Jörg Barthel - Bibelarbeit zu Micha 4, 1-5

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Jörg Barthel - Bibelarbeit zu Micha 4, 1-5
Andere Erde
Bibelarbeit zu Micha 4,1-5 (Jesaja 2,1-5)
Wenn erst die Bäume gezählt sind und das Laub
Blatt für Blatt auf die Ämter gebracht wird,
werden wir wissen, was die Erde wert war.
Einzutauchen in Flüsse voll Wasser
und Kirschen zu ernten an einem Morgen im Juni
wird ein Privileg sein, nicht für viele.
Gerne werden wir uns der verbrauchten Welt
erinnern, als die Zeit sich vermischte
mit Monstern und Engeln, als der Himmel
ein offener Abzug war für den Rauch
und Vögel in Schwärmen über die Autobahn flogen
(wir standen im Garten und unsere Gespräche
hielten die Zeit zurück, das Sterben der Bäume
flüchtige Legenden von Nesselkraut).
Shut up. Eine andere Welt, ein anderes Haus.
(Ein Habichtflügel im Schrank. Ein Blatt. Ein Wasser.)
Christoph Meckel: Andere Erde
»Treffpunkt Zukunft. Futurzwei.« So heißt der Thinktank, den der Sozialwissenschaftler Harald Welzer (»Klimakriege«) in Berlin ins Leben gerufen hat. Sein Ziel: ökologische Erfolgsgeschichten unter wissenschaftlicher Begleitung in die Öffentlichkeit tragen. Welzer gilt als
Visionär, aber auch als Skeptiker, was die Möglichkeit eines nachhaltigen Wachstums angeht
(wie andere sog. Postwachstumstheoretiker). In einem Streitgespräch mit Čem Özdemir im
neuen »Philosophie Magazin« stellt Welzer folgende Diagnose: (1.) Die Apokalypse ist kein
düsteres Zukunftsszenario, sondern in vielen Regionen unserer Erde bereits Gegenwart, auch
wenn wir es nicht spüren. Eiskappen und Gletscher schmelzen nicht irgendwann, sondern vor
unseren Augen. Bereits heute produziert die klimabedingte Versteppung gewaltige Migrationsströme, eine Quelle unsagbaren menschlichen Leidens, aber auch militärischer Gewalt.
Schon heute werden erste Inseln im Indischen Ozean und der Südsee evakuiert, weil ihren
Bewohnern das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht. Eine neue Studie, die das PotsdamInstitut für Klimaforschung im Auftrag der Weltbank erstellt hat, kommt zu dem Ergebnis,
dass bei ungebremster CO2-Emission bis zur Jahrhundertwende einen Temperaturanstieg um
vier Grad wahrscheinlich ist. Was harmlos klingt, ist in Wahrheit ein Katastrophenszenario.
Es bedeutet für Deutschland: Periodisches Austrocknen von Flüssen wie dem Rhein, Hitzewellen und Überschwemmungen. Weit schlimmer sind ei Folgen z. B. für Afrika: Absterben
der Regenwälder, Hungersnöte und Abtreibungen, Millionen von Klimaflüchtlingen. (2.) Unser Wirtschaftssystem, das seinen Bestand nur durch Wachstum sichern kann, ist ein Auslaufmodell. Denn es basiert auf einer radikalen Übernutzung der Überlebensressourcen. Es ist
entgegen seinem zentralen Dogma völlig unökonomisch, denn es zehrt die Voraussetzungen
seines eigenen Bestandes auf. Die Erosionsprozesse, die wir beim Klima, der Übernutzung
der Böden, dem gigantischen Landschaftsverbrauch, aber auch auf den Finanzmärkten beobachten, stellen das System als solches in Frage. Sollte das auch nur ansatzweise zutreffen
(und wer wollte das ernsthaft bestreiten?), dann stehen wir als Einzelgesellschaft wie als
Weltgesellschaft vor einer Herkulesaufgabe: Können wir das wachstumsbasierte kapitalistische Wirtschaftssystem so umbauen, dass Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Bildungs- und Gesundheitssystem nicht verloren gehen? (3.) Aber
hinter den politischen, ökonomischen und ökologischen Problemen verbirgt sich noch eine
andere, kulturelle und geistige Frage: Können wir uns eine Gesellschaft überhaupt vorstellen,
in der gilt: Von allem weniger, und zwar wesentlich weniger? Weniger Mobilität, weniger
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Warenkonsum, weniger Arbeitszeit, mehr Eigen- und weniger Fremdversorgung? Was uns
vor allem fehlt, so Welzer, ist »eine andere Geschichte«, die wir über uns selbst erzählen können. Deshalb ist uns die Zukunft abhanden gekommen: »Wir sind vollkommen zukunftsfrei
geworden.« Die Träume von einer besseren Zukunft sind einem Hinausschieben des Abschieds vom Status quo gewichen, verbunden mit der vagen Hoffnung, alles sei vielleicht
doch nicht so schlimm, wie die Mahner und Warner uns glauben machen. Was uns fehlt, ist
»ein identitätsstiftende Projekt«, »die Vorstellung einer Zukunft, in die man sich selbst einschreiben kann«.
