiert worden, was die Zahl der Gemeinden von
120 auf 84 reduzierte. Das bedeutete, dass es nun mehr Gemeinden mit einer ethnischen Mehrheit von Albanern gab. Dagegen
opponierte eine überwältigende Mehrheit von ethnischen Makedoniern sowie eine große Zahl von renommierten ethnisch makedonischen Intellektuellen und Akteuren der Zivilgesellschaft. Sie
gründeten die «Bürgerbewegung für Makedonien» und mobilisierten Geschäftsleute und Prominente für ein Referendum gegen
die «ethnische Wahlkreisschiebung».
Unterstützt von der internationalen Gemeinschaft hielt die makedonische Regierung hingegen die Bürger dazu an, das Referendum zu boykottieren, da ein Referendum in Makedonien nur mit der
Stimmbeteiligung von über 50% der Bevölkerung gültig ist. Die
Regierung befürchtete, dass die Mehrheit der ethnischen Makedonier gegen die neuen Gemeindegrenzen stimmen und damit die Implementierung des Rahmenabkommens gefährden könnte. Auch die
EU betrachtete die Möglichkeit eines erfolgreichen Referendums mit
Sorge, und die USA bezeichneten sie als «klaren Schritt zurück».3
Organisiert vom «Makedonischen Weltkongress» der makedonischen Diaspora und der inländischen Opposition kam das
Referendum am 23. August 2004 mit 180 454 Unterschriften
zustande, die Abstimmung wurde für den 7. November anberaumt. In Opposition zur Regierungskoalition argumentierten
die Gesetzesgegner, dass das Referendum weder das OhridRahmenabkommen noch die europäisch-atlantische Integration in Frage stelle, sondern nur die Art und Weise dessen Umsetzung. Meinungsumfragen zeigten, dass das Referendum
höchst wahrscheinlich erfolgreich sein würde. 4
Drei Tage vor dem Referendum überraschte die USA mit der
Anerkennung Makedoniens unter seinem verfassungsgemäßen
Namen und nicht unter der Bezeichnung «Former Yugoslav Republic of Macedonia» (FYROM), unter der das Land auf griechi-
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Makedonien
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R GOW
schen Druck 1992 in die Vereinten Nationen aufgenommen worden war. Das Referendum vom 7. November scheiterte an der
niedrigen Wahlbeteiligung von 26,58 %, obwohl 94 % davon
gegen die neuen Gemeindegrenzen stimmten; das Scheitern des
Referendums brachten viele mit der Geste der USA in Verbindung. Javier Solana, von 1999 bis 2009 Hoher Vertreter für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, erklärte hingegen, dass das Referendum schon zuvor gescheitert sei, weil die
Bürger «den Kurs auf Europa gewählt» hätten.5 Der EU zufolge
war die Dezentralisierung ein wichtiger Baustein für die Implementierung des Ohrid-Rahmenabkommens. Zu diesem Zeitpunkt änderte die EU ihre Rolle von der Konfliktmanagerin zur
Begleiterin allgemeiner Reformen hinsichtlich des Integrationsprozesses in die EU.
Das Mai-Abkommen (2007)
Ein weiterer interethnischer Parteienkonflikt ereignete sich im
Januar 2007, als die größte albanische Partei DUI (Demokratische Union für Integration) das Parlament verließ: Sie protestierte
dagegen, dass Gesetze, welche die sog. «Badinter-Mehrheit» erforderten, ohne DUI-Stimmen verabschiedet wurden. Die Partei
verlangte Neuverhandlungen über eine Reihe von interethnischen
Angelegenheiten, und auch die EU und die Nato machten den
politischen Dialog und die Rückkehr der DUI ins Parlament zur
Bedingung für eine Einladung des Staates zu Nato- und EU-Beitrittsverhandlungen. Die EU und die USA spielten daraufhin eine
Schlüsselrolle zur Lösung des Parteienkonflikts. 6
Die öffentliche Meinung
Im Sommer 2010 wurde eine öffentliche Meinungsumfrage zur
Rolle der internationalen Gemeinschaft im Konfliktmanagement bei der interethnischen Krise in Makedonien durchgeführt. Die 1110 befragten erwachsenen Personen entsprachen
der soziodemographischen Struktur der makedonischen Bevölkerung (mit Rücksicht auf Geschlecht, Alter, Erziehung, Beruf,
Ethnie, Region, Stadt-Land).
Beziehungen als schlecht bezeichneten, während dies nur von
16 % der ethnischen Albaner ähnlich empfunden wird.
Die Frage, welcher Staat oder welche Organisation den positivsten Einfluss auf die Demokratiebildung in Makedonien gehabt hätte, beantworteten 22,7 % gar nicht, 23,6 % wählten die
EU, 25,6 % die USA – die Rolle weiterer internationale Akteure
wurde als marginal erachtet. Dabei stellte sich heraus, dass vor
allem ethnische Albaner die Rolle der USA als konstruktiver
bezeichneten, während die ethnischen Makedonier der EU den
Vorzug gaben, weil letztere kollektive, auf der Ethnie basierte
Rechte an weitere Bedingungen knüpfe.
Zum Ohrid-Rahmenabkommen
Die Frage, ob das Ohrid-Rahmenabkommen eine gute Lösung
für den makedonischen Staat sei, beantworteten 55 % der Befragten positiv und ca. 35 % negativ. Vor allem ethnische Makedonier standen dem Abkommen von 2001 ursprünglich negativ
gegenüber, weil sie es als eine von der internationalen Gemeinschaft aufgezwungene Lösung betrachteten. Seit 2008 ist aber
ein positiver Trend bezüglich der Akzeptanz des Abkommens
spürbar, da in der Befragung bereits 44 % der ethnischen Makedonier dieses positiv bewerten (gegenüber 24 % im Jahr 2008).
Die Frage, ob das Ohrid-Rahmenabkommen die Gleichberechtigung aller ethnischen Gemeinschaften garantiere, beantworteten 30 % der Befragten positiv, für 30 % wird diese nur in
wenigen Regionen umgesetzt und 25 % – hauptsächlich ethnische
Makedonier oder Angehörige anderer nicht-albanischer Ethnien
– verneinen die Frage. Auch andere Untersuchungen zeigen, dass
die Mehrheit der ethnischen Gruppen Makedoniens das Abkommen als primär auf die Bedürfnisse der Albaner abgestimmt wahrnimmt, während die ethnischen Albaner der Meinung sind, dass
alle ethnischen Gruppen im Land davon profitieren.8 Die Rolle der
EU bei der Vorbereitung des Ohrid-Rahmenabkommens wird von
der Hälfte der Befragten positiv bewertet, 16 % hatten keine Meinung und weniger als ein Drittel bezeichneten diese als negativ,
was die allgemeine Haltung zum Engagement der EU bezüglich
der interethnischen Beziehungen in Makedonien widerspiegelt.
Zur Rolle der EU
Es stellte sich heraus, dass 90,9 % der Befragten, sowohl ethnische
Makedonier als auch Albaner, die Integration in die EU unterstützen. Zudem bewerteten zwei Drittel von ihnen die Rolle der EU im
Prozess der demokratischen Transformation Makedonien positiv.
Auffallend war die positive Bewertung durch gut ausgebildete
Albaner, die «Demokratisierung» meist mit «mehr Rechten für
ethnische Minderheiten» assoziierten. Viele ethnische Makedonier hingegen befürchteten, dass ein breiteres Spektrum an kollektiven, auf Ethnizität basierenden Rechten den nationalen Zusammenhalt und die politische Einheit gefährden.7 Damit kann erklärt
werden, dass – trotz der positiven Bewertung durch die Mehrheit
der Befragten – ein Drittel der ethnischen und über 50-jährigen
Makedonier die Rolle der EU hinsichtlich der interethnischen
Der Sitz der Delegation der Europäischen Union in Skopje.
Photo: Wikimedia Commons
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Zum Territorialverwaltungsgesetz
Obwohl das Territorialverwaltungsgesetz als Schlüsselkomponente des Ohrid-Rahmenabkommens galt und zum Ziel hatte, die ethnischen Spannungen zu beruhigen,9 provozierte es ernsthafte
Debatten und Uneinigkeit zwischen den ethnischen und politischen Akteuren in Makedonien, was zu dem erwähnten Referendum führte. Nach dem gescheiterten Referendum wurde das
Gesetz eingeführt, doch die Debatten um dessen Umsetzung laufen
weiter. Dies widerspiegelt sich in der öffentlichen Meinung: 30 %
befürworten das Gesetz, 15 % wünschen gewisse Änderungen,
26 % eine grundsätzliche Revision und 22 % waren unentschlossen. Die Rolle der USA und der EU bei der Erarbeitung des Gesetzes
wurde von 30 % positiv, von 25 % negativ bewertet, wobei die
Mehrheit der Gegner ethnische Makedonier waren.
Aus der Tatsache, dass die Befragten die Rollen der EU und
der USA kaum auseinanderhalten können, kann man schließen,
dass deren Engagement in Makedonien auf enger wechselseitiger Koordination beruhte. Die Mehrheit der Albaner neigt zu
einer positiven Bewertung der USA, weil diese ethnischen Gemeinschaften mehr Rechte zugestehe, während die Rolle der
internationalen Gemeinschaft von ethnischen Makedoniern aus
demselben Grund eher negativ eingeschätzt wird. Gleichzeitig
bevorzugen letztere eher die «soft power» der EU. Mehr als
60 % der Befragten gehen von einem positiven Einfluss der EU
auf die Zukunft Makedoniens aus, während 30 % (davon 32 %
ethnische Makedonier und 10 % ethnische Albaner) einen negativen Einfluss der EU erwarten.
Photo: Wikimedia Commons
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US-Präsident George Bush 2008 mit dem makedonischen Ministerpräsident Nikola Gruevski, Präsident Branko Crvenkovski (2004–2009)
und dem Außenminister Antonio Milošovski.
Interviews mit wichtigen Akteuren
Um die drei entscheidenden politischen Prozesse in der Republik
Makedonien nach 2001 noch besser zu verstehen, wurden 2011
zwölf Interviews mit Angehörigen der makedonischen Sicherheitskräfte, mit Kommandanten der «Nationalen Befreiungsarmee», Politikern und Akademikern, politischen Analysten und
Beratern geführt.10
Bezüglich des Ohrid-Rahmenabkommens können aus den
Interviews folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Die
US-Administration spielte im Konfliktlösungsprozess eine
sichtbarere Rolle als die EU-Vertreter. Ein Gesprächspartner
kommentierte, die Rolle der EU sei es gewesen, «Botschaften
hin und her zu tragen, während in Wirklichkeit die USA sämtliche Verhandlungen führte». Dies hängt mit der Kontrolle zusammen, welche die USA über die rebellischen albanischen Anführer in Makedonien und im Kosovo ausübten, und weil sie
deren militärische Operationen stärker beeinflussen konnten.
