- bei der Arbeitnehmerkammer Bremen

Transcrição

- bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
Bericht 2009
Zur Lage
der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer
im Lande Bremen
Arbeitnehmerkammer
Bremen
2
Herausgeber
Arbeitnehmerkammer Bremen
Bürgerstraße 1
28195 Bremen
Telefon 0421· 36301-0
Telefax 0421·36301-89
[email protected]
www.arbeitnehmerkammer.de
Redaktion
Dr. Peter Beier, Elke Heyduck,
Martina Kedenburg, Volker Pusch,
Gestaltung
Designbüro Möhlenkamp, Bremen
Marlis Schuldt, Jörg Möhlenkamp
Druck
Druckerei Wellmann, Bremen
Abgeschlossen im Mai 2009
Inhalt
1
Einleitung – Schwerpunkte der Lageberichterstattung 2009
Teil 1: Resultate der Mitgliederbefragung
2
Einflüsse der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Lage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und Bremerhaven
2.1
Qualitative Studie zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise –
Hintergrund der Untersuchung
2.2
Ursachen der Krise und Verantwortlichkeiten
2.3
Staatliche Kontrolle der Finanzmärkte
2.4
Auswirkungen der Finanzkrise: Annahmen und Befürchtungen
2.5
Einschätzung der staatlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung
2.6
Persönliche Betroffenheit
2.7
Krisenauswirkungen auf soziale Marktwirtschaft und demokratische Ordnung
2.8
Ausblick
2.9
Fazit
2.10
Wirkungen und Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise –
Resultate der Mitgliederbefragung
2.11
Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise und Informationsquellen
2.12
Auswirkungen der Finanzkrise
2.13
Staatliche Gegenmaßnahmen
2.14
Einschätzungen zur gegenwärtigen Lage
2.15
Erwartungen
2.16
Schlussbemerkung
Teil 2: Prof. Dr. Rudolf Hickel: Wirtschafts- und Finanzmarktkrise –
Ursachen und Lehren. Plädoyer für einen regulierten Kapitalismus
3
Weltwirtschaft am Abgrund: Ein neuer Krisentyp?
3.1
Entfesselte Finanzmärkte: Ursachen und Folgen des Supergaus
3.1.1 Finanzmarktgetriebener Kapitalismus mit zu hohen Renditeansprüchen
3.1.2 Vom Elend der Produktinnovationen auf den Finanzmärkten:
Alchemisten, Kasinospieler, toxische Produkte
3.2
Schritte zu einem und Eckwerte eines regulierten Kapitalismus
3.3
Wege zur Regulierung der Finanzmärkte
3.4
Monetäre und gesamtwirtschaftliche Steuerung
4
6
9
10
12
12
14
16
19
19
20
21
22
26
33
34
37
38
40
46
46
52
55
56
59
Resultate der Mitgliederbefragung
4
Einleitung
1
Schwerpunkte der Lageberichterstattung 2009
Die Wirtschaftskrise ist längst im Alltag der Bremerinnen und Bremer
angelangt.
Zur Zeit der Erstellung dieses Berichts sind über 15.000 Menschen im
Land Bremen in Kurzarbeit. Sie müssen auf Lohn verzichten und vor allem
müssen sie mit der großen Sorge leben, dass manche Unternehmen die
Krise womöglich nicht überstehen.
Mit Wucht ist die Finanz- in eine Wirtschaftskrise übergegangen und
verursacht auf allen Ebenen Verwerfungen. Rettungspakete der öffentlichen
Hand – finanziert durch die Steuerzahler – belasten die Haushalte auch
in Zukunft. Insbesondere arme Bundesländer wie Bremen geraten durch die
enormen zusätzlichen Staatsausgaben zusätzlich in die Bredouille.
Ausgelöst wurde diese Krise im Kern durch unglaublich hohe Renditeerwartungen, die das verselbstständigte Finanzwesen geschürt hat. 25 Prozent Rendite? Worauf soll eine solche Erwartung fußen? In der Produktion
können solche Zahlen nicht erreicht werden, gleichwohl geraten die Unternehmen unter Druck, weil sie den maßlosen Vorgaben und Wünschen der
Finanzmärkte hinterhereifern müssen. Dass der Chef der Deutschen Bank in
dieser Zeit erneut eine 25-prozentige Rendite verspricht, ist in hohem
Maße verantwortungslos. Aber auch die Unternehmen sind selbst aktiv
beteiligt. Wenn häufig ein Drittel der Gewinne nicht ins Unternehmen investiert wird, sondern auf den Finanzmärkten angelegt und mit risikoreichen
Papieren verspekuliert wird, stricken die Unternehmen selbst mit an
einem System, das am Ende die Produktion trifft. Leidtragende sind dann,
wie wir jetzt überall sehen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir haben in diesem Lagebericht Prof. Dr. Rudolf Hickel, Leiter des von
der Universität Bremen und der Arbeitnehmerkammer getragenen Instituts
für Arbeit und Wirtschaft gebeten, einen Beitrag über die Zusammenhänge
zwischen Finanz- und Wirtschaftskrise zu schreiben. Denn zuallererst
muss die Krise verstanden werden, müssen Wechselwirkungen bekannt sein,
damit es danach kein ›Weiter so‹ gibt. In den letzten Jahren wurde auf
den Finanzmärkten dereguliert, was das Zeug hält – auch das macht dieser
Beitrag deutlich. Jetzt ist es an der Zeit, die Politik als regulierende Instanz
wiederzubeleben. Ob dies gelingt, wird auch vom öffentlichen Druck abhängen, der in der anstehenden Bundestagswahl (übrigens auch bei den
Europawahlen, denn es handelt sich schließlich um eine internationale Krise)
auf die Politiker und Politikerinnen ausgeübt wird.
