Untitled - Zephyr Mannheim

Transcrição

Untitled - Zephyr Mannheim
DIE STADT
DER
FRAUEN
MIROSLAV
TICHÝ
DER MYTHOS TICHÝ
2004 erschien der tschechische Fotograf Miroslav Tichý (1926 – 2011)
mit seinem ungewöhnlichen Œuvre wie ein Komet am Kunsthimmel.
Die Kunstwelt staunte, wie es sein konnte, dass ein Fotograf in
bitterer Armut, gesellschaftlich isoliert, drangsaliert von den lokalen
Autoritäten und trotz seelischer Probleme ein derart modernes und so
beeindruckendes Werk erstellen konnte – und dass niemand davon
wusste. Ausstellungen in Zürich, Paris, New York oder Moskau feierten
den „edlen Wilden“ Tichý und natürlich seinen Entdecker Roman
Buxbaum, der die Ausstellungen umsichtig platziert hatte. Im Zuge
unserer Recherchen für die Ausstellung „Die Stadt der Frauen“ gelang
es uns, durch die Befragung zahlreicher Zeitzeugen bislang nicht
bekannte wesentliche Details aus dem Leben des Fotografen und aus
seiner Vermarktung zu klären und damit den aufgebauschten Mythos
Miroslav Tichý zu revidieren.
Jenseits der überzogenen Darstellung seines Lebens ist Miroslav Tichý
ein großartiger Fotograf und Dokumentarist. Darum widmen wir dem
Werk des visionären Künstlers diese umfangreiche Ausstellung mit
etwa 180 Werken von Sammlungen aus der Schweiz, aus Tschechien,
Frankreich und Deutschland. Wir präsentieren Ihnen überwiegend
bisher ungezeigte Aufnahmen und nähern uns dem Phänomen Tichý
in der Ausstellung ästhetisch und im Katalog historisch an. Die
Ausstellung wie auch der begleitende Katalog stellen deshalb nicht nur
das künstlerische Werk, sondern auch das unkonventionelle Leben des
tschechischen Künstlers in den Mittelpunkt.
DAS LEBEN
Miroslav Tichý wurde 1926 in Südmähren geboren und wuchs in der
tschechischen Provinzstadt Kyjov auf. 1946 ging er zum Studium der
Malerei an die Akademie der Bildenden Künste nach Prag und stand
dort im Austausch mit der Avantgarde der tschechischen Kunst- und
Kulturszene.
Parallel zur kommunistischen Machtübernahme nahm Tichýs Leben
1948 eine drastische Wendung: Bis zu den Recherchen für die
Mannheimer Ausstellung war unbekannt, dass er wohl vor allem wegen
des erzwungenen Scheiterns einer Liebesbeziehung sein Kunststudium
abbrach und in die Heimatstadt Kyjov zurückkehrte. Dort schlüpfte er
wieder bei seinen Eltern unter, in deren Haus er von nun an zeitlebens
wohnte. Aufgrund psychischer Schwierigkeiten folgten mehrere kurze
Aufenthalte in einer nahe gelegenen psychiatrischen Klinik.
Tichý war in Kyjov als Künstler durchaus etabliert, er war mit Künstlern,
Intellektuellen und Oppositionellen befreundet und es gelang ihm, sich
erfolgreich dem sozialistischen Ideal zu entziehen. Sein subversiver
Geist spiegelte sich in seiner ungewöhnlichen Lebensweise und
seinem Aussehen wider. Entgegen der im Tschechischen Sozialismus
festgelegten Pflicht, einen Beruf auszuüben, widmete sich Tichý
gänzlich seiner Kunst ohne Staatskünstler zu sein. Als einer der ganz
wenigen in seiner Stadt weigerte er sich, zur Wahl zu gehen, ließ die
Haare und den Bart lang wachsen und trug stets ein und denselben, mit
den Jahren zur lokalen Kuriosität gewordenen Mantel. Wiederholt geriet
er als freiheitsliebender Mensch massiv mit den lokalen Autoritäten
des sozialistischen Regimes in Konflikt und musste dafür u.a. mit einer
Haftstrafe aus fadenscheinigem Grund büßen.
DIE FOTOGRAFIE
Schon in den 1950er Jahren hatte er begonnen, mit der Fotografie
zu experimentieren. Anfang der 70er Jahre wurde dann sein Atelier
zwangsenteignet und seine Gemälde buchstäblich auf die Straße
geworfen. Kurz darauf gab er die Malerei auf und konzentrierte sich
nunmehr gänzlich auf die Fotografie und die Zeichnung. In diesen
Medien schuf er, weithin unbeachtet und überwiegend heimlich, ein
ungeheures Werk.
Bis in die 1990er Jahre fotografierte Miroslav Tichý die Frauen seiner
Heimatstadt Kyjov. Er benutzte alte russische Kameras, solche aus DDRProduktion oder selbst gebaute Apparate, die er aus gesammeltem
Material konstruierte und zusammensetzte. Analog zur sozialistischen
Planwirtschaft hatte er sich die Norm gesetzt, 100 Bilder pro Tag zu
fotografieren, das wären gut 36000 Fotos im Jahr. Aus der Vielzahl der
Aufnahmen entwickelte und vergrößerte er eine Auswahl. Diese Bilder
bearbeitete er, beschnitt sie, oder zeichnete bestimmte Details nach.
Einen Teil der Fotografien montierte er auf und in selbst gestaltete
Rahmen.
DER RUHM
2004 präsentierte Harald Szeemann Tichýs singuläres Werk auf
der Biennale in Sevilla, was den Fotografen schlagartig berühmt
machte. Fortan kümmerte sich eine Stiftung in Liechtenstein um sein
Werk. Galeristen in aller Welt vertrieben seine Fotografien. Große
Museumsausstellungen und die rasante Entwicklung des Preises für
seine Aufnahmen auf dem Kunstmarkt faszinierten die Medien. Doch
trotz seines plötzlichen Ruhmes beharrte Miroslav Tichý auf seinem
zurückgezogenen und asketischen Leben in materieller Armut und
versuchte sich bis zu seinem Tod der Inbesitznahme seitens der
Kunstwelt zu verweigern.