Insgesamt haben die USA und der EU eine politische Strategie
von «Zuckerbrot und Peitsche» angewandt, wobei die finanziellen Versprechen der EU als Zuckerbrot galten, der direkte politische Druck der USA als Peitsche. Im Gegensatz zu den USA legte
die EU mehr Gewicht auf Mediation und eine eher passive politische Strategie bei der Konfliktlösung. Ein direkt beteiligter Politiker erklärte, bei der Konfliktlösung seien «die USA die Sonne,
die EU der Mond» gewesen. Deshalb wurde die Rolle der EU in
der Konsolidierungsperiode nach dem Konflikt viel wichtiger als
während der konkreten Konfliktlösung, indem sie laut einem Befragten «ein normales politisches Ambiente im Land schuf».
Auch das Engagement der internationalen Gemeinschaft bezüglich des Referendums über das Territorialverwaltungsgesetz
von 2004 ist ein gutes Beispiel für eine erfolgreich koordinierte
Konfliktlösungsstrategie mit mehreren Akteuren. Dennoch
wurde auch hier den USA mehr Bedeutung zugemessen. Die EU
wurde weniger als politischer «Vollstrecker», denn als Quelle
für Expertise wahrgenommen. Insbesondere berieten EU-Vertreter die Führer von vor allem kleinen politischen Parteien bei
der Kampagne gegen das Referendum. Obwohl die US-Akteure
weit weniger häufig mit der politischen Elite in Makedonien
kommunizierten, wurde ihr Einfluss und ihre Mediation als
überzeugender und effizienter eingeschätzt als das Engagement
der EU-Vertreter. Letztere spielten zwar durch die nachdrückliche Einforderung und Organisation von offenen Dialogmöglichkeiten eine wichtige Rolle im politischen Verhandlungsprozess, handelten aber immer in Koordination mit anderen internationalen Akteuren, vor allem mit den USA.
Das Mai-Abkommen von 2007 kann als Wendepunkt für das
EU-Engagement im Management des ethnischen Konflikts in
Makedonien betrachtet werden, da die EU dabei eine überzeugendere und sichtbarere Rolle gespielt hat als bisher. Laut einem
Parteiführer «ist die Rolle der EU mit dem Ziel, die politische Situation zu stabilisieren, in dieser Periode aufgewertet worden».
RGOW
Makedonien
Dennoch zeigt die Analyse auf überzeugende Weise, dass die
USA in allen drei kritischen Momenten des interethnischen
Konfliktmanagements und bei der demokratischen Konsolidierung der jungen makedonischen Republik die tragende Rolle
gespielt hat. Die EU nahm aufgrund ihrer ökonomischen Anreize und Bedingungen jedoch eine entscheidende unterstützende Rolle wahr. Dass Makedonien zum Vorzeigebeispiel einer
«Erfolgsstory» auf dem Balkan geworden ist, liegt aber vor allem an der starken Koordination zwischen beiden internationalen Akteuren und am Zusammenspiel ihrer politischen Ziele.
Im Gegensatz zu den Fällen Bosnien-Herzegowina und Kosovo gab es bezüglich der Strategie in Makedonien keine Differenzen zwischen den USA und der EU. Ebenfalls spielte hier
auch der «russische Faktor» keine Rolle. Deshalb ist fraglich, ob
es sich im Fall Makedoniens wirklich um eine gesteigerte «Lernkurve» der internationalen Gemeinschaft handelt, die aus den
Fehlern in Bosnien-Herzegowina und Kosovo gelernt hätte, daher gemeinsam agierte und die Irrtümer im komplexen ethnopolitischen Prozess in Makedonien nicht wiederholte.
Aus dem Englischen übersetzt und gekürzt von Regula Zwahlen.
Die Originalversion des Beitrags The role of the European
Union in the democratic consolidation and ethnic conflict
management in the Republic of Macedonia entstand im
Rahmen des «Regional Research Promotion Programme
in the Western Balkans» (RRPP) der Universität Fribourg.
Anmerkungen
1)Ilievski, Zoran; Taleski, Dane: Was the EU's Role in Conflict Management in Macedonia a Success?. In: Ethnopolitics 8, 3-4 (2009), S.355-367.
2)Balalovska, Kristina u. a.: Crisis in Macedonia. Rom 2003,
S. 9-43.
3)Europeans believe more in Macedonia than we do. In: Dnevnik 2584 (10.10.2004), S. 2; Rumsfeld: Forward with us or
back with the referendum. In: Dnevnik 2584 (10.10.2004),
S. 1.
4)UNDP: Early Warning Report FYR Macedonia». Skopje 2004;
www.undp.org.mk/datacenter/publications/documents/
ewr.pdf, S. 14, 47.
5)From OFA Macedonia to European Macedonia. In: Dnevnik 2606 (10.11.2004), S. 1.
6)Das entsprechende Dokument wurde am 31. Mai 2007 im
Dnevnik veröffentlicht.
7)Vgl. Engstrom, Jenny: Democratisation and the Prevention
of Violent Conflict. Farnham 2009, S. 142.
8)Ohrid Framework Agreement Research 2008, conducted by
IDSCS for the Secretariat for implementation of the Ohrid
Framework Agreement (SIOFA).
9)Report of the OSCE/ODIHR Expert Visit 13-16. September
2004: Former Yugoslav Republic of Macedonia. 7 November 2004 Referendum; www.osce.org/odihr/elections/fyrom/37790.
10)Die Interviews und die Umfrageresultate befinden sich in der
Bibliothek der Politikwissenschaften an der St. Cyril und
Methodius-Universität in Skopje.
Nenad Markovikj, Zoran Ilievski, Ivan Damjanovski, Vladimir Bozinovski, Wissenschaftliche
Mitarbeiter am Departement für Politikwissenschaften an der juristischen Iustinianus PrimusFakultät der St. Cyril und Methodius-Universität
in Skopje.
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Makedonien
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R GOW
Ljupco S. Risteski
Die Torbeschen
in Makedonien
Mit dem Begriff «Torbeschen» werden die makedonisch-sprachigen Muslime in Makedonien bezeichnet, die vor allem im Westen des Landes beheimatet sind. Der Begriff
«Torbeschen» ist allerdings nicht unumstritten, da andere Eigen- und Fremdbezeichnungen mit ihm konkurrieren. In jüngster Zeit setzt sich die «Partei für eine Europäische
Zukunft» für eine Anerkennung der makedonisch-sprachigen, muslimischen Bevölkerungsgruppe als eigene ethnische Gruppe in der Verfassung ein. – S. K.
In Makedonien konnte man in den letzten Jahren sowohl auf
der Ebene kollektiver wie individueller Identitäten eine intensive Dynamik beobachten. Als Beispiel für die Dynamik kollektiver Identitäten lässt sich vor allem die Bevölkerungsgruppe anführen, die vornehmlich im westlichen Teil des Landes
beheimatet ist, die makedonische Sprache spricht und dem
Islam angehört. Diese Gruppe bezeichnet man als Torbeschen
(Torbeši), bzw. viele Gruppenangehörige bezeichnen sich auch
selbst so; andere nennen sie Makedonen islamischen Glaubens, bzw. sie nennen sich selbst so. Einige identifizieren sich
jedoch selbst als Türken, andere als Albaner. Häufig gebrauchen die Angehörigen der Gruppe im Austausch untereinander
wie im Kontakt mit anderen Gemeinschaften auch einfach das
Wort «Unsrige» – sie haben so eine Identität der «Unsrigen»
aufgebaut und dementsprechend sprechen sie «unsrige» Sprache oder «torbesisch».
Die Dynamik der Terminologie
Angesichts der Vielzahl von Bezeichnungen ist die Frage nach
einer angemessenen Terminologie für diese Bevölkerungsgruppe also keine leichte Sache. Bis heute gibt es weder unter den
Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe noch in der breiteren
Gesellschaft in Makedonien einen Konsens darüber, wie diese
Gruppe genannt werden soll. Jeder der eingangs angeführten
Begriffe kann Einzelne oder ganze lokale Gemeinschaften beleidigen oder verletzen.
In der vielgestaltigen Terminologie spiegeln sich dabei unterschiedliche gesellschaftliche und politische Konstellationen wider, die immer wieder dazu geführt haben, dass sich die Gruppe
selbst oder aber andere von außen ihr bestimmte Begrifflichkeiten übergestülpt haben. Während der osmanischen Herrschaft
identifizierten sich die Gruppenangehörigen aufgrund ihres
muslimischen Glaubens als Türken, in Abgrenzung zu der
christlichen Bevölkerung – der Raja, der Herde der Nichtmuslimen. Dieses Identifikationsmodell ist teilweise noch immer aktuell: Zum einen aufgrund der erwähnten Identifikation entlang
der Religionszugehörigkeit, so wird diese Bevölkerung vor Ort
von Seiten der benachbarten makedonischen, orthodoxen Dörfer noch immer teilweise als Türken bezeichnet. Zum anderen
wird unter dem Einfluss ethnisch türkischer politischer Parteien
in Makedonien die Forderung laut, sie als ethnische Türken einzuordnen und zu bezeichnen. Beispielsweise wurde Mitte der
1990er Jahre in der Gegend von Župa bei Debar (Kleinstadt an
der Grenze zu Albanien) die Frage aufgeworfen, wieso die dortigen Kinder nicht entsprechend der Identifikation der Eltern in
türkischer Sprache unterrichtet werden – auch wenn niemand
von ihnen türkisch sprach.
Ein neues Identifikationsmodell kam mit dem Entstehen von
Nationalstaaten in Südosteuropa am Ende des 19. Jahrhunderts
auf: Dessen entscheidendes Merkmal bestand in der Beifügung
des Adjektivs islamisiert – entsprechend den nationalstaatlichen
Strategien sprach man nun von islamisierten (Süd-)Serben, islamisierte Bulgaren u. ä. Diese Bezeichnungsmethode herrschte
lange Zeit auch in Jugoslawien und Bulgarien vor, worin deutlich die Strategie zu erkennen ist, die christliche Vergangenheit
dieser Bevölkerungsgruppe vor der Annahme des Islams herauszustellen. In tagespolitischen wie auch fachwissenschaftlichen
Diskussionen wurden identitätscharakterisierende Begriffe wie
Islamisierung, islamisiert, konvertiert und Konvertiten verwendet, womit auf die christlichen Wurzen bzw. die erst vor
kurzem erfolgte «Islamisierung» angespielt werden sollte.1 Dies
trägt bei vielen zur Illusion bei, dass es sich um einen noch nicht
(vollständig) abgeschlossenen und daher ergebnisoffenen Prozess handelt. Gleichzeitig käme jedoch niemand auf den Gedanken, über Christiansierte zu schreiben, wodurch der Zugehörigkeit zum Christentum im Gegensatz zum Islam gleichsam ein
ontologischer, autochtoner Charakter verliehen wird. Häufig
trifft man auch auf eine Gegenüberstellung «alte christliche Traditionen» versus «die neuen islamischen».2
Während der sozialistischen Zeit gab es Bestrebungen, die Identität dieser Gemeinschaft endgültig festzulegen. In der politischen
Terminologie wurden sie nun islamisierte Makedonen und / oder
muslimische Makedonen, mohammedanische Makedonen3 bezeichnet, was sie in denselben ethnischen und nationalen Rahmen
mit den orthodoxen Makedonen stellen sollte. Im Statut der Kulturwissenschaftlichen Manifestationen der muslimischen Makedonen hieß es dazu: «die ethnogeschichtliche Vergangenheit, die
ursprünglichen ethnosozialen Werte und Charakteristika (die makedonische Sprache, Folklore, Sitten und die gesamte materielle
und geistige Kultur) zu erforschen, und bei den islamisierten Makedonen als untrennbarem Teil der Gesamtheit des makedonischen
Volkes das nationale Gefühl als Makedonen zu entwickeln».4
Einer der vermutlich meistverwendeten Begriffe ist Torbeschen, der mit Blick auf die Etymologie jedoch oftmals als pejorativ und beleidigend empfunden wurde und wird. Etymologisch leitet sich Torbeschen von denjenigen ab, die den den Glauben für eine torba (Beutel, Sack) voll Mehl, Reis, Kartoffeln o. ä.
gewechselt haben. In der Vergangenheit wurde er als umgangssprachliche Fremdbezeichnung von Seiten der übrigen lokalen
Gemeinschaften verwendet. In den letzten Jahren wird der Begriff Torbeschen allerdings auch von den Vertretern einer politischen Plattform gefördert, die sich eine Anerkennung der ethnischen und kulturellen Eigenständigkeit dieser Bevölkerungsgruppe in Makedonien zum Ziel gesetzt hat.
