Spielzeitschrift2-06/07

Transcrição

Spielzeitschrift2-06/07
12 ......................................... THEATER .............................................................................
Wolfgang Borchert
PREMIERE
DRAUSSEN VOR
DER TÜR
Hamburg, Weihnachten 1946. Ein Mann kommt nach Deutschland. Sein Name: Beckmann. Drei Jahre war er in Sibirien. Aber das
Land, für das er einst in den Krieg zog, hat keinen Platz mehr für
den Heimkehrer mit dem steifen Knie und der Gasmaskenbrille.
Seine Frau hat einen anderen und sein kleiner Sohn liegt tot unter
dem Trümmerschutt. Beckmann, Täter und Opfer zugleich, von
Gewissensbissen und Lebensängsten geplagt, gibt auf. Er stürzt sich
in die Elbe. Doch die will ihn nicht und wirft ihn zurück an Land.
So zieht Beckmann weiter durch die Stadt; zu einer neuen Frau, die
aber einem anderen gehört; zu einem Oberst, dem er die Verantwortung für den Tod von elf Soldaten zurückgeben will, der ihm jedoch
nur lachend die Tür weist. Ein Kabarettdirektor, dem Beckmann
seine Erlebnisse anbietet, gibt ihm zu verstehen, dass keiner an der
Wahrheit über die Vergangenheit interessiert ist. Selbst der »liebe
Gott«, ein alter Mann, an den keiner mehr glaubt, scheint nur noch
tatenlos zuzuschauen. So bleibt Beckmann nichts anderes übrig, als
ungehört und auf sich gestellt – und immer draußen vor der Tür weiter zu leben.
Ein Stück wird 60 und
ist immer noch jung.
Direktor: »Nein, so können wir Sie nicht loslassen. Etwas genialer, überlegener, heiterer müssen Sie den Leuten schon kommen.
Positiv! Positiv, mein Lieber! Denken Sie an
Goethe! Denken Sie an Mozart! Die Jungfrau
von Orléans, Richard Wagner...Mit der Wahrheit kommen Sie nicht weit. Damit machen
Sie sich nur unbeliebt. Wo kämen wir hin,
wenn alle Leute plötzlich die Wahrheit sagen
wollen! Wer will denn heute etwas von der
Wahrheit wissen? Hm? Wer? Das sind die
Tatsachen, die Sie nie vergessen dürfen.«
Regie.............OLIVER ERNST
Spiel.............. MATTHIAS MANZ | THOMAS KIENAST | STEFAN THIEL |
MARIE BRETSCHNEIDER | ILK A TEICHMÜLLER
Künstlerbiografien siehe Seiten 73-77
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PREMIERE AM 09.02.07 | 20:00 UHR
WEITERE VORSTELLUNGEN AM 10.02. | 22. UND 23.03.07 | 20:00 UHR
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Z U M W E I T E R L E S E N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Wo l f g a n g B o r c h e r t
UNTERWEGS
GENERATION OHNE ABSCHIED
Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne
Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied.
Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam
und unsere Jugend ist ohne Jugend. Und wir sind
die Generationion ohne Grenze, ohne Hemmung
und Behütung – ausgestoßen aus dem Laufgitter
des Kindseins in eine Welt, die die uns bereitet,
die uns darum verachten.
Aber sie gaben uns keinen Gott mit, der unser Herz
hätte halten können, wenn die Winde dieser Welt
es umwirbelten. So sind wir die Generation ohne
Gott, denn wir sind die Generation ohne Bindung,
ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung.
Und die Winde der Welt, die unsere Füße und unsere Herzen zu Zigeunern auf ihren heißbrennenden
und mannshoch verschneiten Straßen gemacht
haben, machten uns zu einer Generation ohne
Abschied.
Wir sind die Generation ohne Abschied. Wir können keinen Abschied leben, wir dürfen es nicht,
denn unserm zigeunernden Herzen geschehen auf
den Irrfahrten unserer Füße unendliche Abschiede. Oder soll sich unser Herz binden für eine Nacht,
die doch einen Abschied zum Morgen hat?
Ertrügen wir den Abschied? Und wollten wir die
Abschiede leben wie ihr, die anders sind als wir
und den Abschied auskosteten mit allen Sekunden, dann könnte es geschehen, dass unsere Tränen
zu einer Flut ansteigen würden, der keine Dämme,
und wenn sie von Urvätern gebaut wären, widerstehen.