Die Mehrzahl der Bilder, die wir von Tichý kennen, ist heimlich oder
unbeobachtet aufgenommen. Beinahe immer sind sie jedoch im
öffentlichen Raum entstanden. Das Moment der Heimlichkeit überträgt
sich dadurch auf das Bild, dass Tichý das Private oder gar Intime im
Öffentlichen erkennt und in seinen Bildern zu fixieren sucht. So sind Tichýs
Arbeiten eine Hommage an die Frau, unabhängig von Alter oder Statur.
Seine Modelle fand der Fotograf auf der Straße oder dem Marktplatz,
in Geschäften, im Park oder im örtlichen Schwimmbad. Durch Tichýs
Augen sieht der Betrachter in den Bildern die Schönheit der weiblichen
Gestalt, ihre Posen und ihre erotische Ausstrahlung, die Tichý selbst
in banalen Alltagssituationen finden konnte. Er bemühte sich jedoch,
die Grenze zum Voyeurismus oder zur sexuellen Eindeutigkeit nicht
zu überschreiten und wahrte in seinen Fotografien einen respektvollen
Abstand zu den von ihm Abgebildeten. So sind seine Fotografien nicht
nur sozial bedeutsame Dokumente der Zeitgeschichte, sondern auch
mit persönlicher Bedeutung aufgeladen. Sie sind Fragmente einer
imaginären und sehr intimen Welt, die nur von Frauen bevölkert ist und
die eigentlich nur für die Augen des Künstlers bestimmt war.
KATALOG ZUR AUSSTELLUNG DIE STADT DER FRAUEN
Zur Ausstellung erscheint beim Kehrer Verlag ein begleitender Katalog
mit Texten von Dr. Milan Chlumsky, Isabel Koch, Marc Lenot, Dr. Thomas
Röske und Thomas Schirmböck. Der Katalog recherchiert erstmals
unabhängig Tichýs Leben und Kunst anhand gesicherter Quellen
und unabhängiger Zeitzeugen und untersucht die kunsthistorische
Rezeption und ästhetische Strahlkraft Miroslav Tichýs. So gelang es,
sein Leben in relevanten Teilen neu zu erzählen: Hinter dem schwer
fassbaren Mysterium Tichý erschien ein intelligenter, gebildeter
und freiheitsliebender Künstler, der sich radikal gegen jegliche
Vereinnahmung zu wehren versuchte.
Courtesy L. & N. Kalischek
PORTRÄTS
Den Auftakt zur Ausstellung „Die Stadt der Frauen“ bildet das
Kabinett „Porträts“. Hier finden Sie zwei Fotografien von jungen
Frauen mit lockigem Haar (Nr. 1, Nr. 2), die eine im Profil nach rechts
blickend, die andere im Halbprofil nach links unten sehend. Die eine,
sommerliche, ist offensichtlich aus geringer Entfernung vor einem
Gebüsch aufgenommen, während die andere, winterliche, aus größerer
Entfernung fotografiert zu sein scheint. Beide Bilder sind beschädigt.
Auf das eine ist rechts unten Tinte oder Tusche gelaufen, das andere
trägt im Haarbereich des Modells eine Überlagerung, die vermutlich
durch einen Schaden in der Emulsion oder während der Vergrößerung
entstanden ist. Hierdurch entsteht der Eindruck, die Porträtierte trage
eine Haube. Die stille Eindringlichkeit beider Bilder überrascht. Der
Gedanke, die beiden Porträts stellten ein und dieselbe Person im
Abstand von einigen Jahren dar, ist nicht von der Hand zu weisen.
Beide Frauen scheinen von ihrer Außenwelt abgeschieden zu sein, ganz
in Gedanken verloren ruhen sie in sich. Es ist schwer vorstellbar, dass
die Dargestellten den Künstler bei der Aufnahme nicht bemerkt haben.
Vielleicht duldeten sie es, oder sie waren mit Tichýs Anwesenheit
sogar vertraut. Vielleicht gingen sie aber, wie viele Stadtbewohner
Kyjovs, davon aus, dass die ungewöhnlich aussehenden Kameras, die
der als verschroben geltende Künstler mit sich herum trug, gar nicht
funktionierten. Neben handelsüblichen Kameragehäusen benutzte
Miroslav Tichý damals nämlich vorwiegend selbstgebaute Kameras,
die er aus den unterschiedlichsten Materialien zusammenbaute. Die
Linsen für seine Objektive konnten Brillengläser oder selbstgeschliffene
Plexiglasscheiben sein, den Tubus des Objektivs bildete ein mit Teer
oder Gummi abgedichtetes Rohr aus Pappe. Dadurch muteten
diese Kameras kurios antiquiert an; heute erinnern sie uns eher an
zeitgenössische Objektkunst. Wie sie auf die Menschen der 70er
und 80er Jahre wirkten? Gewiss nicht wie das Handwerkszeug eines
Künstlers, der gerade dabei war, einen Bereich der Fotografie ganz neu
zu erfinden.
Immer wieder werden Sie in dieser Ausstellung Bilder finden, in denen
die Frauen Tichý mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen
begegnen. Hier findet eine Interaktion zwischen der Porträtierten
und dem Fotografen statt, die sich in einem direkten Blickkontakt
spiegelt. Wir wissen (siehe „Zeitzeugen erzählen” im Katalog), dass
Tichý den Frauen Kyjovs gegenüber wie ein wahrer Gentleman auftrat:
Wiederholt wurde er als höflich, freundlich und mit wohlklingender
Stimme sprechend beschrieben. Dies kontrastierte natürlich mit seinen
zotteligen Haaren, dem kräftigen Bart und seinem berühmten Mantel,
den er solange trug, bis er nur noch durch Flicken und Reparaturfäden
zusammengehalten wurde.