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Emigration ins Ausland
Über die Situation der Torbeschen in Westmakedonien schreiben einige in politischen Foren im Internet: «Bis 1990 wurden
wir vom Staat abgelehnt, danach von den Parteien in Zahlen
transformiert, um ihren Kalkulationen zu dienen.»5 So ist in den
Dörfern der Region von Reka festzustellen, dass politische Parteien die aktuelle Lage vor Ort ausnutzen, indem sie ihre eigenen
religiösen und ethnischen Karten ausspielen, um die Bevölkerung bei den Wahlen zu gewinnen. Als Ergebnis der schlechten
wirtschaftlichen Situation hat in den letzten Jahren ein Prozess
der Emigration ins Ausland begonnen. Schon früher war die
Gegend Reka für seine Tradion der Fremdarbeit bekannt, bei
der die männlichen Familienmitglieder saisonal ihr Dorf verließen, um Geld für das (Über-)Leben zu verdienen. Heutzutage
tritt die neue Tendenz einer massenhaften Emigration ganzer
Familien ins Ausland auf. In einem Blog schreibt einer der Diskutanten über diese Zustände Folgendes: 6
«Dolna Reka wandert massenhaft aus, Italien ist die neue
Heimat. Zur Arbeit ins Ausland gehen nicht nur die Männer,
wie es in der Vergangenheit der Fall war. Die ganze Familie geht
mit dem Hausherrn. […] Die Menschen von Dolna Reka sind
bescheiden, arbeitsam, Hilfe haben sie mehr als nötig, sie wollen
daheim arbeiten, um nicht die Heimat verlassen zu müssen, um
die Tradition fortzuführen, so wie es ihre Vorfahren getan haben. […] ‹Makpetrol› hat das Unternehmen in Bituše geschlossen, die Textilunternehmen ‹Edinstvo› aus Skudrinje und
‹Bratstvo› aus Rostuše arbeiten schon lange nicht mehr. ‹Die
einstigen Textilarbeiter sind ohne Existenzgrundlage geblieben›, sagt Fuad Durmiši, Bürgermeister der Gemeinde MavrovoRostuše, der im Dorf Velebrdo lebt. In den letzten zehn Jahren
hat eine starke Auswanderungswelle die Region erfasst. Jetzt
gehen nicht nur die Männer, sondern ganze Familien versuchen
zusammen mit dem Hausherrn ihr Glück im Ausland. […] Aufgrund Schülermangels wurde vor einigen Jahren die Schule in
Bituše geschlossen. Im Dorf Trebište wurden vor Jahren noch
270 Schüler unterrichtet, jetzt sind es weniger als 100. Auch in
den Schulen in Rostuše, Žirovnica, Skudrinje und anderen
Dörfern verringert sich ihre Zahl. In nur zwei bis drei Jahren hat
sich das Dorf Trebište halbiert. ‹Von 1500 Bewohnern sind nur
etwa 700 geblieben›, sagte uns Raut Durmiši, Eigentümer einer
Baufirma in Trebište. Auf die Arbeit im Ausland bereiten sich
weitere Familien vor. Ihre Verwandten, die sich bereits in Italien
befinden, suchen ihnen Arbeit. Vielleicht bringen sie ihnen bei
ihrem Besuch die Garantiepapiere mit, und eine neue Welle der
Auswanderung wird stattfinden. ‹Diese Gegend ist leer, es gibt
keine Menschen, in dem Café, das ich im Dorf betreibe, haben
die Leute früher auf einen Platz gewartet, jetzt ist dort niemand
mehr›, klagt Mitat Hodža, der Eigentümer des Cafés Centar.»
Gründung einer neuen Partei
In den letzten Jahren hörte ich bei Besuchen in Westmakedonien, dass einige Intellektuelle aus der Mitte der Torbeschen politisch aktiv werden wollen, um ein politisches Programm zur
Konsolidierung dieses Bevölkerungsteils in Makedonien und
zur Förderung ihres Selbstbewusstseins als eigene Gemeinschaft
oder gar als eigene ethnische Gemeinschaft unter dem Namen
Torbeschen aufzustellen. Als Grund für diese Aktivitäten wurde
zumeist eine große Unzufriedenheit über die eigene Situation
angeführt, insbesondere über die politischen Manipulationen
mit ihrer Identität, die stets in Vorwahlperioden am stärksten
seien.
Im Frühjahr 2006 wurde die «Partei für eine Europäische
Zukunft» (PEI) unter der Leitung Fijat Canoskis gegründet. Canoski ist ein bekannter Geschäftsmann aus Oktisi in der Gegend
um Struga und war der makedonischen Öffentlichkeit bis dahin
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Makedonien
vor allem als einer der Eigentümer der ersten privaten Universitäten des Landes, der Europäischen Universität, bekannt. Im
Wahlprogramm der PEI von 2008 werden im Einführungsteil
Gründe und Ziele der Partei angeführt: «Die Partei für eine
Europäische Zukunft entstand als Resultat der komplizierten
sozialen Umstände, in denen sich die Republik Makedonien
seit längerer Zeit befindet. […] Die Partei für eine Europäische
Zukunft hat sich entschlossen, ihren Teil zur Definierung des
zivilisatorischen Profils der Republik Makedonien beizutragen. […] Die makedonische Gesellschaft ist der eigenen Struktur und Definition nach eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft. […] Diese Partei konstituiert sich und handelt als multiethnische und multikulturelle Partei. Für diese
parteipolitischen Verpflichtungen setzt die Partei eine Mitgliedschaft aller ethnischen Gruppen und kulturellen Systeme
der makedonischen Gesellschaft voraus, ungeachtet aller Unterschiede (rassische, nationale, religiöse, geschlechtliche und
andere Zugehörigkeit der Bürger).»7
Die PEI wurde als «Bürgerpartei» gegründet, ohne dass in
dem Statut spezifische Aktivitäten in Verbindung mit den Torbeschen genannt wurden. Auf die Frage eines Journalisten im
Mai 2006 «Sind die Zielgruppe ihrer Partei allein die Torbeschen?» lautet die Antwort Canoskis: «Nein. Wir sind eine multiethnische und multikulturelle Partei. Wir bieten allen Bürgern in 75 Ortschaften Hoffnung auf Entwicklung, in denen
Makedonen, Albaner, Türken, Torbeschen und andere ethnische Gruppen leben. Diese Gegend zählt eine Bevölkerung von
etwa 180 0 00 Menschen. […] Unser Programm haben wir in
drei Sprachen gedruckt. Auf Versammlungen hissen wir die makedonische, albanische und türkische Flagge. Die Glaubenszugehörigkeit geht uns nichts an. Das ist Privatsache.»8 Aus der
Aussage des Vorsitzenden der PEI kann dennoch herausgelesen
werden, dass der Fokus ihres Handelns regional verortet ist, vor
allem im westlichen Teil Makedoniens. Es werden dezidiert 75
Ortschaften angeführt, in denen – nach Einschätzungen Canoskis – eine torbesische Bevölkerung von etwa 180 0 00 Menschen lebt.
Bei den Parlamentswahlen von 2006 errang die PEI ein
Mandat, so dass ihr Vorsitzender Fijat Canoski ins makedonische Parlament einzog. Im Parlament begann er – das kann
man gut anhand der stenographischen Mitschriften der Parlamentssitzungen und anhand anderer öffentlicher Äußerungen
Canoskis verfolgen – immer offener die These einer kulturellen
und ethnischen Eigenheit der torbesischen Gemeinschaft aufzustellen. Am 22. Februar 2007 wies Canoski im Parlament
daraufhin, dass «... in diesen Regionen im südwestlichen Teil
Makedoniens viele Gemeinschaften wie albanische, türkische
u. a. existieren. Aber ebenso besteht in dieser Gegend auch eine
eigene ethnische oder ich kann sie auch kulturelle Gemeinschaft nennen, die die makedonische Sprache spricht, dem
Glauben nach muslimisch ist, und die manche Torbeschen
nennen, was uns nicht stört.»9 Damit eröffnet er schüchtern,
aber etappenweise seine Strategie, die Anerkennung der Torbeschen als eigene Gemeinschaft in Makedonien auf die Agenda
zu setzen. Später verfolgte er diese noch offener, indem er verlangte, dass auch die Torbeschen – zusammen mit anderen Gemeinschaften – in die Verfassung der Republik Makedonien
aufgenommen werden.
Verfassungsmäßige Anerkennung als eigene Gemeinschaft?
Wie aus dem Programm der Partei und noch expliziter aus
den öffentlichen Äußerungen des Vorsitzenden Canoski
ersichtlich, versucht die PEI die Bevölkerung dieser Gegend
Makedoniens mit dem Versprechen einer Wirtschaftsreform
zu mobilisieren, die ihren ökonomischen und gesellschaftli-
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Makedonien
Nr. 4 2012
R GOW
chen Status verbessern und damit auch den intensiven Auswanderungsprozess stoppen soll. «Die Partei für eine Europäische Zukunft wurde aus dem einzigen Ziel geschaffen, die
Auswanderung aus diesen Regionen zu stoppen», erklärte
Canoski.
Um die gesellschaftliche Situation zu verbessern, zielen die
PEI und Canoski auch auf eine Verfassungsänderung: Die
Torbeschen sollten im Vierten (Verfassungs-)Zusatz als eigene
ethnische Gemeinschaft ergänzt werden und zudem sollte aus
ihren Reihen auch ein Mitglied ins Komitee für die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften der Republik Makedonien
entsandt werden.10 Im September 2007 trug Canoski im makedonischen Parlament auch zum ersten Mal seine Ansichten
über die Eigenheit der Torbeschen als Gemeinschaft vor –
oder besser: über die Notwendigkeit ihrer Anerkennung als
eigene Gemeinschaft: «Wer sind die Torbeschen? Eine kurze
Erklärung. Sie sind Menschen, die sich bisher unterschiedlich
deklariert haben. In der Vergangenheit, in den 1960er,
1970er bis in die 1980er Jahre bezeichneten sie sich als Makedonen. Sie wurden muslimische Makedonen genannt. Ich
behaupte hier, dass es keine muslimischen Makedonen gibt.