Zukunftsfähigkeit in diesem Sinne ist viel mehr als die Fähigkeit, sich auf das einzustellen,
was auf uns zukommt. Radikaler gestellt lautet die Frage nach der Zukunftsfähigkeit: Sind wir
fähig, uns überhaupt eine Zukunft vorzustellen, die mehr ist als die Verlängerung der Gegenwart bis zum bitteren Ende? Mehr als eine fortgesetzte Beschleunigung des technischen Fortschritts, des sozialen Wandels, der Kommunikation und des subjektiven Erlebens (Hartmut
Rosa)? Welche Bilder von der Zukunft tragen wir in unserem Köpfen und Herzen, die uns
befähigen könnten, jene »andere Geschichte« zu erzählen? Dabei geht es nicht sogleich um
die Fragen der praktischen Umsetzung, sondern um die Frage, welches Bild der Zukunft unserer Praxis zugrunde liegt. Der oft zitierte Satz Helmut Schmidts, wer Visionen habe, solle zu
Arzt gehen (und nicht in die Politik), ist töricht und zynisch zugleich: Er erklärt und verklärt
die Welt, wie sie ist, zur einzig möglichen Welt, und nimmt uns eben so die Chance, über das
Bestehende hinauszudenken. Der Verzicht auf Visionen zementiert eben jene vermeintliche
Alternativlosigkeit, die uns unfähig macht, Zukunft zu haben.
Was bedeutet all das für uns als Kirchen und als Christen, was bedeutet es für die Theologie?
Auch wir sind zu einem radikalen Umdenken aufgerufen, jedenfalls wenn wir Erwartung der
neuen Schöpfung Gottes nicht als Alibi dafür missbrauchen wollen, die alte Welt sich selbst
zu überlassen. Ich weiß nicht, ob die Dringlichkeit dieser Frage schon wirklich bei uns angekommen ist. Auch wir stehen vor der Frage: Wie wollen wir leben? Welche Zukunft erträumen wir für uns, unsere Kinder, unsere Kirchen? Woher nehmen wir die Bilder, die uns Hoffnung geben, Kraft zum Handeln und Mut zum Lassen?
Die biblische Botschaft birgt einen ganzen Schatz solcher Zukunftsbilder. Es sind Bilder sehr
unterschiedlicher Art, die Zukunft auf unterschiedliche Weise mit der Gegenwart (und der
Vergangenheit) vermitteln: Bilder einer Zukunft, die langsam im Schoß der Gegenwart heranwächst wie die Saat auf dem Acker, aber auch Bilder einer neuen Welt, die an die Stelle
der alten tritt, meist durch den tiefen Bruch eines vorausgehenden Gerichts Gottes hindurch:
ein neuer Himmel, eine neue Erde, ein Ende der Gewalt zwischen den Völkern, zwischen
Mensch und Tier, kurz: eine Welt, die zur Wohnung Gottes wird und ganz von seiner Gegenwart erfüllt ist wie einst das Heiligtum in der Wüste. Aber wie immer die biblischen Zukunftsbilder ausschauen und welche »Laufzeit« sie haben, eines ist ihnen gemeinsam: Sie
sprechen von jener Zukunft mit Blick auf die Gegenwart. Sie schreiben die Zukunft in die
Gegenwart ein. Sie konfrontieren die aktuellen Verhältnisse mit einem Gegenbild, einer »anderen Geschichte«, die schon jetzt Denken, Handeln und Fühlen bestimmen soll.
