Der Mord an Alfred Herrhausen

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Der Mord an Alfred Herrhausen
HINTERGRUND
Donnerstag, 26. November 2009
Seite 3
Der Mord an Alfred Herrhausen
Der gepanzerte Mercedes war ein Wrack.
Die Bombe hatte den Wagen hinten rechts
getroffen, wo Alfred Herrhausen saß. Foto: dpa
Er war der mächtigste Bankier der Republik,
gefragter Berater der Politik, enger Freund
von Bundeskanzler Helmut Kohl: Alfred
Herrhausen, Chef der Deutschen Bank,
wohnhaft in Bad Homburg. Vor 20 Jahren
Von Sven Weidlich
E
s verspricht, ein sonniger Tag
in Bad Homburg zu werden.
Es ist der 30. November
1989, drei Wochen nach dem Fall
der Mauer.
Alfred Herrhausen verlässt gegen
8.30 Uhr seine Villa im Ellerhöhweg, um zur Arbeit nach Frankfurt Bank habe „ihr netz über ganz
zu fahren. Er steigt in seinen gepan- westeuropa geworfen und steht an
zerten Dienst-Mercedes. Als Chef der spitze der faschistischen kapitalder Deutschen Bank gilt der 59 Jah- struktur, gegen die sich jeder widerre alte Herrhausen als besonders stand durchsetzen muss“.
gefährdet.
Die ErmittVier
Leiblungen ergewächter beben, dass die
gleiten ihn.
Terroristen
Zwei fahren
für den Anin
einer
schlag
auf
ebenfalls geHerrhausen
panzerten Li- Alfred Herrhausen † 30.11.1989
eine
techmousine vo- Serie Teil 1
nisch ausgeraus, die anklügelte
deren beiden folgen in einem wei- Mord-Maschine konstruiert hatten.
teren Wagen. Für diesen Tag wäh- Die Attentäter hatten im Seedammlen die Personenschützer die Stre- weg eine Infrarot-Lichtschranke
cke aus, die über den Seedammweg montiert. Ein Draht führte zu eiführt. Dort, nur ein paar Hundert nem Zünder, der eine Sieben-KiloMeter von Herrhausens Villa entfernt, zerfetzt eine Bombe die Limousine des Managers. Herrhausen
ist sofort tot.
Das
Attentat
Gewaltige Explosion
Der Knall der Detonation ist weit
über Bad Homburg hinaus zu vernehmen, und jeder, der ihn hört,
ahnt, dass etwas Schreckliches passiert ist. Der Donnerschlag schreckt
auch Herrhausens Frau Traudl auf.
Sie versucht, ihren Mann auf dem
Handy zu erreichen, bekommt aber
nur die Ansage, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Sie setzt
sich ins Auto, fährt zur Unglücksstelle und sieht den völlig demolierten Wagen ihres Mannes, der quer
auf der Fahrbahn steht. Sie will hin,
aber Einsatzkräfte halten sie zurück.
Herrhausens Fahrer Jakob Nix
lebt, aber er ist verletzt. Metallsplitter haben ihn im Gesicht getroffen.
Er blutet im Gesicht, als ihn Passanten aus dem Fahrzeug-Wrack ziehen. Die Polizei sperrt den Tatort
ab. Die Ermittler haben zuerst Sorge, dass sich im Gebüsch eine weitere Bombe befinden könnte, aber
dem ist nicht so. Bald treffen Fahnder des Bundeskriminalamtes ein.
Bei allen sitzt der Schock tief. Von
den Tätern fehlt jede Spur. Lediglich das leere Fluchtfahrzeug, ein
weißer Lancia mit gestohlenen
Kennzeichen, findet die Polizei am
Nachmittag am Ben-Gurion-Ring
im Frankfurter Stadtteil Bonames.
wurde er unweit seines Wohnhauses Opfer
eines feigen Verbrechens: Terroristen
sprengten seinen gepanzerten Mercedes
in die Luft. In einer neuen großen Serie
erinnern wir an Alfred Herrhausen.
Bombe scharfmachte. Der Sprengsatz lag auf einem silberfarbenen
Jugendfahrrad der Marke „Globus
2000“, das die Terroristen am Straßenrand abgestellt hatten. Bei der
Vorbereitung zu ihrer Mordtat hatten die Terroristen sich als Bauarbeiter getarnt und sogar den Bürgersteig aufgemeißelt, um den
Draht zu verlegen.
Als der Herrhausen-Konvoi dann
am Unglückstag durch den Seedammweg fuhr, warteten die Terroristen ab, bis das erste Begleitfahrzeug die Lichtschranke durchfahren hatte. Dann legte einer der Attentäter einen Schalter um. Die
Bombe war scharf. Herrhausens
Dienstwagen passierte die Lichtschranke und löste den Sprengsatz
Täter sind unbekannt
Herrhausens Tod ist bis heute ungesühnt, und mit jedem Tag sinkt
die Wahrscheinlichkeit, dass sich
die Täter für den Anschlag verantworten müssen. Wer zu dem TerrorTrupp gehörte, haben die Fahnder
bis heute nicht herausfinden können, es gibt nicht einmal einen
konkreten Verdacht. Augenzeugen
sagten aus, sie hätten vor dem Anschlag insgesamt fünf verdächtige
Personen in der Nähe des Tatorts
gesehen. Zwei von ihnen sollen als
Jogger unterwegs gewesen sein und
trugen angeblich Kopfhörer, was
darauf hindeutet, dass die Täter per
Funk in Kontakt gestanden haben.
Immer mal wieder wurde im Zusammenhang mit dem HerrhausenMord der Name des RAF-Terroristen Wolfgang Grams genannt. In
dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Black Box BRD“ stellte der
Regisseur Andres Veiel im Jahr
2001 die Lebensläufe von Herrhausen und Grams gegenüber. Grams,
der beim tödlichen Anschlag auf
den Bankmanager 36 Jahre alt war,
gehörte Ende der 80er Jahre zum
militanten Kern der RAF, die sich
auf ihre Gründer Andreas Baader
und Ulrike Meinhof beriefen.
Im Gegensatz zu den sogenannten ersten beiden Generationen der
Linksterroristen verstand es die späte RAF, sich zu tarnen. Bis heute ist
noch nicht mal genau bekannt, wie
viel Personen ihr überhaupt angehörten und sich an dem Amoklauf
gegen die Bundesrepublik beteiligten. Die meisten RAF-Verbrechen
seit 1985 – Morde, Sprengstoffanschläge, Raubüberfälle – sind nie
aufgeklärt worden. Einige Täter leben wohl bis heute unbehelligt.
Insgesamt 34 Morde
RAF-Terroristen töteten in 28 Jahren insgesamt 34 Menschen. Die
Extremisten verstanden sich als Revolutionäre und wollten mit ihrem
bewaffneten Kampf den Sturz der
Bundesrepublik herbeiführen, die
sie für faschistisch hielten.
Herrhausen war nicht das letzte
Opfer der RAF. Anderthalb Jahre
später erschoss ein Scharfschütze
den Treuhand-Chef Detlev Karsten
Rohwedder, und im Juni 1993 starb
der
GSG-9-Beamte
Michael
Newrzella bei einem Schusswechsel
mit zwei RAF-Terroristen auf dem
Bahnhof von Bad Kleinen. Den tödlichen Schuss feuerte RAF-Mann
Grams ab, bevor er sich selbst erschoss. Im April 1998 erklärte sich
die Terrorgruppe für aufgelöst.
Sieben Monate nach dem tragischen 30. November 1989, an dem
RAF-Terroristen Alfred Herrhausen
ermordeten, detonierte eine ähnliche Sprengfalle in Bonn. Damit
wollte die Rote Armee Fraktion
den Staatssekretär im Bonner Innenministerium, Hans Neusel, umbringen. Neusel hatte Glück. Weil
sein Fahrer Urlaub hatte, saß er
selbst am Steuer seines Dienstwagens und nicht wie gewohnt auf
dem rechten Rücksitz. Das rettete
ihm das Leben.
Er war der mächtigste Bankier der Republik
Er brach mit Tabus, er hatte Ideale, er bekannte sich zu Macht und Verantwortung
Von Hans Liedel
Die RAF bekennt sich
Polizisten finden unter dem Zünder der Bombe einen DIN-A4-Zettel. Auf ihm bekennt sich die Rote
Armee Fraktion (RAF) zu dem Anschlag. Auf dem Blatt prangt das Erkennungszeichen der linksextremen Terroristen, ein roter Stern mit
Maschinenpistole. Außerdem stehen dort die Worte „kommando
wolfgang beer“. Er war der Bruder
des RAF-Terroristen Henning Beer
und neun Jahre zuvor bei einem
Autounfall ums Leben gekommen.
Einige Tage später gibt es ein
weiteres Bekennerschreiben der
RAF, in dem steht, die Deutsche
aus. Eine Art Trichter lenkte den
Explosionsdruck direkt auf die
rechte Hintertür der Limousine –
hinter der Herrhausen saß. Selbst
die Panzerung des Wagens konnte
ihn nicht retten.
Polizisten, Feuerwehrmänner, Nachbarn,
Journalisten und Fotografen, die damals
vor Ort waren, schildern ihre Eindrücke
von dem Tag, der das ganze Land erschütterte.
Alfred Herrhausen war zu Hause auf dem internationalen Parkett, hier bei
einer Vertragsunterzeichnung in Moskau im Oktober 1988, im Beisein von
Kanzler Helmut Kohl und Staatschef Michail Gorbatschow.
Foto: AP
Bad Homburg. Als die mächtigen
Glocken über die Stadt hinweg
dröhnten, war in der Bad Homburger Erlöserkirche Totenstille.
Gut 1000 Menschen hatten sich
von ihren Plätzen erhoben, um
schweigend ihres Mitbürgers Dr.
Alfred Herrhausen zu gedenken.
Der Chor der Erlöserkirche
und Mitglieder des Frankfurter
Opernorchesters hatten voller Inbrunst „Ein deutsches Requiem“
von Johannes Brahms aufgeführt,
das dieser zum Tode seiner Mutter
geschrieben hatte.
Der damalige Bad Homburger
Oberbürgermeister Wolfgang R.
Assmann suchte in seiner Ansprache die Betroffenheit, den Schock
der Menschen in Worte zu fassen:
„Voll sprachlosen Entsetzens suchen die Menschen nach einer
Möglichkeit, ihre innere Verbundenheit und ihr Mitgefühl mit
dem Toten und seiner Familie
zum Ausdruck zu bringen.“
Nach dem Mord hatte sich –
wie Mehltau – noch Tage lang eine bedrückte Stimmung nicht
nur über Bad Homburg gelegt,
den Wohnort Alfred Herrhausens.
In der gesamten Republik nahm
man wahr, dass da ein ganz extremer Mensch aus dem Leben gebombt worden war, einer der ganz
groß denken konnte und an dem
sich die Geister schieden, den Assmann so beschrieb:
„Der Mensch Alfred Herrhausen war anders als das Klischee
vom
angeblichen
Konzernschmied und Beherrscher der Politik, der die Macht der Banken in
die Omnipotenz steigerte. Ganz
im Gegenteil war Herrhausen ein
Mann, der nicht nur Ideale hatte,
sondern auch sein Leben danach
ausrichtete, für den das Wort ,Ge-
wissen‘ nicht nur abstrakter Begriff,
sondern Handlungsauftrag war.“
Herrhausen war vom damaligen
Vorstandssprecher Friedrich Wilhelm Christians zur Deutschen
Bank geholt worden. Vier Tage vor
seinem 40. Geburtstag wurde er
zum Vorstandsmitglied berufen.
Als er sich von seiner ersten Frau
Ulla scheiden ließ, geriet er im damals noch durchgängig katholischen Vorstand in die Isolation, aus
der ihn Christians später wieder heraus holte.
Als „Stahlmoderator“ entwarf
Herrhausen für die Bundesregierung eine Neuordnung der StahlIndustrie.
Er schrieb Geschichte
1988 wurde er alleiniger Vorstandssprecher der Deutschen Bank, die
er konsequent internationalisierte.
Er machte sie zum „global player“
auf dem internationalen Markt.
Unter ihm übernahm die Bank das
britische Bankhaus Morgan Grenfell und lud dessen Chef John Craven ein, Mitglied im Vorstand der
Deutschen Bank zu werden.
Craven war der erste Ausländer
im Führungsgremium einer deutschen Großbank. Mit ihm stieß die
Deutsche Bank in die Londoner City vor. Mit diesem Deal schrieb
Herrhausen Bankgeschichte.
In Deutschland schrieb Herrhausen Industriegeschichte. Herrhausen war der Regisseur der Fusion
des größten deutschen Industriekonzerns Daimler Benz mit dem
größten deutsche Wehr- und Raumfahrtkonzern MBB.
In seine Zeit fiel der Verkauf des
Flick‘schen Industrie-Imperiums,
das für die Deutsche Bank ein Jahrhundertgeschäft war. Unter seiner
Führung wurde das Handelshaus
Klöckner gerettet.
Herrhausen war Berater und
Freund von Bundeskanzler Helmut
Kohl und rechtfertigte die Macht
der Banken: „Natürlich haben wir
Macht. Es ist nicht die Frage, ob wir
Macht haben oder nicht, sondern
die Frage ist, wie wir damit umgehen, ob wir sie verantwortungsbewusst einsetzen oder nicht.“
Der „Spiegel“ sah in Herrhausens Deutscher Bank schon eine
Art „Nebenregierung: Mit 300 Milliarden Mark übersteigt die Bilanzsumme der Bank den Umfang des
Bundeshaushalts. Ein Viertel des
Außenhandels läuft über die Konten des Instituts. Kein wirklich großes Geschäft, keine Entscheidung
von Gewicht in der Wirtschaft, bei
denen die Spitzen der Deutschen
Bank nicht beteiligt wären.“
Dem „Herrn des Geldes“ und seiner Macht widmete der „Spiegel“
eine Titelgeschichte. Nicht in deren
Klischee passte Herrhausens Rolle
als Vordenker in der damaligen,
weltweiten „Schuldenkrise“. In der
Gilde der Banken und nicht nur da
löste er blankes Entsetzen aus, als er
verlangte, den Entwicklungsländern bis zu 50 Prozent ihrer Schulden zu erlassen.
Herrhausen wollte, wie er ein
halbes Jahr vor seiner Ermordung
unserer Zeitung sagte, „Einsichten
in die Welt hineintragen“.
Er nahm sich Zeit und empfing
damals in Frankfurt, in den gläsernen Türmen an der Taunusanlage,
den Abiturienten Nils Genzmer
zum Interview. Genzmer war Redakteur der Schülerzeitung des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums.
Mit ihm sprach Herrhausen über
Studium oder Banklehre, über Ziele, Fleiß, den Nutzen einer Lebensplanung: „Es kommt immer anders
als man denkt.“ Herrhausen sinnierte über Macht, Einfluss, Dritte
Welt, Steuern, Umverteilung, die
Konkurrenz der Banken, über Eli-
ten. Und er gab den Schülern, ja
der gesamten jungen Generation
mit auf den Weg: „Ich habe mir
nicht das Rückgrat rausoperieren
lassen. Wir brauchen keine Anpasser.“
Herrhausen war auf seine Art
Aufklärer und Reformer. Er wollte
„Einsichten in die Gesellschaft hineintragen“. Der Bankier vertrat die
zutiefst katholische Ansicht: „Wir
leben im Kontext der Einen Welt.
Was irgendwo auf der Welt passiert,
hat Folgen überall auf der Welt, also auch für uns.“
Herrhausen brach mit Tabus. Er
focht damals mit dem behäbigen
Vorstand der Deutschen Bank, in
dem er zwar Sprecher war, aber nur
gleichberechtigt neben vielen weiteren Vorständen, deren gemeinsame Entscheidung immer einstimmig erfolgen musste. So wollte es
das Statut.
Er war seiner Zeit voraus
Alfred Herrhausen empfand als
Last für die Deutsche Bank, dass damit das langsamste Vorstandmitglied das Tempo der Bank bestimmte. Erst Josef Ackermann
wurde die Macht eines Vorstandsvorsitzenden zuerkannt. Der Vorstand wurde gestrafft.
Der frühere Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, Wilfried Guth, formulierte in einem
Nachruf auf den Ermordeten: „Alfred Herrhausen war in vielem den
Erkenntnissen und Entschlüssen
seiner Zeitgenossen, nicht zuletzt
auch der Politiker, ein gutes Stück
voraus.“
Morgen lesen Sie:
Der Schrecken
am Tatort
HINTERGRUND
Freitag, 27. November 2009
Seite 3
Abgeriegelt: Ein
großes Polizeiaufgebot sicherte den
Tatort und musste
vor allem die
Journalisten in den
Griff bekommen.
Foto: Günther
Von Matthias Kliem
„Wir haben eine Schlacht verloren“
H
arald Hollstein tritt seinen
Dienst um 6.30 Uhr an.