[…] In der letzten Volkszählung wurden meinen Unterlagen
nach etwa 70%, 65% als Türken deklariert und etwa 25%
als Albaner, 10% verblieben als Makedonen. Und das ist gut
so, das ist ihr Recht. Diese Menschen sind unzufrieden mit
dem makedonischen Volk, auch wenn sie Teil von ihm waren,
und ich behaupte erneut, dass die Torbeschen Teil Makedoniens sind und keinen Ersatzstaat haben. Dies ist ihr einziger
Staat und sie werden mit aller Macht darum kämpfen, Teil
dieses Staates zu sein, aber auch darum, alle Rechte zu besitzen. […] Die Torbeschen leben in mehreren Regionen. Sie
sind konzentriert in der Region Struga, der Region Debar,
Reka, in Župa, in Plasnica, in Dolneni und anderen Orten.
Wie ich sagte, es ist eine Bevölkerung von 120 0 00 bis
150 000 Menschen.»11
Weiterhin führte Canoski in seiner Rede Beispiele für den
politischen Missbrauch dieser Bevölkerungsgruppe seitens anderer politischer Parteien an, in den letzten Jahren insbesondere
durch albanische Parteien an. Er beendet seine Ausführungen
damit, dass dies hauptsächlich auf einen Aspekt im Sechsten
Zusatz der Verfassung der Republik Makedonien zurück zu
führen sei. In diesem wird auf «eine gerechte Vertretung der
ethnischen Gemeinschaften in allen öffentlichen Institutionen
und der staatlichen Administration» hingewiesen; so sind für
die albanische Gemeinschaft als zweitgrößte ethnische Gruppe
Blick auf Debar, einer Kleinstadt im Westen Makedoniens. In der Region
leben viele Torbeschen.
in Makedonien, besonders nach dem Rahmenabkommen von
Ohrid, besondere Maßnahmen vorgesehen, um Ungleichheiten bei der Vertretung der Gemeinschaften in den staatlichen
Institutionen und der öffentlichen Administration auszugleichen. Demgegenüber habe – laut Canoski – die Nichtanerkennung als eigene Gemeinschaft für die Torbeschen zur Folge, dass
sie in den staatlichen Institutionen unterrepräsentiert seien, dabei hätten sie Anrecht auf etwa 7000 neue Beschäftigungsverhältnisse.12
Die Ergebnisse der Parlamentswahlen von 2006 und der
vorgezogenen Parlamentswahlen von 2008 können ebenfalls
als Indiz für die Dynamik des Einflusses der PEI als politischem und gesellschaftlichem Faktor dienen. Bei den Parlamentswahlen 2006 trat die PEI in vier Wahlbezirken, im
westlichen und südwestlichen Teil Makedoniens gelegen, mit
eigenen Kandidaten an. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2008 trat die PEI dagegen auch im Wahlbezirk 2
(Skopje) mit einer eigenen Kandidatenliste an, wo sie bei den
vorherigen Wahlen keine hatte. Insgesamt ist im Vergleich zu
2006 in fast allen Wahlbezirken ein Anstieg der Wähler der
PEI festzustellen.
Anmerkungen
1)
Limanoski, Nijazi: Islamizacijata i etničkite promeni vo
Makedonija [Die Islamisierung und die ethnischen Veränderungen in Makedonien]. Skopje 1993, S. 128.
2)Ebd., S. 137.
3)Ebd., S. 230.
4)
Statut der Kulturwissenschaftlichen Manifestationen der
muslimischen Makedonen, zit. nach: Limanoski, Islamizacijata (Anm. 1), S. 379.
5)http://forums.vmacedonia.com/f11/vo-strushko-se-plashatda-kajat-deka-se-makedontsi-2146.
6)http:torbesi.blog.com.mk.
7)Programm der Partei für eine Europäische Zukunft von
2008; abrufbar unter: http://www.pei.org.mk/programa.
pdf.
8)
I nterview mit Fijat Canosk; vgl. http://torbesi.blog.com.
mk/.
9)Stenographische Mitschrift der 32. Sitzung des Parlamentes
der Republik Makedonien, gehalten am 22. Februar 2007,
S. 6; abrufbar unter: http://www.sobranie.mk/stenogrami1/
StenDocs06/032%20sednica%2022-02-2007.doc.
10)Stenographische Mitschrift der 60. Sitzung des Parlamentes
der Republik Makedonien, gehalten am 23. Juli 2007, S. 53;
abrufbar unter: http://www.sobranie.mk/stenogrami1/
StenDocs06/032%20sednica%2022-02-2007.doc.
11)Stenographische Mitschrift der elften Fortsetzung der 69.
Sitzung des Parlamentes der Republik Makedonien, gehalten am 24. September 2007, S. 30; abrufbar unter: http://
www.sobranie.mk/stenogrami1/StenDocs06/032%20sednica%2022-02-2007.doc.
12)Ebd.
Übersetzung aus dem Makedonischen: Vlatko Stojanov.
Photo: Wikimedia Commons
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Gekürzt und überarbeitet: Stefan Kube.
Ljupco S. Risteski, Dr., apl. Prof., Institut für
Ethnologie und Anthropologie an der Universität «Sv. Kiril i Metodij» in Skopje.
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RGOW
Makedonien
Hristina Cipusheva, Abdul Sejdini, Abdul Ghaffar Mughal, Luljeta Sadiku, Esmeralda Shehaj, Fatmir Memaj
Arbeitsmigration
aus Makedonien und Albanien
Albanien und Makedonien leiden seit zwei Jahrzehnten unter einer massiven Auswanderung gut ausge bildeter Arbeitskräfte. Obwohl diese durch Heimatüberweisungen das Bruttoinlandprodukt wesentlich aufbessern, fehlt ihr Innovationspotential beim Transformationsprozess zu einem demokratischen
Rechtsstaat und einer produktiven Marktwirtschaft. Die Erforschung der Einflussfaktoren der
Arbeitsmigration soll Möglichkeiten aufzeigen, wie die Heimatländer Rückkehranreize schaffen können,
um vom geistigen Kapital zu profitieren, das die Migranten im Ausland erworben haben. – R. Z.
Das Forschungsprojekt «Der brain drain und die Rolle der Diaspora bei der Förderung von Veränderungen im westlichen Balkan», an dem die Südosteuropäische Universität von Tetovo in
Makedonien, die Universität von Tirana in Albanien und das
Riinvest Institut in Kosovo teilnehmen, umfasst die drei Länder
Makedonien, Albanien und Kosovo. Das Forschungsprojekt hat
sich zum Ziel gesetzt, den Umfang und die Charakteristika der
hoch qualifizierten Diaspora aus den drei Ländern zu erforschen, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Diasporen
der verschiedenen Länder zu erfassen und Strategieempfehlungen zu formulieren, wie die Regierungen das fachliche Potential
ihrer jeweiligen Diaspora zur Förderung von politischen, sozialen und ökonomischen Reformen in ihren Ländern gewinnbringend nutzen können.
Ökonomische Ursachen der Emigration
Nach Adam Smith ist die Arbeitsteilung durch die Größe des
jeweiligen Marktes beschränkt. Kleine Volkswirtschaften
haben beschränkte Binnenmärkte und sind typischerweise offene Volkswirtschaften. Obwohl der technologische Fortschritt
im Bereich der Telekommunikation und des Transportwesens
die strukturellen Einschränkungen von kleinen Ländern minimiert hat, grenzen andere ökonomische, ganz zu schweigen von
geopolitischen Faktoren die Handlungsoptionen kleiner Länder
immer noch stark ein.1 Angesichts des begrenzten Markts und
der Schwierigkeiten bei der Realisierung von wirtschaftlicher
Massenproduktion ist internationale Migration zu einem strukturellen Charakterzug von kleinen Binnenwirtschaften geworden, die nur über einen begrenzten Zugang zu Außenmärkten
verfügen. Obwohl Geographie kein Schicksal ist, und obwohl es
Beispiele für kleine Länder gibt, die ohne ausländische Direktinvestitionen und andere ausgleichende Faktoren zu großem Wirtschaftswachstum fähig sind, sind kleine Volkswirtschaften
doch typischerweise Wirtschaften mit hohem Arbeitskraftexport. Interne Konflikte, Bürgerunruhen, hohe Arbeitslosigkeits- und Armutsraten haben den Migrationsdruck in Makedonien und Albanien seit der Transition zur Marktwirtschaft
weiter verstärkt (s. Tabelle).
Migration und Heimatüberweisungen
in Makedonien und Albanien, 2010
AlbanienMakedonien
Geschätzte Größe
der Diaspora
1 438 300
447 100
Heimatüberweisungen als
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
Arbeitslosenrate
11 %
11,8 %
–
33,8 %
Fachkräftemigration, die man üblicherweise als brain drain
(Kompetenz-Abwanderung, auch: «brain circulation», «brain
mobility», «circulation des élites») bezeichnet, ist ein häufiges
Charakteristikum von grenzüberschreitenden Migrationsströmen. In den Fällen, in denen die Migranten in ihrem Gastland bleiben und nicht in ihre Heimat zurückkehren, muss der
Gewinn allerdings nicht zwingend nur in eine Richtung fließen:
Indem die Migranten die Bande zu ihrem Land aufrecht erhalten, können sie als «Brücken» zwischen dem Gast- und dem
Heimatland fungieren. Angesichts der zunehmenden Mobilität
von gut ausgebildeten Diaspora-Mitgliedern sollte das Konzept
des brain drain (im Sinne einer Kompetenz-Abwanderung) in
Frage gestellt werden; als alternative Metapher ist die Bezeichnung brain circulation (Kompetenz-Zirkulation) vorgeschlagen
worden, um das sich ständig verändernde Mobilitätsmuster der
Fachkräfte besser beschreiben zu können.
Integration der Diaspora?
Der Ökonom Jagdish Bhagwati hat vorgeschlagen, mit einem
neuen «Diaspora-Modell» aus der Not eine Tugend zu machen:
Die Entwicklungsländer müssten erkennen, dass sie die Emigrationsflut von hochqualifizierten Arbeitskräften in entwickelte
Länder nicht aufhalten, aber mit entsprechenden Maßnahmen
dennoch von ihrer Diaspora profitieren können. Ein solches
«Diaspora-Modell […] integriert gegenwärtige und bisherige
Bürger in ein Netzwerk von Rechten und Pflichten innerhalb
einer erweiterten Gemeinschaft, die durch das Heimatland im
Zentrum definiert ist. [...] Der Diaspora-Ansatz ist auch aus
menschenrechtlicher Sicht wertvoll, weil er auf einem Emigrations-Recht basiert und diese nicht zu verhindern versucht.»2
Andere Experten sprechen gar von einem brain gain
durch brain drain (Kompetenzgewinn durch Kompetenzabwanderung). Dieser Ansatz legt nahe, dass das Heimatland
zwar von der Rückkehr von hoch qualifizierten Berufsleuten
profitiert, aber nicht nur – die brain gain-These lautet vielmehr folgendermaßen: Die Emigration von hoch qualifizierten Arbeitskräften schaffe einen zunehmenden Bedarf an –
und Erwerb von – Hochschulbildung in den Arbeitskraftexportländern; sie generiere eine positive Wahrscheinlichkeit,
durch Migration ein höheres Einkommen zu verdienen, was
wiederum dazu führe, dass der Zugewinn an Humankapital
durch gesteigerte Investitionen in die Ausbildung von Möchtegern-Migranten größer ist als der Verlust an Humankapital
durch Emigration – mit positiven Konsequenzen für die
Wohlfahrt und das Wachstum im Land selbst. Der Ökonom
Maurice Schiff hat die brain gain-These jedoch sorgfältig geprüft und ist zum Schluss gekommen, dass sie stark übertrieben sei. 3
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Makedonien
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R GOW
Photo: Wikimedia Commons / Raso mk
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Die South East European Universität (SEE Universität) wurde 2001 als
Privatuniversität in Tetovo gegründet. Im Jahr 2008 wurde sie von der
makedonischen Regierung als Universität akkreditiert.