Die Momente des Erkennens des Fotografen, der kleine freudige
Augenblick der Erkenntnis, löste die Gesichter in eine große Heiterkeit
auf: Schön zu sehen ist dies an der Aufnahme einer dunkelhaarigen Frau
(Nr. 6), die − vielleicht in einer Küche − vor einem offenen Regal kniet
und von Töpfen, Schüsseln und Auflaufformen umgeben ist. Es ist auf
jeden Fall ein privater Raum, in dem sich auch Tichý aufhielt, der, dem
Gesichtsausdruck der Frau nach zu urteilen, ein durchaus willkommener
Gast war. Der Blick der Frau verrät Heiterkeit und Vergnügtheit, auch die
räumliche Nähe der beiden könnte auf eine freundschaftliche Beziehung
zwischen ihnen hindeuten. Auch die junge Frau (Nr. 5), deren Bild der
Künstler mit einem braunen Leinenpassepartout mit Schrägschnitt
umgeben hat, zeigt diese ansteckend fröhliche Stimmung. Lachend
geht die Dunkelhaarige dem Fotografen entgegen, nichts kann sie in
ihrer strahlend guten Laune aufhalten.
Courtesy L. & N. Kalischek
Betrachtet man jedoch die Bilder, auf denen die Frauen den Blick nach
unten richten, und die anscheinend im öffentlichen Raum aufgenommen
wurden, scheint es, dass die Porträts ohne das Wissen der Dargestellten
entstanden sind, oder auch dass den fotografischen Objekten die
Aufnahme unangenehm war. Auch hiervon können Sie in „Zeitzeugen
erzählen“ nachlesen.
IM SCHWIMMBAD
Auf den Streifzügen durch seinen Heimatort Kyjov besuchte Miroslav
Tichý in den Sommermonaten oft den Zaun des örtlichen Schwimmbads.
Die Badeanstalt grenzt direkt an den Park, in dem sich Tichý aufhielt,
wenn er die Badenden beobachtete. Das Bad war zu dieser Zeit
von einem Drahtzaun umgeben, der einen guten Einblick von außen
gewährte. Noch heute kann man erkennen, wo Tichý gestanden hat,
auch wenn der lichte Drahtzaun längst durch einen massiven Holzzaun
ersetzt wurde.
Hinter dem Zaun lag, von Büschen und Sträuchern verborgen, der
Tummelplatz des leichtbekleideten Kyjov vor Tichýs Auge und dem
seiner Kamera. Durch die Maschen des Drahtzauns fotografierte er
die weiblichen Badegäste. Er selbst sagte dazu in einem Interview
mit Tomas Zilvar: „Ich habe diese Bilder von einer Position hinter dem
Zaun aufgenommen. Ich hatte mich in den Schatten versteckt und von
dort aus konnte ich in aller Ruhe Fotos machen.“ Tichý war von der
weiblichen Figur fasziniert, und es gab keinen besseren Ort, um diese
fast gänzlich unbekleidet vor zu finden. Durch die Unschärfe seiner
Aufnahmen erscheinen die Abgelichteten sogar manchmal vollkommen
enthüllt.
Die Exponierung des Körpers ist Teil der Badekultur. Sie war den
Frauen, die Tichý fotografierte, durchaus bewusst; sie wussten, dass
sie von den Männern und den anderen Frauen betrachtet wurden. Dies
zeigt sich in den zahlreichen Posen (Abb. 20-21), die die Frauen im
Schwimmbad einnahmen und die vielleicht den anderen Badegästen
galten, sicher nicht Tichý. So genoss dieser ungestört seine Freude
und Lust am beinahe unbekleideten Frauenkörper. In der Alltäglichkeit
des Schwimmbads konnte er sein Studium des weiblichen Körpers am
lebenden Modell fortführen.
Liegend, halb aufgerichtet, sitzend, stehend oder sich anlehnend: Die
Frauen auf den Bildern innerhalb des Kabinettes „Im Schwimmbad“
zeigen sich in einer Vielzahl an Körperhaltungen und Posen. Ebenso
abwechslungsreich präsentieren sich ihre Darstellungen als Ganz- oder
Halbfigur, Hüftbild oder Rückenakt.
Meist ist das Gesicht der Abgebildeten nicht zu erkennen, wodurch der
Schwerpunkt der Bilder auf der Körperlichkeit der weiblichen Gestalt
liegt und die Individualität der Dargestellten in den Hintergrund tritt.
Wie auch bei den Bildern, die an anderen Orten entstanden, scheinen
für Tichý Körperbau, Statur und Alter seiner Modelle keine Rolle gespielt
zu haben. Heute erscheinen uns seine Bilder von frühpubertierenden
Mädchen im Bikini (Nr. 19) vielleicht problematischer als diejenigen von
übergewichtigen Mittsechzigjährigen mit nabelhoher Bikinihose (Nr. 29).
Ihm jedoch ging es stets um eine nicht einfach zu benennende Form der
Anmut und Schönheit, die sich darin finden lässt, wie die jungen
Mädchen miteinander stehen und sich auf den Zaun stützen oder wie
eine Ältere die Beine zierlich voreinander setzt und dabei mit der Hand
die Sicherheit des Liegestuhles sucht.
