Album Auschwitz – Fotografien als historische

Transcrição

Album Auschwitz – Fotografien als historische
FOTOGRAFIEN ALS HISTORISCHE DOKUMENTE
Album AUSCHWITZ
Von Nina Springer-Aharoni
Eine Kamera ist ein sehr ausdrucksstarkes Instrument. Durch das visuelle
Festhalten des Bruchteils einer Sekunde wird dieser Moment für alle Ewigkeit
bewahrt. Historiker betrachten die Kamera deshalb als einflussreiches, wichtiges
historiographisches Hilfsmittel.
Aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust sind uns zahlreiche
fotografisch festgehaltene Momente und Szenen erhalten geblieben. Einige, wie
das Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto, sind uns so vertraut und
bekannt, dass wir meinen, uns diese Zeit ohne sie kaum vorstellen zu können.
Wir begreifen sie als Symbole einer dunklen Epoche der europäischen
Geschichte.
Das NS-Regime hatte die Macht der Kamera mit ihren positiven, aber auch ihren
negativen Möglichkeiten erkannt. Während ihrer Herrschaft machten sich die
Nazis dieses Instrument voll und ganz zu Nutzen. Sie veröffentlichten
hunderttausende antisemitisch geprägter Fotos, um auf diese Weise die
öffentliche Meinung in Deutschland zu manipulieren und den Deutschen mit dem
Einsetzen der antijüdischen Aktionen einen ideologisch gefärbten Antisemitismus
einzuimpfen. Während der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze, der
"Arisierung" jüdischen Eigentums, der Errichtung der Ghettos, der Deportationen
in die Konzentrationslager und selbst bei der Durchführung der "Endlösung" war
die Kamera ein wichtiges Hilfsmittel der Nazis.
Die Kamera diente jedoch auch den Befreiern. Die Soldaten der Alliierten nutzten
sie
häufig,
um
zu
dokumentieren,
was
sie
bei
der
Befreiung
der
Konzentrationslager sahen. Nach dem Krieg wurden Fotos in vielen Fällen wie
Augenzeugen und als belastendes Beweismaterial gegen Naziverbrecher
eingesetzt. Viele Persönlichkeiten der ehemaligen NS-Führung konnten so im
Laufe der Jahre in den Nürnberger Prozessen, dem Eichmann-Prozess in
Jerusalem und anderen NS-Prozessen verurteilt werden.
Fotos scheinen einen direkten Zugang zur Realität zu ermöglichen. Sie erfassen
einen Augenblick, auch wenn die Realität dieses Moments bereits der
Vergangenheit angehört,
und dokumentieren ihn bildlich. Die auf diese Weise im Bild festgehaltene Zeit
hinterlässt im Gedächtnis des Einzelnen einen unauslöschlichen Eindruck und
bleibt für alle Zeiten ein öffentliches Vermächtnis. Dieses visuelle Zeitfragment
erlaubt dem Betrachter wieder und wieder hinzusehen und sich auf
die
Einzelheiten zu konzentrieren, die dann Gedanken und Erinnerungen wachrufen.
Dies verleiht den Fotografien eine große Macht, die selbst im Zeitalter des Films
nicht an Bedeutung verloren hat.
Trotzdem
haben
Fotografien
als
historische
Dokumente
auch
eine
problematische Seite. Obwohl man sie als Produkt einer rein technischen
Aktivität ansehen kann, sind sie nicht notwendigerweise objektiv. Wie alle
historischen Dokumente haben auch Fotografien eine persönliche Perspektive.
Der Fotograf wählt die Zeit und den Blickwinkel und kann verschiedene
manipulative Techniken einsetzen, wie z. B. die Arbeit mit Licht und Schatten,
das
Verwischen
oder
Betonen
der
Konturen,
die
Verkleinerung
oder
Vergrößerung des Objekts. Und nachdem die Arbeit des Fotografen beendet ist,
kommen weitere Faktoren ins Spiel, die das Endprodukt beeinflussen und
verändern können. Der thematische Rahmen des Fotos, der Zusammenhang, in
dem es gedruckt wird, aber auch die Formulierung der Bildlegende können zu
unterschiedlichen Interpretationen führen und auf diese Weise Einfluss auf die
historische Wahrheit nehmen. Historiker müssen deshalb die Details eines Fotos
ebenso kritisch untersuchen, wie sie es bei einem historischen Quellentext tun
würden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Identifizierung der auf dem
Foto abgebildeten Personen, des Fotografen, überhaupt so vieler Einzelheiten
wie möglich, und das genaue Datum des Fotos.