Eines der großartigsten Zukunftsbilder der Hebräischen Bibel findet sich gleich zweimal in
den Prophetenbüchern. Wie ein Leuchtfeuer steht es am Anfang des Jesajabuches (und damit
der Prophetenbücher insgesamt) und gibt den Blick frei in jene Zukunft, die am Ende des großen geschichtlichen Dramas steht, von dem Jesaja und alle Propheten künden. Ein zweites
Mal begegnet das Wort beim Propheten Micha, in mancher Hinsicht so etwas wie der kleine
Bruder Jesajas. An beiden Stellen ist die Verheißung so mit dem Kontext verwoben, dass die
verheißene Zukunft zugleich ein helles Licht auf die Gegenwart wirft. Bei Jesaja kontrastiert
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die Vision des universalen Völkerfriedens unter Gottes Recht und Weisung mit einer tristen
Gegenwart, in der Gottes Weisung missachtet und das Recht mit Füßen getreten wird (vgl. Jes
2,1-5 mit 1,10-17; 1,21-23; außerdem 2,6ff.). Bei Micha steht sie in schroffem Gegensatz zum
finsteren Treiben der politischen und religiösen Elite Jerusalems, die die Stadt mit Blut bauen
und einer letzten Katastrophe entgegen treiben (vgl. Mi 4,1-5 mit 3,1-12). Wir hören auf den
Text in der Version Michas (wir werden nachher auch einen Seitenblick auf Jesaja werfen):
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Und es wird geschehen am Ende der Tage,
da wird der Berg des Hauses JHWHs
feststehen an der Spitze der Berge,
und erhaben wird er sein über die Hügel.
Und strömen werden zu ihm die Völker,
und viele Nationen werden gehen und sagen:
„Auf! Lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs
und zum Haus des Gottes Jakobs,
damit er uns in seinen Wegen unterweise
und wir gehen in seinen Pfaden!“
Denn von Zion geht Weisung aus
und das Wort JHWHs von Jerusalem.
Und er wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern
und Entscheid geben zahlreichen Nationen bis in die Ferne.
Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
und ihre Speere zu Winzermessern.
Nicht mehr erheben sie, eine Nation gegen die andere, das Schwert,
und nicht mehr lernen sie den Krieg.
Und sie werden sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum – und da ist keiner, der (sie) erschreckt.
Denn der Mund JHWH Zebaoths hat (es) geredet.
Gehen auch alle Völker,
ein jedes im Namen seines Gottes,
so gehen doch wir
im Namen JHWHs, unseres Gottes
für immer und ewig.
Am »Ende der Tage« soll dies geschehen. Was bedeutet das? Nicht die letzten Tage im Sinne
der Endzeit sind hier gemeint, sondern eigentlich die »hinteren« Tage, wörtlich: die Tage, die
uns im Rücken liegen (hebr. <achar). Das hebräische Zeitbewusstsein ist anders strukturiert als
das unsere: Nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit liegt ihm zufolge vor uns. Die Zukunft dagegen liegt unerkannt hinter unserem Rücken. Ich denke an einen eindrücklichen Text
des deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin, der
durch ein Bild des Malers Paul Klee mit dem Titel »Angelus
novus« inspiriert ist. Benjamin erkennt darin den »Engel der
Geschichte«. Mit ausgespannten Flügeln wird jener Engel
vom Wind der Fortschritts rückwärts durch die Zeiten
getrieben. Vor ihm, in der Vergangenheit, liegen die
Schlachten, die Kriege, ein wachsendes Trümmerfeld, von
dem der Engel die Augen nicht lassen kann. In vielerlei
Hinsicht gleicht unsere Situation jenem Engel: Wie gebannt
ist unser Blick durch die gegenwärtigen Verhältnisse. Wir
wagen es nicht, uns umzudrehen, umzukehren im buchstäblichen Sinne des Wortes, eine andere Geschichte über uns
selbst zu erzählen. Aber nur durch eine solche Umkehrung
der Blickrichtung würden wir fähig, Gottes Zukunft zu
sehen und unsere Welt im Licht dieser Zukunft.