5
Wir haben aus dem einfachen Grund, dass niemand sich den Folgen der
Krise entziehen kann, diese auch ins Zentrum unserer Befragung gestellt.
Im Rahmen unserer Lageberichterstattung, zu der uns das Gesetz über die
Arbeitnehmerkammer auffordert, wollten wir von unseren Mitgliedern wissen,
inwiefern sie von der Krise betroffen sind, wo sie die Ursachen vermuten
und welche Änderungen ihrer Meinung nach anstehen. Sowohl in den qualitativen Interviews wie auch in der repräsentativen Befragung sind wir auf kluge
Antworten gestoßen.
Die Finanzmärkte dürfen nicht mehr versprechen, als die Realwirtschaft
hergibt. Die Politik darf nicht diejenigen schützen, die die Krise verursacht
haben und andere – zum Beispiel die Beschäftigten – ohne ›Rettungsschirm‹
im Regen stehen lassen. Kurzarbeit und Abwrackprämie sind zwei der
großen politischen Gegenmaßnahmen. Am Ende werden sie nicht ausreichen. Vor allem muss die Politik erkennen, dass die massive Umverteilung
zugunsten der Unternehmensgewinne und zulasten der Arbeitnehmereinkommen eine Schieflage hat entstehen lassen, die diese Krise auch politisch
mitverschuldet hat. Deutschland – und auch die großen Bremer Unternehmen – sind in hohem Maße vom Export abhängig. Sie geraten deshalb jetzt
erst recht unter Druck. Gleichzeitig wurde die Stärkung der Binnennachfrage
vernachlässigt. Die Reallöhne der Arbeitnehmer sind erneut gesunken.
Gleichzeitig haben die enorm gestiegenen Unternehmensgewinne diese
dazu verleitet, ihr Geld auf den Finanzmärkten anzulegen, anstatt in die
Beschäftigung, in die Löhne, in die Qualifizierung der Arbeitnehmer, in
Innovation und Forschung zu investieren. Hier ist jetzt und für die Zukunft
eine Umsteuerung vonnöten, die weit über die ebenfalls dringend erforderliche Regulierung der Finanzmärkte hinausgeht.
Dr. Hans-L. Endl
Hauptgeschäftsführer
Hans Driemel
Präsident
1
Teil
Resultate der Mitgliederbefragung
2
Einflüsse der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Lage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und Bremerhaven
7
Vor etwa zwei Jahren werden sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande
Bremen gewundert haben, wie häufig in den
Zeitungen über die Armut amerikanischer
Hypothekenschuldner zu lesen war. Viele
mögen sich gefragt haben: ›Was geht mich
das an? Warum muss ich über amerikanische
Banken Bescheid wissen, die Gesellschaften
gründen, deren einziger Zweck darin besteht,
Kredite aufzunehmen, um damit Schuldtitel zu
kaufen?‹ Leicht verwirrt lernte so manche(r),
dass die englische Abkürzung ABS nicht etwa
›Anti-Blockier-System‹ heißt, sondern Asset
Backed Security und mehr oder weniger kopfschüttelnd nahm man zur Kenntnis, dass sich
Investmentbanker für ›masters of the universe‹ hielten und darüber dozierten, wie sie
Risiken verbriefen, diese Risiken immer neu
verpacken, um am Handel mit ihnen mordsmäßig zu verdienen.
Vor zwei Jahren werden sich manche
gedacht haben, dass es möglicherweise doch
ganz wichtig sein könnte, einmal gründlich
zu klären, was in dieser Finanzwelt eigentlich
los ist, welche Sorte Geschäft dort betrieben
wird und was dies alles mit unserem Lebensund Arbeitsalltag zu tun hat. Heute, im
Frühjahr 2009, werden diese Fragen auf eine
bestürzende Art und Weise beantwortet:
Die Wertevernichtung im Finanzsektor, die
als Subprime-Hypothekenkrise in den USA
begann, hat vor Europa und Deutschland nicht
haltgemacht. Renommierte Banken stehen
auch bei uns vor dem Zusammenbruch, unvorstellbar hohe Vermögenswerte lösen sich
über Nacht in Luft auf und so mancher Sparer
wird um die sauer verdienten Rücklagen fürs
Alter gebracht. Damit nicht genug: Die Finanzkrise erfasst inzwischen mit Wucht die Realwirtschaft und stellt die Existenz ganzer
Standorte und damit die Lebens- und Einkommensgrundlagen der Beschäftigten in Frage.