Courtesy Galerie Walter Keller
Die Aufnahmen mit Szenen aus dem öffentlichen Schwimmbad von
Kyjov sind die vermutlich bekannteste und auch umfangreichste Gruppe
von Tichýs fotografischen Arbeiten, sie machen in dieser Ausstellung
etwa 1/8 der Werke aus. Einzelne Protagonistinnen fotografierte Tichý
über die Jahre hinweg immer wieder, so etwa „Lenka“, die Sie auf Bild
Nr. 22 in einem zweifarbigen Bikini sehen können. Sie wusste darum,
dass Tichý sie immer wieder fotografierte und fühlte sich von seinem
Interesse nicht gestört.
INTIME MOMENTE
Miroslav Tichý war ein scheuer, zurückhaltender Mensch. Gleichzeitig
besaß er den unbedingten Willen, den Frauen seiner Heimatstadt Bilder
abzuringen, die sie ihm in den meisten Fällen nicht freiwillig gegeben
hätten. Trotzdem finden sich in dieser Ausstellung nur zwei, bei denen
wir erkennen können, dass er heimlich in den privaten Bereich hinein
fotografierte. Beide finden sich in diesem Kabinett. Eines zeigt eine
ältere Frau in heller Unterwäsche, die sich in Bauchlage in einem Hof
sonnt (Nr. 51), das andere das Gesäß vermutlich derselben Frau, die
sich gerade in den Vierfüßler-Stand erhebt (Nr. 52).
Vielen der Aufnahmen in „Intime Momente“ ist eine private oder gar
intime Atmosphäre eigen, die sich nicht auf die Umgebung zurückführen
lässt, da die Aufnahmen überwiegend in der Öffentlichkeit entstanden
sind. Während sich im Kabinett „Im Schwimmbad“ überwiegend Bilder
ohne sonderliche Intimität finden, hängen hier einige Straßenszenen,
in denen die Frauen ihre weiblichen Attribute - vielleicht ungewollt,
vielleicht bewusst - in der Sicherheit des öffentlichen Raumes deutlicher
erkennbar präsentierten.
Die überwiegende Mehrzahl der Bilder, die wir von Tichý kennen, scheint
heimlich oder unbeobachtet aufgenommen. Beinahe immer sind sie
jedoch im öffentlichen Raum entstanden. Das Moment der Heimlichkeit
überträgt sich auf das Bild und damit auch auf den Betrachter, da
Tichý das Private oder gar Intime im Öffentlichen erkennt und in seinen
Bildern zu fixieren versteht. Auf eben diese Weise entdeckt man
dann die angesprochene Intimität paradoxerweise weniger in den
Schwimmbadszenen als in den Straßenbildern. Dort suchte und fand
Tichý jene Momente, in denen die Frauen in der scheinbaren Sicherheit
ihrer Kleidung unterwegs waren und er ihre Beine, ihre Brüste, den
Mund oder das Gesäß unter der Kleidung abbilden konnte.
Manchmal wird behauptet, Tichý habe Schnappschuss-Fotografie
betrieben. Dies erscheint unzutreffend, da ein Schnappschuss ein nicht
wiederholbarer und rasch erzeugter Zufallstreffer ist. Im Gegensatz
hierzu war Tichý tagein tagaus unterwegs und unternahm im Gegenteil
alles, um den perfekten Moment zu erhaschen, in dem eine Frau
ihm ungewollt jene Konstellation von Körper, Form und Bewegung
präsentierte, die er sich für seine Aufnahmen ersehnte.
Die Intimität der Aufnahmen Tichýs entsteht durch die kleinen Formate,
das Sujet, die delikate Technik und unser Wissen um die „geraubten“
Aufnahmen. Am Ende stehen wir -genauso wie seinerzeit der Künstler vor den Bildern und sind mit seinen Geschöpfen ganz alleine. Deshalb
haben wir uns bemüht Ihnen durch die Form der Ausstellungspräsentation
die Möglichkeit zu vermitteln, die Bilder von Miroslav Tichý in aller Ruhe
und einer „privaten“ Umgebung zu betrachten.
Courtesy Juli Susin
STRASSENBILD
Das Kabinett „Straßenbild“ versammelt viele der Fotografien, die
Miroslav Tichý beim Flanieren durch die Straßen Kyjovs aufnahm. Das
Spazierengehen in seiner südmährischen Heimatstadt war für ihn mehr
als nur ein tägliches Ritual, es war Teil seiner Lebensphilosophie, die sich
an der griechischen Antike orientierte. Von mehreren Quellen erfuhren
wir, dass Tichý mit seinen Besuchern wie die griechischen Peripatetiker
durch die Stadt ging und über die verschiedensten Themen diskutierte.
Jan Hlaváč, ein langjähriger Freund, erzählte in einem Interview, dass
er bei seinen Besuchen stets mit Tichý spazieren ging und sie sich
dabei unterhielten. Pavel Vančát berichtete ebenfalls, dass der Künstler
mit einem seiner guten Freunde, Zdeněk Vašíček, immer durch Kyjov
spazierte und debattierte.
In seinen fotografischen Arbeiten erkennen wir die Rastlosigkeit
eines Flaneurs. Es hat den Anschein, als habe er eine persönliche,
fotografische Ortsbeschreibung Kyjovs erstellt. Im Hintergrund der
Aufnahmen tauchen immer wieder markante Motive, Orte oder Bauten
auf, die uns erkennen lassen, wo sich der Künstler gerade „herumtrieb“.
Der Marktplatz (Nr. 83) und der Park (Nr. 88), die Leninstatue neben
dem Rathaus, die Kirche mit ihrer eindrucksvollen Treppenanlage bieten
Tichýs Protagonistinnen die Bühne für ihren Auftritt. Er erlief sich seine
Heimatstadt im Wortsinn und kannte vermutlich jeden ihrer Winkel.
Die Bilder der Kategorie „Straßenbild“ sind in der Tradition der
street photography im öffentlichen Raum entstanden. Häufig zeigen
sie Momentaufnahmen von einzelnen Passantinnen oder von
Frauengruppen, die sich vor Schaufenstern oder Geschäften aufhalten
oder einfach die Straße bevölkern.