Paul Klee: Angelus novus (1920)
Israel-Museum, Jerusalem
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Was sehen wir dann? Der Prophet lenkt unseren Blick auf einen Berg in der Mitte der Welt,
höher als alle anderen Berge. Der Zionberg mit dem Tempel, kaum höher als 800 Meter, als
Mitte der Welt – das klingt fantastisch. Aber wir dürfen das Motiv nicht geografisch missverstehen: Der Gottesberg in der Mitte des Kosmos ist in der Vorstellungswelt der Alten das
Symbol der Nähe zu Gott. Hier ist der Ort, wo Himmel und Erde sich berühren. Wir können
auch sagen: Der Gottesberg ist der Ort, wo die Welt ist, wie sie am Anfang war und wie sie
einmal wieder sein wird, er ist der Ort des Paradieses. Er repräsentiert die andere Welt, die
Gegenwelt zur Welt, wie sie ist. Nur von einer solchen Gegenwelt her fällt Licht in unsere
dunkle Gegenwart. Nur eine solche Gegenwelt kann uns Orientierung und Zentrum sein. Was
hieße es für die christliche Gemeinde, Gegenwelt zu sein, Kontrastgesellschaft zu ihrer Umgebung? Ein anderer Lebensstil, eine andere Art, die Welt zu sehen, eine andere Art, mit Leid
umzugehen, mit Schuld und Versagen – nur was sich abhebt, kann Orientierung geben.
Die Umkehr zur Zukunft setzt Kontraste: Nicht mehr Männerstolz und Hochmut (Jes 2,6ff.),
nicht mehr die Kathedralen der Macht und des Wissens, nicht mehr die politischen und religiösen Führer und ihr zweifelhaftes Treiben (Mi 3,1-12; Jes 1,10ff.) bilden das Kraftzentrum der
Welt, sondern der Berg, wo das Himmlische die Erde die berührt und seine Kraft verströmt.
Und strömen werden zu ihm die Völker,
und viele Nationen werden gehen und sagen:
»Auf! Lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs
und zum Haus des Gottes Jakobs,
damit er uns in seinen Wegen unterweise
und wir gehen in seinen Pfaden!«
Der Ort in der Mitte der Welt wirkt anziehend, er hat magnetische Kraft. Eine gewaltige Karawane setzt sich in Bewegung. An der Spitze die alten Erzfeinde: die Assyrer mit ihrer gefürchteten Kavallerie, dann die Ägypter, die Babylonier, die Perser, die Griechen und Römer, es folgen
die Edomiter und Moabiter, die Nachkommen der Philister, die Phönizier und die Aramäer ...
Auch dies ist ein Gegenbild: Einst, zur Zeit Michas und Jesajas waren die Völker zum Krieg
gegen Jerusalem gezogen. Zuerst die Aramäer, dann die Assyrer, das Volk aus der Ferne, das
mit seinen Soldaten, seinen Pferden und Streitwagen heranbraust wie der Sturm (Jes 5,26ff.).
Später die Babylonier, die Jerusalem und den Tempel in Schutt und Asche legten und die Bevölkerung verschleppten. Dann die Perser, die Griechen, die Römer. Noch später die Kreuzfahrer, die der Herrschaft des Friedensbringers aus Nazareth mit dem Schwert durchsetzen
wollten. Ein endloser Zug von Kriegern und Eroberern wälzt sich gegen Jerusalem.
Und jetzt: ein Strömen und Fließen ganz neuer Art, ohne Kriegsgeschrei und Hufgeklapper.