Der Staat bekämpft die Krise auf breiter
Front, mit einem ›Rettungsschirm‹ für die
Banken und mit massiven Konjunkturprogram-
men – bislang jedoch wird die Talfahrt von
Finanz- und Realwirtschaft durch keine dieser
Maßnahmen aufgehalten.
Berthold Huber, erster Vorsitzender der IG
Metall, beschreibt das eingetretene Dilemma
mit drastischen Worten: ›Wer Erklärungen für
die tiefste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg
allein in den Exzessen der Finanzwirtschaft
oder in der Überhitzung der Finanzmärkte
sucht, wird zwar auf Symptome stoßen, nicht
jedoch auf die Ursachen. Finanzmarkt-, Konjunktur- und Systemkrise greifen ineinander.
Exorbitante Renditeerwartungen wurden zum
Normalfall wirtschaftlicher Kalkulation erklärt.
Die Finanzmärkte drängten real wirtschaftende
Unternehmen in einen Wettlauf, den keiner
gewinnen konnte, aber alle verlieren mussten.
Auch staatliches Handeln ordnete sich den
Verwertungskriterien des Kapitals unter. Die
aktuelle Krise ist also eine tiefe Systemkrise
der kapitalistischen Ökonomie. Mit anderen
Worten: Das System hat einen Infarkt.‹1
Aus Hubers Diagnose ›Systeminfarkt‹ folgt
ein politischer Schluss: Die von Vertreterinnen
und Vertretern aller Parteien, aber auch von
vielen Sachverständigen gern bemühte These,
die deutsche Wirtschaft werde stärker aus
der globalen Krise hervorgehen, als sie in
sie eingetreten ist, wird ein frommer Wunsch
bleiben, solange sie auf der Vorstellung
beruht, man könne nach der Krise so weitermachen wie zuvor. Stimmt Hubers Diagnose,
und dafür spricht Vieles, dann wird mittelund langfristig mehr erforderlich sein als ein
bisschen Kosmetik am Marktradikalismus
der vergangenen Dekade.
1 Huber, Berthold: Diagnose:
Systeminfarkt. In: Financial Times
Deutschland vom 6. April 2009, S. 24.
8
Resultate der Mitgliederbefragung
Kurzfristig muss der Sozialstaat eine Antwort
darauf finden, wie Hunderttausende bedrohter
Arbeits- und Ausbildungsplätze zu halten sind,
wie der auf breiter Front einsetzende Verlust
von Einkommen für die Arbeitnehmer/innen
aufzuhalten ist und wie der Verlust von Kompetenz an den Wirtschaftsstandorten unterbunden werden kann. Bleiben Antworten auf
diese Fragen aus oder bleibt es beim Verweis
auf die ›Selbstheilungskräfte des Marktes‹,
dann ist ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit eine Folge der Entwicklung, die tief
greifende Legitimationskrise des Sozialstaats
möglicherweise eine andere.
Vor diesem Hintergrund hat sich die Arbeitnehmerkammer Bremen dazu entschlossen,
ihren diesjährigen Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande
Bremen ganz diesem Thema zu widmen.
Welche Befürchtungen und Gedanken löst
die globale Finanz- und Wirtschaftskrise bei
unseren Mitgliedern aus? Wird ihre konkrete
materielle oder soziale Lage bereits durch
die geschilderten Ereignisse berührt? Unsere
Berichterstattung erfolgt dabei in drei
Abschnitten:
Wo liegen die Ursachen der Finanzkrise
und wer trägt für die krisenhafte
Entwicklung ökonomisch und politisch die
Verantwortung?
Wie werden die Chancen zu einer durchgreifenden staatlichen Kontrolle der
Finanzwirtschaft eingeschätzt?
Welche allgemeinen Auswirkungen der
Finanzkrise sind für die nahe Zukunft zu
befürchten?
Welche staatlichen Gegenmaßnahmen
sind bekannt und wie werden sie eingeschätzt?
Wie stark sind die Befragten persönlich
von der Krise betroffen?
Hat sich die Finanz- und Wirtschaftskrise
bereits zu einer Systemkrise weiterentwickelt?
¢
¢
1. In zwei Gruppendiskussionen und acht
Einzelinterviews (geführt im Februar dieses
Jahres) erörterte unser Kooperationspartner,
das ›Konkret Marktforschungsinstitut Bremen‹,
anhand eines gemeinsam mit der Kammer entwickelten Leitfadens mit Beschäftigten aus
Bremen und Bremerhaven das Thema ›Finanzkrise‹. Die Befunde und Antworten der Interviewten fanden Eingang in eine qualitative
Studie zur genannten Problematik. Folgende
Fragen wurden diskutiert:
2 Nach dem Random-Verfahren.
2. Die Resultate der qualitativen Studie
flossen anschließend in eine – erneut durch
unseren Partner ›Konkret Marktforschung Bremen‹ angeleitete – repräsentative Mitgliederbefragung ein. Um zu validen Aussagen zu
kommen, wurden 701 Personen telefonisch
kontaktiert und interviewt. Die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer wurden per Zufall ausgewählt.