Die Frauen, die ihm hier über den Weg liefen, scheinen meist in einer
zufälligen Begegnung fotografisch festgehalten. Sie posieren nicht
für die Bilder, vielmehr bildet Tichý ihre natürliche Körperhaltung und
Physiognomie ab. Im Gegensatz zu den Schwimmbadbildern fühlten
sich die Frauen auf der Straße unbeobachtet und waren sich der
Kamera in den meisten Fällen nicht bewusst.
Unter den Straßenbildern finden Sie auch einige der selteneren bloßen
Ortsansichten von Straßenzügen, Häusern oder auch Verkehrszeichen
in Kyjov. Wenn auf diesen Aufnahmen überhaupt Menschen vorkommen,
so stellen die Personen – und das können durchaus auch Männer sein
– hier nur eine Staffage dar.
Courtesy Lydie Cejpová
PAARE UND GRUPPEN
In Tichýs Œuvre finden sich neben einer ganzen Reihe von Porträtaufnahmen auch immer wieder Fotografien von Frauengruppen, die
Tichý in verschiedenen Alltagssituationen aufgenommen hat und die
Sie durchaus auch in den anderen Kabinetten der Ausstellung finden
können: ein Team von Sportlerinnen beim Training, eine Mannschaft
beim Joggen, Frauen beim Einkaufen oder eine Schar spielender
Mädchen vor dem Haus. In diesen Aufnahmen bestimmen die
Interaktion der abgebildeten Personen und die Bewegung die Dynamik
des Bildgefüges. Bewegung spielte, nach eigener Aussage, für Tichý in
der Fotografie eine essentielle Rolle.
Die in dieser Abteilung versammelten Aufnahmen sind sämtlich aus dem
alltäglichen Leben gegriffen, die Beziehungen der Frauen untereinander
manifestieren sich in ihrer Mimik, Gestik und in ihrer Körpersprache.
Zweiergruppen waren für Tichý ein beliebtes, häufig wiederkehrendes
Thema in seinen Bildern. Im Gegensatz zu den Gruppenbildern mit
mehreren Akteuren sind die Aufnahmen von Zweiergruppen jedoch
eher durch eine intime Kommunikation und eine zurückgenommene
Bewegung geprägt. Die Vertrautheit zeigt sich in den einander
zugewandten Körpern, physischer Nähe und Berührungen, wie etwa
einer sanften Umarmung oder gegenseitigem Stützen. Beispielhaft
lässt sich dies bei den beiden jungen Frauen auf der Parkbank (Nr.
98) erkennen, die in ein inniges Gespräch vertieft erscheinen. Tichý
findet den passenden Rahmen für seine Darstellung dieser vertrauten
Zweisamkeit.
Fast ausgeblendet in seinen Gruppenbildern ist jedoch die sicherlich im
Alltag häufig anzutreffende Konstellation von Mann und Frau. In Tichýs
fotografischer Bilderwelt bildet sie eine Ausnahme und existiert nur an
der Peripherie. Eines der wenigen Beispiele ist eine verschwommene
Aufnahme im Kabinett „Im Schwimmbad“, auf der eine Szene dargestellt
ist, in der ein Mann und eine Frau im hohen Gras liegen (Nr. 24). Die
Fotografie gibt die Situation nicht zur Gänze wieder, sondern zeigt uns
nur einen kleinen Ausschnitt. Der Mann scheint seiner Partnerin gerade
das Oberteil hoch zu schieben, so dass ihr entblößter Rücken sichtbar
wird. Die starke Vergrößerung verunklart das Bild und verhilft ihm zu
einer rätselhaften Wirkung. Bei der Person im Vordergrund scheint es
sich zwar um einen Mann zu handeln, gewiss ist das jedoch nicht.
In Tichýs Fotografie blieb wohl die männliche Präsenz vor allem dem
Fotografen vorbehalten: Tichý blendete die Männer in seinen Aufnahmen
aus, blieb also beim Fotografieren ebenso allein mit „seinen“ Frauen,
wie er später die Aufnahmen nur sehr zögerlich mit anderen oder gar
der Öffentlichkeit teilte.
Courtesy Galerie Walter Keller
DOKUMENTE
In dieser Abteilung finden Sie Material aus unterschiedlichen Quellen,
das überwiegend von Menschen stammt, die den Künstler persönlich
und über einen längeren Zeitraum kannten.
Das hier erstmals ausgestellte und erste bekannte fotografische
Selbstporträt gewährt uns einen Blick in die Wohnräume Tichýs in den
späten 70er-Jahren. Ganz hinten sehen wir den Künstler im Spiegel der
elterlichen Stube, die auch die seine war. Vor dem Fenster hängt auf
einem Kleiderbügel sein berühmt gewordener Mantel. Vor dem Künstler
sitzen im Bogen drei Freunde Tichýs, Jan Rajlich, Alena Rajlichová
und Pavel Nedvěd. An den Wänden hängen die Gemälde Tichýs,
säuberlich geordnet stehen in einem Regal die Bücher. Auf dem Hocker
zwischen dem Fotografen und den Freunden liegt ein ganzer Stapel
von Fotografien, obenauf die Porträtaufnahme einer Frau mit kurzen
dunklen Haaren und einem großzügigen Dekolleté. Was fotografierte
der Meister der Unklarheit in jenen Jahren?