Nach all den Kriegszügen, nach all den Eroberungen, Vertreibungen und erzwungenen Wanderungen: endlich ein Zug des Friedens, der sich freiwillig in Bewegung setzt. Was bedeutet dieser Zug für uns, die wir die Worte Michas und Jesajas hören? Was heißt es für uns, nun unsererseits im Licht dieser großen Wanderung zu gehen? Wir können die Völker nicht herbeipeitschen, wir können nur bitten, wir können anziehend wirken. Wir können den Ort markieren, wo
der Himmel die Erde berührt. Jerusalem bleibt Jerusalem, Jerusalem wird nicht Babylon oder
Rom. Aber es öffnet sich für alle. Man wird die Tore weit öffnen müssen, wenn die Völkerkarawane ankommt. Man wird auch im Tempelhof Platz schaffen müssen, damit alle unterkommen. Vielleicht müssen einige liebgewordene Kultgegenstände weichen, einige Zionslieder
umgeschrieben, einige Mauern eingerissen werden, wenn jener bunte Haufen von den Hecken
und Zäunen herbeiströmt. Auch wenn erst wenige eintreffen, es lohnt sich, schon jetzt damit
anzufangen, attraktiv zu werden für die da draußen. Wichtiger als alle Worte ist ein Lebensstil,
eine Atmosphäre, die anziehend wirkt, »attraktiv« im buchstäblichen Sinne des Wortes.
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Worin besteht denn diese Attraktivität? Was suchen die Völker in Jerusalem?
Denn von Zion geht Weisung aus
und das Wort JHWHs von Jerusalem.
Und er wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern
und Entscheid geben zahlreichen Nationen bis in die Ferne.
Weisung und Recht gehen aus vom Zion, das Wort JHWHs von Jerusalem. Anziehung und
Anweisung, offene Türen und ein klares Wort, das ist gerade kein Gegensatz. Denn die Völker warten auf Weisung, sie harren auf Gerechtigkeit; sie warten auf einen, der ihnen das
Recht bringt. Mit den Worten eines anderen Jesajawortes, das vom »Knecht Gottes« spricht:
Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis er auf Erden das Recht aufrichte;
und die Inseln warten auf seine Weisung (Jes 42,4).
Die »Weisung vom Zion« – was ist das? Weisung, Tora ist zunächst etwas sehr Einfaches:
Tora ist eine Weisung im Einzelfall, ein Schiedsspruch, der Streit schlichtet (jakach hif.). Die
Utopie kommt uns hier sehr nahe, sie wird sehr realistisch: Der große Weltfrieden beginnt
dort, wo Streit geschlichtet wird. So einfach ist das – und doch so schwierig. Denn es gelingt
nur, wenn die Schlichtung auch akzeptiert wird, wenn die Parteien den Spruch annehmen.
Gerechtigkeit entsteht nur dort, wo nicht jeder Recht behalten will. So beginnt auch das nachhaltige Wirtschaften beginnt: bei den Fragen der Mobilität, der Energiegewinnung und
-einsparung, der Ernährung, des Miteinanders der Generationen etc. Wir sollten damit aufhören, die kleinen Schritte gegen die großen Visionen auszuspielen, weil beides einander bedingt: Auch große Visionen bedürfen der zeichenhaften Realisierung, damit das Neue sichtbar
wird und Kreise ziehen kann. Aber auch das Umgekehrte gilt: Kleine Schritte bleiben folgenlos, wenn sie nicht auch in der Proportionen großer Veränderungen gedacht werden.
Weisung ist aber noch mehr: Tora ist die heilsame Lebensordnung Gottes im Ganzen. Tora ist
eine Struktur des Lebens, die Grenzen setzt und zugleich Freiräume eröffnet. Mit den Worten
des Dekalogs gesprochen: »Du sollst leine anderen Götter haben neben mir« – aber du
brauchst sie auch nicht, lass die Götter sein und kümmere dich um die Welt. »Du sollst den
Namen des HERRN, deines Gottes nicht missbrauchen« – aber du musst auch nicht bei jeder
Gelegenheit den Gottesnamen wie eine magische Formel im Mund führen. »Du sollst den
Sabbattag heiligen« – aber du darfst auch ruhen von deiner Arbeit, du musst dich nicht jeden
Tag durch deine Leistungen zu verwirklichen. Tora ist Eröffnung von Freiheit durch Begrenzung. Ich meine, dass uns dieser urbiblische Gedanke heute wieder neu einleuchten sollte,
nicht nur in Erziehung und Bildung, sondern auch in Wirtschaft und Konsum. Der Verzicht
auf Optionen entlastet davon, immer wählen zu müssen. Die Begrenzung der Konsummöglichkeiten entlastet davon, alles haben zu müssen. Die Begrenzung der Mobilität entlastet davon, überall sein und gewesen sein zu müssen. Statt immer nur zu fragen, was wir tun sollen,
könnte es entlastend sein zu fragen, was wir lassen können. Kaum etwas brauchen wir dringlicher als eine intelligente Ethik des Lassens, die nicht Verzicht predigt, sondern Lebensgewinn durch Begrenzung.