Der Polizeikommissar erledigt routinemäßig die ersten Geschäfte, wertet aus, plant den Tag,
verteilt Aufträge. Knapp zwei Stunden später ist fürs Erste alles geregelt, Zeit für einen Kaffee. „Man
hat dann eine gewisse Ruhephase“,
erzählt der Polizeikommissar. Doch
die Ruhe an diesem Morgen ist trügerisch. Mitten in die Entspannung
platzt der Anruf: „Die Taunus Therme ist in die Luft geflogen.“
Von einer Sekunde auf die andere stehen die Bad Homburger Polizisten unter Strom. „Da gehen alle
Antennen hoch. Da wird sofort alles, was da ist, auf die Beine gestellt“, schildert Hollstein die dramatischen Augenblicke und auch
das instinktive Gefühl: „Irgendetwas stimmt da nicht, da muss mehr
sein.“ Über Funk schickt er die
Meldung heraus: „Eventuell Gas-Explosion in der Taunus Therme“.
+++
Sie hatten schon mal die Esso-Tankstelle am Hessenring geplündert
und sich auch ansonsten nicht gerade als Musterschüler gezeigt – man
war also gewarnt vor den Anhängern der Offenbacher Kickers. Am
Samstag würden sie wieder kommen. Zum Derby gegen die
SpVgg 05 Bad Homburg, den Spitzenreiter der Fußball-Oberliga.
6000 Besucher werden erwartet,
und deshalb darf am Sportplatz
Sandelmühle nichts herumliegen,
was nicht niet- und nagelfest ist.
Erwin Paske hat sich auf den
Weg gemacht, um den Ort zu inspizieren und der gerade erst montierten Tribüne und der dortigen Baustelle die Unbedenklichkeit zu bescheinigen. Der Routine-Job auf
dem Sportgelände ist schnell erledigt. Und da 05-Geschäftsführer
Klaus Beckerling den gleichen
Rückweg hat, nimmt der Polizist
den Sportfunktionär im Streifenwagen mit. Die beiden sind gerade vor
der Pizzeria „Desirée“ in der Obergasse, als Paske am Funk die Stimme seines früheren Studienkollegen
Hollstein hört.
+++
Beim Landeskriminalamt ist für
diesen Morgen eine Tagung der
Führungskräfte angesetzt. Robert
Philippi setzt sich in Kronberg in
seinen Privatwagen und fährt nach
Das feige Attentat auf Alfred
Herrhausen vor genau 20 Jahren
hat nicht nur die vornehme
Kurstadt Bad Homburg von
einer Sekunde auf die andere
verändert. Es hat sich auch in
das Gedächtnis vieler Menschen
unauslöschlich eingebrannt.
Angehörige, Freunde, Kollegen,
Nachbarn, Einsatzkräfte und
Politiker haben die dramatischen
Ereignisse des 30. November
1989 noch heute in fester
Erinnerung. Wir haben mit
Wiesbaden. Der stellvertretende und den Blick freigibt. Paske sieht
Einsatzleiter des Regierungspräsidi- das anthrazitfarbene Auto von Alums Darmstadt parkt das Auto, fred Herrhausen quer auf der Strageht zum LKA – und wird dort mit ße stehen, und da ist für ihn klar,
den Worten empfangen: „Herr Phi- „was Sache ist“.
lippi, Sie müssen sofort los. In Bad
„Ein Riesendurcheinander. MenHomburg ist etwas passiert, könnte schen laufen hin und her. Autos
ein Attentat sein.“ In solchen Situa- fahren in das Parkhaus rein und
tionen gibt es nicht viel zu fragen. raus. Es ist das absolute Chaos.“
„Ich hab’ auf der Sohle kehrtgemacht.“
Zur selben Zeit startet mit
dem selben Auftrag ein Team
des Landeskriminalamts, rast
mit Blaulicht und Martinshorn
Richtung Autobahn. Philippi
wählt den Weg über den TauAlfred Herrhausen † 30.11.1989
nus, fährt über die B 455. „Fragen Sie mich nicht, wie! Das
Serie Teil 2
hätte gereicht für 100 Punkte in
Flensburg und fünf Jahre Führer- Der Polizeibeamte setzt sich in den
scheinentzug.“ Lange bevor die Streifenwagen, stößt zurück, bloKollegen des LKA eintreffen, steht ckiert die Ausfahrt, damit niemand
der Kronberger mit seinem Wagen mehr über den Tatort fährt. Als er
aus dem Wagen springt, holen Pasvor der Absperrung der Polizei.
santen gerade den völlig verstörten
+++
Fahrer von Herrhausen aus dem
Um 8.34 Uhr durchfuhr der gepanzer- Autowrack, bringen ihn zur Bushalte Mercedes 500 die getarnte Infrarot- testelle am Straßenrand. Die PersoLichtschranke im Seedammweg und nenschützer der Deutschen Bank
löste den Zünder für eine Bombe der rennen wild umher. „Die waren toRAF aus. Der Sprengsatz trifft die Li- tal irre, schockiert. Ich rief: ,Steckt
mousine mit voller Wucht an der rech- eure Waffen weg, steckt die Dinger
ten hinteren Seite, auf dem Rücksitz weg, bevor hier irgendwas passiert.’“
stirbt Alfred Herrhausen, VorstandsErwin Paske hechtet in seinen
sprecher der Deutschen Bank.
Streifenwagen, setzt einen Funkspruch ab, den er nie wieder verges+++
sen wird: „Hier Limes 11 23, hier
Erwin Paske hat den Knall nicht ge- Limes 11 23, Ring 20, Ring 20,
hört, seinen Fahrgast aber sofort hi- Schutzperson 2, Exitus.“ Zu dieser
nauskomplimentiert. Er biegt mit Zeit ist der Römerwall Namensgeseinem Streifenwagen in den See- ber sämtlicher Einsatzwagen, „Ring
dammweg. Er blickt zur Taunus 20“ legt die Raumtiefe für die RingTherme, sieht eine Rauchsäule, fahndung fest, und es gab keinen
denkt sich: „Das ist es! Nein, das ist Polizeibeamten im ganzen Hoches doch nicht, das ist nur der auf- taunuskreis, der nicht wusste, wer
steigende Wasserdampf in der kal- Schutzperson 2 ist. „Das war Herrten Luft.“ Er hat das Auto kaum ge- hausen.“
parkt, da sieht er, wie die
+++
Menschentraube, die
In der Polizeizentrale hören Hasich auf dem Seerald Hollstein und seine Kolledammweg gebilgen den Funkspruch. „Da geht
det hatte, auseinatürlich Adrenalin hoch, da
nander
geht
muss man funktionieren und
alles rausholen, was man gelernt hat“, sagt der Dienstgruppenleiter. Und so läuft die Maschinerie an: Aus dem ganzen Haus
werden die Kräfte zusammengetrommelt, es wird
Kontakt mit der DRKLeitstelle hergestellt,
Straßensperren
werden aufgebaut,
Autos
überprüft
und ein Kollege allein für die minutiöse Dokumentation der Befehle
und Abläufe bestellt.
Das
Attentat
Das Einsatzprotokoll der Bad Homburger Feuerwehr zeigt minutengenau, wie der dramatische Tag verlaufen ist – Peter Dietz wird ihn aber auch so niemals vergessen. Foto: Reichwein
+++
Am Unglücksort
Zeitzeugen aus den verschiedensten Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens über
den Tag gesprochen, der die
Republik erschütterte. In
bewegenden Beiträgen schildern
sie, was sie in den Stunden des
jagt Erwin Paske die Schaulustigen
weg, geht zum zertrümmerten Mercedes, sieht den regungslos im Fond
liegenden Alfred Herrhausen. „Ich
habe dann noch den Puls gesucht,
aber da war nichts mehr.“
+++
Peter Dietz steht gerade mit einem
Kameraden an der Werkbank
der Feuerwache in der Schwalbacher Straße („Wir haben irgendetwas repariert, ich kann nicht
mehr sagen, was das war“), als er
den Knall hört. Sekunden später
geht der Notruf ein: „Brennender Pkw, Taunus Therme, Parkdeck“. Um 8.43 Uhr trifft er am
Unglücksort ein. Zu löschen
gibt es für den Bad Homburger
Feuerwehrmann und seine Kameraden nichts. Die Motorhaube der 2,8
Tonnen schweren Limousine ist
weg, die Scheiben sind draußen,
aber das Auto hat kein Feuer gefangen. Und trotz der immensen
Wucht der Explosion läuft der Motor noch, die Aggregate brodeln.
„Wir haben dann die Batterie abgeklemmt und der Polizei geholfen,
den Tatort abzuriegeln.“
+++
In der Kaiser-Friedrich-Promenade
denkt Jürgen Schickling zuerst an
einen Flugzeugabsturz, als er den
„fürchterlichen Schlag“ hört. Mit
einem Kollegen nutzte der Rettungsassistent gerade die einsatzfreie Zeit, um in der Rotkreuz-Zentrale ein Reservefahrzeug zu reinigen – die Arbeit sollte er an diesem
Tag nicht mehr vollenden. Kurz
nach dem Knall kommt der Alarm
über den Funkmelde-Empfänger.
Wie bei der Feuerwehr ist von einem brennenden Auto auf dem
Parkdeck die Rede, die Wirklichkeit
sieht anders aus. „Ich konnte mir
erst gar keinen Reim darauf machen“, beschreibt Schickling den
Moment, als er im Seedammweg
eintrifft. Die Sanitäter gehen zum
Wrack des quer stehenden Wagens
und müssen erkennen, dass für Alfred Herrhausen jede Hilfe zu spät
kommt. Kurz darauf kommen weitere DRK-Kräfte, versorgen den Fahrer des Deutsche-Bank-Chefs und
bringen ihn mit vergleichsweise
leichten Verletzungen ins Bad
Homburger Krankenhaus.
Noch ist nicht klar, ob es vielleicht noch eine weitere Bombe
gibt. Jürgen Schickling parkt seinen
Rettungswagen in einer Seitenstraße und bleibt den Rest des Tages in
unmittelbarer Nähe des Tatorts in
Bereitschaft.
+++
Es ist dieses Grün-Grau, mit dem
alles überpudert ist. „Das wirkte auf
mich geisterhaft, irgendwie unreal.“ Robert Philippi sollte die tris-
Schreckens, der Trauer und der
Fassungslosigkeit erlebt, gedacht
und gefühlt haben. In der
heutigen Folge unserer großen
Serie kommen die Einsatzkräfte
von Polizei, Feuerwehr und
Rotem Kreuz zu Wort.
te Szenerie, die der Sprengsatz (von
7 kg ist die Rede) im Seedammweg
hinterlassen hat, noch zwei Jahrzehnte später genau vor Augen haben. Er macht einen Bogen um den
Tatort, will keine Spuren verwischen. Er trifft Erwin Paske, stellt
sich vor, „und dann haben wir gemeinsam überlegt, was wir an Kräften brauchen, wo die Absperrung
stehen muss, wer noch zu alarmieren ist“. Das Chaos muss beherrscht, der Job gemacht werden,
für Emotionen ist da kein Raum.
„Man funktioniert. Zumindest für
mich kann ich das so sagen. Man
muss sich von dem Ereignis lösen
und versuchen, das Geschehen in
den Griff zu bekommen“, erzählt
Philippi.
In den Griff bekommen müssen
die Einsatzkräfte vor allem die Journalisten, die innerhalb kürzester
Zeit in Scharen am Unglücksort
eintreffen. Jeder will das Bild des
Tages, ein Interview, eine Stellungnahme. „Es gab Pressevertreter, die
sind sogar durch den Kanal gekrochen, um näher an den Tatort zu
kommen“, hat Paske kopfschüttelnd beobachtet. Andere dringen
auf das Herrhausen-Grundstück im
Ellerhöhweg vor und drücken ihre
Nasen an die Scheiben der Villa.
Und eine Illustrierte schickt gar einen Hubschrauber über die Unglücksstelle, der Spuren verwirbelt
und von Helikoptern der Polizei
abgedrängt werden muss.
Als er am Unglücksort eintrifft, ist
auch Karl Weidinger schon dort.
„Ich sehe das noch wie heute. Der
Fahrer des Küchenwagens steigt
aus, wird gefragt, ob er die Einsatzkräfte verpflegen kann, und sagt:
,Ich kann Kaffee kochen’“ – so beschreibt der damalige Rettungsdienstleiter für den Hochtaunuskreis die Situation. In den nächsten
Stunden werden Weidinger und
zahlreiche weitere DRK-Helfer das
Essen für die Polizisten besorgen.
Die Rotkreuzler nutzen ihren guten Draht zur Krankenhaus-Küche
(„Die hatten immer einen Kessel
frei“), holen dort mehrere hundert
Portionen ab und bahnen sich ihren Weg – teilweise mit Blaulicht
und Polizei-Eskorte – zu den Beamten an der Einsatzstelle, den Straßensperren und im Kommissariat.
+++
„Du lieber Gott. Ich kleiner Oberkommissar, jetzt mitten in einer so
großen Lage. Was ist, wenn du jetzt
falsch atmest oder den kleinsten
Fehler machst?“, denkt Paske zwischendurch. Für lange Gedanken
ist an diesem Tag keine Zeit, doch
später wird man ins Grübeln geraten. „Es wird immer ein Ereignis
+++
Der Einsatzleitwagen der Homburger Wehr wird für diesen Tag zur
zentralen Anlaufstelle der Helfer
und Ermittler. „Irgendwann gucke
ich aus dem Wagen und denke:
,Was ist denn das jetzt?’ Das war
RTL mit einem 20 Meter langen Teleskop-Ausleger, an dem eine große
Satellitenschüssel hing.“
Jeder telefoniert, schon bald ist
das Netz zusammengebrochen.
Selbst die Geräte der Polizei funktionieren nicht mehr. Zum Glück
gibt es bei der Gonzenheimer Feuerwehr einen Kameraden, der als
Fernmelder bei der Post arbeitet. Es
ist 10.32 Uhr, als Udo Schmidt alarmiert wird und dem Krisenstab
über einen Verteilerkasten am Straßenrand und Anschlüsse in Nachbarhäusern eine stabile Verbindung
herstellt. Später wird die Feuerwehr
dem Bundeskriminalamt (BKA) sogar noch Funkgeräte aus eigenen
Lagerbeständen besorgen, weil die
BKA-Geräte ihren Dienst versagen.
+++
Inzwischen sind mehrere Hundertschaften an Polizisten im Einsatz,
und das schafft ein weiteres Problem: Sie müssen verpflegt werden.
Auf die Schnelle wird aus Wiesbaden ein Küchenwagen geschickt.
Amtsgerichts arbeiteten, sollen sogar noch gefragt haben, warum sie
da so rummeißeln, ob sie kein ordentliches Werkzeug hätten. Und
nicht zuletzt das silberfarbene Jugendfahrrad Marke „Globus 2000“,
auf dem die tödliche Bombe – versteckt in einer weißen Plastiktasche
– montiert war. Es stand an einem
Begrenzungspfahl, und keiner
dachte sich etwas dabei. Auch nicht
die Personenschützer, die im Auto
vor Herrhausen saßen und zuerst
daran vorbeigefahren waren.
Die Definition „Verkettung unglücklicher Umstände“ wird bemüht, soll aber keine Entschuldigung sein. Hinzu kam eine bis dahin nicht dagewesene Perfektion.
„So präzise vorzugehen – da kann
man nur sagen: Das sind GuerillaErfahrungen“, ist Harald Hollstein
überzeugt. Dass die dritte RAF-Generation über internationale Kontakte verfügte, gilt inzwischen als sicher. Schon ein Jahr vor dem Anschlag sollen die deutschen Terroristen sich bei den italienischen Brigate Rosse nach panzerbrechenden
Waffen erkundigt haben.
+++
Paske und Philippi bleiben bis in
die Abendstunden am Unglücksort. „Der Tag hatte für mich kein
Ende, Zeit spielte keine Rolle“, sagt
Paske, und dann wird er nachdenklich: „Das war mein Tatort. Das war
mein Tatort. Ich habe das damals
als persönliche berufliche Niederlage empfunden. Wir haben da eine
Schlacht gegen den Terrorismus
verloren. Das ist heute noch meine
Ansicht. Wir wussten ja um die Gefährdung von Herrhausen. Wir
wussten es ja.“
Die Hoffnung, den berühmten
Fingerabdruck auf dem hinteren
Kennzeichen zu finden (RAF-Terrorist hatten sich eine Zeitlang auf
diese Art zu Anschlägen bekannt),
erfüllte sich nicht. „Ich wüsste gerne und kann mir vorstellen, die Familie Herrhausen wüsste es noch
lieber, wer das getan hat. Wer die
feigen Täter sind. Für mich war das
feige“, sagt Paske.
+++
Wegen der massiven Polizeikontrollen (hier am Hessenring) ging in
Bad Homburg stundenlang gar
nichts. Am Nachmittag wurden sogar Staus bis Mainz und Aschaffenburg gemeldet.
Foto: Bender
geben, das es noch nicht gab. Ein
Ereignis, wo die Umstände so sind,
dass eine Lücke entsteht, und es
passieren kann. Es gibt keine absolute Sicherheit“, analysiert Phillipi.