Einige Jahre vorher hatte Alena Rajlichová mit ihrer Freundin Libuše
Jacubcová Miroslav Tichý besucht. Während dieses Besuches
entstanden einige Aufnahmen, die uns Tichý in ganz neuem Licht
zeigen. Denn er fotografierte die jungen Frauen mit deren Kamera auf
der Straße vor seinem Haus, wie es für die street photography in jenen
Jahren absolut typisch war. Das Bild ist intim und, verglichen mit seinen
übrigen Aufnahmen, von einer beinahe brutalen Direktheit. Wir spüren
die Vertrautheit zwischen den dreien und erkennen die Virtuosität, mit
der Tichý zu Werke ging: Er war auf der Höhe der Zeit, er wusste, was
er konnte und wie er seine Bilder machen wollte. Hier war nichts zufällig,
alles hatte seinen Platz: die Blicke der jungen Frauen, der dynamische
Tiefenzug der Straße, das Stop-Schild im Bildmittelpunkt, der Schatten
unter den Bäumen und auch der überstrahlende Himmel.
Courtesy Libuše Jacubcová © Libuše Jacubcová
DIE FILME
Die Negativstreifen stellten für Miroslav Tichý einen ersten materiellen
Extrakt seiner künstlerischen Arbeit nach dem Fotografieren dar. Die
Filme, die er nicht etwa portionierte und in handliche Teile zerschnitt,
sondern stets ganz aufbewahrte, erhielten durch die schiere Menge
an Momentaufnahmen pro Tag und die Abfolge der Tage den
Charakter eines fotografischen Tagebuches. Allerdings nicht, indem
sie das Tun eines Künstlers reflektierten, dessen Aktionen sich in ihnen
manifestierten, sondern indem sie die einzelnen Augenblicke seines
Aufnahmerituals dokumentierten.
Die erstmalig in einer Ausstellung gezeigten 10 Filme bieten einen
ungeahnten Einblick in die Arbeitsweise Miroslav Tichýs. Anhand der
Filme und der verschieden geformten Rahmen der Einzelaufnahmen
wissen wir, dass er mindestens vier unterschiedliche Kameragehäuse
verwendete. Außerdem können wir annehmen, dass Tichý mit mehreren
Kameras gleichzeitig arbeitete, denn jene Szenen, die zwei junge
Mädchen mit einem kleinen blonden Jungen zeigen, finden sich auf
zwei Filmen, die erkennbar mit unterschiedlichen Kameragehäusen
gemacht wurden. Einmal sehen wir die drei in neun Aufnahmen auf
dem Weg weg vom Schwimmbad (Film 6), in Film 3 hingegen auf
drei Negativen, wartend und in gleicher Kleidung, möglicherweise vor
dem Schwimmbad. Dank eines weiteren Films (Film 8) erkennen wir
die Rastlosigkeit in Tichýs Umherstreifen besonders deutlich: Er macht
zwei Aufnahmen auf der Straße, treibt zum Schwimmbad, findet dieses
aber zu leer vor, macht dennoch ein Bild, nimmt einen Hof mit auffallend
gewachsenen Bäumen auf und zieht weiter zum Marktplatz, auf und bei
dem er zehn Aufnahmen von Frauen, Mädchen und Familien macht, bis
er für die letzten vier Bilder des Filmes schließlich zwei junge Frauen in
Sommerkleidern auf einem Fabrikgelände beobachtet und fotografiert.
Wir wissen nicht, wie Tichý die Bilder vergrößert hätte oder vielleicht
auch hat. Der Film jedenfalls atmet in jedem seiner Bilder die Hitze eines
herrlichen Sommertages und zeigt die mäandernde fotografische Spur,
die Miroslav Tichý auf seinen Wegen legte.
Die belichteten Filme wurden jeweils zu mehreren aufgerollt und im
Segment einer abgesägten Pappröhre verstaut. Dieses war mit einem
Boden versehen und mit einer Drahtaufhängung, mittels derer Tichý
sein Archiv unter der Decke schwebend aufbewahrte und so vor den
temporären Mitbewohnern Maus und Ratte schützte. Hier schliefen
die Filme in ihren liebevoll gefertigten Kokons aus Pappe, ein jederzeit
griffbereites Archiv und sichtbarer Beweis für Tichýs Bienenfleiß.
Courtesy L. & N. Kalischek
ARBEIT
Die gesellschaftliche Situation der Frauen entwickelte sich in den
sozialistischen Ländern, also auch in der damaligen Tschechoslowakei,
deutlich anders als in Westeuropa. Nach der Machtübernahme 1948
kam es durch die Verstaatlichung des Eigentums und durch die
Industrieförderung zu einem gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften. Die
Konsequenz war die Einbindung der Frauen in die Arbeitswelt, vor allem
in den Sektoren Landwirtschaft und Industrie. Auch sollten sie sich am
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beteiligen. 1961 waren so
bereits mehr als 60 % der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig,
1972 gar 78,5%. (zum Vergleich Deutschland 2012: 71,5%). Der
statistisch hohe Anteil bedeutet natürlich, dass arbeitende Frauen auch
im ländlichen Kyjov über all die Jahre hinweg, in denen Miroslav Tichý
fotografierte, alltäglich waren.
Darum finden sich in dem Kabinett „Arbeit“ Fotografien, die Frauen
bei ihren unterschiedlichen täglichen Beschäftigungen zeigen. Die
Kinderversorgung oder den täglichen Einkauf haben wir den Abteilungen
„Paare und Gruppen“ bzw. „Straßenbild“ zugeschlagen.