Um Verzerrungen zu vermeiden, sind alle Ortsteile Bremens und Bremerhavens soziodemografisch quotiert berücksichtigt worden. Als
zentrale Quelle dienten uns die Daten des Statistischen Landesamtes, die geschlechter-,
alters-, qualifikations- und erwerbsspezifisch
differenziert vorliegen.2 Der von ›Konkret
Marktforschung Bremen‹ kon-zipierte und mit
der Kammer abgestimmte Fragebogen enthielt
offene und geschlossene Fragen zu folgenden
Themenschwerpunkten:
9
›Wissen‹ über die Krise, die Krisengründe
und Informationsquellen;
Auswirkungen der Krise auf die
persönliche und die allgemeine Lage;
Einschätzung der staatlichen
Gegenmaßnahmen;
allgemeine Einschätzungen zum
Krisenverlauf;
Einschätzung der zukünftigen Entwicklung.
¢
3. In einem dritten, analytischen Teil setzt
sich Prof. Dr. Rudolf Hickel, Leiter des Instituts für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen, aus wissenschaftlicher und politischer Sicht mit den Ursachen und Wirkungen
der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auseinander. Er zieht eine erste Bilanz und widmet sich in besonderem Maße der Frage, welche politischen Konsequenzen zu ziehen
wären und welche Regel- und Kontrollmechanismen neu entwickelt und durchgesetzt werden müssen, um die Krise zu überwinden und
eine Wiederholung zu vermeiden – im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Eine letzte Vorbemerkung: Kenner der Lageberichte der Kammer werden in diesem Heft die
sonst üblichen Ausführungen und Statistiken
zur allgemeinen Lage der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Lande Bremen (Erwerbstätigkeit, Lohnentwicklung, Leistungsbezug)
vermissen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unser überarbeitetes Statistisches Taschenbuch 2009. Komplettiert wird
die Lageberichterstattung auch künftig durch
einen Bericht im Herbst über die sozial und
wirtschaftlich prekären Milieus im Lande Bremen und die Auswirkungen von Armut und
Ausgrenzung auf die Stadtgesellschaft.
2.1 Qualitative Studie zum Thema
Finanz- und Wirtschaftskrise –
Hintergrund der Untersuchung
Unsere Untersuchung zum Thema Finanz- und
Wirtschaftskrise ist, wie bereits ausgeführt,
darauf gerichtet, von bremischen und Bremerhavenern Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu erfahren, inwiefern die Folgen der
Krise bereits Teil ihrer Lebens- und Arbeitswirklichkeit geworden sind, mit welchen
Befürchtungen und Hoffnungen sie in die
Zukunft sehen und ob die ökonomische Krise
aus ihrer Sicht in eine Krise des politischen
Systems überzugehen droht. Diese Aufgabenstellung wurde in einem qualitativen Verfahren
in zwei Gruppendiskussionen und acht Einzelinterviews bearbeitet. Die Diskussionen
sowie die Einzelinterviews wurden von einer
Moderatorin auf Grundlage eines themenorientierten Leitfadens geführt.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser
Stichprobe waren
in Bremen oder Bremerhaven beschäftigt
und
zwischen 18 und 60 Jahre alt.
Gewonnen wurden 12 Teilnehmer/innen für die
jeweils zweistündigen Gruppendiskussionen,
davon
sechs Frauen mit unterschiedlichem
Bildungsabschluss und Berufsprofil (Hauswirtschaftslehrling, Geschäftsführungsassistentin, wissenschaftliche Mitarbeiterin,
studentische Hilfskraft, Sozialversicherungsfachangestellte, Zahnarzthelferin) im
Alter zwischen 28 und 48 Jahren;
sechs Männer mit unterschiedlichem
Bildungsabschluss und Berufsprofil (Koch,
Erzieher, kaufmännischer Sachbearbeiter,
Elektriker, Lehrer, Heilerziehungspfleger)
im Alter zwischen 28 und 48 Jahren.
10
Resultate der Mitgliederbefragung
Für die einstündigen Einzelinterviews wurden
8 Teilnehmer/innen gewonnen, davon
vier Frauen, jeweils zwei mit höherem und
zwei mit niedrigerem Bildungsabschluss;
vier Männer, jeweils zwei mit höherem und
zwei mit niedrigerem Bildungsabschluss.
Die Gruppendiskussionen wurden geführt,
damit sich die Teilnehmer/innen in einer lebendigen Gesprächssituation wechselseitig Anregungen und Impulse geben und dadurch ein
vergleichsweise breites Spektrum von Einschätzungen und Meinungen zur Geltung
kommt. Die qualitativen Einzelinterviews sollten dagegen, unabhängig von jedem gruppendynamischen Prozess, individuell und intensiv
auf Haltungen und Einschätzungen der Befragten eingehen, um tiefere Einsichten in die
aufgeworfenen Themen zu gewinnen.
Der nachfolgende Bericht gibt die zusammengefassten Resultate der Gruppen- und Einzelbefragungen wieder. Er konzentriert sich
dabei auf die Positionen, die in beiden Befragungsformen größtes Einvernehmen unter den
Befragten gefunden haben, unabhängig von
Geschlecht, Alter, Beruf oder Bildungsniveau.