Das Recht der Tora ist die Wurzel des großen Friedens:
Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
und ihre Spieße zu Winzermessern.
Nicht mehr erheben sie, eine Nation gegen die andere, das Schwert,
und nicht mehr lernen sie den Krieg.
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Ein wunderbares Wort, oft gehört und viel zitiert. Gerade deshalb sollten wir neu hören, was
hier eigentlich gesagt wird. »Keine realpolitische Option und nicht tauglich für diese Welt«,
so lautet der nahe liegende Einwand, dem sich dieses Wort ausgesetzt sieht.
Es ist schon richtig: Wir blicken auch hier in eine Gegenwelt. Zeitlebens war Jesaja gegen die
waffenstarrenden Arsenale zu Felde gezogen – und jetzt: das Ende aller Kriege? Zeitlebens
hatte Micha das Unrecht der Mächtigen angeprangert – und jetzt: die große Gerechtigkeit?
Eine Gegenwelt, in der Tat. Und doch sollten wir uns beeindrucken lassen vom Realismus
und der Lebensnähe dieser Gegenwelt. Zweierlei scheint mir dabei beachtenswert.
Zum einen: Das Wort von der Völkerwallfahrt bindet den Frieden an die Gerechtigkeit. Der
Friede ist Folge des richterlichen Schiedsspruches, der die Konflikte zwischen den Völkern
beendet. Das Prophetenwort ist hier sehr realistisch: Es hält fest, dass ohne Gerechtigkeit kein
wirklicher Friede möglich ist, auch kein ökologischer Friede. Wenn Gerechtigkeit und Friede
sich nicht küssen (Ps 85,11), bekommt die Friedenstaube schnell lahme Flügel. Das bedeutet
nicht, dass der Krieg zum Normalfall erklärt würde. Aber es bedeutet: Gerechtigkeit ist notwendiges Moment eines Friedens, der seinen Namen verdient.
Zum anderen: »den Krieg nicht mehr lernen«, heißt es. Der Prophet weiß: Krieg ist kein
Schicksal, Krieg wird gelernt. Natürlich gibt es Aggressionen im Menschen – naiv, wer
glaubte, das wäre erst eine Erkenntnis der modernen Psychologie. Aber richtig ist auch: In
komplexeren Gesellschaften kann man Kriege nur führen, wenn man sie lernt. Wir müssen es
früh an lernen, unser Reservat zu verteidigen. Wir lernen, den Feind zu identifizieren. Wir
lernen, dass Gewalt sich lohnt. Wir lernen die Logik der Steigerung, die unser Wirtschaftssystem und unser persönliches Verhalten bestimmt. Wir könnten aber auch lernen, Nein zu sagen. Friedenspädagogik in diesem Sinne wäre eine neue Art des Lernens, die Feindidentifizierungen durchbricht, Ressentiments auflöst und uns vertraut macht mit jener anderen Geschichte, die hinter unserem Rücken liegt.
In diesem Lernprozess sollten wir auch etwas genauer auf den jeweils zweiten Teil der Wendungen »Schwerter zu Pflugscharen« und »Spieße zu Winzermessern« achten. Keine Waffen,
aber Pflüge und Winzermesser – das ist ein durchaus bescheidenes Ideal, das Ideal einer
ackerbauenden Gesellschaft. Ein Ideal, das tief im Diesseits wurzelt. Aber es enthält doch
eine allgemeine Einsicht: Die aggressive Energie, der Drang die Welt zu verändern und auszubeuten, wird nicht geleugnet, aber er wird umgeleitet und umgewidmet. Was hieße das beispielsweise für die industrielle Umstrukturierung in der Bodenseeregion, die ihren Wohlstand
in nicht geringem Ausmaß mehreren großen Waffenherstellern verdankt? Was hieße es für
unser Land im Ganzen, das als drittgrößer Waffenexporteur der Welt Panzer nach SaudiArabien liefert, angeblich ein »Stabilitätsfaktor« in der arabischen Welt und doch in Wahrheit
ein nicht minder repressiv als der Iran? Oft geschieht die Umwidmung in umgekehrter Richtung, bis in die Konflikte unserer Zeit hinein: Wer zum Schwert greift, flieht vor dem Pflug.