Das Einsetzen von Kameras während der NS-Zeit
Der Fotojournalismus hatte in den Jahren vor der nationalsozialistischen
Machtergreifung einen Höhepunkt erreicht. Fotografien erzielten allgemeine
Aufmerksamkeit dank der Herstellung kommerzieller Kameras und ihrer Nutzung
durch eine breite Öffentlichkeit. Die tragbare Leica-Kleinbildkamera, die an Stelle
der
feststehenden
Großformatkamera
trat,
eröffnete
neue
fotografische
Möglichkeiten. Es war nun möglich, spontane Aufnahmen im Freien aus vielen
verschiedenen Blickwinkeln zu machen.
Die Nazis nutzten die Kamera als Hilfsmittel, um das Dritte Reich und seine
Führungsschicht zu verherrlichen, um Menschen zu überzeugen, die öffentliche
Meinung zu manipulieren und die nationalsozialistische Rassenlehre zu
verbreiten. Sie waren sich aber auch bewusst, dass Fotografien als
Beweismaterial gegen sie benutzt werden konnten. Aus diesem Grund wurden
Gesetze verabschiedet, die das Fotografieren in den Ghettos, Lagern und
anderen "kritischen" Gegenden untersagten. Professionelle NS-Fotografen
arbeiteten unter der direkten Aufsicht der Regierung. Die Fotografen in den
Propagandaeinheiten an der Front, Pressefotografen, aber auch unabhängige
Fotografen, die für die ausländische Presse in Deutschland arbeiteten,
unterlagen alle einer strengen Zensur.
Es gab jedoch auch Personen, die ungehindert Fotos machen konnten und dabei
viel schwieriger zu kontrollieren waren: Deutsche Zivilisten, die Kameras
besaßen und deutsche Soldaten, die ihre Kameras mit an die Front nahmen,
dokumentierten das dort Erlebte in persönlichen Alben. Hunderte von
Fotografien, z. T. in Farbe, zeigen das Leben der Juden in den großen Ghettos,
wie z. B. im Warschauer Ghetto, aber auch in den kleineren Ghettos. Fotoserien
und persönliche Alben deutscher Soldaten und Polizisten verewigten den
"jüdischen Typus" vor dem Hintergrund von Armut, Hunger und überfüllten
Ghettos. Sie dokumentieren die Misshandlung von Juden, die "Aktionen" und die
Deportationen. In einigen Fällen machten deutsche Soldaten sogar Aufnahmen
der Morde, die von Mitgliedern der Einsatzgruppen ausgeführt wurden. Weil sie
befürchteten, dass dieses Material bekannt werden könnte, ließen die
Befehlshaber der Wehrmacht das Fotografieren verbieten und ordneten an,
Fotos von den Aktivitäten der Einsatzgruppen zu konfiszieren.
Auch jüdische Fotografen in Deutschland dokumentierten diese Zeit mit ihren
Kameras. Die bekanntesten unter ihnen, die während der Weimarer Republik
noch für die deutsche Presse gearbeitet hatten, wurden mit dem Erlass der
Nürnberger Rassengesetze entlassen. Ein Teil arbeitete danach für die jüdische
Presse, die bis zu den Deportationen weiterhin aktiv blieb. Sie hinterließen
wertvolle fotografische Dokumentationen über das Leben der jüdischen
Gemeinschaft in Deutschland. Fotografen wie Mendel Grossman im Ghetto Lodz
und Zvi Hirsch Kadushin (George Kadish) im Ghetto Kovno benutzten ihre
Kameras um das Ghettoleben zu dokumentieren. Sammlungen ihrer Fotos
befinden sich heute in den Archiven und dienen den kommenden Generationen
als Zeugnisse und historische Dokumente.
Das "Auschwitz-Album"
Ein außergewöhnliches visuelles und historisches Dokument
Im Jahr 1980 wurde das "Auschwitz-Album" von Lili Jacob an Yad Vashem
übergeben. Laut den Untersuchungen und Labortests von Prof. Gerhard
Jagschitz von der Universität Wien handelt es sich dabei um das in Auschwitz
hergestellte Originalalbum. Das Album enthält heute 198 Fotos, darunter eine
Reihe von Duplikaten. Auf der Innenseite der vorderen Einbanddecke steht eine
Widmung in schlechtem Deutsch, die jedoch in keinerlei Verbindung zu dem
Inhalt der Fotos steht. Die Titelseite zeigt zwei Fotos mit Gruppen von Juden -in
Profil- und Frontalansicht- im Stil antisemitischer Propagandaaufnahmen.
Darunter steht die handschriftliche Bildlegende "Umsiedlung der Juden aus
Ungarn". Die übrigen Fotografien sind thematisch geordnet und werden ebenfalls
von Bildlegenden begleitet.