Auf den Resultaten dieser Stichprobe baute
die sich anschließende repräsentative Umfrage auf (vergleiche Kapitel 2.10 bis 2.16
dieses Berichts). Die Schlussfolgerungen dieser Studie werden, wo dies sinnvoll erscheint,
mit Zitaten aus den Gruppen- und Einzeldiskussionen belegt.
2.2 Ursachen der Krise
und Verantwortlichkeiten
Ausnahmslos alle Gesprächsteilnehmer/innen
haben sich ein Urteil über die Gründe der
Finanz- und Wirtschaftskrise gebildet. Ihr bisheriger Verlauf ist in Grundzügen durchaus
allen bekannt. Dennoch wird das Thema als
komplex oder hintergründig wahrgenommen.
Die tatsächliche Lage und Rolle der Banken
wird nach wie vor als undurchsichtig erlebt,
die Protagonisten der Finanzwirtschaft gäben
wenig Einblick in ihre Geschäfte – sowohl für
die Medien als auch für den Einzelnen sei es
daher schwierig, zu einer präzisen Erklärung
für die Gründe des Finanz-Dilemmas zu gelangen. Die Auffassung, dass Banker an ihrem
eigenen Geschäft gescheitert sind, weil sie
›die Geister, die sie riefen‹, nicht mehr beherrschen konnten, ist stark vertreten. Grundsätzlich aber werden die Ursachen der Krise in
den bedingungs- und rücksichtslos auf Gewinn
getrimmten, hochspekulativen Geschäftsmodellen der Banken gesehen, die weitgehend
unkontrolliert und ungeregelt abgelaufen
seien:
›Fing an mit Immobilienkauderwelsch,
dass viele Leute Häuser auf Pump und
Kredit gekauft haben. (...) Wer genau
die Finger im Spiel hat, ist für mich
undurchsichtig.‹
›Junge aufstrebende Menschen, die mit
irrealem Geld handeln. Da geht es nur um
Tagesgewinne. Das ufert irgendwann aus.‹
›Höheres Management hat zu viel Entscheidungsgewalt, zum Beispiel Broker,
Trader und so weiter. (...) Die haben
keine Ahnung vom Geschäft und verzocken sich.‹
11
Nahezu alle Gesprächsteilnehmer/innen teilen
die Auffassung, dass die Überhitzung der
Finanzmärkte auf den exzessiven Spekulationsgeschäften der Bankmanager beruht, die
sich wiederum von einer unverantwortlichen
Renditegier antreiben lassen. Die Bankmanager werden daher als die Hauptverantwortlichen für die Krise gesehen. In diesem Urteil
wird kaum differenziert; die Teilnehmer/innen
sprechen nicht von einigen wenigen Bankmanagern, sondern betonen, dass gerade die
Leitfiguren des (internationalen) Bankenwesens ihre ›(...) Sorgfaltspflicht vernachlässigt‹
haben.
Eine Minderheit der Befragten insistiert
darauf, dass nicht nur die Banken, sondern
auch große, international agierende Unternehmen in den Renditewettbewerb eingetreten
sind. Auch Teile der Realwirtschaft hätten der
Krise durch ihre völlig überzogenen Renditeziele Vorschub geleistet, so der Vorwurf.
Eine deutliche Verantwortung für die Krise
wird auch den politischen Eliten zugewiesen.
Politiker aller Parteien seien durch ihre Mitarbeit in den Aufsichtsgremien der Banken aus
erster Hand über die überzogenen Ziele der
Kreditinstitute informiert gewesen, die Regierung habe durch ihr politisches Handeln
oder durch ihre politische Zurückhaltung die
Eskalation der Krise mit produziert.
›Viele Politiker/innen sind auch
Vorsitzende. Sie wussten, was passiert.
Haben mitgespielt, mitgewettet.‹
›Die Politiker tragen eine Mitschuld.
Sie sind in den Aufsichtsgremien.
Sie haben sich keine Einblicke verschafft
in die Unternehmen.‹
›Die Regierung hat mitgespielt.‹
Die Mehrheit aller Befragten weist entschieden
den Verdacht zurück, dass die Konsumentinnen und Konsumenten eine Mitschuld an der
Krise trügen, weil auch sie – vermittels Kredit
– über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Sie
werden stattdessen als Leidtragende der
Krise gesehen, auch weil die Banken die materiellen Notlagen und das Vertrauen ins Bankenwesen für ihre Geschäftsinteressen missbraucht hätten. Insbesondere wird in diesem
Zusammenhang der Vertrauensverlust gegenüber den Ratschlägen der Finanzberaterinnen
und -berater beklagt.
›Es gibt viele Leute, die können sich nicht
einmal alltägliche Sachen wie einen
Fernseher leisten. Durch einfaches Kreditwesen werden diese Leute in die Bank
getrieben.‹
›Die Verbraucher sind nicht schuld, denn
sie gehen davon aus, dass die Kredite
okay sind.‹
›Ich habe immer gedacht, dass man
selber einen Kredit nur mit gewissen
Sicherheiten bekommt.‹
Eine kleine Gruppe der Befragten insistiert
allerdings darauf, dass ›menschliche Gier‹ ein
Kennzeichen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung sei und nicht auf die
Finanz- und Realwirtschaft beschränkt werden
könne. Diese Untergruppe unterstellt der
gesamten Gesellschaft daher eine Mitverantwortung am Zustandekommen der Krise,
weil nur noch materieller Wohlstand als
Erfolgskriterium Anerkennung finde.