Wolfgang Borchert
(1921 – 1947) schrieb »Draußen
vor der Tür«, das am 13. Februar 1947 als Hörspiel erstmals
gesendet und am 21. November,
einen Tag nach Borcherts Tod an
den Hamburger Kammerspielen
uraufgeführt wurde. Es ist eines
der wichtigsten Theaterstücke
der deutschen Nachkriegszeit
und zeichnet das Gefühl einer
mit ihren Fragen »vor der Tür«
stehenden Generation aus.
Zum ersten Mal befragt hier ein
junger Deutscher sein Land
nach den Konsequenzen, die
dieses aus dem Faschismus und
dem Krieg zog und kommt zu
einem bestürzendem Schluss:
man will vergessen.
Es ist geradezu ein schicksalhafter Zufall, dass sowohl die
Erstsendung des Hörspieles vor
60 Jahren wie die Zerstörung
der Stadt an einem 13. Februar
stattfanden. Auch aus diesem
Anlass ist es uns einerseits Verpflichtung, sich diesem außerordentlichen Stück zu stellen,
wie es auch Aufforderung ist,
Borcherts Werk auf seine
darüber hinaus gehenden aktuellen Potenzen zu überprüfen.
Man denke nur an die Traumata
tausender Soldaten, die von
ihren Regierungen in die Krisenherde der Welt (Afghanistan,
Irak, Kosovo etc.) geschickt
wurden und werden, und nun
wieder heimgekehrt, eine
Gesellschaft vorfinden, die sie
mit ihren Kriegserlebnissen
allein lässt. Man denke aber
auch an jene Teile einer jungen
Generation in unserem Lande,
die immer mehr mit dem Gefühl
konfrontiert werden, »draußen
vor der Tür« zu stehen.
Nie werden wir die Kraft haben, den Abschied, der
neben jedem Kilometer an den Straßen steht, zu
leben, wie ihr ihn gelebt habt.
Sagt uns nicht, weil unser Herz schweigt, unser
Herz hätte keine Stimme, denn es spräche keine
Bindung und keinen Abschied.
Wollte unser Herz jeden Abschied, der uns geschieht,
durchbluten, innig, trauernd, tröstend, dann könnte
es geschehen, denn unsere Abschiede sind eine
Legion gegen die euren, dass der Schrei unserer
E R I N N
UND
VERGES
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15
empfindlichen Herzen so groß wird, daß ihr nachts
in euren Betten sitzt und um einen Gott für uns bittet.
Darum sind wir eine Generation ohne Abschied.
Wir verleugnen den Abschied, lassen ihn morgens
schlafend, wenn wir gehen, verhindern ihn, sparen
ihn - sparen ihn uns und den Verabschiedeten. Wir
stehlen uns davon wie Diebe, undankbar dankbar
und nehmen die Liebe und lassen den Abschied
da.
Wir sind voller Begegnungen, Begegnungen ohne
Dauer und ohne Abschied, wie die Sterne. Sie
nähern sich, stehen Lichtsekunden nebeneinander,
entfernen sich wieder: ohne Spur, ohne Bindung,
ohne Abschied.
Wir begegnen uns unter der Kathedrale von Smolensk, wir sind ein Mann und eine Frau – und dann
stehlen wir uns davon. Wir begegnen uns in der
Normandie und sind wie Eltern und Kind – und dann
stehlen wir uns davon..
Wir begegnen uns eine Nacht am finnischen See
und sind Verliebte – und dann stehlen wir uns davon.
N
R
E
N
N
ERI
UND
N
E
S
S
E
G
VER
Wir begegnen uns auf einem Gut in Westfalen und
sind Genießende und Genesende – und dann stehlen wir uns davon.
Wir begegnen uns in einem Keller der Stadt und
sind Hungernde, Müde, und bekommen für nichts
einen guten satten Schlaf – und dann stehlen wir
uns davon.
Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch
mit Mensch – und dann stehlen wir uns davon, denn
wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und ohne
Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied,
die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat
vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu
dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre – so sind
wir eine Generation ohne Abschied geworden und
ohne Heimkehr.
Aber wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf
einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller
Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen. Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem
neuen Lieben einem neuen Lachen, zu einem neuen
Gott. Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber
wir wissen, dass alle Ankunft uns gehört.