Im Fall Herrhausen weiß man
später, dass der Hausmeister der
Taunus Therme Wochen vor dem
Anschlag einen Klingeldraht im
Gebüsch entdeckte und sich nichts
weiter dabei gedacht hat. Man wird
erfahren, dass Männer, die als Bauarbeiter verkleidet waren, den Gehweg aufstemmten, um ein Kabel zu
verlegen. Handwerker, die gerade
am Neubau des benachbarten
Erwin Paske ist heute Leiter der Polizeistation Königstein. Den Unglücksort und die 1996 im Seedammweg aufgestellten Steinsäulen, die an Alfred Herrhausen und
das feige Attentat erinnern, sieht er
noch häufig – immer, wenn er zum
Schwimmen geht. An jedem Jahrestag des Verbrechens liegt dort ein
Kranz von Helmut Kohl, der Herrhausen duzte und freundschaftlich
„Don Alfredo“ nannte. Den Polizisten lässt das stille Gedenken am
Ort des grausamen Geschehens
nicht unberührt: „Ich gehe dann
schon mal hin und ziehe die Schleifen glatt.“
Morgen lesen Sie:
Journalisten, die zuerst
am Tatort waren, berichten
Zum Reinhören: Die Interviews mit den Einsatzkräften unter www.fnp.de/einsatzkraefte/
HINTERGRUND
Samstag, 28. November 2009
Seite 3
Bis hierhin und nicht weiter: Die Journalisten wurden von der Polizei hinter die Absperrung geschickt.
Foto: Jochen Günther
Die Jagd nach dem Bild des Tages
Von Matthias Kliem
D
as Bild ist um die Welt gegangen. Das Wrack des anthrazitfarbenen Mercedes
500, in dem Alfred Herrhausen
starb, wird am 30. November von
sämtlichen
Nachrichtagenturen
verbreitet und auf allen Sendern
gezeigt. So groß die Schar der Journalisten ist, die zum Unglücksort
geeilt sind, so stereotyp muten die
Bilder an: stets das gleiche Motiv,
stets die gleiche Perspektive. Der
Grund ist schnell erzählt: Die Polizei hat den Ort des Verbrechens innerhalb kürzester Zeit abgeriegelt,
Fotografen und Kamerateams werden nur noch blockweise bis zur
Absperrung vorgelassen und dann
wieder ins Glied zurückgeschickt.
Zwei Journalisten allerdings machen an diesem Tag Aufnahmen,
die kein anderer hat: Joachim
Storch und Dr. Hans Liedel.
Knirschen unter den Füßen
„Als ich in den Seedammweg kam,
war die Feuerwehr schon da, aber
es war noch alles offen“, erinnert
sich Joachim Storch. Der Bad Homburger fotografiert die Unglücksstelle aus den unterschiedlichsten
Perspektiven, hat das Gefühl,
auf knirschendem Kies zu
laufen, aber das sind die
Glassplitter. „Es hat auch
keiner etwas gesagt. Ich habe
dann meine Bilder gemacht,
bis jemand vom Landeskriminalamt kam und sagte:
,Hier läuft keiner
mehr rum’. Dann
musste ich hinter
die Sperrgitter,
konnte nur noch
aus der Ferne fotografieren.“
Dass es sich bei
dem Opfer, das
sich zu diesem
Joachim Storch
mit seiner alten
Kamera (eine
Nikon F 3), mit der
er damals die Aufnahmen von dem
HerrhausenAttentat machte.
Foto: Rhode
Schlagzeilen nach
dem Anschlag
auf Herrhausen
Der Anschlag der RAF-Terroristen
auf den Deutsche-Bank-Chef war
in den Medien natürlich das allein
beherrschende Thema in den
Tagen nach dem 30. November
1989. Alle Tageszeitungen und
Magazine widmeten dem heimtückischen Mord an Alfred Herrhausen eine große Aufmachung.
Hier eine Auswahl der Titelseiten.
Es war ein Tag, der Polizei und
Helfern alles abverlangte. Dem
Anschlag auf Alfred Herrhausen
vor genau 20 Jahren folgte ein
Großeinsatz, bei dem alles auf
den Beinen war, was auf die
Schnelle mobilisiert werden
konnte. Doch auch eine andere
Berufsgruppe hatte am
30. November 1989 einen
Einsatz, für den alle verfügbaren
Kräfte zusammengetrommelt
wurden und den die Beteiligten
nicht mehr vergessen sollten:
Zeitpunkt noch in dem Wagen be- seine Bilder zusammen. „Ich bin
findet, um den Vorstandssprecher dann in meine Wohnung in Gonder Deutschen Bank und mithin ei- zenheim gefahren und habe in meinen der mächtigsten Wirtschafts- nem kleinen Labor die Negativführer der Republik handelt, er- streifen entwickelt“ – und schon
fährt Storch erst jetzt. „Das ist dann dabei ist er nicht mehr allein. „Unirgendwann durchgesickert.“
terwegs hatten mich Leute von der
Als freier Mitarbeiter für die
lokale Presse ist der damalige Jura-Student auf Berichte über die
Einsätze der Feuerwehr spezialisiert. „Damit hatte ich mir im
Laufe der Jahre einen Namen
gemacht. Und dann kennt man
natürlich Einsatzkräfte, die BeAlfred Herrhausen † 30.11.1989
scheid sagen, wenn irgendwo etwas los ist. Und so war das auch
Serie Teil 3
an diesem Tag.“
Die Meldung, die Storch am ,Bunte’ angesprochen und gefragt,
Morgen nach der Zeitungslektüre ob sie Bildmaterial haben könnund dem lauten Explosions- ten.“ Einem Geistesblitz folgend
knall erreicht, lautet kurz und ruft Storch seinerseits noch die Reknapp: Vor dem Seedamm- daktion des „Stern“ an – und schon
bad ist der Tank eines Autos ist er mittendrin im schonungsloexplodiert. „Da war nichts sen Bieterkampf der Medien um
von Attentat oder Terror die brisanteste Nachricht und das
oder wer da im Auto beste Foto. Später wird er einmal
saß.“ Doch so sagen, dass er alles „wie in Trance“
vermeintlich
erlebt hat.
harmlos
„Da saß dann der ,Bunte’-Reporsich die ers- ter in meinem kleinen Wohnzimten Infor- mer, wo der Ölofen, den ich mit der
mationen
Kanne befüllen musste, vor sich hin
anhören,
bullerte, während ich mit dem
so dra- ,Stern’ telefonierte“, schildert Joamatisch
chim Storch die Situation, die für
verläuft
ihn etwas Surreales hat. „Die haben
der wei- mir für meine drei Filme mit je
tere Tag des 36 Schwarz-Weiß-Aufnahmen Preise
jungen Repor- um die Ohren gehauen, die für
ters.
mich unvorstellbar waren. Ich habe
Noch drei, das null forciert, ich habe nur dagevier Stunden sessen und wusste nicht, wie mir
bleibt
Joa- geschah.“
chim Storch
Irgendwann im fünfstelligen Beam
Un- reich steigt die „Bunte“ aus, doch
glücksort,
der Journalist der großen Illustrierdann hat er ten gibt dem unerfahrenen Lokalre-
Das
Attentat
die Journalisten. Aus der ganzen
Republik und sogar aus dem
Ausland eilten Medienvertreter
nach Bad Homburg, ganze
Straßenzüge waren von
Pressefahrzeugen und Übertragungswagen zugeparkt. Im
porter ein Zeichen und sagt leise:
„Mach weiter!“ Wenig später ist
man sich handelseinig.
Therme-Chef als Türöffner
dritten Teil unserer Serie berichten der Fotograf Joachim
Storch und der damalige Redaktionsleiter der Taunus Zeitung,
Dr. Hans Liedel, wie sie diesen
dramatischen und unvergessenen
Tag erlebten.
Erst da blickt der Lokaljournalist
hinter sich und sieht die rund
50 Medienvertreter, die mit ihren
Foto-Apparaten und Kameras frustriert hinter der Absperrung verharren. „Ich bin von der Taunus Zeitung, ich bin von der Taunus Zeitung“, ruft Liedel – „aber das hat
die Polizisten überhaupt nicht interessiert.“ Und hätte nicht der Geschäftsführer der Taunus Therme
das vertraute Gesicht des jungen
Mannes entdeckt – es wäre Hans
Liedel wohl nicht anderes übriggeblieben, als sich hinter dem Flatterband zu den wartenden Kollegen
zu gesellen.
So aber bietet sich ihm eine einmalige Chance: Durch die Katakomben der Therme gelangt er
Als Hans Liedel an diesem Tag
nach Bad Homburg kommt, ist irgendetwas anders. Auf einer
Brücke über der Autobahn hat
der damalige Redaktionsleiter
der Taunus Zeitung schon einen
Polizisten mit Maschinenpistole
gesehen und eine Großfahndung vermutet. Kurz darauf
fährt er über die Pappelallee in
die Stadt und nimmt erst gar
nicht so recht wahr, dass ihm
nur wenige Autos entgegen
kommen. Sekunden später weiß er,
warum: Die Polizei hat die Ausfallstraßen
abgeriegelt.
Während er sich noch
wundert, kommt im
Autoradio die Nachricht: „Attentat auf
Herrhausen in Bad
Homburg“.
„Als Lokalreporter
läuft man in einem
solchen
Moment
heiß. Ich bin in die
Redaktion geeilt, hab’
Dem damaligen Redaktionsleiter der Taunus Zeidie Kamera geholt,
bin die Kaiser-Fried- tung, Hans Liedel, gelang es, den Zündmechanisrich-Promenade ent- mus der Bombe zu fotografieren.
lang gerast und bekam doch tatsächlich kurz vor dem zum Seufzerpfad, der den Kurpark
Seedammweg noch einen Park- mit dem Seedammweg verbindet.
platz.“ Hans Liedel rennt um die „Dort war der Zünder in die Erde
Kurve, sieht das rot-weiße Flatter- eingegraben“, erinnert sich Liedel.
band, springt mit einem Satz drü- „Ich durfte ihn fotografieren, und
ber und sieht das schockierende so hatte die Frankfurter Neue PresBild der zertrümmerten Limousine. se ein Foto, das sonst niemand in
Er muss nicht überlegen, was als der ganzen Republik hatte.“ Erst
Nächstes zu tun ist – die Polizei später sollte es auch in „Stern“ und
nimmt ihm die Entscheidung ab: „Spiegel“ zu sehen sein – sie be„Stehen bleiben! Zurück! Was glau- sorgten sich die Aufnahme von
ben Sie, warum hier abgesperrt ist!“ dem forschen Bad Homburger Lo-
kaljournalisten, der heute stellvertretender Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse ist.
Hans Liedel befragt noch einige
Augenzeugen, macht sich dann
wieder auf den Weg in die Redaktion und greift zum Telefon. „Wir
wollten natürlich wissen, was
macht Frau Herrhausen, was ist mit
den Kindern? Nur mit Mühe konnten wir in Erfahrung bringen, dass
sie die Tochter aus der Schule abgeholt hatte. Dann gingen im übertragenen Sinne die Vorhänge runter,
und es war für uns auch eine Frage
des Respekts gegenüber den Angehörigen, dass man in seinem Informations-Beschaffungs-Eifer zurücksteckt und es gut sein lässt.“
Kein Lachen in der Stadt
Am späten Nachmittag geht Hans
Liedel über die Louisenstraße. Die
Stimmung, die er dabei verspürt, ist
ihm noch heute gegenwärtig: „Ich
hatte den Eindruck, es ist viel leiser
in der Stadt. Man hat gar kein Lachen vernommen. Die Leute haben
nicht viel geredet. Es war bedrückend. Ich bin mir sicher, dass ich
mir das nicht nur eingebildet habe
– es war so.“ Der Journalist trifft
Ernst Schneidereit, den Vorsitzenden der örtlichen Aktionsgemeinschaft. Ein Mann, mit dem er schon
oft und gern geredet hat – aber an
diesem Tag ist beiden nicht nach
Reden zumute. „Wir haben uns die
Hände gegeben, als würden wir uns
gegenseitig Beileid wünschen. Aber
wir haben quasi nichts gesagt und
sind dann weitergegangen.“
Im Flieger nach Hamburg
Was im großen Nachrichten-Geschäft zum Alltag gehört, macht
Joachim Storch noch heute zu
schaffen: „Ich habe nach wie vor
Probleme damit. Ich finde es irgendwie makaber, mit einem so
schrecklichen Ereignis Geld zu verdienen – aber so eiskalt geht es
manchmal im Journalismus zu.“
Die „Stern“-Redaktion hat sich
nicht nur die Foto-Rechte für ein
Sonderheft gesichert, sie will auch
die Negative haben – noch am gleichen Tag. „Die sagten zu mir, ich
soll mich jetzt sofort in die nächste
Maschine setzen und nach Hamburg fliegen“, erinnert sich Storch.
Ganz Bad Homburg ist abgeriegelt, auf den Straßen geht nichts
mehr. „Zum Glück hatte ich durch
meine Spaziergänge mit meinem
Hund gute Ortskenntnis und bin
dann mit meinem kleinen SuzukiGeländewagen völlig unbehelligt
über einen Feldweg auf die Autobahn gekommen.“ Storch fliegt
nach Hamburg, liefert seine Negative ab und fährt – weil es keine Flüge mehr gibt – noch in der gleichen Nacht mit einem Sixt-Mietwagen wieder zurück.
„Ich war tief beeindruckt“
Nur wenige Wochen nach dem Attentat trifft sich Hans Liedel zu einem Gespräch mit Traudl Herrhausen. „Diesen Tag werde ich nie vergessen“, sagt der Journalist. Die beiden sitzen an einem Tisch, Liedel
hat den Notizblock gezückt, macht
Notizen, stellt Fragen – und dann
kommt der Fotograf. Blitzlicht flackert auf, und plötzlich stoppt
Traudl Herrhausen die Aufnahmen.
Sie hat Tränen in den Augen: „Bitte
lassen Sie uns einfach so reden und
machen Sie nichts für die Zeitung.“
„Es war zu früh“, muss der Redakteur erkennen. „Ich habe das
natürlich akzeptiert und durfte
noch eine gute Stunde mit ihr reden, über Alfred Herrhausen, seine
Pläne, seine Ziele, seine Visionen,
über die Deutsche Bank. Ich war
tief beeindruckt.“
Montag lesen Sie:
Wie die Nachbarn
das Attentat erlebten
Zum Reinhören: Was Journalisten erlebt
haben unter www.fnp.de/presse/
SERIE
Seite 16
Montag, 30. November 2009
Dramatische Stunden im Sperrgebiet
Der Ort, an dem Alfred Herrhausen stirbt, ist kein
einsamer Fleck: Taunus Therme, Seedammbad,
Amtsgericht, Kaiser-Friedrich-Gymnasium und
zahlreiche Wohnhäuser befinden sich in unmittelbarer
Nähe. Am 30. November 1989 halten sich dort
viele Menschen auf. Sie sind die ersten Zeugen
des schrecklichen Verbrechens. Im vierten Teil
unserer Serie schildern sie ihre Erlebnisse.
Von Marc Kolbe und Anke Hillebrecht
W
as wäre, wenn? Diese Frage hat sich Dirk Langbecker oft gestellt. Was wäre, wenn er an diesem Tag nur einen Hauch später über die Straße
gegangen wäre? Wenn er sich beim
Ablesen des Zählerstands im Parkhaus etwas mehr Zeit genommen
hätte? Wenn er noch einen Augenblick vor der Tür verharrt hätte, bevor er durch den Personaleingang
wieder die Taunus Therme betrat?
Am heutigen Montag hat er Geburtstag, seinen „46.“. Seit dem
30. November 1989 hat er doppelten Grund, diesen Tag zu feiern:
Dirk Langbecker war nur wenige
Meter entfernt, als die Bombe in
die Limousine von Alfred Herrhausen einschlug.
„Nein, diesen Tag werde ich niemals vergessen. Ich war ja hautnah
dabei, wäre fast selbst in die Luft
geflogen. Das hat einen unheimlichen Schlag getan.“
Am Morgen trinkt er mit seiner
damaligen Freundin (und heutigen
Frau) noch schnell einen Kaffee
und macht sich gegen 6 Uhr auf
den Weg zur Therme, wo er seit
fünf Jahren als Techniker arbeitet.
Ein verdächtiger Mann
„Ich war bester Stimmung – und
das nicht nur, weil ich Geburtstag
hatte, sondern auch, weil ich deswegen schon um 14 statt um 16 Uhr
Schichtende haben sollte.“
Um kurz vor halb 9 Uhr geht er
ins Parkhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Seedammwegs. Im Technikraum stellt er den
Zähler, der die ein- und ausfahrenden Autos registriert, auf null. Reine Routine. Anschließend geht er
zurück zur Therme.
„Gerade als ich durch den Personaleingang das Gebäude betreten
wollte, fiel mir oben auf dem Seufzerpfad ein Mann auf. Dieser Pfad
führt vom Seedammweg über die
Augusta-Allee in den Kurpark. Der
Legende nach heißt der Pfad so,
weil Zocker, die in der Spielbank
Geld verloren hatten, dort seufzend
entlanggelaufen sind. Und von diesem Pfad führt auch eine Treppe
zum Gelände der Taunus Therme,
und genau an dieser Stelle stand
nun dieser Mann. Er trug einen
grauen Jogginganzug, eine Daunenweste und eine dunkle Pudelmütze.
Irgendwie machte er aufgrund sei-
nes Körperbaus einen militärischen
Eindruck auf mich.“
Dirk Langbecker wundert sich
für einen Moment, warum diese
ominöse Person da nur rumsteht
und nicht weiter joggt oder läuft.