12
Resultate der Mitgliederbefragung
2.3 Staatliche Kontrolle
der Finanzmärkte
Einig waren sich die Interviewten über eine
dringend nötige starke Kontrolle der Finanzmärkte. Allerdings besteht Ratlosigkeit, wie
und durch wen diese Kontrolle effektiv und
effizient ausgeübt werden könnte. Auch in dieser Hinsicht wird die Vermutung laut (vergleiche Kapitel 2.2 dieses Berichts), dass Finanzmärkte und Bankgeschäfte zu undurchsichtig
und komplex seien und sich damit jeder durchgreifenden Kontrolle entzögen. Skepsis herrscht auch gegenüber der Rolle, die in dieser
Hinsicht die Politik oder der Staat spielen
könnten. Zwar nehmen alle Befragten den Willen von Staat und Parteien zur Kenntnis, eine
neue, geregelte ›Architektur der Finanzwelt‹ zu
schaffen. Es besteht aber ein ganz prinzipieller Zweifel, ob die Politik mit dieser Aufgabe
nicht überfordert ist – zumal sie selbst in das
praktische Geschäft der Banken involviert sei.
›Die Politik kann nicht so schnell
hinterher sein. Die können nicht in jede
Bank reingucken.‹
›Bedingt ist der Finanzmarkt kontrollierbar, zum Beispiel über Rahmengesetze,
(...) ansonsten ist er zu verflochten.‹
›Nein, der Finanzmarkt ist zu verflochten,
(...) keine Behörde kann das kontrollieren.‹
›Kontrolle zur Abschreckung sollte
man versuchen. Ob das etwas bewirkt,
ist eine ganz andere Frage.‹
In den Antworten kommt ein deutlicher Zweifel
an den Absichten, vor allem aber an den
Möglichkeiten einer rechtsstaatlichen Neugestaltung und Kontrolle des Bankengeschäfts
zum Ausdruck.
Mit Sicherheit ist dieser Zweifel nicht gleichzusetzen mit einem grundlegenden Skeptizismus
gegenüber der ordnungspolitischen Kompetenz der staatlichen Organe. Immerhin aber
hält man die ordnende und ausgleichende
Zuständigkeit des Staates für die Finanzwirtschaft nicht mehr uneingeschränkt für gesichert. Angesichts der überragenden Bedeutung, die der Finanzsektor für die regionalen
Standorte und damit für die Erwerbsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat, könnte sich diese Einschätzung zu
einer tieferen Skepsis gegenüber der politischen Stabilität der Verhältnisse ausweiten.
Jedenfalls dann, wenn die Versuche des Staates, die Finanzwirtschaft aus der Krise zu
führen, auf absehbare Zeit erfolglos bleiben.
2.4 Auswirkungen der Finanzkrise:
Annahmen und Befürchtungen
Allgemeine Wirtschaftsentwicklung
Alle Gesprächsteilnehmer/innen gehen davon
aus, dass die Finanzkrise vollständig auf
die Realwirtschaft übergreifen wird. Ein Ende
der Krise ist nach Meinung der Befragten
nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Mehrzahl
fürchtet, dass wir erst am Anfang zunehmender Unternehmenskonkurse und parallel
zunehmender Massenarbeitslosigkeit stehen.
›Schockierend ist bereits heute der
Konkurs etablierter Firmen.‹
›Arbeitsplätze werden verloren gehen.‹
›Viele werden auf der Strecke bleiben
und entlassen. Vollbeschäftigung wird
schwieriger, befristete Verträge werden
zunehmen.‹
›Kleinere Firmen werden wegbrechen
und in Konkurs gehen. Gerade die
werden die Leute nicht halten können.‹
13
Arbeitslosigkeit und Leiharbeit
Dass die Arbeitslosigkeit massiv ansteigen
wird, ergibt sich aus dem von den Befragten
skizzierten Krisenszenarium der Realwirtschaft. Wie sich die Arbeitslosigkeit entwickeln wird, darüber besteht Uneinigkeit.
Viele befürchten einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit um zehn Prozent oder mehr.
Mit Blick auf die Erwerbsarbeit denkt eine
Mehrheit der Befragten bereits heute an die
Zeit nach der Krise und erwartet nichts Gutes.
So gehen die meisten von stark anwachsender Leiharbeit aus – langfristig gesehen sogar
als dominierende Beschäftigungsform der
Zukunft. Diese Einschätzung ist mit massiven
Ängsten in Bezug auf eine dann zwangsläufig
eintretende Unsicherheit der Beschäftigungsperspektive verbunden und mit einer starken
Furcht vor Einkommens- und Wohlstandsverlusten. Generell wird die gegenwärtige Krise
von den Befragten daher auch als ein Vorwand
angesehen, den die Unternehmen in immer
stärkerem Maße nutzen werden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Leiharbeit
als ›moderne Form‹ der Normalarbeit aufzuzwingen.
