DER BESONDERE BUCHTIPP IM APRIL 2004 Souad, Bei

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DER BESONDERE BUCHTIPP IM APRIL 2004 Souad, Bei
DER BESONDERE BUCHTIPP IM APRIL 2004
Souad, Bei lebendigem Leib
Souad ist ein Mädchen von 17 Jahren, als ihre Familie das Todesurteil über sie ausspricht. Sie
hat die Familienehre beschmutzt, weil sie sich verliebt hat und schwanger wurde – was im
Westjordanland einen Ehrenmord rechtfertigt. Ihr Schwager vollstreckt das Urteil und
verbrennt sie lebendigem Leib. Doch wie durch ein Wunder kann Souad schwer verletzt
fliehen und überlebt dank der Hilfsorganisation surgir in Europa. Nach über zwanzig Jahren
legt sie nun in ihrem zutiefst erschütternden Bericht Zeugnis ab, um der Weltöffentlichkeit die
Wahrheit über dieses grausame, archaische Gesetz vor Augen zu führen.
Im Special:
Florence Assouline: Souad, die verbrannte Frau
Souad
Bei lebendigem Leib
Originaltitel: Brûlée vive
Originalverlag: Oh! Editions, Paris 2003
Aus dem Französischen von Anja Lazarowicz
Gebundenes Buch, 288 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, ISBN: 3-76450180-4
€ 19,90 [D]
Blanvalet Verlag
Erscheinungstermin:
Februar 2004
1
SOUAD, die verbrannte Frau
Von Florence Assouline
Weil sie wie eine Frau leben wollte, wurde Souad zum Tode verurteilt. Ihr Schwager übergoss
sie mit Benzin und setzte sie in Flammen – mit Zustimmung ihrer Familie.
Manche Berichte machen einen ebenso sprachlos wie ungläubig angesichts der Grausamkeit,
zu der Menschen fähig sind; Bei lebendigem Leib ist eines dieser Bücher. Es erzählt die
fürchterliche Geschichte von Souad, die in einem kleinen Dorf im Westjordanland, in
Palästina, geboren und Opfer eines Jarimat el Sharai, eines so genannten „Ehrenmords“
wurde (den sie zum Glück überlebt hat). Heute lebt sie versteckt irgendwo in Europa. Für
Souad, die wie durch ein Wunder überlebte, ist nicht am schlimmsten, dass sie die Narben
ihrer Verbrennungen Sommer wie Winter unter Rollkrägen und langen Ärmeln verstecken
muss. Auch nicht, dass sie die Stummel, die das Feuer – das sie ganz vernichten sollte – von
ihren Ohren übrig gelassen hat, mit ihrem Haar bedecken muss. Und auch nicht, dass sie mit
ansehen musste, wie ihre Beine, das einzige an ihrem Körper, was von dem Feuer verschont
blieb, in 24 Operationen für Haut-Transplantationen zerstückelt wurden. Am schlimmsten war
es für sie, einsehen zu müssen, dass ihr keine noch so hoch entwickelte Chirurgie ihre
Unversehrtheit zurückgeben konnte. Am schrecklichsten zu ertragen ist die unsichtbare innere
Wunde, das Trauma. Alpträume, Depression, Selbstmordversuche – es dauerte nicht weniger
als 25 Jahre, bis sie den Mut fand, ihre Geschichte in diesem aufwühlenden Buch zu erzählen.
Und die Fakten? Die Kindheit des kleinen Hirtenmädchens ist geprägt von den
Grausamkeiten durch ihren Vater. „Mein Vater! … Einmal ist er vom Pferd gefallen und hat
sich das Bein gebrochen. Wir Mädchen waren zufrieden, weil er nicht mehr so schnell hinter
uns herlaufen konnte, um uns mit seinem Gürtel zu schlagen. Wäre er bei dem Unfall
gestorben, wären wir noch glücklicher gewesen.“ Ein sadistischer Vater und eine Mutter, die
aus irgendwelchen Gründen hartherzig sein muss. Die Mutter wurde mit vierzehn Jahren
verheiratet, geschlagen und brachte 14 Kinder zur Welt, 13 davon waren zu ihrem Unglück
Mädchen. Vierzehn Geburten, von denen nur fünf Kinder am Leben bleiben. Vier Mädchen,
also vier Sklavinnen, und ein einziger Junge, der von allen verehrte Assad. Wo sind die
anderen neun geblieben, fragt sich Souad?