Brain drain aus Makedonien und Albanien
Die beiden untersuchten Länder, Albanien und Makedonien,
haben gemeinsame historische Altlasten, gehören zu den ärmsten Ländern Europas, und ihre Struktur wird stark von internationaler Migration geprägt. Die Entwicklungsaussichten
der westlichen Balkanländer sind abhängig von ihrer Innovationsfähigkeit. Die Produktivität ihrer Innovatoren wiederum
hängt von deren Zugang zu neuester Technologie und Wissensnetzwerken ab. Doch während einerseits der finanzielle
Profit durch die Heimatüberweisungen von Migranten weitgehend anerkannt ist, so hat andererseits der Exodus einer großen, hoch qualifizierten Bevölkerungsgruppe aus Makedonien
und Albanien die lokalen Wissensnetzwerke stark geschwächt
und die Institutionenbildung, die für eine soziale Transformation zentral ist, nachteilig beeinflusst. Der Massenexodus der
intelligentesten und innovativsten Personen einer Gesellschaft
hemmt die Förderung von Demokratie, verantwortungsvoller
Regierungsführung (good governance), Respektierung der
Menschenrechte und des Rechtsstaates, weil gerade diese
Bevölkerungsgruppe Katalysator einer sozio-ökonomischen
Transformation wäre.
Makedonien sieht sich seit seiner Unabhängigkeit nach dem
Zerfall Jugoslawiens mit dramatischen strukturellen Veränderungen konfrontiert. Die Transformation von einer Plan- zu
einer freien Marktwirtschaft wie auch die Transformation von
einem zentralisierten zu einem demokratischen politischen
System dient der Modernisierung, um die Entwicklung von offenen Märkten, höherer Effizienz und Arbeitsmarktfähigkeit
zu unterstützen. Der Migrationsstrom hat in den letzten beiden Jahrzehnten jedoch nicht ab-, sondern im Gegenteil zugenommen, dabei aber sein Profil verändert. Bezüglich aktuellen
Migrantenzahlen herrscht große Uneinigkeit. Es gibt zwar
mehrere Quellen mit entsprechenden Daten, doch sind sie problematisch, weil deren Zahlen differieren, sogar wenn sie
scheinbar dieselbe Quelle zitieren. Die offiziellen Zahlen des
Statistikamtes beispielsweise unterschätzen die Anzahl der
Migranten, weil nur wenige Migranten, die mehr als drei Monate im Ausland bleiben wollen, dies dem Innenministerium
auch mitteilen.
Die Transition spiegelt sich auch im Erziehungssystem wider: Die Anzahl tertiärer (öffentlicher und privater) Bildungseinrichtungen ist gestiegen, wie auch die Anzahl immatrikulierter Studierender. Doch obwohl «das Angebot» in einem
solch kleinen Land wie Makedonien mit einer Bevölkerung
von zwei Millionen Menschen die Nachfrage scheinbar übersteigt, gehen immer mehr Studierende ins Ausland, um eine
qualifizierte Bildung zu erhalten.
Albanien hat in den letzten beiden Jahrzehnten ebenfalls
einen ernsthaften brain drain erlebt, dabei lassen sich zwei
Phasen unterscheiden. Die Zeitspanne von 1989 bis 1998 gilt
als erste Phase: Die erste Massenemigrationswelle in den frühen 1990er Jahren beinhaltete eine massive Migration von
hoch qualifizierten Personen: 38,5% der Akademiker und Forscher verließen das Land. Am meisten litten darunter die öffentlichen Universitäten, die ein Drittel ihrer Lehrkräfte verloren. Gleichzeitig emigrierten etwa 35% der hoch qualifizierten Arbeiter. 4 Die zweite Phase des brain drain ist auch als
«Das Kanada Phänomen» bekannt, weil ab 1997/8 und in den
Folgejahren zahlreiche junge Menschen in die USA (ca.
100 0 00 Anträge pro Jahr) und nach Kanada (ca. 10 0 00 Anträge pro Jahr) auswanderten.
Forschungserkenntnisse aus Umfragen
Zur Erforschung der Problematik des brain drain aus Makedonien und Albanien sind in beiden Ländern Umfragen
durchgeführt worden; dabei wurden sowohl Studierende an
Universitäten als potentielle Migranten als auch Rückkehrer
befragt.
Studierende als potentielle Migranten
In Makedonien stellen die Studierenden eine wichtige demographische Gruppe dar, die bei der Erforschung des brain
drain in Betracht gezogen werden muss. Vor allem die ökonomischen, aber auch sozialen und politischen Bedingungen in
Makedonien beeinflussen deren Entscheid, in ein anderes
Land auszuwandern. Studierende, die aus minder bemittelten
Haushalten kommen, sind besonders darum bemüht, ihr weiteres Leben im Ausland zu verbringen. Diejenigen, die aus besseren Lebensverhältnissen stammen, gehen meistens zur Ausbildung ins Ausland und kehren danach wieder zurück. Die
Mehrheit der Studierenden sucht im Ausland einen besseren
Lebensstandard, finanzielle Perspektiven und gute Anstellungsmöglichkeiten. Als Studienorte wählen sie meist westeuropäische Länder (Schweiz, Deutschland und Italien) und
die USA.
In Albanien sind die häufigsten Beweggründe für die Migration von Studierenden analog zu diejenigen anderer Migrationsgruppen: Auswandernde Studierende sind typischerweise
jung, männlich, verfügen über ein hohes Einkommen und gute
Netzwerke und werden von andern dazu ermutigt. Die Migration von Studierenden ist ein selektiver Prozess: Die Migration
der Besten wird positiv beeinflusst von Migrationsnetzwerken, Einkommen und Unterstützung durch Professoren und
Freunde. Hinzu kommen weitere unpersönliche Faktoren, die
bisweilen überhaupt nicht messbar sind, wie z. B. die Reputation von akademischen Institutionen in den Gastländern und
deren Bemühungen, internationale Studierende anzuziehen
und im Land zu behalten. 5
Zurückkehrende Migranten
In Makedonien wurde zwischen März und September 2011
eine Umfrage unter zurückgekehrten Migranten durchgeführt.
Der Fragebogen enthielt Fragen über soziale und demographische Charakteristika, über die Ausbildung, die Migrationsgeschichte, die Rückkehrerfahrung und die zukünftigen Migrationsvorhaben der Rückkehrenden. Ziel war vor allem die
Beantwortung der Frage, warum ausgebildete und qualifizierte Migranten sich für eine Rückkehr in ihr Heimatland entscheiden. Befragt wurden Forscher, Akademiker, Unternehmer und andere hoch qualifizierte Migranten, die nach der
Ausbildung oder einer Arbeitserfahrung im Ausland zurückgekehrt sind. Von 72 Rückkehrenden verfügten 66 über Hoch-
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schulbildung, sechs von ihnen waren sehr erfolgreiche Unternehmer.
Aus den vorläufigen Resultaten der Umfragen geht hervor,
dass die Rückkehrenden stärker von internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen profitiert haben als
von nationalen Regierungsprogrammen. Die Mehrheit der Befragten ging ins Ausland, um dort zu studieren, bzw. ihr Studium fortzusetzen; das ist aufschlussreich für die Wahrnehmung der niedrigen Qualität der Hochschulbildung im Heimatland oder aber der höheren Qualität der ausländischen
Bildung. Was die gegenwärtigen Anstellungsbedingungen der
befragten makedonischen Rückkehrer betrifft, so haben fast
alle eine Arbeitsstelle gefunden, nur zwei von ihnen sind momentan arbeitslos.
Als Hauptanreize zur Migration nannten die Befragten das
Fehlen von Karrieremöglichkeiten und die niedrige Qualität
der Ausbildung im Heimatland. Dementsprechend betonen sie
die Anziehungskraft eines besseren Lebens, höheren Einkommens, besserer Bildung und Karriereaussichten in den Gastländern. Die Wahl eines jeweiligen Ziellandes hängt ab von der
Qualität der Ausbildung, der geographischen Nähe, vergangenen Erfahrungen wie auch von den dortigen ökonomischen,
sozialen und politischen Faktoren.
Viele Rückkehrende klagen darüber, dass die Regierung
Makedoniens die brain drain-Problematik bisher kaum erfolgreich angehe, da sie weder bei der Ausreise noch bei der Rückkehr von irgendeinem Regierungsprogramm unterstützt worden seien. Rückkehrende und Experten sind sich einig, dass die
Regierung zwar auf dem Papier Konzepte entwickelt hat, diese
aber abgesehen von einem Stipendienprogramm nicht in die
Praxis umgesetzt worden sind. Migranten, die nach ihrer
Rückkehr in die Heimat erfolgreiche Unternehmen aufgebaut
haben, betonten, dass sie von keinerlei Erleichterungen durch
die Regierung profitiert haben.
Die Resultate aus Albanien zeigen ähnliche Anreizfaktoren
zur Migration der gut Ausgebildeten wie in Makedonien: eine
relativ schlechte Qualität der Hochschulbildung, Pessimismus
in Bezug auf die politische und ökonomische Entwicklung des
Landes, die Hoffnung auf ein besseres Einkommen und Karrieremöglichkeiten durch ein ausländisches Diplom oder Arbeitserfahrung im Ausland. Die engen Verbindungen und häufiger Kontakt zu den Familien im Heimatland scheinen wichtige ausschlaggebende Faktoren für die Rückkehr zu sein.
Wichtigster Anreiz zur Rückkehr in die Heimat scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass die durchschnittliche Zeit,
nach der Rückkehr eine Arbeitsstelle zu finden, sehr kurz ist.
Die Universität Tirana wurde 1957 als erste staatliche Universität in
Albanien gegründet. Sie verfügt über acht Fakultäten und ein Institut für
Europäische Studien. Das Gebäude wurde anfangs der 1940er als Casa
di Fascio von der italienischen Besatzung erbaut.