›Wer einen Festvertrag hat, der kann sich
wahrscheinlich noch freuen. Bei Zeitverträgen und Neuverträgen wird es gewaltig
nach unten gehen. Und wenn es nur 100
Euro mehr sind als bei Hartz IV, es findet
sich immer einer, der das macht.‹
›Das mit der Zeitarbeit wird weitergehen.
(...) Und die Löhne werden so weit
gedrückt, dass wir von unserem Geld
eigentlich gar nicht mehr leben können.‹
›Ich denke, dass mit der Zeitarbeit
wird ein großes Modell werden.
Das ist eigentlich Sklavenhandel.‹
Löhne und Gehälter
Die Mehrheit der Befragten geht vor dem Hintergrund der Krise bei den fortbestehenden
Arbeitsverträgen von stagnierenden Löhnen
und Gehältern aus. Zudem wird die Befürchtung laut, dass Unternehmen – bei stagnierendem Stundenlohn – Wochenarbeitszeit reduzieren und entsprechend weniger Lohn oder
Gehalt zahlen werden.
›Das Gehalt wird sinken, bei gleichem
Stundenlohn. (...) Man arbeitet nur
noch 35 statt 40 Stunden und kriegt dann
entsprechend weniger Geld.‹
Alle Gesprächsteilnehmer/innen erwarten von
den Unternehmen eine Fülle von Maßnahmen,
um zur Krisenbewältigung Lohnkosten abzubauen. Dennoch hätten die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer keinerlei Veranlassung, von
sich aus in kommenden Tarifrunden Bescheidenheit zu üben. Die Befragten verweisen
auf die in den vergangenen zwei Jahren massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten und
explizit auch auf den Gesichtspunkt der Einkommensgerechtigkeit. Angesichts der hohen
Bonuszahlungen für Manager, aber auch der
immer weiter auseinanderklaffenden Schere
zwischen Normal- und Spitzeneinkommen,
werde deutlich, wie ungerecht Löhne und
Gehälter verteilt seien und wie stark der
Nachholbedarf im Bereich der Normaleinkommen sei.
›Alles steigt, aber nicht das Gehalt.
Das Gehalt muss angepasst werden.‹
›Die Forderungen sind nicht erst durch
die Krise gekommen. (...) Sie (die
Arbeitnehmer/innen) hatten nicht genug
Steigerungen im Vergleich zu anderen
Berufen oder zu Managern – da darf
man ja gar nicht hingucken. Da kann
man ja vor Neid erblassen.‹
14
Resultate der Mitgliederbefragung
Lebenshaltungskosten
Trotz gegenteiliger Auffassungen der Fachleute glauben die Gesprächsteilnehmer/innen
nicht daran, dass es in der Krise zu einem allgemeinen Verfall der Preise kommen werde.
Man stellt sich vielmehr darauf ein, dass diese
weiter steigen werden, differenziert dabei
aber. Bei Benzin, Strom und Nahrungsmitteln,
so nimmt man an, werden sich die Preise
stabilisieren – mit einer Tendenz zum Günstigen, alles andere wird teuer bleiben oder
teurer werden.
›Ja, die Preise steigen. Aber nicht mehr
so steil wie vor der Wirtschaftskrise.‹
›Beim täglichen Bedarf bleibt es im
grünen Bereich. Sehe Tendenz ins
Günstigere. Die Firmen versuchen, mit
den Preisen runterzugehen. (...)
Alles andere wird teuer bleiben.‹
2.5 Einschätzung der staatlichen
Maßnahmen zur Krisenbewältigung
dergrund der Regierungsaktivitäten steht.
Aus den Konjunkturprogrammen sind ihnen
dagegen insbesondere die Abwrackprämie und
die Kindergelderhöhung bekannt.
Einige Teilnehmer/innen stellen den Sinn
von Abwrackprämie und Kindergelderhöhung
allerdings in Frage. So halten sie, mit Blick
auf die gestiegenen Lebenshaltungskosten,
die Zahlung eines einmaligen Zuschusses zum
Kindergeld in Höhe von 100 Euro für völlig
unzureichend. Auch bei der Abwrackprämie
wird vermutet, dass sie letzten Endes zulasten
der gegenwärtig günstigen Rabatte geht, die
man beim Neuwagenkauf erzielen kann.
Wünschen würden sich die Teilnehmer/innen
dagegen Maßnahmen, die unmittelbar dem
alltäglichen Konsum zugutekommen:
›Die müssten die Mehrwertsteuer senken.‹
›Sozialabgaben und Steuern sollten
gesenkt werden.‹
›Den Einkaufsgutschein für Verbraucher.