Langsam kehrt die Erinnerung zurück: „Ich sehe meine Mutter vor mir. Sie liegt auf einem
Schaffell auf dem Boden und kommt nieder. Meine Tante Salima ist bei ihr, sie sitzt auf einem
Kissen. Ich höre die Schreie, die Schreie von meiner Mutter und die vom Baby, und dann
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nimmt meine Mutter das Schaffell und erstickt das Baby. Sie kniet da, und ich sehe, wie sich
das Kind unter der Decke bewegt, und dann ist es vorbei.“ Wie oft hat Souad diese Szene
erlebt? Sie weiß es nicht mehr, ihr Gedächtnis funktioniert an dieser Stelle nicht mehr richtig.
Aber noch gut genug, damit sie sich an Hanan erinnert, ihre ungezogene Schwester, die –
gerade kein Kind mehr – in Gegenwart Souads von ihrem Bruder Assad mit einer
Telefonschnur erdrosselt wird. Für welches Vergehen? Souad hat keine Ahnung.
Mit zwölf Jahren erlebt Souad ihren ersten Glücksmoment: Sie erfährt, dass eine
benachbarte Familie um ihre Hand angehalten hat. Freude und Erleichterung, „eines Tages
kommt mein Prinz … und dann bin ich endlich ‚normal’“. Davon ist überhaupt keine Rede,
zerstört der Vater ihre Illusionen. Erst muss Kainat, ihre ältere Schwester, verheiratet werden.
Unter Schlägen und Entbehrungen „schuftet sie wie ein Esel“ und fügt sich geduldig wartend
in ihr Schicksal. Und dann in einem Alter, in dem man bei ihr als alte Jungfer gilt, also mit 17,
taucht durch ein Wunder der schöne Faiez auf und will sie heiraten. „Mit Faiez verbinde ich
Eleganz und ein schönes viersitziges Auto, das jeden Morgen losfährt.“ Das ist kein Bauer,
sondern ein Mann, der einen Anzug trägt und in der Stadt, in einem Büro, arbeitet!
Wieder weigert sich der Vater: Kainat ist noch immer nicht unter der Haube. Da beginnt
Souad von Faiez zu träumen, ihn von weitem heimlich zu beobachten, sie zeigt sich in ihrer
schönsten Jacke – der roten – und fängt an zu lügen, kurz, sie setzt ihr Leben aufs Spiel. Sie
versteigt sich so in die Sache, dass die Liebe über ihre Angst siegt. „Zum ersten Mal in
meinem Leben bin ich jemand, weil ich selbst beschlossen habe, was ich tun will. Ich bin
lebendig. Ich gehorche weder meinem Vater noch sonst jemand. Ganz im Gegenteil, ich bin
ungehorsam.“
Von Tag zu Tag wird Souad mutiger, bis zu dem herrlichen Morgen, als Faiez sie
anlächelt. Danach geht alles sehr schnell. Ein paar heimliche Treffen, der erste Kuss, Faiez
wirft sie ins Gras und liebt sie. „Ich verspreche dir“, sagt er zu ihr, „morgen gehe ich zu
deinem Vater, und dann werden wir heiraten.“ Weitere leidenschaftliche Rendezvous folgen,
und das junge Mädchen muss entdecken, dass sie schwanger ist. Sie zittert vor Angst. Aber
was soll’s, er wird sie ja heiraten! Von wegen, sobald sie ihn von ihrer Schwangerschaft
berichtet, löst sich der Prinz in Luft auf – und mit ihm sein schönes viersitziges Auto. Souad
schlägt mit Steinen auf ihren Bauch ein. Vergeblich.
Die Eltern bemerken, dass sie schwanger ist, und der unheilvolle Familienrat tagt. Souad
lauscht hinter der Tür. „Ich kann mich um sie kümmern“, bietet sich ihr Schwager Hussein an.
Wie und wann? Souad hält das Offensichtliche für unwahrscheinlich, weigert sich, das
Schlimmste zu glauben: „Wollen sie das wirklich tun? Wollen sie mir nur Angst einjagen? “
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Eines Morgens gehen alle aus dem Haus, Souad bleibt allein zurück, sie hockt im Hof und
macht die Wäsche. Plötzlich ist Hussein da, vor ihr. Sein strahlendes Lächeln, der Grashalm,
an dem er kaut, seine freundlichen Worte, alles an ihm beruhigt das junge Mädchen. Er
scherzt mit ihr, tritt hinter sie, übergießt sie mit Benzin und setzt ihren Rücken in Brand. Wie
sie entkommen konnte?