R GOW
Makedonien
Die albanische Regierung hat vor wenigen Jahren eine
brain gain-Strategie eingeführt, die bisher jedoch noch kaum
Früchte getragen hat. Eine Möglichkeit, die Strategie besser
umzusetzen und von ihr zu profitieren, wäre eine intensivere
Zusammenarbeit mit den Migranten, indem man sie in Module und Projekte integriert, die Kurzzeitaufenthalte im Heimatland verlangen.
Eine weitere, sowohl in Makedonien als auch in Albanien
bereits praktizierte Möglichkeit ist, Studierende, die an ausländischen Universitäten studieren, finanziell zu unterstützen
und dafür nach Abschluss des Studiums für eine gewisse Zeit
einen Beitrag im Heimatland zu fordern.
«Ein Stein wiegt in seinem eigenen Land schwerer als anderswo!» – Mit diesem Sprichwort vor Augen sollten beide
Regierungen effiziente brain gain-Strategien entwickeln, um
stärker vom Potential der Rückkehrenden zu profitieren, und
Anreize dafür schaffen, dass diese in ihrem Heimatland anwenden, was sie im Ausland gelernt haben.
Anmerkungen
1)Demas, William Gilbert: The economics of development in
small countries. Montreal 1965; Salvatore, Dominick et
al.: Small countries in a global economy: New challenges
and opportunities. London 2011.
2)Bhagwati, Jagdish: Borders beyond Control: In: Foreign
Affairs, January/February 2003.
3)Schiff, Maurice; Wang, Yanling: Brain Drain and Productivity Growth: Are Small States Different? World Bank –
Development Research Group (DECRG); Institute for the
Study of Labor (IZA), Working Paper No. 3378.
4)Schmidt, Christoph M.: The impact of EU enlargement on
migration flows. (Home Office Online Report 25/03/2003);
Gjonça, Arjan: Emigration of Albanians in the nineties – a
new era in the demographic developments in Albania. In:
Kaser, Karl et al. (Hg.): Die weite Welt und das Dorf. Albanische Emigration am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien
2002, S. 15-38.
5)Lowell, Lindsay; Bump, Micah; Martin, Susan F.: Foreign
Students Coming to America: The Impact of Policy, Procedures, and Economic Competition, Institute for the Study
of International Migration. Washington 2007.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Die Originalversion des Beitrags A stone weighs more on
its own land than elsewhere: The Brain Drain and the Role
of the Diaspora in promoting Changes in the Western Balkans entstand im Rahmen des «Regional Research Promotion Programme in the Western Balkans» (RRPP) der
Universität Fribourg.
Hristina Cipusheva, Abdulmenaf Sejdini, Lehrbeauftragte, Prof. Abdul Ghaffar Mughal, Gastwissenschaftler, und Luljeta Sadiku, Studentin an der Südosteuropäischen Universität in
Tetovo, Makedonien. Esmeralda Shehaj, Lehrbeauftragte, und Fatmir Memaj, Professor an
der Universität Tirana, Albanien.
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projektarbeit
Nr. 4 2012
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Franziska Rich im Gespräch mit Priester Leonid Zapok
Aufbau eines orthodoxen
Gemeindelebens in Fernost
Priester Leonid Zapok betreut orthodoxe Gemeinden in Tschukotka, der ärmsten Region Russlands im äußersten Nordosten des Landes an der Beringstraße. G2W unterstützt Vater Leonid bei seiner Arbeit. In seiner
ersten Gemeinde in Lavrentia schuf er Arbeitsplätze für ausstiegswillige Alkoholabhängige und etablierte
eine Nothilfe für Hungrige in der Winterzeit. Im Jahr 2009 beorderte der Bischof seinen erfahrenen Priester in
die Hauptstadt Anadyr, um die Missions- und Sozialarbeit in der Eparchie insgesamt zu koordinieren.
G2W: Vor kurzem haben Sie Ihre alte Gemeinde in Lavrentia
besucht, wo Sie bis 2009 tätig waren. Wie waren Ihre Eindrücke?
Leonid Zapok: Von der Gemeinde bin ich sehr herzlich empfangen worden, und wir haben viele gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht. Die Zusammensetzung der Gemeinde hat sich verändert: Einige der mir bekannten aktiven Gemeindeglieder sind
bereits zu meiner Zeit oder kurz danach weggezogen, dafür sind
jedoch andere neu hinzugekommen, so dass ich eine ganze Reihe
neuer Gemeindemitglieder kennenlernen durfte. Die meisten
Weggezogenen sind ins russische Kernland zurückgekehrt, aufs
«Festland», wie man hier in Tschukotka sagt, andere leben heute
in Anadyr. Ein paar neue Gemeindeglieder kannte ich schon
früher, als sie noch nicht zur Gemeinde in Lavrentia gehörten.
Meinem Nachfolger, Priestermönch Seraphim Nosyrev, ist es nun
gelungen, sie zu integrieren.
Auffällig ist, dass die einheimischen Tschuktschen zahlreicher in
der Gemeinde vertreten sind. So ist beispielsweise eine weitere
Familie hinzugekommen, die sich aktiv ins Gemeindeleben einbringt. Besonders gefreut habe ich mich über die Entwicklung
einer tschukotkischen Familie: Zu meiner Zeit begannen 2003
zwei Kinder mit dem Besuch der Sonntagsschule, später zogen sie
ihre Eltern nach. Diese gaben durch den Kontakt mit der Kirchgemeinde das Trinken auf und wurden zu Gemeindemitgliedern.
Inzwischen hat der Familienvater eine recht gut bezahlte und verantwortungsvolle Arbeit als Kranführer im Hafen von Lavrentia
gefunden. Von den beiden älteren Töchtern half die eine aus
eigener Initiative Vater Seraphim solange bei der Sonntagsschule,
bis sie in ein weiterführendes College in Anadyr aufgenommen
wurde. Es ist für Eltern in Lavrentia äußerst schwierig, ihren
Kindern im Ort eine gute Zukunft zu ermöglichen. Lavrentia
liegt schon sehr abgelegen und einsam.
Vater Seraphim setzt also Ihr Aufbauwerk in Lavrentia fort?
Vater Seraphim hat vielleicht sogar einen noch besseren «Draht»
zur einheimischen Bevölkerung gefunden als ich. Vielleicht ist er
daher noch effizienter darin, die Tschuktschen für eine Arbeit zu
motivieren, die sie vom Trinken abhält. Meine Mutter und ich
Was benötigt die lokale Bevölkerung derzeit am meisten?
Am dringlichsten sind sicherlich Güter für die Kinder. Da die
Geburtenzahlen hoch sind, die finanzielle Situation in den Familien sich aber verschlechtert hat, fehlt es besonders in kinderreichen Familien häufig an Kinderkleidung, Kindernahrung, Seife
und guten Milchprodukten, die in dieser Region sehr teuer sind.
Darum wird immer am meisten gebeten, doch fehlt es an vielem
mehr. Am wichtigsten sind natürlich Arbeitsmöglichkeiten für
die Menschen. Aber Arbeitsplätze fehlen in Tschukotka nach wie
vor. Dies erschwert das Leben der Menschen hier ungemein.
Die Bevölkerung sieht also einer eher schwierigen Zukunft entgegen?
Ja, denn fast niemand will in die Entwicklung dieses Teils der
Russländischen Föderation investieren. Nur ein einziges großes
chinesisches Unternehmen scheint eine Niederlassung in Anadyr
eröffnen zu wollen, um den Süden Tschukotkas an der Grenze zu
Kamtschatka zu erschließen. In der Umgebung der Ortschaft
Beringovskij gibt es große Steinkohlevorräte. Die Chinesen planen, dort eine ganze Stadt zu errichten. Es gibt zudem andere
Gesellschaften, die Golderz abbauen. Aber alle diese wirtschaftlichen Aktivitäten haben keinen Einfluss auf die Entwicklung
Tschukotkas, da die erzielten Gewinne nicht in der Region bleiben.
Der Nachfolger von Vater Leonid in Lavrentia, Vater
Serafim Nosyrev, hilft den Tschuktschen beim Fischen.
Photos: Leonid Zapok
Vater Leonid Zapok zusammen mit einer Familie in
Lavrentia; die Eltern haben das Trinken aufgegeben.
haben dazu früher das verlassene Gewächshaus bei den heißen
Quellen in rund 30 km Entfernung wieder in Betrieb genommen.
Vater Seraphim hingegen errichtete einige kleinere Gewächshäuser in der Nähe, kaufte Netze und Boote und fährt mit den
arbeitslosen Tschuktschen zum Fischen. Zusammen mit diesen
Leuten verarbeitet er dann die gefangenen Fische für den Verkauf.
Er wirkt auf die Einheimischen mehr in dieser Richtung ein,
wofür sie ihm dankbar sind und sich zu ihm hingezogen fühlen.
Vater Seraphim ist ein sehr begabter Mann in praktischen Angelegenheiten. Seine goldenen Hände schaffen alles. Er kann sogar
Autos reparieren, so dass die lokale Bevölkerung auch in solchen
Fällen zu ihm kommt, wenn sie Hilfe braucht. Und natürlich ist
er immer bereit, einen Hungernden zu verköstigen.
Anlässlich des Kirchweihfests findet im kleinen Dorf
Krasneno eine Prozession statt.
Nr. 4 2012
Die Eparchie von Tschukotka hat jüngst den 10. Jahrestag ihres
Bestehens gefeiert. Welche Bedeutung hat der Dienst der Russischen Orthodoxen Kirche in dieser entlegenen Region?
Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich in den letzten zehn Jahren vieles verbessert hat. Die Einwohnerzahl in Tschukotka
nimmt zwar weiterhin ab, weil vor allem viele Russen die Region aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Dennoch haben
sich die Gemeinden im Vergleich zur Situation vor zehn Jahren
positiv entwickelt. Sie wachsen zwar nur langsam, doch sind
mehr Gläubige neu hinzugekommen, als weggezogen sind.
Zudem sind die Geistlichen heute bedeutend besser ausgebildet als vor zehn Jahren. In den letzten beiden Jahren haben
einige jüngere, gut ausgebildete Priester ihren Dienst in der
Eparchie angetreten. Auch in den Augen der Tschuktschen ist
die Russische Orthodoxe Kirche zu einem Bestandteil des
gesellschaftlichen Lebens geworden. Niemand ist mehr
erstaunt, einem Priester zu begegnen. Deshalb ist es für uns
auch einfacher geworden, am Leben der Gesellschaft teilzunehmen und beispielsweise öffentliche Veranstaltungen durchzuführen. Eine positive Entwicklung ist somit durchaus
erkennbar.
Was die Mission unter den Tschuktschen betrifft, so steht uns
zweifellos noch eine riesige Arbeit bevor. Die Mission der Kirche richtet sich allerdings nicht an jene einheimische Minderheit, die in ihrer Kultur, Religion und Lebensweise noch verwurzelt ist und diese weiterhin pflegt. Diese Tschuktschen brauchen uns nicht. Unsere Mission ist ein Angebot an jene Mehrheit, die im 20. Jahrhundert umgesiedelt und entwurzelt worden
ist. Diese Menschen leiden häufig an Alkoholismus und an der
Perspektivlosigkeit ihres Lebens. Die Kirche ist heute noch nicht
in der Lage, ihnen in größerem Umfang adäquate Hilfe anzubieten. Aber wir verfügen – so darf ich nach zehnjähriger Erfahrung behaupten – über gute Ansätze und eine vernünftige Vision
von der Missionsarbeit, die uns in die Zukunft führen können.