Er betritt die Taunus Therme über
den Personaleingang – und dann
macht es einen Riesenschlag. Eine
gigantische Druckwelle reißt die
vier schweren Eisentüren an der
Gebäudefront zum Seedammweg
aus der Verankerung, etliche Scheiben zerspringen.
Angst vor Schießerei
„Mein Auto, ein Peugeot 205, sah
aus wie durchlöchert. Unzählige
Steine waren in die Karosserie eingeschlagen. Ich bin dann sofort mit
meinem Vater, der damals Technischer Leiter der Therme war, rausgerannt. Dabei sah ich auch, wie
der merkwürdige Jogger Richtung
Augusta-Allee wegrannte.“
Zuerst denken die beiden an eine Gas-Explosion, weil ein Kollege
kurz zuvor noch gesagt hatte, dass
er eine Gas-Leitung im Kino der
Therme überprüfen wolle. Aber:
Fehlanzeige. Vater und Sohn vermuten dann einen Unfall und rennen die Zufahrt hinauf auf den
Seedammweg.
„Da stand eine völlig zerstörte naleingang gewesen, hätte das für
Mercedes-Limousine, und
ich mich schlimm ausgehen können“,
konnte auch Dr. Herrhausen auf weiß Langbecker. „Dann hätte ich
dem Rücksitz sehen. In diesem Mo- die herumfliegenden Steine in den
ment stieg der Fahrer, mit einer Rücken bekommen. Ich hatte ja an
Waffe in der Hand, aus dem Fahr- meinem Auto gesehen, mit welcher
zeug aus. Auch die Leibwächter – Wucht die Steine das Blech durchebenfalls bewaffnet – hatten die Be- schlagen hatten.“
gleitfahrzeuge verlassen. Sofort
Innerhalb weniger Minuten
brach ein riewimmelt
es
siges
Chaos
vor Polizisten,
aus.“
wenig später
Jetzt ist den
kreisen HubTherme-Beschrauber
schäftigten
über dem Tatklar: Es kann
ort. Das Persosich nur um
nal und die
ein Bomben- Alfred Herrhausen † 30.11.1989 rund 100 GäsAttentat han- Serie Teil 4
te dürfen die
deln.
Um
Therme nicht
nicht selbst in die Schusslinie zu verlassen. Immer wieder werden
geraten („Irgendwie war ich über- Mitarbeiter und Besucher von der
zeugt, dass hier gleich eine Schieße- Polizei befragt. An Feierabend um
rei losgeht“), ziehen sich die beiden 14 Uhr ist für Dirk Langbecker
in die Therme zurück. Dort wird längst nicht mehr zu denken –
Dirk Langbecker so langsam be- überhaupt ist das Interesse an seiwusst, was für ein Glück er gerade ner Person immens.
hatte. „Ich war Luftlinie gerade mal
Vor der Therme hatten sich un100 Meter von der Explosion ent- zählige Pressevertreter versammelt.
fernt. Wäre ich nur ein paar Sekun- „Einige boten mir für ein Stateden später an der Tür zum Perso- ment sogar Geld an. Da standen
dann plötzlich viele Leute, Trittbrettfahrer, die behaupteten, irgendwas gesehen zu haben. Ich
selbst habe aber nur kurz mit einem Fernsehsender gesprochen.“
Am frühen Abend darf Dirk
Langbecker gehen, zu Hause warten bereits die ersten Gäste der Geburtstagsparty. Die Polizei lotst den
jungen Mann um die Pressemeute
herum und bringt ihn zu einem Taxi. „Zu Hause wollten dann alle
wissen, was passiert war – die Stimmung war schon komisch.“
Das
Attentat
Scheiben zerbersten
Die Detonation war so stark, dass die große Glaswand im Seedammbad
zerbarst. Fred Winkler (77) hat das Bild noch vor Augen.
Foto: Reichwein
Auch Fred Winkler (77) erinnert
sich noch heute an die ohrenbetäubende Detonation. „Ich saß in meinem Büro“, erzählt der damalige
Leiter des Seedammbads. Zuerst
Es dauerte nur kurz, dann war
der Tatort hermetisch abgeriegelt. Selbst Anwohner
kamen nur noch durch die
Sperren, wenn sie ihren Ausweis vorzeigten.
Foto: Bender
denkt er, dass etwas auf der Baustelle passiert ist (zu der Zeit wird gerade das Seedammbad umgebaut).
„Als ich aus meinem Büro rauskam
und ins Schwimmbad laufen wollte, sah ich, dass von der neuen abgehängten Decke Paneele herausgebrochen waren.“ Als er rüber zur
Taunus Therme schaut, sieht Winkler eine Qualmwolke. „Da war mir
klar, dass dort was Schlimmes passiert sein musste.“
Zunächst denkt er an die Therme selbst – sie hatte ja schon mal
gebrannt. Winkler läuft hinaus, und
auch seine Frau eilt aus der im Seedammbad gelegenen Dienstwohnung herbei. Zur gleichen Zeit, so
erinnert sich der heute 77-Jährige,
kommt der Leiter der Baustelle am
Amtsgericht angerannt (das ebenfalls gerade umgebaut wird). „Der
Bauleiter – ein großer, starker
Mann – lief mit meiner Frau sofort
zum Seedammweg. Sie waren bei
den Ersten, die am Tatort eintrafen.“
Winkler selbst bleibt etwas weiter entfernt stehen. Von dort sieht
er Herrhausens völlig demolierten
Wagen schräg vor der Einfahrt der
Taunus Therme stehen. „Hinter
dem Fahrzeug stand noch ein Mercedes, den seh’ ich noch genau vor
mir“, berichtet der Pensionär. „Der
hatte die Kofferraum-Klappe auf,
und es lag eine Maschinenpistole
drin.“ Die Waffe gehört ganz offensichtlich dem Sicherheitspersonal.
Die Detonation war so gewaltig,
dass die Tore der Garagen am Seedammbad aufgedrückt sind. „An
der einen Seite zu den Umkleiden
hin haben wir eine große Glasfront
– die Scheiben waren alle zerstört“,
sagt Winkler. Dass im Schwimmbad niemandem etwas passiert ist,
ist ein Glücksfall – gewöhnlich halten sich um diese Zeit Schulklassen
im Bad auf.
Noch am Vormittag sieht Winkler, wie ein Hubschrauber auf dem
Freibad-Gelände landet. Darin sitzt
der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU). „Er kam mit
einer Gefolgschaft und lief an mir
vorbei“, erinnert sich der Rentner.
„Es war alles so grausam“
Hertha Liebel kann es bis heute
nicht verstehen. Warum bloß, fragt
sich die 74-Jährige noch immer, warum bloß haben die Personenschützer im vorausfahrenden Auto das
Fahrrad am Straßenrand nicht bemerkt?
Die gleiche Frage wird in den Tagen, Wochen und Monaten nach
dem 30. November 1989 noch oft
und von vielen Menschen gestellt
werden, und stets klingt in ihr etwas vergeblich Flehendes mit – ein
fast schon beschwörender Unterton, der ausdrücken soll: Es wäre
doch so einfach gewesen, die Tragödie zu verhindern.
Hertha Liebel wohnt im Seedammweg. Und dort ist sie auch,
als an dem kalten Novembermorgen ein lauter Knall die morgendliche Stille durchbricht. „Nichts wie
raus“, ist das Erste, was der Anwohnerin in den Kopf schießt. Sie eilt
vom Keller des Gebäudes ins Freie,
weil sie eine Explosion in ihrem eigenen Haus vermutet. Doch draußen fällt der Blick schnell auf eine
dichte Nebelwand, die sich in Richtung Seedammbad gebildet hat. Als
sich der Dunst auflöst, ist der
Schrecken groß: „Ich sah die Umrisse eines Autos und kurz darauf
das grauenhafte Ausmaß des Anschlags“, berichtet Hertha Liebel.
Die Ungewissheit, was genau
sich an diesem Morgen vor der eigenen Haustür ereignet hat, dauert
nicht lange. „Frau Herrhausen kam
an die Unglücksstelle – da wusste
jeder, dass der furchtbare Anschlag
Herrn Herrhausen gegolten hatte.“
In den folgenden Stunden und
Tagen ist die ganze Gegend von
Polizisten abgeriegelt. Die heimi-
schen Beamten werden durch wei- Fahrrad wegzuräumen . . .“, erinnert
tere Einsatzkräfte verstärkt. „Und sich Langbecker.
Das Interesse der Polizei an den
da diese jungen Männer auch in
der Nacht nach Beweisstücken Beobachtungen des Therme-Technisuchten und die Nächte sehr kalt kers hält noch bis nach der Wende
waren, habe ich sie mit heißem Tee an. Inzwischen sind die Terroristen,
die in der DDR untergetaucht waund Stollen versorgt.“
ren, festgenomInzwischen
men – und desgeht die Nachhalb muss Dirk
richt über alle
Langbecker soSender.
„Vergar einmal zu
wandte
und
einer
GegenFreunde riefen
überstellung
an, sorgten sich,
nach
Stammweil unser Haus
heim. „Da wurja in unmittelde mir dann der
barer Nähe des
RAF-Terrorist
Tatorts war“, erinnert sich Her- Am Tatort wurden die Polizisten Henning Beer
gezeigt, aber das
tha Liebel und von Anwohnern versorgt.
war nicht der
sagt noch heute: „Es war alles so grauenhaft. Mann, den ich auf dem Seufzerpfad
Auch heute noch und gerade am gesehen hatte.“
Auch die Medien melden sich
20. Todestag von Herrn Herrhausen
fragt man sich immer wieder, wa- wieder und wieder bei ihm. Einmal
rum musste das geschehen und wer wird Langbecker von einem Privatsender interviewt. Dessen Reporter
hat das getan?“
verfolgen die Theorie, dass HerrKabel einfach aufgerollt
hausen nicht von der RAF ermorFragen, die auch in den Tagen nach det wurde, sondern von den Ameridem Anschlag die Ermittler be- kanern – unter anderem wegen des
schäftigen. Immer wieder muss von ihm vorgeschlagenen SchulDirk Langbecker zur Polizei, im- denerlasses für die Dritte Welt. Der
mer wieder wird er von der Sonder- Beitrag wird aber kurzfristig abgekommission verhört. Dabei interes- setzt. „Wir hatten schon vor dem
sieren sich die Beamten vor allem Fernseher gesessen.“
für einen Zwischenfall, der sich
Auch 20 Jahre nach dem Attentat
drei Wochen vor dem eigentlichen denkt Dirk Langbecker noch oft
Attentat abgespielt hatte. Der da- über den 30. November 1989 nach.
malige Therme-Hausmeister hatte „Vor allem, wenn ich Geburtstag
beim Schneiden der Hecke zum habe, den feiere ich seitdem als
Seufzerpfad einen grün-weißen doppelten Geburtstag.“
Klingeldraht entdeckt.
„Er hatte bei uns nachgefragt,
wofür der verlegt worden sei. Da Morgen lesen Sie:
wir mit dem Kabel nichts anfangen
konnten, haben wir es aufgerollt. Wie Lehrer und Schüler
Uns war auch das angekettete Fahr- den Tag erlebten
rad aufgefallen, an dem später die
Sprengladung befestigt wurde. Das
stand da irgendwie doof rum. Wir Zum Reinhören: Interviews mit Zeitzeugen finhatten noch überlegt, auch das den Sie unter www.fnp.de/herrhausen
. . . und plötzlich stand der Kanzler da
Karin Volhard (75) eilte am Tag des Attentats zu Traudl Herrhausen und begegnete dort auch Helmut Kohl
Ein liebgewonnener Mensch ist
ermordet worden – Karin Volhard hat
das am 30. November 1989 erlebt. An
alles Mögliche denkt die FDP-Politikerin
an diesem Tag, aber ganz sicher nicht
an die Parlamentssitzung am Abend.
Von Anke Hillebrecht
Die Heinrich-von-Kleist-Straße ist eine ruhige Straße im Bad Homburger Hardtwald.
Dort wohnt das Ehepaar Volhard, enge
Freunde der Familie Herrhausen. Ein Anruf
ihres Mannes reißt Karin Volhard am
30. November 1989 jäh aus ihrem Alltag:
Rüdiger Volhard hat soeben in einer Sitzung
in Frankfurt von dem Unfassbaren erfahren
– dem Mord an Deutsche-Bank-Chef Alfred
Herrhausen.
Dem Schock folgt die Unsicherheit – wie
kann man helfen, was kann man tun? Der
Ehemann rät seiner Frau,
nicht sofort zu Traudl
Herrhausen zu fahren.
Wie gelähmt sitzt Karin
Volhard mit ihrem Sohn
Robert in der Küche – er
hat heute später Schule.
Vom Tisch kann sie auf
die Straße schauen. Ein
Auto nach dem anderen
Karin Volhard
schiebt sich vorbei – diese Erinnerung ist bei der
heute 75-Jährigen ganz stark. „Überm Hardtwald kreisten Hubschrauber im blauen
Himmel, und draußen auf der Straße war
diese Schlange von schweigenden Autos.“
Nach dem Attentat sind sämtliche Ausgänge
der Stadt blockiert. „Ganz langsam bewegten sich die Autos eine ganze Zeitlang an
unserem Haus vorbei. Es war erstaunlich
und eine große Ruhe.“
Am frühen Nachmittag hält Karin Volhard nichts mehr in ihrem Haus. „Ich ging
an meine Tiefkühltruhe und holte eine
selbstgemachte Pastete heraus. Die hab’ ich
eingepackt und bin ich mit dem Fahrrad zu
Traudl Herrhausen gefahren. Ich wusste ja,
mit dem Auto zu fahren, hatte überhaupt
keinen Sinn.“
Karin Volhard hält Traudl Herrhausen im
Arm. „Plötzlich ging die Tür auf, und herein
kam Helmut Kohl – groß, breit und in einem blauen Anzug.“ Der Bundeskanzler ist
kurz zuvor mit einem Hubschrauber in
Homburg gelandet. „Er nahm Traudl Herrhausen in den Arm und sagte zu ihr: ,Nun
wein’ doch mal.“ Es hat mich sehr bewegt,
weil sich dieser Mann aus seinem Bonn so
schnell zu diesen Freunden aufgemacht hatte – und dass er so ein treuer Freund war.“
Ein weiteres Bild ist Karin Volhard noch
präsent: „Auf dem Frühstückstisch lag noch
die Serviette von Alfred Herrhausen, mit silbernem Ring. Drei Servietten, für Mutter,
Vater, Tochter. Das war furchtbar. Zu wissen,
dass in dieser Sekunde sein ganzes Leben
schon vorbei ist.“ Volhard stellt das mitgebrachte Essen in der Küche ab und fährt
wieder. „Ich wollte nicht lange da rumstehen.“ Wieder zu Hause, ist nichts wie vorher. „Man hatte ja seinen Alltag, aber der
war unterbrochen.“
Es ist Donnerstag, abends muss die FDPStadtverordnete zur Parlamentssitzung. Dass
die zweite Haushaltslesung auf der Tagesordnung steht, weiß sie später nur noch, weil sie
ihren Kalender von damals aufbewahrt hat.
„Was besprochen wurde, war damals für
mich völlig unwichtig“, sagt Karin Volhard.
„In der Pause fragten wir uns: Wer bringt so
einen Mann um, der gerade Vorschläge für
die Entschuldung der Dritten Welt gemacht
hatte? Was sind das für Leute?“
Trauer im Blick: Bundeskanzler Helmut Kohl kam nach dem Attentat nach Bad
Homburg und sprach der Familie sein Mitgefühl aus.
Foto: Markus Bender
SERIE
Seite 14
Dienstag, 1. Dezember 2009
So haben Schüler
und Lehrer den
Tatort gesehen
Der Anblick hat Einsatzkräfte, Anwohner und Passanten schockiert. Die
völlig zerstörte Limousine, in der
Alfred Herrhausen am 30. November
1989 starb, ist ein Bild, das alle, die es
gesehen haben, wohl nie mehr vergessen werden. Aber es waren nicht
nur Erwachsene, denen sich dieser
Anblick bot – auch viele junge
Menschen sind kurz nach dem Anschlag an dieser Stelle vorbeigekommen. Immerhin befindet sich das
Kaiserin-Friedrich-Gymnasium (KFG)
in direkter Nähe.
„Schüler, die erst zur zweiten Stunde
Unterricht hatten, kamen unmittelbar
nach dem Attentat am Ort des Geschehens im Seedammweg vorbei und
stürmten anschließend voller Panik in
die Schule. In ihrer Klasse und auch
gegenüber mir persönlich berichteten
sie darüber, was sie da gesehen hatten.
Sie mussten erst einmal beruhigt
werden“, erinnert sich der damalige
Schulleiter Gerfried Stein (siehe auch
Interview unten) an den dramatischen
Tag vor 20 Jahren.