Ein beliebtes und deshalb immer wiederkehrendes Motiv Tichýs sind die
Verkäuferinnen hinter den Tresen der Geschäfte. Die Frauen scheinen
ganz in ihre Arbeit vertieft zu sein: Eine Kellnerin mit gesenktem Blick
ist gerade dabei, sich etwas auf einen Zettel zu notieren (Nr. 120);
eine weitere in weißem Kittel, deren Gesicht durch einen Wischer im
Bild kaum erkennbar ist, hantiert an der Registrierkasse (Nr. 121). Es
hat den Anschein, als habe Tichý seine Kamera im Geschäft gerade in
dem Moment gezückt, in dem die Frauen gerade mit etwas anderem
beschäftigt waren, abgelenkt wurden und den Blick abwendeten oder
senkten. Gerade einmal zwei Fotografien zeigen die Verkäuferinnen
mit erhobenem Kopf, den Blick wohl auf einen Kunden (einen anderen
als Tichý) gerichtet (Nr. 123). Die Geschäfte boten Tichý durch ihre
Zugehörigkeit zum öffentlichen Raum eine weitere Möglichkeit, räumlich
nahe zu kommen, eins-zu-eins-Situationen herzustellen und sie für seine
fotografischen Exkursionen zu nutzen. Gewiss half dem Künstler hierbei
die Sicherheit und Geschwindigkeit, mit der er ohne durch einen Sucher
blicken zu müssen seine Aufnahmen machte: „Wenn ich in das Geschäft
ging und die Verkäuferin fotografierte. Ich wusste nicht einmal was ich
sah – ich arbeitete vollkommen automatisch.“ Und doch bedeutete es
sicher immer eine Gratwanderung, hier zu fotografieren, denn anders
als auf der Straße, im Schwimmbad oder auf dem Sportplatz befand
sich Tichý hier in einem begrenzten Raum und in direkterem Kontakt mit
seinen „Modellen“.
Courtesy Prof. Jan Hlavác
PARS PRO TOTO
Ein Paar Beine, ein teilweise entblößter Rücken oder ein Fuß: In Tichýs
Œuvre zeigen zahlreiche Fotografien nur einen Körperteil oder einen
Teilabschnitt des weiblichen Körpers.
Im Kabinett „Pars pro toto“ finden sich folglich Bilder, in denen Tichý
Ausschnitte des weiblichen Körpers in den Mittelpunkt rückte und damit
die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sie lenkte. Diese Ausschnitte
bilden notwendigerweise immer das Fragment eines Ganzen ab.
Tichý gelang es, durch diese ungewöhnliche Blickweise zu zeigen, wie
viel Poesie und Schönheit in einem einzelnen weiblichen Körperteil
gesehen werden kann. Die gerade Linie eines gestreckten Beines,
die weichen Rundungen eines Hinterns oder die sanfte Kurve einer
Schulter, Tichý sah die Anmut des weiblichen Körpers in jedem seiner
Teile. Als Bild funktionieren diese Teilaufnahmen einerseits schon für
sich allein betrachtet in ihrer Komposition. Sie dienen als Verweis auf das
unter diesen Bedingungen nicht sichtbare ästhetische Ganze und sie
spiegeln zudem die kaum zu definierende erotische Ausstrahlung einer
Frau. Wie auch bei seinen anderen fotografischen Werken scheint es
für den Künstler keine Rolle gespielt zu haben, ob die Körperfragmente
jeweils den konventionellen Schönheitsidealen entsprachen. Seine
Auswahl reicht von erkennbar jungen und schlanken Mädchenbeinen
bis hin zu weichen, üppigen Hinterteilen und Brüsten von Damen in
gesetzterem Alter.
In all diesen Aufnahmen spielte Tichý mit dem reizvollen Wechsel von
Ent- und Verhüllung, von Kleidung und nackter Haut. Die Darstellung
des Verbergens und des unter der Verhüllung Verborgenen eröffnet
der Phantasie des Betrachters ein beinahe unbegrenztes und damit
weitaus größeres Feld, als es eine explizite, unverhüllte Darstellung des
hier Verborgenen jemals vermocht hätte. Die erotische Kraft von Tichýs
Bildern entsteht gerade aus Andeutungen, sie wecken Ahnungen und
verbleiben darum meist im Bereich zarter Subtilität. Wohin die Phantasie
des Betrachters mäandern mag, hängt von dessen eigener geistiger
Verfasstheit ab.
Courtesy Gianfranco Sanguinetti
RÄTSEL
Wenn wir heute auf den Kern des Werkes von Miroslav Tichý blicken und
versuchen, diesen mit Tichýs Aussagen zu seiner Kunst zu verknüpfen,
scheitern wir notgedrungen. Der Künstler wollte erkennbar nicht über
sein fotografisches Werk sprechen, während er allzu gerne bereit war,
über seine Malerei Auskunft zu geben. Seine Aussagen blieben bewusst
im Vagen, und dabei half ihm gewiss sein kluges und nachdenkliches
Wesen.
Die fotografischen Bilder, die Sie im Kabinett „Rätsel“ finden, besitzen
ein Momentum, das sie geheimnisvoll erscheinen lässt. Es ist nicht
eindeutig zu erklären, was genau man in ihnen erkennen kann, und
wenn doch, so bleibt das Rätsel, weshalb die Aufnahme entstand und
was die Dargestellte im Moment der Aufnahme denn eigentlich tat.
Durch diese Unbestimmbarkeit entstehen in manchen Bildern geradezu
surrealistische Wirkungen. Wenn Sie etwa die kurvige Figur der Nr. 153
betrachten, lässt sich trotz einigen Nachsinnens weder bestimmen, wo
die Aufnahme entstand, noch, was sie darstellt – wenn man einmal
davon absieht, dass eine weibliche Figur abgebildet ist. Lichtete Tichý
ein Fernsehbild, eine Porzellanfigur oder eine reale Person ab? Wir
sehen lediglich das Bild eines hellen Körpers in einer Drehung vor
düsterem Hintergrund. Ein Arm ist auf die Hüfte gestützt, der andere
liegt horizontal vor der Brust. Augen, Nase und Mund sind zu erkennen,
und dennoch kann man nicht behaupten, man würde das Gesicht
sehen, so unscharf ist die gesamte Gestalt gegeben.