Das ist sehr wichtig, weil die russischen Familien und Gastarbeiter, die hierher kommen, um Geld zu verdienen, üblicherweise überhaupt nicht wissen, wie sie mit der einheimischen Bevölkerung umgehen sollen. In unseren Kirchgemeinden lernen sie
dieses Verständnis.
Wie stellt sich die Lage in anderen Gemeinden neben Lavrentia
dar?
Die interessanteste Gemeinde ist wohl die von Bilibino im
äußersten Westen Tschukotkas. In dieser für Tschukotka großen Stadt befindet sich ein Atomkraftwerk. Hier wohnen viele
gebildete Leute – Physiker, Ingenieure, Energie- und Atomwissenschaftler. Und diese Intelligenzija gehört in großer Zahl auch
der Kirchgemeinde an. Während die Hauptstadt Anadyr die
Stadt der Beamten ist, ist Bilibino die Stadt der Wissenschaftler
und Goldgräber. Dank des recht aktiven Priesters vor Ort gibt
es dort eine funktionierende Sonntagsschule und ein lebendiges
orthodoxes Gemeindeleben.
In Lavrentia hat Vater Leonid eine Sonntagsschule
aufgebaut, wo er Katechese erteilte.
projektarbeit
R GOW
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Die Gemeinde von Enmelen ist die Gemeinde mit den meisten
Einheimischen. Obwohl es in Enmelen keinen ständigen Priester gibt, kommen die Mitglieder seit Jahren regelmäßig zu
Gebetsgottesdiensten zusammen. Die Tschuktschen von Enmelen sind sehr selbständige Leute und am ehesten mit den priesterlosen Altgläubigen vergleichbar. Geistliche kommen selten zu
ihnen zu Besuch. Ich war das letzte Mal vor einem Jahr in Enmelen. Sofort versammelte sich die ganze Gemeinde – Erwachsene
und Kinder, unter anderem jene Kinder, die ich vor zehn Jahren
getauft hatte. Einige der von mir in Enmelen getauften Kinder
gehen heute in Anadyr zur Schule und besuchen die Gottesdienste in meiner Kirche, was mich natürlich sehr freut.
Welches Fazit ziehen Sie nach zehn Jahren Arbeit in Tschukotka?
Um ehrlich zu sein, muss ich sagen, dass sich im Verlauf der
Jahre bei mir zwei Gefühle eingestellt haben: Anfangs war da
freudiges Erstaunen, als sich die ersten Gläubigen in den
Gemeinden zusammenfanden. Vor diesem Hintergrund schienen auch die weiteren Perspektiven rosig zu sein. Nach einer
gewissen Zeit reifte dann aber die ernüchternde Erkenntnis,
dass alles sehr viel langsamer voranging, als zu Beginn erhofft:
der Kirchenbau ging schleppend voran, die Gemeinde wuchs
nur langsam, keiner der Gläubigen wollte große christliche Heldentaten vollbringen, da der beschwerliche Alltag alle Kräfte in
Anspruch nahm. So tauchte das Gefühl einer gewissen Enttäuschung auf. Jetzt aber, nach zehn Jahren, muss ich sagen, dass
wir das wichtigste Ziel wohl doch erreicht haben: Die Kinder,
die beispielsweise meine nicht sehr professionell geführte Sonntagsschule besucht haben, sind der Kirche treu geblieben. Einige
von ihnen besuchen meine Gottesdienste in Anadyr und sind
mit mir und anderen Gläubigen im Gebet. Von daher kann ich
persönlich nur ein positives Fazit ziehen.
Und dennoch ist es für mich schwierig, Ihre Frage eindeutig zu
beantworten. Es bleiben gemischte Gefühle: Wir haben unseren
Dienst in Tschukotka vor zehn Jahren angetreten mit der Vorstellung, hier zahlenmäßig starke und geistig lebendige Gemeinden aufzubauen, wie wir sie vom russischen Kernland her kennen. Dies ist zwar nach wie vor unser Ziel, das uns zumindest
jedoch solange nicht gelingen kann, wie die ständige Fluktuation in den Gemeinden andauert. Wir müssen, bedingt durch
Klima, Abgelegenheit, Armut und Bevölkerungsrotation in
Tschukotka, von einem anderen, flexibleren Gemeindemodell
ausgehen – eine Erkenntnis, zu der uns Jahre der mühsamen
täglichen Arbeit geführt haben, und die die Grundlage geschaffen hat für das Vertrauen, das die Bevölkerung uns heute entgegenbringt.
* * *
Sie können Leonid Zapok beim Gemeindeaufbau mit einer
Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900
0000 8001 51780) mit dem Vermerk «Tschukotka» unterstützen.
Die Kirche in Bilibino, einer der größeren Städte
Tschukotkas. Dort arbeiten viele Wissenschaftler.
Die Gespräche mit den Tschuktschen sind immer mit
längerem Teetrinken verbunden wie hier in Utjosiki.
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buchanz eigen
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RGOW
Die drei Jugoslawien
Sabrina P. Ramet
Die drei Jugoslawien
Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer
Probleme
(= Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 136)
München: R. Oldenbourg Verlag 2011, 907 S.
ISBN 978-3-486-58349-6. € 94.80; CHF 129.–.
Zu Einzelaspekten der jugoslawischen Geschichte und vor allem zum Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren gibt es
mittlerweile eine kaum mehr zu überschauende Fülle von Literatur, dagegen
sind Gesamtdarstellungen zur Geschichte
Jugoslawiens – noch dazu in deutscher
Sprache – eher eine Seltenheit. Umso
dankbarer muss man dem Südost-Institut
in Regensburg sein, dass es die deutsche
Übersetzung von Sabrina P. Ramets Opus
magnum «The three Yugoslavias» ermöglicht hat. Die Autorin, die seit drei Jahrzehnten zur Geschichte Jugoslawiens
forscht, zählt zu den profiliertesten Kennern des untergegangen Landes. Grundlage ihres Buchs stellen denn auch
zahlreiche ältere Veröffentlichungen in
überarbeiteter Form dar.
Ramet lässt sich bei ihrer Darstellung von
der Frage leiten, wie ein legitimes politisches System beschaffen sein muss,
damit es von der Bevölkerung akzeptiert
wird. Politisch legitim kann dabei langfristig gesehen nur ein System sein, dass die
Menschenrechte und das Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit respektiert. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass alle
drei jugoslawischen Staaten – das Königreich Jugoslawien (1918–1941), das sozialistische Jugoslawien (1945–1991) und die
Bundesrepublik Jugoslawien (1992–2003),
häufig auch als Rest-Jugoslawien bezeichnet – seit ihrer Gründung mit erheblichen
Legitimitätsdefiziten zu kämpfen hatten,
die immer wieder zu Krisen führten, und
die letztlich in einem Versagen der jeweiligen Staatsbildungen mündeten. Ramet
warnt allerdings davor, von einer deterministischen Geschichtssicht auszugehen,
als ob das jugoslawische Experiment
zwangsläufig zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Gegen die populäre Ansicht,
Jugoslawien sei am vermeintlichen «uralten Hass» seiner Völker gescheitert,
weist Ramet auf eine Vielzahl kontextspezifischer Faktoren und das Handeln bestimmter Akteure hin, die erst zu einem
Anwachsen des Nationalismus führten.
Vor der Gründung des ersten jugoslawischen Staates 1918 hat es vermutlich
sogar «mehr Bindungs- als Abstoßungskräfte» in der Region gegeben (S. 31).
Das erste Jugoslawien – das Königreich
der Serben, Kroaten und Slowenen, ab
1929 das Königreich Jugoslawien – behandelt Ramet in zwei Kapiteln. Ausführlich
geht sie auf das Entstehen der «VidovdanVerfassung» ein, mit der das neue Königreich gleich von Beginn an «einen schlechten Start erwischte» (S. 823), da die
Verfassung sich vor allem an den serbischen nationalen Interessen orientierte
und zu einer zunehmenden Unzufriedenheit unter den anderen südslawischen
Völkern, insbesondere unter den Kroaten,
führte. Im Mittelpunkt von Ramets Darstellung steht daher auch die sog. kroatische Frage und die Auseinandersetzungen zwischen serbischen und kroatischen
Politikern; die politische Situation in anderen Regionen des Königreichs, etwa in
Makedonien oder Montenegro, wird dagegen nur am Rande erwähnt. Trotz der
schlechten Startbedingungen des ersten
Jugoslawien wehrt sich Ramet jedoch
gegen «fatalistische Darstellungen der
Zwischenkriegsepoche» (S. 77), denn erst
die Unfähigkeit der führenden Politiker des
Landes zu einer Kompromissfindung und
die sich verschlechternde internationale
Situation, bei der sich Jugoslawien zwischen zwei kriegsführenden Blöcken
wiederfand, führten letztendlich zum Zusammenbruch des ersten jugoslawischen
Staates 1941. Insgesamt, so bilanziert
Ramet, war nicht «die nationale Frage der
Grund der Dysfunktionalität des Systems;
im Gegenteil war es die Dysfuntionalität
des Systems, die die nationale Frage hervorbrachte» (S. 118).
Auf den Zweiten Weltkrieg und den Partisanenkampf geht Ramet in einem umfangreichen Kapitel ein, in dem die Errichtung
des faschistischen kroatischen Satellitenstaates, die Politik der Achsenmächte in
den Besatzungszonen sowie der Widerstand gegen die Besatzungsmächte im
Mittelpunkt stehen. Aus dem Widerstand
gegen die deutsche Besatzungsmacht
gingen schließlich die Partisanen unter der
Führung von Josip Broz Tito als Sieger
hervor, die die Sozialistische Föderative
Republik Jugoslawien (SFRJ) gründeten.
In sieben Kapiteln beschreibt Ramet Leistungen und Grenzen des titoistischen Systems: Auf der einen Seite hatten die Kommunisten zwar aus den negativen Erfahrungen des ersten Jugoslawien gelernt
und setzten sich für eine Gleichberechtigung der jugoslawischen Völker ein, auf
der anderen Seite blieben jedoch bedeutsame Legitimitätsprobleme bestehen, da
die Kommunisten nicht bereit waren, ihre
politische Monopolstellung aufzugeben
und ein pluralistisches politisches System
einzuführen. Erschwerend kam noch
hinzu, dass die Kommunisten keine offene
und ehrliche Diskussion über die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg zuließen. Ramet betont zwar, dass «die SRFJ als ein
politisches Experiment durch ihren Mangel an Legitimität zum Scheitern verurteilt
war», dennoch «war es trotz allem nicht
vorherbestimmt, dass der Staat zerfallen
oder im Krieg untergehen würde. Es
brauchte die Kombination aus der mangelnden Legitimität des Systems, dem
funktionsgestörten Föderalismus, wirtschaftlicher Rezession und der Mobilisierung des serbischen Nationalismus durch
Milošević und seine Entourage, um das
Land in den Krieg zu führen» (S. 509). Ramet beschließt ihre Darstellung zum sozialistischen Jugoslawien daher mit zwei
Kapiteln zum Aufstieg von Slobodan
Milošević und zum Abgleiten in den Krieg,
dem eine zunehmende diskursive Verfeindung unter den einzelnen Bevölkerungsgruppen voranging.