Während der Großteil der Fotos und
Filmaufnahmen, die anschließend um
die ganze Welt gingen, den zertrümmerten Mercedes aus Sicht der
Kaiser-Friedrich-Promenade zeigen, ist
im nebenstehenden Bild die Perspektive aus Richtung des Gymnasiums und der Homburger Villengegend zu sehen. Foto: Markus Bender
„Wir haben zusammen gebetet“
Von Alexander Wächtershäuser
und Matthias Kliem
E
Das Bad Homburger Kaiserin-FriedrichGymnasium ist eine der renommiertesten
Schulen der ganzen Region – und es
grenzt direkt an den Seedammweg. Zum
Zeitpunkt des Attentats auf den Chef der
Deutschen Bank halten sich in dem
s war die Zeit, als das Kaiserin-Friedrich-Gymnasium
noch
Kaiserin-FriedrichSchule hieß und die fünften und
sechsten Klassen in einer Dependance in der Gymnasiumstraße untergebracht waren. Dort – ein, zwei
Kilometer vom eigentlichen Schul- Pause waren auch die Kollegen vergebäude entfernt – unterrichtete unsichert, keiner konnte etwas zu
Margret Nebo (72) am 30. Novem- dem Ereignis sagen. Daher ging der
ber 1989 katholische Religion.
Unterricht normal weiter. Was pas„An diesem Morgen stand ein siert war, habe ich erst erfahren, als
Thema aus dem Alten Testament ich gegen 9.45 Uhr zur KFS zurückauf dem Plan“, erinnert sich die frü- fuhr. Und da war natürlich die Aufhere Lehrerin noch ganz genau – regung sehr, sehr groß.“
und auch daran, dass es plötzlich eiEin Kollege von Margret Nebo
nen lauten Knall gibt und die Schü- wirkt besonders mitgenommen. Er
ler vor Schreck von ihren Sitzen hat in der ersten Stunde in einem
aufspringen. „Was ist denn das,
Frau Nebo? Was ist das?“ – „Tja,
das weiß ich nicht“, kann die Pädagogin nur sagen. „Aber mir
war sofort klar, da muss etwas
außergewöhnlich Gefährliches
geschehen sein, es war beunruhigend.“
Alfred Herrhausen † 30.11.1989
In wenigen Minuten, um
8.40 Uhr, wäre die Stunde zu
Serie Teil 5
Ende gewesen. Margret Nebo
sieht und spürt, dass die Kinder un- Pavillon der Schule unterrichtet.
glaublich aufgewühlt sind und vie- „Im Lehrerzimmer berichtete er
le Fragen im Raum stehen, die jetzt später, dass die Fensterscheiben des
nicht beantwortet werden können. Klassenraums von der Druckwelle
„In dieser Situation sah ich nur ei- fünf Zentimeter nach innen gene Möglichkeit, uns alle ein wenig drückt wurden. Und er war erzu beruhigen. Ich schlug meinen staunt, dass die Fenster diesen
Schülerinnen und Schülern noch Druck überhaupt ausgehalten hatkurz vor dem Unterrichtsende vor: ten. Wie sich später herausstellte, erWir wollen für diejenigen beten, litt der Kollege einen erheblichen
die an dem Ereignis – oder Unfall – Hörschaden. Das Trommelfell war
beteiligt sind. Für die Kinder war gerissen. Er hatte genau in der
das Gebet in diesem Moment eine Schalllinie gestanden, die den SeeMöglichkeit, ihre Aufgeregtheit dammweg hoch an dieses Gebäude
und ihre Angst ein bisschen zu be- geschlagen war.“
sänftigen. Ich habe ein freies Gebet
Normaler Unterricht ist danach
gesprochen für die Menschen, die natürlich nicht mehr möglich. Man
bei diesem Geschehen Leiden er- geht in die Klassen, redet über das,
fahren hatten, und beendete die was sich als Gerücht herumspricht,
Stunde“, berichtet Margret Nebo.
und dann ist auch sehr schnell beIn dieser Klasse sitzt auch die kannt: Es ist ein Attentat auf HerrTochter Herrhausens – nicht ah- hausen verübt worden. Genauere
nend, was gerade geschehen ist.
Informationen bringen Kollegen
„In der anschließenden kurzen mit, deren Unterricht an diesem
Tag später beginnen sollte. „Die
Absperrungen waren ja nicht so
massiv, wie sie heute gewesen wären. Nein, man konnte noch als
Lehrer den Tatort passieren“,
weiß Nebo noch heute ganz
genau.
Der Tod von Alfred Herrhausen hat die Lehrerin in
den folgenden Jahren noch
häufig beschäftigt. „Durch
meine eigene familiäre Situation bin ich stark mit dem Thema Entwicklungshilfe befasst.
Mein Mann stammt ja aus einem
Entwicklungsland. Wir haben bis
heute das Thema bei jeder entsprechenden Fernsehsendung wieder auf dem Tisch. Wir
haben immer gehofft,
dass sich beson-
Das
Attentat
Margret
Nebo (72),
damals
Lehrerin
an der
KaiserinFriedrichSchule.
Gebäude rund 1500 Schüler und
100 Lehrer auf – sie alle hören die laute
Explosion am 30. November 1989 um
8.34 Uhr. Schulleiter Gerfried Stein
berichtet in der heutigen Folge unserer
Serie über die große Verunsicherung und
ders in Afrika etwas ändert. Den gewaltsamen Tod von Herrn Herrhausen habe ich außer wegen seines persönlichen Schicksals aus einem anderen Grund besonders bedauert: Er war derjenige, der am
stärksten und am weitsichtigsten
das Problem der Armut und vor allem der Schulden der Entwicklungsländer im Blick gehabt hat. Er
hatte Vorschläge gemacht, wie man
dieser Verschuldung entgegenwirken kann.
Später habe ich immer wieder Meinungen gehört, dass das
Attentat in diesem Zusammenhang gesehen werden könnte
und dass es vielleicht gar nicht
RAF-Terroristen gewesen seien,
die das Attentat verübt hätten.
Herrhausen hätte sich zu weit
vorgewagt, den Banken eine Vision vorgestellt, die sie viel Geld gekostet hätte. Seine Vision, die ja
später durch Entwicklungshilfe-Organisationen und die Kirche geteilt
wurde, war: Schulden erlassen ist
wichtig, damit die Entwicklungsländer wieder für ihre eigene Wirtschaft arbeiten können. Die Schulden, die diese Länder zurückzahlen
müssten, sollen nicht an die Banken, sondern in die eigene Wirtschaft, in ihre Schule und Bildung
fließen. In einigen Ländern hat dieser Plan ja später auch funktioniert.
Das war Herrhausens Programm,
und dafür habe ich ihn sehr, sehr
bewundert. Für mich war er einer
der Wirtschaftsfachleute, die nicht
nur auf den Gewinn geschaut haben. Das muss in Bankkreisen so
außergewöhnlich gewesen sein und
so kontraproduktiv, dass er – ich habe das immer wieder gehört – sich
sehr viele Feinde gemacht hat.“
„Der Terror war plötzlich
in unserer Welt“
Zum Zeitpunkt des Attentats sind
viele hundert Schülerinnen und
Schüler im Kaiserin-Friedrich-Gymnasium – Anne Ameri-Siemens ist
eine davon. Auch sie erinnert sich
noch genau an diesen dramatischen Tag.
„Ich habe den 30. November
1989 erlebt wie wohl die meisten
Schüler, die damals das KaiserinFriedrich-Gymnasium besuchten.
Ich kann rückblickend nicht mehr
sagen, welches Fach wir an diesem
Tag in der ersten Unterrichtsstunde
hatten. Aber ich habe noch ein sehr
klares Bild, wie die Fensterscheiben
im Klassenzimmer plötzlich bebten, es draußen einen unglaublich
lauten Schlag gegeben hatte. Es gab
diesen einen Moment, in dem man
diese Explosion hörte und das Gefühl hatte, dass die ganze Gegend
davon erschüttert wird, und das
war eben auch physisch spürbar.
Wir haben zunächst unbeholfen
reagiert. Ein paar in der Klasse haben gelacht, und irgendjemand
machte einen Scherz, dass die Taunus Therme wahrscheinlich wieder
abbrennt. In meiner Erinnerung
wurde der Unterricht dann bald darauf unterbrochen. Ich kann nicht
mehr sagen, wann wir das Klassenzimmer verlassen haben, ich weiß
auch nicht mehr, wie lange wir auf
dem Schulhof herumstanden, ich
weiß nur, dass wir irgendwann alle
nach Hause gegangen sind.
Zu diesem Zeitpunkt war schon
in Umlauf, dass Alfred Herrhausen
etwas zugestoßen war. Und ich
weiß, dass der Weg für mich zurück
zu meinem Elternhaus plötzlich
ein ganz anderer war. Es war verstörend und ließ einen zugleich nicht
die Ängste in den Stunden danach. Auch
ein paar Straßenzüge weiter war der Knall
nicht zu überhören: Dort unterrichtet
Lehrerin Margret Nebo gerade katholische
Religion – eine ihrer Schülerinnen ist die
Tochter von Alfred Herrhausen.
mehr los, dass ein Verbrechen so
unmittelbar in unserer Nähe vorbereitet und begangen worden war.
Nur ein paar Stunden zuvor war es
nur darum gegangen, pünktlich in
die Schule zu kommen. Daran hatte ich gedacht und vielleicht auch
daran, ob ich es noch schaffe, mir
noch einen Tee zu holen, bevor ich
in den Unterricht gehe – banale,
ganz normale Dinge eben.
Nach der Explosion war der Weg
von der Schule nach Hause düster
und bedrohlich.
Ich weiß auch noch, dass meine
beiden Brüder und ich an diesem
Tag sehr intensiv mit meinen Eltern über die RAF gesprochen ha-
ben. Es hatte sich etwas verändert
an dem Morgen. Wir hatten auch
davor immer mal über die RAF gesprochen. Die Gruppe und die
Morde, die sie begingen, waren ja
in der Zeit, in der ich aufgewachsen
bin, schon ein sehr präsentes Thema.
Nach dem Attentat auf Alfred
Herrhausen hatte man das Gefühl,
da ist etwas eingebrochen in unsere
Welt, und das war vorher nicht so.
Die Taten der Terroristen hatten
wir auch vorher wahrgenommen,
man sprach darüber, aber die ganze
Dimension des Terrors wurde an
diesem Morgen für mich real – wie
gesagt, ich war damals 15 –, war
jetzt plötzlich nah, in unserer Welt.
Wenn ich heute meine Familie besuche, führt mein Weg durch den
Seedammweg. Die Erinnerung an
Alfred Herrhausen und an den Tag
des Attentats ist unweigerlich mit
dieser Straße verbunden; ich denke
jedes Mal daran.“
18 Jahre nach dem Attentat
bringt der Piper-Verlag ein Buch
von Anne Ameri-Siemens heraus,
für das die Autorin unter anderem
mit dem internationalen Buchpreis
„Corine“ ausgezeichnet wird. Die
ehemalige KFS-Schülerin hatte
nach ihrer Schulzeit Politische Wissenschaft studiert, promoviert und
sich im Studium intensiv mit dem
deutschen Terrorismus beschäftigt.
In dem Buch öffnen sich die Angehörigen von RAF-Opfern und
Überlebende des Terrors – viele von
ihnen zum ersten Mal – und erzählen von den schrecklichen Ereignissen, die ihr Leben für immer verändert haben. Der Titel des Buches
lautet: „Für die RAF war er das System, für mich war er der Vater“.
Angst vor einer zweiten Bombe
Gerfried Stein war erst wenige Wochen Schuldirektor, da stand er vor einer riesigen Bewährungsprobe
Er trug die Verantwortung für
1500 Schüler, und in unmittelbarer Nähe seiner Schule explodierte eine Bombe der RAF.
Wie der Direktor der Bad
Homburger Kaiserin-FriedrichSchule darauf reagierte, was er
dachte und fühlte – das schildert
er im Interview mit FNP-Redakteurin Sabine Münstermann.
Herr Stein, welche Erinnerungen haben Sie an den 30. November 1989?
STEIN: Ich war in der ersten Stunde an einem Unterrichtsbesuch beteiligt, der im Turmgebäude stattfand. Dann – das muss gegen Ende
der Stunde gewesen sein – gab es
plötzlich einen ungewöhnlich lauten Knall. Ich glaubte zunächst, es
hätte eine Sprengung am Seedammbad stattgefunden, wo damals gerade Bauarbeiten durchgeführt wurden. Ich sah daher keine
Veranlassung, die Lehrprobe zu unterbrechen und den Klassenraum
zu verlassen, bis ein paar Minuten
später unser Hausmeister erschien
und mir berichtete, dass ein Attentat auf Herrn Dr. Herrhausen stattgefunden habe, dass Alfred Herrhausen tödlich getroffen, der Fahrer
am Leben und möglicherweise
noch eine zweite Bombe unterwegs
sei. Denkbar sei der Weinbergsweg,
weil dieser die Alternativstrecke für
den Fahrer gewesen wäre, um das
Steinkaut-Gebiet zu verlassen.
Was ging Ihnen da durch den Kopf?
STEIN. Ich hatte einige Wochen
vorher gerade die Schulleitung
übernommen, und das war sozusagen meine erste größere Herausforderung, mit einer schwierigen Situation umzugehen. Da war die erste Frage: Wie wird die Tochter von
Herrn Dr. Herrhausen, Anna, die
bei uns die sechste Klasse besuchte,
informiert?
Meine zweite Frage war:
Wie gehen
wir mit den
Schülern
um, die natürlich
durch den
Knall ebenfalls aufgeschreckt waGerfried
ren? Ich erStein
läuterte mit
einer Durchsage über die Lautsprecheranlage kurz den mir mitgeteilten Sachverhalt und bat die Schüler, das Schulgebäude nicht zu verlassen, es sei denn, sie würden von
den Eltern abgeholt, um zu vermeiden, dass sie möglicherweise durch
die eventuell vorhandene zweite
Bombe gefährdet oder durch Panik
in einen Unfall verwickelt würden.
Ich sagte alle Klassenarbeiten ab,
die für diesen Tag vorgesehen waren. Ich stand den Schülern den
ganzen Vormittag zur Verfügung,
bis ich sie dann um 13 Uhr nach
Hause entließ. Etliche Eltern hatten
ihre Kinder im Laufe des Vormittags abgeholt.
Welche Empfindungen hatten Sie?
STEIN: Meine Sorge war: Waren
die Täter möglicherweise im Schulgebäude und konnten von den eintreffenden Eltern nicht unterschieden werden? Ferner fragte ich
mich, ob ich die richtige Entscheidung für die vielen irritierten Schüler getroffen hatte.
Mein Mitgefühl galt natürlich vor
allem Anna, die auf so tragische
Weise ihren Vater verloren hatte,
und der ganzen Familie Herrhausen. Ich weiß nicht, wie viele Tage
sie anschließend nicht am Unterricht teilgenommen hat. Auf jeden
Fall hat sie sich bei ihrer Rückkehr
mit großer Gefasstheit wieder am
Unterrichtsgeschehen beteiligt, und
ihre Klasse hat sich sehr sensibel
verhalten. In einem der darauf folgenden Schuljahre wurde sie zur
Schulsprecherin gewählt.
Dachten Sie einen Moment lang darüber nach, dass auch Anna Herrhausen
in Gefahr sein könnte, die zum Zeitpunkt des Anschlags in der Gymnasiumsstraße unterrichtet wurde?
STEIN: Es ist unwahrscheinlich,
dass ein Täter gleich zwei Mal dieselbe Familie angreift. Wir hatten ja
schon einmal einen vergleichbaren
Fall erlebt – das Attentat auf Jürgen
Ponto. Seine Tochter Corinna war
meine Schülerin gewesen, ehe die
Familie nach Oberursel zog, wo Jürgen Ponto später Opfer eines Attentats wurde.
Wie hatten die Schüler in dieser Situation reagiert?
STEIN: Die Schüler wollten wissen,
ob sie selbst in Gefahr seien. Sie
wollten Einzelheiten über den Hergang erfahren, die wir natürlich
nur partiell vermitteln konnten. Ich
selbst hatte nur einmal kurz die
Schule verlassen und von der Kreuzung Seedammweg/Steinkaut aus
das quergestellte Auto auf dem Seedammweg gesehen. Es wurden
dann Spekulationen angestellt, wie
die Tat hätte vorbereitet gewesen
sein können. Es wurde gefragt, ob
die Bauarbeiter, die im Seedammweg eine Leitung verlegt hatten,
echte Bauarbeiter waren oder zu
den Attentätern hätten gehören
können. Es wurde viel darüber gesprochen, in welcher Gefahr man
selber gewesen wäre, wenn man
beispielsweise erst später Unterrichtsbeginn gehabt hätte.
Kamen viele Eltern, um ihre Kinder
abzuholen?
STEIN: Ja, aber der weitaus größere
Teil der Schüler verblieb in der
Schule. Man musste auch davon
ausgehen, dass viele Mütter berufstätig waren und das Geschehen
vielleicht erst im Laufe des Vormittags über die Meldungen in den
Medien erfuhren.
Wie ging es in den folgenden Wochen
weiter?
STEIN: Wir hatten gelegentlich
Bombendrohungen, offenbar von
Trittbrettfahrern. In der Schule habe ich das nicht mehr bekannt gegeben, weil sonst die Gefahr bestanden hätte, dass einerseits eine totale
Panik entsteht, und dass andererseits Nachahmer vor Klassenarbeiten dann eine solche Drohung aussprechen könnten, um die Arbeit
zu sabotieren.
Bombendrohungen an der KFS – wie
muss man sich das vorstellen . . .
STEIN: Das Telefon klingelte, und
es sagte jemand, die Schule werde
in die Luft gesprengt werden. Da
stellt sich schon die Frage: Wie verhält man sich? Lässt man die Schule räumen? Oder führt dies zu einem schon erwähnten Missbrauch
einer solchen Maßnahme?