Denn das »männliche Spiel« (Kurt Marti) entlastet von den Aufgaben des Alltags. Die Sehnsucht nach der Flucht aus dem bürgerlichen Alltag ins militärische Abenteuer war z. B. ein
entscheidender Faktor der Kriegsbegeisterung vor dem 1. Weltkrieg.
Das Wort des Propheten kehrt die Prioritäten um:
Und sie werden sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum – und da ist keiner, der (sie) erschreckt.
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Das ist »nachhaltige« Existenz in der Sprache des Alten Testaments: eine Existenz, in der
jeder sein Auskommen hat, oder mit den Worten von Jes 65,21f.: »Sie werden Häuser bauen
und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Frucht essen. Sie sollen nicht bauen,
was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse.« Es ist das bescheidene
Ideal einer Ackerbaugesellschaft, in der jeder auf seiner Scholle sitzt und für den eigenen Bedarf produziert, ungestört von den Schrecken des Krieges, von dem die Propheten so viel zu
sagen wissen. Wir können ein solches Ideal nicht einfach in unsere Zeit versetzen, aber wir
könnten es übersetzen: in unsere Sprache, in unsere Zeit, in unsere Gesellschaft.
Die neue Welt Gottes trägt ein menschliches Antlitz. »Wie ist es im Himmel?«, fragen die
Kinder. Oft sind sie enttäuscht, wenn sie von goldenen Gassen und endlosen Gottesdiensten
hören. Ehrlich gesagt: Ich bin da auch sehr kindlich. Das Prophetenwort zeichnet ein anderes
Bild vom Himmel. Es ist ein menschenfreundlicher Himmel, der uns hier begegnet, ein Himmel, der nach Erde riecht, nach Getreide und Obst. Es ist ein Himmel, der Platz hat für das
Lachen der Kinder, die der frühe Tod nicht ereilt, und die Ruhe der Alten, die ihr Leben in
Würde beenden können (Jes 65,20). Es ist ein Himmel, der das kleine Glück der Menschen
nicht verachtet, sondern ernst nimmt und ihm Glanz gibt. Ein solches Glück ist in der Tat »utopisch«, ohne Ort in der Welt der großen Politik und Wirtschaft – aber ist es deshalb weniger
lebensnah als die Strategien der Feldherren und Planspiele der Manager? Ist die Sehnsucht der
Frauen in Palästina und anderswo, ihre Kinder in Ruhe aufziehen zu können, weniger realistisch als die blutigen Spiele männlicher Kämpfer, die sich am Großen berauschen, um dem
Kleinen zu fliehen? Äcker pflügen und Wein anbauen – das ist noch nicht der Himmel, wie
ihn die Offenbarung des Johannes beschreibt (Offb 21-22), aber es ist der Vorschein eines
Himmels, in dem unser Leben in seiner Alltäglichkeit und Schwäche seine Würde erlangt.
Es ist wahr, Gottes Welt ist noch nicht da, sie ist Gegenwelt bis zu dem Tag, wo Gott alles in
allem sein wird. Aber wir erblicken Spuren und Funken des großen Lichts in unserer Welt:
Überall da, wo gute Weisung den Streit schlichtet, wo das einfache, ungestörte Leben der
Menschen »unter Weinstock und Feigenbaum« seine Würde erhält, da findet jene Berührung
von Himmel und Erde statt, von der die alten Mythen vom Gottesberg singen. Solche Orte
wirken anziehend. Darum gehen wir jetzt schon »im Namen unseres Gottes«. Gottes Welt
kommt, und sie kommt als eine menschenfreundliche Welt.