Den jugoslawischen Nachfolgekrieg von
1991 bis 1995 behandelt Ramet in zwei
Kapiteln; in weiteren vier Kapiteln geht
sie auf die Situation der jugoslawischen
Nachfolgestaaten ein. Prominent vertreten sind dabei Bosnien-Herzegowina, mit
dessen Nachkriegsordnung sich Ramet
intensiv auseinandersetzt, sowie das
dritte Jugoslawien, die Bundesrepublik
Jugoslawien (1992–2003), dessen Wesen
Ramet «als kriminelle Oligarchie» charakterisiert, «aufgebaut auf einem Fundament aus institutionellem und gesetzlichem Chaos» (S. 827). Eine aktualisierte
Einleitung zur deutschen Ausgabe fasst
die Entwicklung der jugoslawischen
Nachfolgestaaten bis zum Jahr 2010 zusammen.
Ramets Buch ist eine fundierte Gesamtdarstellung, die jedem empfohlen werden
kann, der sich mit dem dreimaligen Aufbau und Scheitern eines jugoslawischen
Staates auseinandersetzen möchte.
Stefan Kube
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RGOW
buchanzeigen
Religion und Kultur im albanischsprachigen Südosteuropa
Oliver Jens Schmitt (Hg.)
Religion und Kultur im albanischsprachigen
Südosteuropa
(= Pro Oriente. Schriftenreihe der Kommission
für südosteuropäische Geschichte, Bd. 4)
Frankfurt/M.: Peter Lang 2010, 260 S.
ISBN 978-3-631-60295-9. € 51.80; CHF 68.–.
Religionsgeschichtlich nehmen die Albaner in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung in Südosteuropa ein: Im
Vergleich zu anderen südosteuropäischen Bevölkerungsgruppen, bei denen
jeweils eine Religion bzw. Konfession
vorherrschend ist und diese als ein wichtiges nationales Unterscheidungsmerkmal fungiert (z. B. bei Griechen, Serben
und Kroaten), ist im Falle der Albaner die
religiöse und konfessionelle Vielgestal-
tigkeit augenfällig. So hat sich über Jahrhunderte eine Koexistenz von sunnitischem Islam, dem muslimischen Derwischorden der Bektashi, orthodoxer
und katholischer Kirche herausgebildet.
Dem korrespondiert als weiteres Spezifikum das Autostereotyp von der religiösen Toleranz, gar Indifferenz der
albanischen Bevölkerung – gipfelnd in
dem häufig zitierten Satz aus der Nationalbewegung: «Der Glaube des Albaners ist das Albanertum!» Eine weitere
historische Besonderheit stellt schließlich der staatlich verordnete Atheismus
in der Volksrepublik Albanien dar.
Der Titel des von Oliver Jens Schmitt,
Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, herausgegebenen Sammelbandes macht allerdings
deutlich, dass es nicht nur um das Verhältnis von Religion und Kultur auf dem
Gebiet der heutigen Republik Albanien
geht, sondern vielmehr unterschiedliche albanischsprachige Gesellschaften
in der Region in den Blick genommen
werden, so beschäftigt sich ein Beitrag
mit «Religiös geprägten Lebenswelten im
spätosmanischen Kosovo». Insgesamt
weisen die fünf Beiträge zur vor- und
osmanischen Zeit darauf hin, dass sich
das Entstehen der vielfältigen albanischen Religionslandschaft mit einer nationalhistoriographischen Perspektive
nicht angemessen verstehen lässt, denn
die komplexen soziokulturellen Entwicklungen, etwa im Hinblick auf die regionalen Verschiedenheiten und unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Islamisierungsprozess, vermag eine solche
Perspektive kaum zu erklären.
Weitere fünf Beiträge gehen auf die Geschichte der Religionsgemeinschaften
im 20. Jahrhundert ein, im Mittelpunkt
steht dabei vor allem die Religionspolitik
des sozialistischen Regimes in der Volksrepublik Albanien. Trotz zahlreicher
Repressionsmaßnahmen und der Verdrängung in die Privatsphäre hörte das
religiöse Leben jedoch auch im atheistischen Albanien nicht auf zu existieren,
allerdings warnt Egin Ceka in seinem
Beitrag davor, dessen Bedeutung zu
überschätzen: «23 Jahre Staatsatheismus hatten dazu geführt, dass die öffentliche Weitergabe religiöser Traditionen
unterbrochen worden war» (S. 229).
Ostens bringt Kaser Ereignisse zusammen, die sonst getrennt voneinander
behandelt werden.
In den ersten beiden Kapiteln zeigt der
Autor auf, wie sich zwischen Tigris und
Donau mit der ersten menschlichen
Sesshaftigkeit erste politische Herrschaftsstrukturen herausbilden konnten, und erläutert, welche Rolle die unterschiedlichen Herrschaftslogiken
speziell des Römischen und Osmanischen Reichs für die Entwicklung der
Region gespielt haben. Auf diese einleitenden Kapitel folgt die Auseinandersetzung mit spezifischen Themenbereichen, deren Entwicklung jeweils über
eine lange Zeitspanne hinweg bis in die
Gegenwart verfolgt wird. Dies hat den
Vorteil, dass auch aktuelle Entwicklungen aufgegriffen und nachvollziehbar
gemacht werden. Der Autor betrachtet
die Zusammenhänge von Naturraum
und Wirtschaftsentwicklung, die Bedeutung von demographischen Entwicklungen, Städtegründungen und Völkerwanderungen, die regionale Geschichte der
Technik und Wissenschaft, er bezieht
Religionen, Geschlechterbeziehungen,
Körperbewusstsein und Familienstrukturen mit ein und beleuchtet Fragestellungen rund um Nation und Nationalismus ebenso wie das Verhältnis der
Region zum Westen.
Diese Vielfalt birgt den Nachteil in sich,
dass die einzelnen Themen vereinfachend dargestellt werden. Allerdings
werden stets Querverbindungen aufgezeigt, so dass der Blick aufs Ganze nicht
verloren geht. Dank der zu jedem Kapitel
angegebenen Literatur zur Vertiefung
kann das Buch gut als Einstieg für eine
intensivere Auseinandersetzung bzw.
als Nachschlagewerk verwendet werden. Der Anspruch, wenig beachtete
Zusammenhänge aufzuzeigen und so
zum Verständnis für aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen beizutragen, wird erfüllt. Hilfreich ist dabei,
dass das Lehrbuch komplexe Zusammenhänge in einfacher Sprache darstellt
und einordnet. Auch aus diesem Grund
sei es Studierenden nicht nur fiktiver
Studienrichtungen wie auch einem
nicht akademischen Publikum wärmstens empfohlen.
Mirjam Zbinden, Fribourg
Stefan Kube
Balkan und Naher Osten
Karl Kaser
Balkan und Naher Osten
Einführung in eine gemeinsame Geschichte
Wien: Böhlau Verlag 2011. 462 S.
ISBN 978-3-205-78624-5. € 29.90; CHF 43.50.
Die Monographie von Karl Kaser, Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz, richtet
sich an «fiktive Studierende eines nicht
bestehenden Studienfaches» (S. 14).
Gerade darum ist sie interessant für Studierende (und Lehrende) unterschiedlichster Fachrichtungen, von Geschichte,
über Politikwissenschaft, Sozialanthropologie, Slawistik, Orientalistik bis zur
Turkologie. Mit der gemeinsamen Geschichte des Balkans und des Nahen
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Einladung zur
G2W-Jahrestagung 2012
Montag, 23. April 2012
Theologisches Seminar der Universität Zürich
Kirchgasse 9, 8001 Zürich
16.00 Uhr
17.30 Uhr
18.30 Uhr
Öffentliche Mitgliederversammlung
Apéro und Dank an Franziska Rich
Abendveranstaltung zum Thema:
Ökumene vor neuen Herausforderungen
Einführungsreferat von Dr. Dagmar Heller,
Referentin für Glauben und Kirchenverfassung beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf
Fels oder Sand?
Was sind die derzeitigen Herausforderungen
an die ökumenische Bewegung?
Podiumsdiskussion mit: Dr. Dagmar Heller; Prof. Dr. Guido Vergauwen, Präsident der Ökumenekommission der Schweizer Bischofskonferenz; Dr. Evgeny Pilipenko, Dozent an der Gesamtkirchlichen
Aspirantur in Moskau
20:30 Uhr
Schlusswort des Präsidenten
IMPRESSUM
Verein G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und
Gesellschaft in Ost und West
Herausgeber Institut G2W. Ökumenisches Forum für Glauben,
Präsident Prof. Dr. Georg Rich, Aarau Aktuarin Eva Gysel, Wilchingen
Religion und Gesellschaft in Ost und West
Jahresbeiträge, Mitgliedschaften: Kollektiv-A CHF 400.–, einschließlich 3
Birmensdorferstrasse 52, Postfach 9329, CH-8036 Zürich
Abo, Kollektiv-B CHF 200.–, einschließlich 1 Abo; Einzelmitglieder (ohne Abo)
Tel.: 0041 (0)43 322 22 44, Fax 0041 (0)43 322 22 40
CHF 50.– In den meisten Kantonen können freie Zuwendungen an G2W bis
[email protected] | www.g2w.eu
Redaktion Stefan Kube, dipl.theol. (Chefredakteur),
Dr. phil. Regula Zwahlen Guth, Olga Stieger MA
zu 70 % in Abzug gebracht werden (bei zweckgebundenen Spenden für die
Projektarbeit zu 100 %)
[email protected]
Die Meinung der namentlich zeichnenden Verfasser braucht nicht mit der
Meinung der Redaktion übereinzustimmen.
Erscheinungsweise monatlich ISSN 2253-2465
Bezugspreis Jahresabonnement CHF 80.–/€ 65.–;
Abonnement für Studierende CHF 40.–/€ 32.–; Einzelheft CHF 10.–/€ 7.–
Bezugsbedingungen Bestellungen sind an das Institut G2W zu richten. Das
G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in
Ost und West – Deutsche Sektion e. V.
Präsident Bischof em. Dr. h.c. Rolf Koppe, Am Papenberg 5c,
DE – 37075 Göttingen
Geschäftsführer Heiner Hesse, Max-Josef-Metzger-Strasse 1,
Abo gilt für ein Jahr und verlängert sich, wenn es nicht bis zum 15. November
DE – 39104 Magdeburg
schriftlich beim Institut G2W gekündigt wird.
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Postbank Karlsruhe, Konto-Nr. 70346-757, BLZ 660 100 75
G2W – Deutsche Sektion e. V. ist laut Bescheid des Finanzamtes Magdeburg
Postsparkasse Wien, Konto Nr. 2380.515, BLZ 60 000
vom 14. 6. 2007 von der Körperschaftssteuer befreit, weil
Produktion Medienpark, Zürich Druck Schlaefli & Maurer AG, Interlaken
sie ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken dient.

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