Oder betrachten Sie die Nr. 152. Was auf den ersten Blick wie ein
Zwerg in einer Umhüllung aussieht, wirkt bei näherem Hinsehen wie
ein Kind in einem Plastikumhang. Vermutlich ist weder der eine noch
das andere dargestellt, sondern eher eine für den Winter verpackte
Steinskulptur im Park. Tichýs Bekannte und Freunde bestätigten dem
Künstler einen ausgesprochenen Sinn für Humor. So findet sich denn
in manchem Bild dieser Abteilung die Bestätigung dafür, dass bei ihm
nichts ist, wie es scheint.
Courtesy L. & N. Kalischek
SPORT UND SPIEL
Auf den täglichen Streifzügen durch die Straßen seines Heimatortes
waren die Sportplätze regelmäßige Anlaufstellen für Miroslav Tichý. In
den wärmeren Monaten des Jahres ließen sich dort trefflich Mädchen und
Frauen fotografieren und dabei beobachten, wie sie die verschiedenen
Sportarten ausübten. So finden sich denn auch in den Bildern dieser
Ausstellung Motive von Schießübungen neben Volleyballerinnen, eine
mutmaßliche Hochspringerin oder eine Gruppe von Läuferinnen, die
während des Laufes gerade viel Spaß zu haben scheinen. Unter den
sportlichen Shorts und den oft enganliegenden Oberteilen zeichnen sich
die weiblichen Rundungen deutlich ab, der Körper unter der Kleidung
lässt sich erahnen. Die Aufnahme (Nr. 157), die sich in einem vielfarbig
gezeichneten Passepartout findet, zeigt die Sportlerin in dem Moment,
in dem sie bei ihrem Lauf mit keinem Bein mehr Bodenkontakt hat. Der
kurze Augenblick des Schwebens zwischen Abstoßen und Landen ist
hier für uns fixiert, die Muskeln der Frau sind angespannt, ihr Körper
in sich verwunden, und die gesamte Haltung drückt die Dynamik des
Laufes aus. Ein wirklich irritierender Effekt entsteht beim Betrachten
des Bildes, wenn man bemerkt, dass die Läuferin unbekleidet erscheint,
obwohl sie wahrscheinlich eine kurze Hose getragen hat.
Geradezu poetisch mutet hingegen die Fotografie von einer
Hochspringerin an (Nr. 162), die gerade - fast einer Balletteuse
ähnelnd - ihr gestrecktes Sprungbein tastend auf den Boden setzt. Wir
sehen nur ihre Beine, ein Stück der Sporthose und den linken Unterarm.
Der Körper wiegt sich gerade nach hinten, das Gewicht liegt auf dem
rechten Standbein, während die Fußspitze des linken Sprungbeins
vorsichtig auf den Boden tippt. Oberhalb der Hüfte ist die Gestalt von
einer weißen Farbfläche bedeckt, auch wenn es scheint, als würde die
Figur noch leicht durchschimmern. Dank dieser Farbfläche konzentriert
sich der Blick des Betrachters einzig und allein auf die Beinhaltung. Hier
vereinen sich Bewegung, Körperspannung, Eleganz und Dynamik in
einer einzigen Geste, die in ihrer Verdichtung wie eine visuelle Metapher
des Sports erscheint.
Anders als im Schwimmbad, das neben dem erfrischenden Bad auch
einen gesellschaftlichen Treffpunkt bot, stand auf dem Sportplatz die
körperliche Betätigung im Vordergrund. Hier fand Tichy die für ihn so
faszinierende Kombination von Körper, Bewegung und Licht: „Wenn Sie
fotografieren, ist die Bewegung das Wichtigste. Und die Komposition.
Licht und Schatten, das ist die Komposition.“
Courtesy Gianfranco Sanguinetti
HANDBUCH ZUR AUSSTELLUNG
MIROSLAV TICHÝ
DIE STADT DER FRAUEN
24.02. – 26.05.2013
Herausgeber: ZEPHYR – Raum für Fotografie
C4.9 / 68159 Mannheim
Texte: Thomas Schirmböck, Isabel Koch
Lektorat: Luisa Reiblich
Gestaltung: Jonas Grossmann / env-design.com
Reproduktionen: Carolin Breckle, Jean Christen
ZEPHYR / Raum für Fotografie
Fon 0621-293 2120 / Fax 0621-293 9539
www.zephyr-mannheim.de
Für alle Abbildungen gilt: © Miroslav Tichý/Jana Hebnarová
außer für das Porträt Miroslav Tichýs von Libuše Jacubcová
BEGLEITPROGRAMM
Dienstag, den 5.3.13 um 20 Uhr
Dr. Jan Pauer
Die kommunistische Tschechoslowakei –
Paradoxien einer Diktatur
Dienstag, den 19.3.13 um 20 Uhr
Filmvorführung
Miroslav Tichý in: Worldstar
Ein Film von Nataša von Kopp
Die Regisseurin ist anwesend.
Dienstag, den 9.4.13 um 20 Uhr
Thomas Schirmböck
Miroslav Tichý: Eine Goldmine in Mähren
Dienstag, den 23.4.13 um 20 Uhr
Marc Lenot
Miroslav Tichý: Die Erfindung eines Künstlers
(in engl. Sprache)
Mittwoch, den 8.5.13 um 20 Uhr
Dr. Milan Chlumsky
Miroslav Tichý als Maler und Zeichner
Dienstag, den 14.5.13 um 20 Uhr
Dr. Thomas Röske, Dr. Milan Chlumsky, Thomas Schirmböck,
Tomáš Zilvar
Wer war Miroslav Tichý?
Eintritt jeweils 3,00 €
Veranstaltungsort: Florian-Waldeck-Saal, C 5 Zeughaus
ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN
03. März, 16 Uhr / 17. März, 16 Uhr / 07. April, 16 Uhr
21. April, 16 Uhr / 05. Mai, 16 Uhr / 19. Mai, 16 Uhr
26. Mai 14 Uhr

Documentos relacionados