. . .und dann kam die Polizei und hat
die Schule abgesucht?
STEIN: Ja, soweit ich mich erinnere, hat die Polizei wiederholt die
Schule abgesucht.
Morgen lesen Sie:
Wie Justus Frantz und
OB Wolfgang R. Assmann
den Tag erlebten
Zum Reinhören: Interviews mit Zeitzeugen finden Sie unter www.fnp.de/herrhausen
SERIE
Seite 12
Mittwoch, 2. Dezember 2009
Wir haben mit den Tränen gekämpft
Der Dirigent Justus Frantz,
ein guter Freund von Alfred
Herrhausen, tritt am Abend
des Attentats in Bad Homburg
auf. Er erinnert sich: „Es war
ein Konzert voller Emotionen.“
H
err Frantz, am Tag des Anschlags auf Alfred Herrhausen waren Sie in Bad Homburg und haben im Kurtheater ein
Konzert gegeben . ..
Vor drei Wochen ist die Mauer gefallen
– welch eine Chance für politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Wandel.
Deutschland steht vor vollkommen neuen
Möglichkeiten und Herausforderungen.
Justus Frantz und Alfred Herrhausen
FRANTZ: Ja, und ich habe ihm
auch den langsamen Satz aus Beethovens 4. Klavierkonzert gewidmet.
Da ich Herrhausen kannte, da er
mir auch ein paar Mal mit dem
und in Gedanken noch mit dem
Schleswig-Holstein-Musikfestival
schrecklichen Ereignis beschäftigt ist?
sehr geholfen hatte und da wir uns
sehr schätzten, war ich zutiefst er- FRANTZ: Das will ich Ihnen saschüttert über seinen Tod. Zumal gen: Ich nehme Musik immer als
der Mann meiner Cousine Jürgen „Auch“-Teil von etwas BiografiPonto ist, und insofern erlebte ich schem – und so ist das da auch gedas nun schon zum zweiten Mal in wesen. Das Ereignis wurde natürunserem Rechtsstaat, dass jemand lich durch diese Musik noch viel
umgebracht wurde. Das waren ei- stärker und emotional erlebbar,
gentlich immer die Besten, die um- und wir kämpften alle, als wir das
gebracht
vierte Klawurden. Das
vierkonzert
waren ja keispielten, mit
ne Banker,
unseren Trädie versuchnen – natürten, nur Gelich. Ich meiwinn zu mane, er war ja
chen
auf
ein – ich
Alfred Herrhausen † 30.11.1989
Kosten von
weiß nicht,
anderen und
ob das Wort
Serie Teil 6
SchwächeFreund jetzt
ren, sondern sie versuchten wirk- zu hoch gegriffen ist – aber ich halich, ihre Banken mit hohem be ihn wirklich als einen Freund
Rechtsempfinden und einem deut- kennengelernt, der, wenn man Prolich ausgeprägten Sinn für Soziales bleme hatte, auch in den stressigszu leiten. Dadurch setzten sie einen ten Zeiten immer Zeit hatte für eiAnspruch, der heute leider von sehr nen. Herrhausen gab einem immer
vielen nicht mehr erfüllt werden das Gefühl, er hätte unendlich viel
kann.
Zeit. Die hatte er natürlich überWie war das für Sie gewesen, als Sie haupt nicht. Aber mit seiner Ruhe
die Nachricht hörten? Waren Sie da und Überlegenheit konnte er sofort
Probleme erkennen und – was das
schon in Bad Homburg?
Schöne war – er konnte nicht nur
FRANTZ: Ich weiß nicht, ob ich Probleme beschreiben und analyschon in Bad Homburg war, aber sieren, sondern er fand vor allem
ich erinnere mich daran. Für mich auch Lösungen. Und deswegen war
war das unfassbar – unfassbar, dass sein Rat so wichtig.
so etwas wieder geschehen konnte.
Und deswegen habe ich spontan zu In welchen Situationen hatten Sie diediesem Geschehnis am Abend auch sen Rat angenommen?
ein paar Worte gesagt und eben verFRANTZ: Ich war ja Intendant in
sucht, irgendwie durch die Musik
der Zeit des Schleswig-Holsteindas Unsagbare fühlbar zu machen.
Musikfestivals. Ein neues Festival
Wie ist das in so einem Moment, wenn hat natürlich viele Sorgen, und dass
man selbst ein Konzert geben muss es uns finanziell gut ging, das ver-
Das
Attentat
Eine Art kollektives Trauern
Michael Dellith wird am Morgen
des 30. November 1989 unsanft von
einem lauten Knall aus dem Bett
geworfen. Der Konzert-Kritiker der
Taunus Zeitung, der in unmittelbarer Nähe des Tatorts wohnt, wollte
eigentlich zur Uni fahren – doch
sein Weg führt über den Seedammweg, und dort ist alles dicht. Er geht
zur Unglücksstelle, erfährt von dem
tragischen Ereignis und wird an
diesem Tag nicht mehr studieren.
Durch den Kurpark gelangt er
am Abend immerhin ins Kurtheater und wird Zeuge einer besonderen Aufführung: Justus Frantz, der
Herrhausen freundschaftlich verbunden war, gibt keine zwölf Stunden nach dem Attentat ein Konzert. Der Maestro kommt spät, hält
eine Ansprache, bittet das Publikum, sich für eine Schweigeminute
zu erheben – und lässt dann die
Musik sprechen. „Es war eine besondere Ergriffenheit bei Publikum
und Musikern zu spüren – eine Art
kollektives Trauern“, erinnert sich
Dellith, heute Feuilleton-Redakteur
der Frankfurter Neuen Presse. „Musik wirkt in solchen Momenten wie
ein Katalysator, sie befördert die
Emotion der Trauer und spendet
im selben Moment Trost. Das ist ja
das Wundervolle an der Musik.“
In seiner Konzertkritik schreibt
er später: „Justus Frantz formte seinen Part mit großem Einfühlungsvermögen und im besten Einvernehmen mit den Instrumentalisten.
Dass vor allem von den langsamen
Sätzen an diesem Abend eine besonders eindringliche Wirkung ausging, mag angesichts der bitteren
Ereignisse kaum verwundern.“
haben Ende November 1989 darüber
gesprochen und Ideen entwickelt. Kurz
danach setzt die RAF einen teuflischen
Plan um: Der herausragende Wirtschaftsführer stirbt am 30. November 1989 in
Bad Homburg bei einem Bomben-Attentat.
danke ich auch dem Netzwerk von
Herrhausen. Wir machten sehr viel
neue Musik, förderten sehr viele
junge Komponisten und sehr viele
junge Musiker. Und wir versuchten,
die jetzt gerade sich geöffnet habenden Grenzen durchlässig zu
machen, indem wir Leute aus dem
Osten holten – nicht nur solche, deren politische Zuverlässigkeit von
irgendwelchen Parteiorganisationen festgestellt worden war, sondern Musiker mit großer Begabung. Das alles, das hat ihn, glaube
ich, auch begeistert und das fand er
unterstützenswert.
Stimmt es, dass Sie am Tag zuvor oder
zwei Tage zuvor mit ihm persönlich
noch zusammengetroffen waren?
FRANTZ: Ich hatte ihn besucht
und ihm erzählt, was für Chancen
sich jetzt durch den Fall der Mauer
boten und dass wir planten, ein Festival zu machen, in dem wir im
nächsten Jahr in Schleswig-Holstein 100 DDR-Kompositionen aufführen wollten. Darunter auch
30 Uraufführungen von weitgehend unbekannten Komponisten,
die wir noch gar nicht kennenlernen konnten, weil sie eben vielleicht nicht in die politische Linie
passten. Sie wissen, dass damals in
erster Linie die politische Zuverlässigkeit eine Rolle spielte und nicht
die musikalische Qualität. Wir
wollten die unbekannten Komponisten unterstützen, wollten sie integrieren und waren neugierig: Was
ist in der DDR passiert, was kennen
wir noch nicht, welche Entwicklungen gibt es dort – das alles, darüber
haben wir gesprochen, und ich
glaube, dass er das begeisternd
fand.
Und Herrhausen hatte Sie in diesem
Projekt unterstützen wollen?
FRANTZ: Ja, natürlich. Er hatte
sich ja sehr konzentriert, glaube
ich, auf diesen Initiativkreis Ruhrgebiet. Aber er hatte Freunde, denen er sagen konnte: ,Mensch,
macht das, helft da, der Frantz
macht das richtig’. Was mir wichtig
war: Wir planten sofort nach dem
Fall der Mauer auch umgekehrt die
Erweiterung des Festivals nach
Mecklenburg, das ist mir später von
den schleswig-holsteinischen Politikern ja so überaus übel genommen
worden. Aber wir haben mit dem
Bundespräsidenten in Greifswald
auch ein Mecklenburg-Vorpommern-Festival gemacht. Und da haben wir genau umgekehrt den
Mecklenburgern alle wichtigen
Komponisten und Stücke gespielt,
die sie vielleicht noch nicht gehört
hatten, die mittlerweile in der Bundesrepublik entstanden waren.
Herrhausen war natürlich genauso
begeistert und von einer Freude
über die Deutsche Einheit und
dachte, genauso wie ich, was können wir tun, wie können wir durch
die Musik, die ja so viele erreicht,
wie können wir dadurch auch geistig die Einheit fördern? Indem wir
uns kennenlernen, indem wir uns
begegnen, indem wir miteinander
und nicht gegeneinander ein Festival organisieren.
Wann waren Sie Herrhausen erstmals
begegnet?
FRANTZ: Sicherlich so um 1984/
85, vielleicht auch schon früher.
Keine zwölf Stunden später muss der
Maestro ein Konzert geben – ausgerechnet
im Bad Homburger Kurtheater. Im
Interview mit der Frankfurter Neuen
Presse schildert Justus Frantz seine
Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle.
Das weiß ich jetzt nicht. Manchmal
sind eben Menschen ein Teil des
Lebens – und das war er, ohne dass
ich mich genau erinnern kann, wie
lange das war. Vielleicht war das
auch schon viel früher, vielleicht
war das zur Beerdigung von Jürgen
Ponto – ich weiß es nicht mehr.
Haben Sie noch weitere Erinnerungen
an den 30. November?
FRANTZ: Ich habe versucht, aber
das hat natürlich nicht funktioniert, Frau Herrhausen anzurufen,
und hatte mir auch überlegt, ob ich
zu ihr hinfahren sollte. Aber ich habe das nicht gemacht, weil ich
dachte, sie würde überschwemmt
werden, und in solchen Momenten
muss man ja auch so viel Taktgefühl haben, dass man Menschen in
ihrer Trauer und in der Aufarbeitung eines so schweren und einzigartigen Erlebnisses nicht stört. Ich
hatte mir gedacht, dass ihr vielleicht die Begegnung mit Musik
guttun könnte, irgendwie. Aber das
ist so eine Sache, die jeder Mensch
auch für sich entscheiden muss.
Ich glaube, ich kann Ihnen dazu
nicht mehr sagen. Es ist einfach zu
lange her. Ich habe kein Tagebuch
geführt. Ich kann nur sagen, dass
ich das Gefühl hatte, einen großartigen Freund verloren zu haben –
einen Freund, der nicht aufgrund
seiner Stellung und seiner Macht
von oben herab, sondern immer
auf Augenhöhe mit seinem Gegenüber sprach, der immer einen
menschlichen und fast bescheidenen Ton anschlug, und insofern
war das etwas ganz Einzigartiges.
Wie ist der Tag für Sie zu Ende gegangen?
FRANTZ: Ohne große Feierlichkeiten, das können Sie sich vorstellen.
Ich bin, glaube ich, nachts noch irgendwo in ein Hotel gefahren und
war dann auch sehr, sehr betroffen
und fühlte mich irgendwie auch
sehr einsam. Daran erinnere ich
mich sehr genau.
mak
Am Montag, 7. Dezember, liest Justus
Frantz in der Oberurseler Buchhandlung
Bollinger (Hohemarkstr.) aus seinem
Buch „50 einfache Dinge, die Sie über
Musik wissen sollten“. Eintritt: 18,50
Euro. Tickets: Tel.(0 61 71) 28 46 64.
„Ich war verstört, fühlte mich hilflos“
Wie Alt-OB Wolfgang R. Assmann den schlimmsten Tag seiner Amtszeit erlebte
Es war der Tag, an dem ein vertrauter Mensch starb; der Tag, an
dem die Geborgenheit der Stadt
zerstört wurde; der Tag, an dem
sich Wolfgang R. Assmann hilflos
fühlte. Im sechsten Teil unserer
Serie schildert Bad Homburgs
Alt-OB, wie er den 30. November
1989 erlebte und wie er die innere Balance wiederfand.
„Mein Fahrer holte mich zu Hause
ab und wir fuhren durch den Kurpark in Richtung Stadthaus. Es war
ein klarer, sonniger Morgen. Als wir
die goldglänzende Thai Sala passierten, zerriss plötzlich ein infernalischer Knall das friedliche Bild. Erschreckt fragten wir uns: ,Was ist da
passiert? War es die Explosion eines
Gas-Tanks oder eines Flugzeugs?’
Und einen Moment später war es
totenstill. Als wir im Büro eintrafen, war meine erste Frage: „Haben
Sie diesen entsetzlichen Knall auch
gehört? Was war das?“ Die Vorzimmerdamen bejahten es und sagten:
„Anfangs
wusste es niemand;
eben haben wir
gehört, dass
im
Seedammweg
ein Attentat
auf
Herr-
hausen verübt worden ist.“
Kurz entschlossen holte ich meinen Kollegen, den Ordnungsdezernenten Heinrich Gerhold, ab,
und gemeinsam fuhren wir zum
Seedammweg. Zu Recht war die Attentatsstelle schon weiträumig abgeriegelt. An der Kreuzung Elisabethenbrunnen/Seedammweg wurden wir gestoppt. Die Polizisten
wussten noch nichts Näheres. Wir
baten sie, dem Einsatzleiter mitzuteilen, dass er auf Kräfte der Stadt
jederzeit zurückgreifen könne, die
Stadt wäre zu jeder nur denkbaren
Hilfe bereit. Wir fuhren ins Büro
zurück und besprachen mit den leitenden Mitarbeitern der Ämter,
dass die Hilfeleistungen im Attentatsfall höchste Priorität hätten und
jede gewünschte Unterstützung unbürokratisch erfolgen sollte.
In der Zwischenzeit war ganz
Bad Homburg vom Lärm der Hubschrauberstaffeln erfüllt. Ich habe
nie mehr so viele Hubschrauber in
der Luft gesehen. Und jedes Mal,
wenn ich heute mehre Hubschrauber höre oder sehe, bekomme ich
innere Beklemmungen und denke
an den 30. November 1989.
Im Rathaus ging inzwischen der
normale Alltag weiter. Es gab wie
immer seit langem verabredete Termine mit Besuchern oder Mitarbeitern, die Entscheidungen brauchten
oder Unterschriften wollten. Für
den Nachmittag war eine Stadtverordnetensitzung zur 2. Lesung des
Haushalts 1990 anberaumt.
Wie vormittags mit der Stadtverordnetenvorsteherin Maria Scholz
besprochen, hielt ich zu Beginn der
Wolfgang R. Assmann,
ehemaliger Oberbürgermeister
von Bad Homburg.
Sitzung eine kurze Rede, um die
Stadtverordneten zu unterrichten,
Alfred Herrhausen zu würdigen
und der Familie im Namen der
Stadt das Beileid auszusprechen. An
die auf diese Rede folgenden Haushaltsberatungen kann ich mich
kaum erinnern. Der Mord an Alfred Herrhausen war für mich persönlich ein fürchterlicher Schock,
ich fühlte mich innerlich gelähmt,
war verstört, verwirrt, fühlte mich
hilflos. Die Geborgenheit, die wir
in unserer überschaubaren Stadt
schätzten, wurde durch diesen
Mord nachhaltig zerstört.
Aus der Rückschau betrachtet ist
interessant, dass man trotzdem
agiert und funktioniert. Es gibt eine
professionelle Automatik, die einem sagt: „Jetzt musst du das machen, tu jetzt dies, veranlasse jenes!“
Und so scheint man nach außen
„ganz normal“ weiter zu arbeiten.
In Wirklichkeit grübelte ich während der Stadtverordnetensitzung
vor mich hin: „Wie konnte so etwas
passieren? Haben wir etwas übersehen, haben wir etwas falsch gemacht?“ Mich bedrückte dieser
Mord besonders, weil ich Alfred
Herrhausen seit 15 Jahren kannte
und ihn sehr schätzte. Wir hatten
uns kennengelernt in meiner Zeit
als Grundsatzreferent für Bankenfragen im Bonner Bundesministerium der Finanzen. Ich war Sekretär
der Banken-Struktur-Kommission,
in der Herrhausen das private Kreditgewerbe vertrat. Er war der Beste
in dieser Runde, hochintelligent,
umfassend gebildet, rhetorisch brillant, ein Mann mit Überblick, Weitsicht und politischem Gespür.
An ihn hatte ich in den Wochen
nach dem Mauerfall oft gedacht.