Fragen wir zum Schluss noch einmal: Wie können wir die große Utopie der Zukunft mit unserer alten, unter Leiden und Gewalt seufzenden Welt verbinden? Wie kann das Licht des kommenden Tages unsere dunkle Gegenwart erhellen? Die Gemeinde Jesajas und Michas gibt
eine doppelte Antwort auf diese Frage: »Auf! Haus Jakobs, lasst uns wandeln im Licht
JHWHs!«, heißt es bei Jesaja (2,5). Mit anderen Worten: Lasst uns nicht warten auf das Ende
der Tage, sondern jetzt damit beginnen, in ihrem Licht zu leben, oder mit den Worten aus
Jesaja 60: »Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt!« Ist es Zufall, dass Jesaja im
unmittelbar folgenden Abschnitt (Jes 2,6ff.) von einem Land spricht, das voller Silber und
Gold, voller Wagen und Kriegspferde ist? Es ist genau diese Situation, in die Vision von der
neuen Welt hineinspricht! Das Licht der Zukunft leuchtet hinein in die Gegenwart und nährt
dort den Keim der Veränderung. Ganz ähnlich bekennt die Gemeinde bei Micha (4,5):
Gehen auch alle Völker,
ein jedes im Namen seines Gottes,
so gehen doch wir im Namen JHWHs,
unseres Gottes für immer und ewig.
Hier müssen wir anfangen, wenn das Wort von der Zukunft Gottes für uns Bedeutung bekommen soll. Die Realität wird nicht verkannt. Sie ist, wie sie ist: Die Völker wandeln im
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Namen ihrer Götter, heißen sie nun Marduk oder Re, Marx oder McKinsey. Und wir? In wessen Namen gehen wir? Im Namen der Festung Europa? Im Namen des Marktes? Im Namen
des Ego, das feststeht und erhaben ist über alle anderen Egos? Oder ganz fromm und doch
ganz und gar heidnisch: im Namen einer religiösen Gemeinschaft, einer Kirche? Nein, sagt
die Gemeinde, die Michas Buch liest: Mögen die anderen gehen im Namen ihrer Götter, wir
gehen jetzt schon im Namen des Gottes, von dem in jener umwerfenden Verheißung zuvor die
Rede war. Wir wissen, dass diese noch nicht Wirklichkeit ist, wir lügen uns die Realität nicht
zurecht. Wir leben in der Spannung von Licht und Dunkel, von Gegenwart und Zukunft. Aber
wir sehen das Licht jener Zukunft schon über unsrer dunklen Gegenwart aufstrahlen, und wir
gehen auf dieses Licht zu. Wir sind keine Fantasten, aber wir sind auch keine stahlharten oder
windelweichen Advokaten der scheinbar unabänderlichen Realität. Wir lassen es uns nicht
nehmen, über die Realität hinauszudenken, hinauszuträumen. Wir dimmen unsere Erwartungen nicht so weit herab, dass alles im Dämmerlicht versinkt und am Ende bleiben kann, wie
es ist. Die Doxologie des Bestehenden ist unsere Sache nicht, weil wir einem anderen unser
Lob darbringen. Wir sind Träumende, weil wir wissen: Wer der Traum von der Zukunft Gottes nicht träumt, der wird die Gegenwart nicht verändern.
Ich schließe mit einem Gedicht des vor einigen Jahren verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch mit dem Titel »Utopie«, das jene andere Welt auf seine Weise zur Sprache bringt:
Ich seh’ ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh’ ein Haus aus grünem Strauch.
Und einen Fluß mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh’ ich auch.
Ich sehe ein Licht von Unschuld weiß.
Und einen Berg, der unberührt.
Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer,
der alle Tiere in die Freiheit führt.
Ich hör’ ein Herz, das tapfer schlägt,
in einem Menschen, den es noch nicht gibt,
doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt.
Weil er erscheint und seine Feinde liebt.
Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe.
Das ist die Welt, die nicht von uns’rer Welt.
Sie ist aus feinstgesponnenem Gewebe,
und Freunde, seht und glaubt: sie hält.
Das ist das Land, nach dem ich mich so sehne,
das mir durch Kopf und Körper schwimmt,
mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,
daß jeder jeden in die Arme nimmt.
© J. Barthel (2012)
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