Die Sammlung dieser Fotos steht in direkter Verbindung mit der "Endlösung". Es
handelt sich hierbei um ein außergewöhnliches Dokument, ein bisher
einzigartiges visuelles Zeugnis über die Ermordung der Juden in den
Vernichtungslagern. Die Kamera begleitet einen Transport ungarischer Juden
aus Transkarpatien, von dem Moment an, in dem sie aus den Güterwaggons an
der Rampe in Auschwitz-Birkenau steigen. Sie begleitet die Trennung der
Männer von den Frauen und Kindern, den Selektionsprozess und die
Desinfizierung und folgt den Juden bis zu den Vernichtungsanlagen im Lager.
Sie erfasst das Leid der Neuankömmlinge, das Chaos und den Tumult der
Massenankunft an der Rampe, die SS-Männer und Häftlinge in gestreiften
Häftlingsuniformen, die die Neuankömmlinge weiterstoßen. Zum ersten Mal wird
hier der Begriff "Selektion" bildlich festgehalten. In den letzten Bildern
konzentriert sich die Kamera auf das Sammeln und Ordnen des persönlichen
Eigentums der Opfer durch die Häftlinge der "Kanada"- Baracke. Der
Massenmord selbst wurde nicht aufgenommen.
Bis heute konnten nur drei Aufnahmen gefunden werden, die das "AuschwitzAlbum" vervollständigen und den Massenmord dokumentieren. Die Fotografen
des Albums sahen davon ab, diese Szenen zu fotografieren. Eine Aufnahme
zeigt nackte Frauen, die zu den Gaskammern geführt werden. Die anderen
beiden Aufnahmen zeigen Männer des Sonderkommandos, die zwischen den
Leichen der Opfer stehen und ihnen den Schmuck abnehmen. Diese Aufnahmen
repräsentieren das letzte Glied des Vernichtungsprozesses, den das "AuschwitzAlbum" dokumentiert. Sie wurden heimlich neben den Krematorien in Auschwitz
gemacht, wahrscheinlich von einem Mitglied des Sonderkommandos, und von
der Widerstandsbewegung während des Krieges aus dem Lager geschmuggelt.
Wer machte die Aufnahmen des "Auschwitz-Albums"?
Diese Frage wurde während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses im Jahr 1964
gestellt. Der "Erkennungsdienst" in Block 26 von Auschwitz I bestand aus zwei
SS-Männern. Bernhard Walter fungierte als Leiter des "Erkennungsdienstes",
Ernst Hoffmann als Fotograf. Etwa zehn bis zwölf Häftlinge unterstützten sie in
ihrer Arbeit. Ihre Hauptaufgabe war es, die Häftlinge für die Akten zu
fotografieren. Diesen Fotos wurden auch Fingerabdrücke beigefügt. Von Zeit zu
Zeit machten sie auf Anordnungen von SS-Ärzten und Lagerkommandant Rudolf
Höss auch weitere Aufnahmen.
Es wird allgemein angenommen, dass die Aufnahmen des "Auschwitz-Albums"
vor allem von dem Fotografen des "Erkennungsdienstes", Ernst Hoffmann,
stammen. Der Leiter, Bernhard Walter, hat von den Aufnahmen gewusst und
Hoffmann in seiner Arbeit unterstützt.
Die hohe technische Qualität der Fotos fällt sofort auf. Sie wurden offensichtlich
mit großer Sorgfalt geplant und aufgenommen. Der Fotograf versuchte sowohl
die Ereignisse auf der Rampe zu erfassen als auch einen allgemeinen Überblick
über den Ort und das Geschehen zu bieten. Er fotografierte aus der Entfernung
und von oben mit Weitwinkelobjektiven. In den Nahaufnahmen wird manchmal
auch die Reaktion der Menschen auf die Gegenwart des Fotografen sichtbar.
Ein Teil der Fotografien wurde von den Dächern der Güterwaggons oder vom
Wachturm aus gemacht. Dies erforderte vom Fotografen eine große physische
Mobilität im Lager und an der Rampe.
Die Aufnahmen des "Auschwitz-Albums" entstanden nicht überstürzt oder in Eile.
Die Fotografen müssen viele Stunden an der Rampe verbracht haben. Ihre
Arbeit wurde in aller Öffentlichkeit und zweifellos mit dem Mitwissen der
Lagerkommandantur geleistet. Auch das Album selbst wurde fachmännisch
gestaltet, im Geist der NS-Fotografie.
Die Fotografien des "Auschwitz-Albums" enthalten einige antisemitische
Elemente, die für die Aufnahmen von professionellen NS-Fotografen typisch
sind. Ein behinderter Jugendlicher, zwei Geisteskranke, ein alter Mann und eine
alte Frau werden in Nahaufnahmen gezeigt. Das ist die allgemein bekannte
Methode der Nazis die Juden als degeneriert, anomal und für die Gesellschaft
nutzlos darzustellen.
Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass das Auschwitz-Album" der
antisemitischen Propaganda dienen sollte. Man kann nur definitiv schlussfolgern,
dass es sich bei den Fotografen um professionelle NS-Fotografen gehandelt
haben muss. Es scheint, dass das NS-Regime diese Fotografen regelmäßig
indoktrinierte und instruierte.
Visualität
als
zusätzliche
Dimension -
das
"Auschwitz-Album"
als
Hilfsmittel
für Identifizierungen und die Datierung der Aufnahmen
Das "Auschwitz-Album" ist ein gutes Beispiel dafür, auf welche Weise
Fotografien als historisches Zeugnis und damit als entscheidender Beitrag für die
Forschung dienen können. Auf den Aufnahmen sind die neuen Gleise sichtbar,
die in Birkenau bis wenige Meter vor dem Krematorium gelegt wurden. Diese
Gleise waren erst wenige Tage vor den Aufnahmen in der Erwartung großer
Transporte aus Ungarn gelegt worden. Auf den Fotos kann man erkennen, dass
diese Gleise bereits genutzt wurden. Daraus geht hervor, dass die Aufnahmen
nach dem Legen der neuen Gleise, d.h. nach Mitte Mai 1944, gemacht sein
müssen. Nach Zeugenaussagen von Überlebenden traf der fotografierte
Transport am Vorabend von Schavuot, am 6. Sivan (27.-28. Mai 1944) ein.
Die Kamera kann auch bei der Identifizierung der Menschen auf den Aufnahmen
des „Auschwitz-Albums" behilflich sein. Überlebende konnten auf diese Weise
Verwandte aus Bilke, Tacovo (ungarisch: Técso), Uzhhorod (ungarisch: Ungvàr)
und anderswo identifizieren. Daraus lassen sich Schlüsse über die Herkunftsorte
der Transporte und ihre Ankunftsdaten ziehen.
Lili erkannte zuerst sich selbst und Mitglieder ihrer Familie. Weitere Juden aus
Bilke konnten von überlebenden Verwandten identifiziert werden. Rabbiner
Bernhard Farkas aus Ungvàr, der das Album in den 1950er Jahren sah,
identifizierte Bekannte auf den Fotos und konnte so bestätigen, dass die Juden
auf einigen der Aufnahmen aus Ungvàr deportiert worden waren. In den 1980er
Jahren wurden viele weitere Menschen von Überlebenden aus Tacovo
identifiziert.
Mit Hilfe der Kamera konnte auch der Nazi Stefan Baretzki identifiziert werden,
der auf den Fotos des Albums auf der Rampe in Auschwitz zu erkennen ist.
Aufgrund eines Fotos konnte er 1964 in Frankfurt vor Gericht gestellt werden.
Die
Auswahl
der
Fotos
des
"Auschwitz-Albums",
einschließlich
der
dazugehörigen Bildlegenden, ist tendenziös. Die Formulierung der Bildlegenden
und die darin gewählten Begriffe stellen die Ankunft der Juden in Auschwitz
einseitig und verkürzt dar. Hier sollte die NS-Version der Geschichte der
"Umsiedlung der Juden aus Ungarn" präsentiert werden. Man kann das
"Auschwitz-Album" daher auch wie ein Kapitel aus einem Geschichtsbuch der
Nazis lesen.
Die Fotos des Albums mit ihren Begleitlegenden repräsentieren ein gutes
Beispiel dafür, wie Fotos als historische Dokumente manipuliert werden können.
Die NS-Tarnung ist perfekt und bietet keinerlei Hinweise auf die "Endlösung".
Diese Fotos sind der einzige Beweis für die Ankunft dieser Menschen im
Vernichtungslager Auschwitz. Die meisten tauchen in den schriftlichen
Dokumenten, Zahlen und Listen der registrierten Häftlinge in Auschwitz nicht auf.
In den Lagerdokumenten werden diese "arbeitsuntauglichen" Frauen, Kinder und
alten Menschen nirgends erwähnt. Das Album ist so der einzige Beweis dafür,
dass sie nach Auschwitz deportiert wurden.
Aus NS-Perspektive gesehen präsentiert das "Auschwitz-Album" ein Kapitel, das
"Umsiedlung der Juden aus Ungarn" genannt wurde. In der jüdischen
Geschichtsschreibung dient es als Beweis für die Vernichtung von fast einer
halben Million ungarischer Juden.
Nina Springer-Aharoni: Fotografien als historische Dokumente, in: Israel Gutman
(Hg.): Das Auschwitz-Album. Geschichte eines Transports, Yad Vashem 2002,
Wallstein 2005.