Wie sie in das Auto mit den beiden Frauen gelangt ist, die sie, wohl aus Mitleid, vor dem
Krankenhaus abgesetzt haben? Das hat Souad alles vergessen. Sie hat Verbrennungen dritten
Grades, ihr Kinn klebt an ihrer Brust. Sie merkt sehr wohl, dass sie nicht richtig behandelt
wird. Eine Sterbende, die alle nur stört. Sie erkennt ihre Mutter, die an ihrem Bett steht: „Du
trinkst das jetzt, dann bekommt dein Bruder keine Schwierigkeiten. Es ist besser so, es ist
besser für dich, für mich und deinen Bruder.“ Wäre der Arzt nicht dazwischen gekommen,
hätte der giftige Trank das Werk vollendet. Dann ist da noch die vorzeitige Entbindung (im
siebten Monat), die sie halb im Koma erlebt, und das Kind, Marouan, das man ihr sofort
wegnimmt. Und schließlich Jacqueline, eine junge Frau, die für die Hilfsorganisation surgir
arbeitet und von den Ehrenmorden gehört hat – und von Souad.
Das Gesicht wahren …
Sie setzt sich in den Kopf, Souad zu retten und das Baby zu finden! Jacqueline ist
energiegeladen und clever, und das muss sie auch sein, weil sie die Erlaubnis des Vaters
benötigt, damit sie das junge Mädchen mitnehmen kann. „Auf alle Fälle wird sie bald
sterben. Es geht ihr sehr schlecht. … Wenn ich sie mitnehmen würde, könnte sie an einem
anderen Ort sterben, und Sie hätten damit nicht noch mehr Probleme.“ Er unterschreibt.
Der zweite und kaum weniger bewegende Teil des Buchs beschreibt diese Rettungsaktion,
Souads Transport in die Schweiz, ihre Wiedergeburt, wie sie wieder leben, lesen und
schreiben lernt und einen Mann heiratet, Antonio, mit dem sie zwei Töchter bekommt. Er
erzählt von Souad, die zwar äußerlich einigermaßen wiederhergestellt, aber innerlich zerstört
ist und trotzdem die Kraft aufbringt, wieder Kontakt zu ihrem Sohn Marouan aufzunehmen,
der bei einer Adoptivfamilie aufgewachsen ist. Von einer Souad, die sich schließlich dazu
durchringt, Zeugnis anzulegen, weil „das sonst immer so weitergeht“.
Zwischen 1996 und 1999 verzeichnet die palästinensische Polizei 38 Fälle von Ehrenmord,
26 davon im Gaza-Streifen und 12 im Westjordanland. Einer Umfrage zufolge, bei der im
September 2002 1000 Palästinenser beiderlei Geschlechts zum Thema Ehrenmord befragt
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wurden, zeigten sich 25,9 % der palästinensischen Männer und 16,3 % der palästinensischen
Frauen mit dieser mörderischen Praxis einverstanden. Trotz der Intifada, die zu einer
Vervielfachung der häuslichen Gewalt geführt hat, und trotz der Abriegelung der Territorien,
die es den Frauen unmöglich macht, Klage zu führen, haben sich einige Palästinenserinnen
dazu entschlossen, dieses stark tabuisierte Thema öffentlich zu machen. Oft bekommen sie
zur Antwort, „man solle seine schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit waschen“, oder
es heißt, diese Enthüllungen „würden nur dem Feind nützen“. Übrigens bedient man sich
auch in dem europäischen Land, in dem Souad lebt, der gleichen Argumente, mit denen man
schon immer und überall den Frauen klarmachen wollte, sie sollten sich erst einmal um die
„wesentlichen Dinge“ kümmern und dass „später“ immer noch genug Zeit bliebe, „ihre
Angelegenheiten“ zu regeln. Doch da ist nichts zu machen – die Zeiten ändern sich. Souad
begehrt auf, die Palästinenserinnen begehren auf, und zwar in einem Maße, dass die
palästinensische Polizei, oder das, was von ihr noch übrig ist, endlich auf sie hört. Und das ist
immerhin ein Anfang.
Aus dem Französischen von Anna Lazarowicz
© Zeitschrift Marianne 2003
Souad wurde Ende der fünfziger Jahre in einem Dorf im Westjordanland geboren. Nach dem
grausamen Mordanschlag gelang es einer engagierten Mitarbeiterin der Hilfsorganisation
surgir in einer abenteuerlichen Aktion, die schwer verletzte Souad und ihr früh geborenes
Kind in eine Schweizer Spezialklinik zu bringen. Nach Jahren körperlicher und seelischer
Qualen lebt Souad heute zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern unter falschem
Namen irgendwo in Europa. Trotz der Gefahr einer Verfolgung durch ihre Familie hat Souad
sich entschlossen, ihre Geschichte der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Dies ist der weltweit
erste Zeugnisbericht einer Überlebenden eines Ehrenmordanschlags!
„Bei lebendigem Leib“ (Originaltitel: Brûlée vive) sorgt in Frankreich seit Monaten für
Furore bei Lesern und in den Medien. Das Buch steht seit Erscheinen im Frühjahr 2003 auf
der französischen Bestsellerliste – u. a. viele Wochen in Folge auf Platz 1!
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