Ich war sicher, dass er sich für das
Zusammenwachsen der beiden
deutschen Staaten engagieren und
Konzepte zur Umgestaltung des
Wirtschaftssystems in der DDR entwickeln würde. Und diesen Menschen hatte man nun in unserer
Stadt ermordet, in der Stadt, die ich
ihm nahegebracht hatte und in der
er sich wohl fühlte.
Aus Gesprächen weiß ich, dass
viele Menschen in Bad Homburg
ähnlich wie ich empfanden und
hofften, in angemessener Weise der
Familie ein Zeichen ihres Mitgefühls ausdrücken zu können. Hier
half uns der Chor der Erlöserkirche
mit seinem damaligen Leiter Hayko Siemens, die bereit waren, am
8. Dezember 1989 das Deutsche Requiem von Brahms zu singen. Weit
über tausend Menschen nahmen
an dieser Gedächtnisfeier in und
vor der Erlöserkirche teil.
Wenn ich in der Rückschau überlege, wodurch sich bei mir die Erstarrung gelöst hat und wie ich
meine innere Balance wiedererlangte, so waren dies das MozartRequiem mit dem Trauergottesdienst im Frankfurter Dom am
6. Dezember und die Bad Homburger Gedächtnisfeier mit dem
Brahms-Requiem. Hier zeigte sich,
welch stützende und helfende Kraft
von einem in Jahrhunderten gestalteten kirchlichen Ritus ausgeht und
wie Musik die Seele heilen kann.“
Morgen lesen Sie:
Ungewöhnliche Begegnungen
mit Alfred Herrhausen
Zum Reinhören: Die Interviews mit den Zeitzeugen unter www.fnp.de/frantz
SERIE
Seite 14
Donnerstag, 3. Dezember 2009
Der Chef war
auch für Spaß
zu haben
Es gibt unzählige Bilder von
Alfred Herrhausen, die ihn
als eleganten und stets akkurat
gekleideten Mann zeigen.
Aber es gibt vergleichsweise
wenige Aufnahmen, auf denen
er von seiner privaten Seite
zu sehen ist. Ein Foto mit
Seltenheitswert hütet sein
ehemaliger Mitarbeiter Nader
Maleki wie einen Schatz. Der
Deutsche-Bank-Chef war in
den 80er Jahren für seine
Mitarbeiter einmal ins Kostüm
geschlüpft und gab auf einer
Feier den Weihnachtsmann.
Durch die Küche war er in
den Saal geleitet worden und
wurde von niemandem
erkannt – bis er die Kapuze
abnahm. „Er hatte an diesem
Tag auch ein wichtiges Abendessen zu Hause, kam aber
trotzdem noch zu unserer
Weihnachtsfeier“, erinnert
sich Maleki. Sein „Assistent“
war bei diesem Auftritt der
Deutsche-Bank-Mitarbeiter
Dieter Loyo (links), gemeinsam überreichten sie
Dr. Frank Heintzeler (später
Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken)
ein „Guinness Buch der
Rekorde“.
„Wir haben unseren besten Mann verloren“
Von Sophia Bernhardt, Marc Kolbe
und Matthias Kliem
D
ie Nachricht verbreitet sich
in Windeseile in den Fluren der Deutschen Bank.
Was zunächst nur ein Gerücht ist,
wird kurz darauf zur schockierenden Gewissheit: Der charismatische
Vorstandssprecher des führenden
Kreditinstituts ist in Bad Homburg
einem heimtückischen Anschlag
zum Opfer gefallen. Alfred Herrhausen ist tot.
Dass der „Herr des Geldes“, wie
ihn der „Spiegel“ noch kurz vor
dem Attentat in einer Titelgeschichte bezeichnete, als eine der
am stärksten gefährdeten Personen
der Republik galt, war jedem klar.
Dennoch erschüttert die Nachricht
über den feigen Mord der RAF die
Deutsche Bank in ihren Grundfesten. „Wir haben unseren besten
Mann verloren“, wird sein Vorstandskollege Dr. Horst Burgard
später sagen, und der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Wilfried Guth wird
traurig feststellen: „Wir sind alle ein
großes Stück ärmer ohne ihn.“
Nader Maleki kann sich noch
gut an die dramatischen Stunden
erinnern. Der damalige Prokurist
der Abteilung „Sekretariat“ hat die
traurige Gewissheit über den Tod
des Vorstandssprechers in der Presse-Abteilung der
Bank erfahren. „Ich
bin in
das Zimmer
Im Jahr des Attentats hat die Deutsche
Bank rund 55 000 Beschäftigte und wird
doch maßgeblich von einem Mann gelenkt:
Alfred Herrhausen. Der Vorstandssprecher
ist nicht unumstritten. Er will das
Unternehmen als „Global Player“ positionieren, pflegt einen neuen Stil, sucht
verstärkt den Kontakt zu seinen Beschäftigten, zu jungen Leuten und zu
Personen außerhalb der Wirtschaft. Im
des damaligen Pressesprechers manden, der so komplett, so auHans Dettmar gelaufen, und der thentisch war“, sagt Cleve über seihat bestätigt: ,Ja, es ist wahr’“, schil- nen damaligen Chef und gesteht
dert Maleki den Moment, in dem freimütig ein: „Er hat mich gefür ihn eine
prägt.“
Welt zusamEinen
menbricht.
bleibenden
„Für
mich
Eindruck
war es, als wähat Herrre
gerade
hausen
mein
Vater
auch
bei
gestorben. Nie
Michael
Alfred Herrhausen † 30.11.1989
zuvor
habe
Rempel
ich so viel
hinterlasSerie Teil 7
sen. Er war
Schmerz und
Trauer empfunden“, sagt der gebür- zum Zeitpunkt des Attentats stelltige Iraner, der seinen leiblichen Va- vertretender Leiter der Deutschenter verlor, als er gerade zehn Jahre Bank-Filiale in Bad Homburg.
alt war, und in Alfred Herrhausen „Auch ich war damals stolz, dass
Dr. Herrhausen unser Chef war.
einen Mentor hatte.
Das ging vielen bei uns im Haus so.
„Er hat mich geprägt“
Ich war fasziniert von seinem Stil
„Man hatte damals doch den Ein- und seinen Ideen. Er war so elegant
druck, dass die RAF fast am Ende und so locker. Sein Aussehen, seine
war. Wir haben überhaupt nicht da- Aura, seine Ausrichtung – er warf
mit gerechnet“, gibt Christoph Cle- einen gewissen Glanz auf unsere
ve, ehemaliger Assistent Herrhau- Bank, die früher doch eher verknösens, Einblicke in das Innenleben chert wirkte. Um so größer war der
der Deutschen Bank. Der Vor- Schock nach dem Attentat.“
standssprecher galt als Macher, als
Mann mit brillantem Nachricht kam über Ticker
Intellekt
und Rempel selbst war zum Zeitpunkt
ausgeprägtem
des Anschlags mit seinem Opal KaMachtund dett auf dem Weg zu seinem ArLeistungswilbeitsplatz in der Homburger City.
len. „Ich habe „Es tat plötzlich einen fürchterliseitdem keine chen Schlag. Das hat man im ganFührungsperzen Auto gespürt. Ich dachte erst,
ich hätte meinen Auspuff verlosönlichkeit
mehr getrof- ren.“ Kurz darauf kommt Rempel
fen, die ihm an der Bank an, parkt den Wagen,
im Gesamt- geht zu seinem Schreibtisch. Noch
bild
nahe weiß niemand, dass etwas Schreckkommt, nie- liches passiert ist. „Erst als ich auf
den Nachrichten-Ticker blickte, sah
ich, was passiert war. ,Anschlag auf
Herrhausen in Bad Homburg‘ lief
da durch. Ich war total aufgeregt,
und mein erster Gedanke war: Da
musst du hin. Warum, weiß ich
nicht mehr. Es war zumindest keine Sensationslust. Also bin ich wieder ins Auto gestiegen und Richtung Taunus Therme gefahren.“
Rempel stellt sein Auto ab und
geht die letzten Meter bis zum Tatort zu Fuß. Er stellt sich hinter die
Absperrbänder, sieht das völlig zerstörte Auto und darin eine Person,
die mit einer Decke bedeckt ist.
„Mit der Zeit wurde es immer voller, ich erkannte auch einige unserer Kunden. Es war unfassbar.
Plötzlich wurde ich mir der Ohnmacht bewusst, mit der wir solchen Ereignissen gegenüberstehen.“
Das
Attentat
Stille im Büro
Viele Tausend Menschen beteiligten sich am Tag nach dem Attentat an
dem Schweigemarsch durch die Frankfurter Innenstadt.
Foto: Günther
Später sieht der Deutsche-BankMitarbeiter mehrere Limousinen,
in denen die anderen Vorstände sitzen. „Sie waren offensichtlich auf
dem Weg zum Haus von Herrhausen. Aus irgendeinem Grund hatte
ich den Gedanken, auch dorthin zu
fahren. Allerdings waren die Straßen mittlerweile dicht. Ich bin
dann sogar noch ganz leicht auf einen Transporter aufgefahren, aber
das interessierte dessen Fahrer an
diesem Tag überhaupt nicht.“
Rempel fährt zurück zur Filiale,
das dauert an diesem Tag eine halbe Ewigkeit. „Sofort kamen sämtliche Mitarbeiter auf mich zu, wollten wissen, was passiert ist. Auch
viele Kollegen von anderen Banken
riefen bei mir an. Dabei war mir
überhaupt nicht nach Reden zumute.“ Doch trotz des schrecklichen
Ereignisses muss auch an diesem
Tag gearbeitet werden. „Ich erinnere mich noch an diese unheimliche
Stille, die im Büro herrschte. Da
siebten Teil unserer Serie erinnern sich
Menschen an den Moment, als die
schockierende Nachricht die Deutsche
Bank erreicht – und an Begegnungen mit
Herrhausen, die sie nicht vergessen werden.
gab es den ganzen Tag kein Gelächter. Wir haben routinemäßig funktioniert, haben bearbeitet, was getan werden musste. Wir befanden
uns in einer Art Schockstarre.“
Am Tag nach dem Anschlag ziehen Tausende von Mitarbeitern,
Bürgern und Kollegen aus anderen
Banken in einem großen Schweigemarsch durch die Frankfurter Innenstadt. „Wir trauern um Alfred
Herrhausen“, steht auf einem großen Transparent, das Beschäftigte
der Deutschen Bank tragen – auch
Michael Rempel ist dabei und kann
sich noch gut an diesen Tag erinnern. „Der Zug führte an den Türmen der Deutschen Bank vorbei in
die Taunusanlage. Die Stimmung
war sehr deprimierend. Die Men-
schen waren still, wollten aber dennoch ihre Solidarität ausdrücken.
Aber viele – auch ich – haben auch
eine gewisse Wut verspürt.“
„Eine mittlere Sensation“
Nader Maleki ist heute nicht nur
Chef der 1995 entstandenen Maleki
Group, sondern auch Präsident des
International Bankers Forum, das
er 1987 selbst gegründet hatte und
das inzwischen als größter privat
organisierter Berufsverband für
Banker in Deutschland gilt. „Ohne
Alfred Herrhausen wäre dieser Verband nicht gegründet worden – zumindest nicht zum damaligen Zeitpunkt“, ist Maleki überzeugt. Der
Deutsche-Bank-Chef war es nämlich, der dem damaligen Prokuris-
ten 1986 grünes Licht gab, die
Gründung des ersten institutsübergreifenden Berufsverbandes unterstützte und sogar zusagte, als Redner aufzutreten.
„Das war damals eine mittlere
Sensation“, schwärmt Nader Maleki
und spricht noch heute von einer
großen Verbundenheit und Begeisterung für Herrhausen. In den 80er
Jahren hatte er oft Gelegenheit,
nicht nur das Denkvermögen und
die rhetorischen Fähigkeiten seines
obersten Bosses zu bewundern – er
lernte ihn auch von seiner menschlichen Seite kennen. „Er war unglaublich nett“, sagt Maleki, und
dann erzählt er die Geschichte, als
Alfred Herrhausen sich nicht zu
schade war, auf einer Weihnachtsfeier des Sekretariats als Weihnachtsmann aufzutreten.
Maleki sollte die Feier für die
Abteilung organisieren und fragte
seinen obersten Dienstherrn kurzerhand, ob er sich verkleiden und
vor den Mitarbeitern auftreten würde. Mit einem „Ja“ hatte er nicht
gerechnet – aber genau so kam es.
Termin gleich nach Thatcher
Ein Schüler nimmt allen Mut zusammen und wird mit einem Interview belohnt
Er fragt den mächtigsten Banker
der Republik nach einem
Interview-Termin – und bekommt ihn. Das ist dem Bad
Homburger Schüler Niels
Genzmer passiert.
Von Marc Kolbe
Es gibt Begegnungen, aus denen erwachsen Beziehungen oder Freundschaften. Es gibt Begegnungen, die
sind so flüchtig, dass man sie bald
wieder vergessen hat. Und es gibt
Begegnungen, bei denen man später nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun hat, auf den man getroffen ist, die aber dennoch den
folgenden Lebensweg prägen. Das
Zusammentreffen mit dem damaligen Chef der Deutschen Bank,
Dr. Alfred Herrhausen, war für
Niels Genzmer eine Begegnung der
letztgenannten Kategorie.
Genzmer kannte Herrhausen aus
den Medien – speziell durch einen
Artikel aus dem „Spiegel“. „Den
Mann musst du dir merken, hatte
mir mein Vater damals geraten“, erinnert sich der heute 40-Jährige.
Zum Zeitpunkt des Attentats ist
er Schüler am Kaiserin-FriedrichGymnasium in Bad Homburg,
steht kurz vor seinem Abitur und
ist sozusagen Chef der Schülerzeitung „New Wave“. Daher weiß
Genzmer auch, dass eine von Herrhausens Töchtern eine Mitschülerin von ihm ist.
„1988 habe ich ihn auf dem
Weihnachtsbasar an unserer Schule
gesehen. Ich habe all meinen Mut
zusammengenommen und ihn gefragt, ob er unserer Schülerzeitung
ein Interview geben würde.“ Was
für eine Vorstellung: Der mächtigste Banker Deutschlands stellt sich
den Fragen einer Schülerzeitung . ..
Aber: „Herrhausen überlegte kurz
und sagte dann zu meiner Verwunderung zu.“
Ab Mitte Januar versucht der
„kleine“ Nachwuchs-Journalist also
den „großen“ Bank-Chef zu erreichen – „telefonisch, er stand ja im
Telefonbuch“. Vier, fünf Mal ruft
Genzmer bei den Herrhausens an,
spricht mit dessen Frau Traudl
(„Frau Herrhausen war unheimlich
nett“) und hat endlich Glück. „Er
fragte mich, wo wir das Interview
machen wollten – in der Bank oder
bei ihm zu Hause? Wir einigten uns
auf sein Büro und vereinbarten,
dass auch Fotos gemacht würden.
Ich hatte während des ganzen Telefonats einen dicken Kloß im Hals.“
„Er kam sofort zum Punkt“
Im Februar 1989 erklimmt Genzmer dann tatsächlich den 30. Stock
im rechten Turm des DeutscheBank-Gebäudes in Frankfurt. „Ich
war gut vorbereitet, hatte das Diktiergerät von meinem Vater dabei.
Herr Herrhausen kam gerade von
einem Treffen mit Maggie Thatcher
aus der Alten Oper. Er war von Anfang an sehr sachlich, kam gleich
zum Punkt. Nach einer halben
Stunde war alles vorbei.“
Es wird verabredet, dass Herrhausen das Interview autorisiert, aber
erst mal muss Genzmer fürs Abitur
lernen. „Zwischenzeitlich hatte die
Taunus Zeitung erfahren, dass ich
das Interview geführt hatte, und
Redaktionsleiter Hans Liedel wollte
den Text ebenfalls abdrucken. Da
hatte ich natürlich nichts dagegen,
bestand aber darauf, dass er erst in
der ,New Wave’ zu lesen ist.“
Zehn Seiten spuckt der Nadeldrucker später aus, die Genzmer
per Post an seinen Interview-Partner schickt. Wenig später kommt
die Antwort. „Es war irre, Herrhausen hatte das gesamte Interview
von vorne bis hinten gelesen, zwei
kleine Fehler angemerkt, aber den
Rest durchgewunken.“ Kurz darauf
erscheint der Text in der „New Wave“ und in der Taunus Zeitung
Damit hätten
die Verstrickungen der Lebenswege des Bankers und des angehenden Journalisten beendet sein können
– doch dann
kommt der 30.
November
Niels
1989, ein halbes
Genzmer
Jahr ist seit der
Veröffentlichung des Interviews
vergangen. „Ich war zu dieser Zeit
Zivildienstleistender bei den Maltesern und befand mich auf einem
Erste-Hilfe-Lehrgang in Königswinter. Plötzlich wurde ich wegen eines
Anrufs aus dem Seminarraum gerufen.“
Am anderen Ende der Leitung ist
ein Redakteur der Bildagentur „Action Press“. „Er fragte mich, ob ich
kürzlich das Interview mit Herrhausen geführt und ob ich damals
auch Fotos geschossen hätte. Ich
sagte zu, die Bilder am kommenden Wochenende rauszusuchen.
Doch der Journalist drängte, er
bräuchte die Bilder sofort, ob ich
nicht wüsste, was geschehen sei. Da
dämmerte mir, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Er bot
mir Geld für Bilder von Alfred
Herrhausen. Ich überlegte, ob das
moralisch in Ordnung ist. ,Action
Press’ war vor allem an privaten Bil-
dern interessiert. Das war eklig.
Aber da ich ein offizielles Interview
geführt und auch nur Bilder aus
der Bank hatte, willigte ich ein.“
Genzmer versucht über das Sekretariat des Kaiserin-FriedrichGymnasiums Kontakt mit seinen
alten „New-Wave“-Kollegen aufzunehmen. „Es herrschte eine sehr
aufgeregte und aufgelöste Stimmung. Dennoch gelang es mir, jemanden zu finden, der die Bilder
per Kurier an ,Action Press’ verschickte. Erschienen sind die Fotos
am Ende aber nicht.“
Rede vor dem Kurhaus
Genzmer arbeitet bereits als freier
Journalist für die Taunus Zeitung,
als Herrhausen erneut eine Rolle in
seinem Leben spielen sollte. Zum
Tag der Deutschen Einheit am
3. Oktober organisierte die CDU
Hochtaunus eine Veranstaltung auf
dem Kurhausvorplatz. Unter anderem sollte der hessische Ministerpräsident Walter Wallmann auftreten. „Und die CDU suchte auch
noch einen Redner, der für die Jugend sprechen sollte. Wieder erinnerte man sich an mein Interview
mit Herrhausen und fragte, ob ich
ans Rednerpult treten würde. Nie
zuvor in meinem Leben hatte ich
solche Angst.“
Aber erneut nimmt Niels Genzmer allen Mut zusammen.
Morgen lesen Sie:
Der Kanzler verneigt sich vor
einem Freund und Ratgeber
Zum Reinhören: Interviews mit den Zeitzeugen unter www.fnp.de/herrhausen
SERIE
Seite 12
Freitag, 4. Dezember 2009
Mein Freund und Ratgeber
Worte, die
Aussagen
von
wir
nicht
Alfred
vergessen
Herrhausen
„ Die Frage ist nicht, ob
wir Macht haben. Die
Frage ist, ob wir mit
dieser Macht
verantwortungsbewusst
umgehen .
“
„ Wir müssen das, was
wir denken, sagen. Wir
müssen das, was wir
sagen, tun. Wir müssen
das, was wir tun, dann
auch sein.
“
„ Unsere Welt ist
ungemein komplex,
vernetzt und schwierig
geworden. Und es
bedarf oftmals großer
intellektueller
Anstrengungen, um sie
zu begreifen, was ja die
Voraussetzung dafür
ist, sie zu gestalten. Zu
dieser Anstrengung sind
viele nicht bereit, auch
unter denen, die
durchaus dazu fähig
wären.
“
„ Die Inszenierung von
Wirklichkeit, die den
Alltag der Medienwelt
ausmacht, zwingt
jedermann zur
Selbstdarstellung. Es
sind Rollen, die da
gespielt werden, weil
eine zuschauende und
zuhörende Öffentlichkeit
dies verlangt.
“
„ Die meiste Zeit geht
dadurch verloren, dass
man nicht zu Ende
denkt.
“
„ Wenn Kompetenz von
Können kommt und
Prominenz von Beifall,
dann fühle ich mich dem
Letzteren weniger
verpflichtet.
“
„ Die ökologischen
Probleme werden die
Probleme der nächsten
Jahrzehnte sein. Und
wenn wir hier nicht
verantwortungsbewusst
vorgehen, werden wir
diesen Erdball
unbewohnbar
machen.
“
„ 50 Prozent der
Wirtschaft sind
Psychologie. Wirtschaft
ist eine Veranstaltung
von Menschen, nicht
von Computern.
“
„ Es ist kein Luxus,
große Begabungen zu
fördern. Es ist Luxus,
und zwar sträflicher
Luxus, dies nicht zu
tun.
“
„ An dem Tag, an dem
die Manager vergessen,
dass eine
Unternehmung nicht
weiter bestehen kann,
wenn die Gesellschaft
ihre Nützlichkeit nicht
mehr empfindet oder ihr
Gebaren als unmoralisch
betrachtet, wird die
Unternehmung zu
sterben beginnen.
“
„ Die meisten Fehler
machen Unternehmen,
wenn es ihnen gutgeht,
nicht wenn es
schlechtgeht.
“
Alle Zitate stammen aus
Interviews und Reden
von Alfred Herrhausen.
Bundeskanzler Helmut
Kohl verneigt sich im
Frankfurter Kaiserdom
vor dem verstorbenen
Alfred Herrhausen.
Von Matthias Kliem
E
s ist 14 Uhr, als der Bundeskanzler am 30. November
1989 in Bad Homburg eintrifft. Helmut Kohl hatte morgens
auf dem Weg zu einer Tagung der
Arbeitgeberverbände in Düsseldorf
von dem schrecklichen Ereignis erfahren. Am Nachmittag kommt er
– ebenso wie zuvor Innenminister
Wolfgang Schäuble – in die Kurstadt und spricht Traudl Herrhausen und ihrer Tochter sein Mitgefühl aus.
„Mein Freund und Ratgeber war
tot – menschlich wie politisch war
das ein schwerer Schlag für mich“,
schreibt Kohl später in seinen „Erinnerungen 1982–1990“. Der Chef
der Deutschen Bank sei ihm ebenso
ein guter Freund gewesen wie
Hanns-Martin Schleyer. „Er war ein
aufrechter Patriot, auf dessen klugen Rat ich im Wiedervereinigungsprozess gesetzt hatte. Mit einem enormen persönlichen Einsatz
hatte er das Beste für unser Land
gewollt“, lobt der Kanzler a.D. den
Mann, den er freundschaftlich
„Don Alfredo“ nannte.
Die enge Verbundenheit mit Alfred Herrhausen wird schon in der
Alfred Herrhausen ist am
30. November 1989 in Bad
Homburg durch eine Bombe der
RAF ermordet worden – eine
heimtückische Tat, die bis heute
nicht gesühnt wurde. In den
Tagen nach dem Attentat versuchen
Freunde und Wegbegleiter die
unsagbare Trauer in Worte zu
fassen. Eine große Trauerfeier im
Frankfurter Kaiserdom und ein
Requiem in der Bad Homburger
Erlöserkirche sind dem Gedenken
an den verstorbenen Chef der
viel beachteten Rede deutlich, die eher weiche Seite beschrieben. „Er
Helmut Kohl am 6. Dezember 1989 hatte große Erfolge, und er wusste
bei der Trauerfeier im Frankfurter dies. Aber er war überhaupt kein
Dom hält. „Er liebte das Leben, das ,Erfolgsmensch‘,Er litt unter Anganze
Legriffen. Er
ben.
Er
war im Innekonnte herzren verletzlich lachen,
lich“, hebt
sich mit eiHelmut
nem jungenKohl hervor.
haften
Ähnlich
Charme
äußert sich
freuen. Viele
VorstandsAlfred Herrhausen † 30.11.1989
von uns erkollege
Letzter Teil
innern sich
Dr.
Horst
mit Dankbarkeit an solche Stun- Burgard, der Herrhausen fast 20
den“, sagt der Kanzler.
Jahre kannte: „Ich weiß, wie fröhWährend die meisten Alfred lich, manchmal burschikos-jungenHerrhausen nur als großen und er- haft und zugleich nachdenklichfolgverwöhnten Macher der deut- sensibel er war.“ Der damalige Aufschen Wirtschaft kannten, wird bei sichtsratsvorsitzende, Dr. Wilfried
der Trauerfeier auch eine andere, Guth, erinnert noch im gleichen
Das
Attentat
Deutschen Bank gewidmet. In
der letzten Folge unserer Serie
berichten wir, wie Angehörige,
Kollegen, Politiker und einfache
Bürger Abschied nehmen von
einem der größten Wirtschaftsführer, die das Land je hatte.
Jahr in einem Beitrag für die Mitarbeiter-Zeitung „db-aktuell“ an den
Schwung und die Herzenswärme,
die bei Alfred Herrhausen zum
Ausdruck kamen, wenn er an Universitäten und in der Bank mit jungen Menschen sprach. „Er hat sie
mitgerissen und begeistert. Zu ihnen fühlte er sich hingezogen.“
Bei der Trauerfeier im Dom, zu
der auch Bundespräsident Richard
von Weizsäcker gekommen ist, hält
Pater Augustinus Graf Henckel von
Donnersmarck die Predigt. Er war
ein enger Freund des Verstorbenen,
kannte ihn aus unzähligen Gesprächen, und auch er spricht über den
Menschen Alfred Herrhausen in einer sehr emotionalen Form: „Er
hatte ein Herz, er war sanft, er hat
die Kunst geliebt, er war voller Heiterkeit und konnte, wenn es die
Stunde erlaubte, voll unschuldiger,
ausgelassener Fröhlichkeit sein.
Warmherzig war er und voller Bereitschaft, den in Not Geratenen zu
helfen. Er wusste auch, dass die
Dinge ihre Tränen haben, aber er
war voller Zuversicht.“
In der Öffentlichkeit freilich
wurde der Deutsche-Bank-Chef vor
allem ob seines hellwachen Verstands und seiner klaren Gedanken
geachtet. „Er war von einer Klarheit
des Denkens und Wollens ohnegleichen. Ich habe in meinem Leben
keinen anderen Menschen kennengelernt, bei dem Kühnheit der Gedanken und visionärer Ideenreichtum so mit Realitätssinn und Entschlusskraft gepaart waren wie bei
ihm. Der Kraft seiner Persönlichkeit konnte sich niemand entziehen“, schreibt Guth.
„Sie wollten ein Symbol zerstören
und töteten einen Menschen“
Bad Homburgs Alt-OB Wolfgang R. Assmann erinnerte beim Requiem an einen Mann mit Idealen und Optimismus
Am 8. Dezember 1989 wurde
des verstorbenen Alfred Herrhausen in der Bad Homburger
Erlöserkirche gedacht. Rund
1000 Menschen nehmen daran
teil. Oberbürgermeister Wolfgang
R. Assmann (CDU) hielt eine
bewegende Rede. Auszüge:
„Wir erinnern uns an unseren Mitbürger Alfred Herrhausen, der 1984
voll Hoffnung mit seiner Familie
nach Bad Homburg gezogen war.
Voll Hoffnung in der Überschaubarkeit unserer Stadt, als Bürger unter Bürgern friedlich leben zu können und hier Geborgenheit für seine Familie zu finden.
Er machte kein Aufsehen von seiner Person. Wer ihn in Bad Homburg traf, traf nicht den Chef der
Deutschen Bank, sondern den stolzen Vater, den freundlichen Nachbarn – einen Menschen, der gerade
weil er so im Licht der Öffentlichkeit stand, Privatheit genießen
konnte. Er fühlte sich wohl in dieser Stadt, die ihm schnell zu einem
neuen Zuhause wurde.
Seine Frau lebte und arbeitete
hier, wie viele Bad Homburger
Frauen dies tun. Seine Tochter war
ein Kind unter Kindern, beliebt
und geachtet bei den Schulkameraden wegen der eigenen Leistungen,
nicht wegen der Position des Vaters.“
$
„Der Politik wird ein weitsichtiger
Berater fehlen, der unabhängig, mit
geistiger Disziplin, das Dickicht widerstreitender
gesellschaftlicher
Vorstellungen durchforstete und
ordnete. Aber während ich dies ausspreche, weiß ich, dass ich der Gefahr erliege, dem Menschen Alfred
Herrhausen Unrecht zu tun, indem
ich ihm ein Klischee überstülpe,
ein Klischee, das – wie wir heute
wissen – mörderische Folgen hatte.
Gar zu gern wurde Alfred Herrhausen als der kühle Stratege dargestellt, als Mann, der die Macht der
Banken in die Omnipotenz steigerte, und als Beherrscher der Politik.
Augenscheinlich braucht eine Gesellschaft, die ihr Wissen weitgehend aus Schlagzeilen bezieht,
Symbolfiguren, die wie Piktogramme eine Botschaft signalisieren sollen. Alfred Herrhausen war sich der
Gefahr einer solch schrecklichen
Vereinfachung bewusst.
In einer Rede auf das Jahr 1989
wies er darauf hin, dass der Grund
vieler Fehlentwicklungen das fehlerhafte Denken sei. Als solches bezeichnete er „ein Denken, das im
Widerspruch steht zur jeweiligen
Realität, und dies hat mit einem
elementaren psychologischen Sachverhalt zu tun, der mit der ständig
größer werdenden Ausdifferenzierung unserer Lebensverhältnisse
immer mehr an schädlicher Bedeutung gewinnt.
Mit der Tatsache, dass die meisten Menschen es sich gleichsam als
Überlebensmethode einfach machen wollen. Sie flüchten sich in
Vorurteile, vorgefasste Meinungen
und egoistische Interessen, weil sie
so der Komplexität der Wirklichkeit entgehen.
Alfred Herrhausen wurde das
Opfer solch entsetzlicher Vereinfa-
cher, die ein Symbol zerstören wollten und die einen Menschen töteten.“
$
„Der Mensch Alfred Herrhausen
war anders als das Klischee, das wir
kennen. Ein unbestechlicher Analytiker zwar, aber nicht kaltherzig,
sondern erfüllt von der Verpflichtung des Starken, gerade den
Schwächeren zu helfen, wie zum
Beispiel seine Initiativen zur Tilgung der Schulden in der Dritten
Welt beweisen.
Er war ein Mann, der nur das
von anderen forderte, was er sich
selbst auch abzuverlangen bereit
war, pflichtbewusst und verlässlich.
Selbstbewusst zwar, aber auch philosophisch nachdenklich, ohne dabei trübsinnig oder grübelnd zu
sein. Angehöriger des konservativen
Kreditgewerbes, aber im Denken
unkonventioneller als viele sich
progressiv empfindende Berufsgruppen.
Ein Mann, der nicht nur Ideale
hatte, sondern sein Leben an ihnen
ausrichtete. Für den zum Beispiel
der Begriff Gewissen nicht ein abstrakter Begriff christlicher Ethik
war, sondern ein täglicher Handlungsauftrag. Wie sagte er zu Beginn dieses Jahres in der bereits zitierten Rede:
,In dem Wort Gewissen aber
steckt zweierlei – Wissen und Verantwortung, Denken und Gestalten, wichtiges, fehlerfreies Denken
und daraus abgeleitetes, das heißt,
damit übereinstimmendes, verantwortungsbewusstes Handeln’.“
$
„In Stunden wie diesen laufen wir
Gefahr, den Glauben an die
Menschheit zu verlieren. Das wäre
aber nicht im Sinne von Alfred
Herrhausen.
Seinen Toast auf 1989 schloss er
damit, dass er dem resignierenden
Wort von Johann Peter Hebel ,Das
Fortrücken in der Kalenderzahl
macht wohl den Menschen, nicht
aber die Menschheit reifer’ die optimistische These von Teilhard de
Chardin
entgegensetzte:
,Die
Menschheit entwickelt sich aufwärts’.“
Die Rede gibt es auch als Audio-Beitrag
im Internet: www.fnp.de/herrhausen
In der Tat besticht Herrhausen
durch hohe Präzision beim Formulieren. Seine oft brillanten Reden
soll er alle selbst geschrieben haben, allenfalls Entwürfe dazu von
Mitarbeitern stammen. „Ich habe
einmal versucht, eine Rede für ihn
zu schreiben – aber sie hatte einfach nicht sein Niveau“, bekennt
ein ehemaliger Assistent.
„Wenn er vortrug, diskutierte, dominierten sein analytischer Verstand, die kühle Präzision des Denkens und die Sachlichkeit. Gerade
diese Mischung war es, die uns Kollegen faszinierte“, sagt Burgard und
nennt Herrhausen „ein Vorbild an
Fleiß, Selbstdisziplin und Noblesse“.
Die Hände eines Sämanns
Und es war gerade diese herausragende Rolle, die Herrhausen zu einem der am stärksten gefährdeten
Personen der Republik machte.
„Dem Mord geht der Rufmord voraus – die Verhöhnung, die Verächtlichmachung, die Diffamierung.
Hervorragende Menschen werden
zu ,Symbolfiguren‘ erniedrigt. Sie
werden zum Objekt eines gnadenlosen Hasses gemacht“, sagt ein
sichtlich bewegter Helmut Kohl im
Frankfurter Dom und fragt: „Was
ist los mit den Deutschen hier in
der Bundesrepublik? Wir genießen
in nie gekanntem Maße Freiheit,
Frieden und Wohlstand – und dennoch stehen wir immer wieder an
Särgen von Menschen, die von den
Feinden unserer Republik brutal ermordet wurden.“
Dass Alfred Herrhausen Bleibendes geschaffen hat, darauf wies Pater Augustinus in der Trauerfeier
hin: „Sollte ich ihn beschreiben, so
dächte ich an seine Hände, die
Hände eines Sämanns, der die Saat
ausgeworfen hat und von dessen
Aussaat wir alle noch werden lange
ernten können.“
ENDE
Zwei schlichte Basaltsäulen erinnern im Bad Homburger Seedammweg an das schreckliche Verbrechen. Zu jedem
Jahrestag liegt dort ein Kranz von Alt-Kanzler Helmut Kohl – auch in diesen Tagen wieder.
Foto: Storch