Hätte ich toll gefunden.‹
Unterstützung von Unternehmen
Bekanntheitsgrad und allgemeine
Bewertung der bekannten Maßnahmen
Bei den Gesprächsteilnehmern und -teilnehmerinnen besteht kein umfassender Einblick in
die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung
der Finanz- und Konjunkturkrise. Ausmaße
und Intentionen etwa des 500-Milliarden-Kreditund Bürgschaftsprogramms der Bundesregierung zur Unterstützung der Finanzwirtschaft
(Bankenschutzschirm) sind nicht gründlich
bekannt. Das Gleiche gilt für die beiden Konjunkturprogramme der Großen Koalition. Die
Gesprächsteilnehmer/innen vermischen einzelne Maßnahmen der Hilfspakete miteinander
und beschränken sich in den Diskussionen auf
die wenigen, ihnen geläufigen Hilfen. Allen
ist bewusst, dass die ›Bankenrettung‹ im For-
Unabhängig von den konkreten Maßnahmen
der Konjunkturprogramme sprechen sich die
Gesprächsteilnehmer/innen mehrheitlich für
eine Unterstützung von Unternehmen der Realwirtschaft aus, allerdings zu klaren Bedingungen. Oberste Priorität haben für sie Hilfen für
solche Unternehmen, an deren Existenz ganze
Standorte und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer großen Zahl von Beschäftigten hängt – in den Schlüsselunternehmen
selbst und auch bei den Zulieferern:
15
›Der Staat soll sich um Firmen kümmern,
in denen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel
stehen.‹
›Wie bei Mercedes, wenn die Leute
entlassen müssten. Das dürfte man nicht
eskalieren lassen.‹
Besondere Bedeutung haben auch Hilfen für
kleine und mittlere Unternehmen, weil sie das
Kernangebot an Arbeitsplätzen stellen:
›Was ist mit den kleinen Handwerkern,
was mit dem Mittelstand? Weil Maler
Meier nur zehn Angestellte hat, (...) der
muss Insolvenz anmelden.‹
›Der Mittelstand, Märklin, Schiesser,
die muss man einfach retten.‹
Dennoch ist für die Befragten die Klärung der
Frage ausgesprochen wichtig, warum Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten
geraten sind und wer dafür die Verantwortung
trägt. Eine Unternehmensförderung um jeden
Preis lehnen die Gesprächsteilnehmer/innen
ab. Aus ihrer Sicht ist vor jeder Unterstützung
zu prüfen, inwiefern eine ökonomische Schieflage tatsächlich unverschuldetes Resultat der
Finanzkrise ist oder ob die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten auf Fehlkalkulationen und
Missmanagement zurückzuführen sind. In l
etzterem Falle wäre aus Sicht der Teilnehmer/innen vor jeder staatlichen Intervention
zu prüfen, ob die Verursacher der Schwierigkeiten zur Verantwortung gezogen werden
können und ob eine realistische Aussicht auf
die Weiterführung des Unternehmens besteht.
Hilfe für die Banken
Die enormen Mittel, die der Staat zur Rettung
der Banken verbürgen und gegebenenfalls
auch bereitstellen will, sind für die Gesprächsteilnehmer/innen kaum zu fassen. Allenthalben
wird der offenkundige Widerspruch benannt,
dass die Bundesregierung bis vor wenigen
Monaten eine weitere Staatsverschuldung
kategorisch abgelehnt hat und nun – quasi aus
dem Stand – schuldenfinanzierte Hilfen für
Finanzwirtschaft und Konjunktur in atemberaubender Höhe zur Verfügung stellt: Dies ist für
die Befragten nicht nachvollziehbar. Die
Gesprächsteilnehmer/innen gehen davon aus,
dass sie selbst und viele nachfolgende Generationen letztlich für diese Staatsverschuldung
aufkommen müssen, sei es durch Steuern und
Abgaben oder in Form gekürzter Leistungen:
›Der Steuerzahler wahrscheinlich wieder!‹
›Wir, unsere Kinder und Kindeskinder
zahlen das.‹
Allerdings sind die Gesprächsteilnehmer/innen
bislang weit davon entfernt, den benannten
Widerspruch im staatlichen Handeln zu einem
Skandal erster Ordnung zu stilisieren. Prinzipiell wird gegen die von der Bundesregierung
und allen Parteien immer wieder betonte,
übergeordnete Bedeutung des Finanzsektors
nichts eingewandt. Die Notwendigkeit von
Rettungsmaßnahmen wird daher auch nicht
bestritten. Dennoch dürfte auch hier gelten:
Die politischen Akteure haben – mit dem
bloßen Verweis auf den ›normativen Zwang
des Faktischen‹ – ihre Position zu Sinn und
Zweck der Staatsverschuldung von einem
Tag auf den anderen geändert und damit auch
den behaupteten Grund für die Begrenzung
der Verschuldung, nämlich den Schutz künftiger Generationen, aus dem Verkehr gezogen.
Ein Grund, der seine Plausibilität insbesondere
aus der fürsorglichen Funktion des Staates
16
Resultate der Mitgliederbefragung
für die Gruppen seiner Bürgerinnen und
Bürger bezieht, die ihre Interessen (noch)
nicht selbstständig zu Gehör bringen können.
Ob und wie lange dieser abrupte Wechsel
im staatlichen Handeln glaubwürdig bleibt,
ob die immense Neuverschuldung des Staates
als ›notwendiges Übel‹ akzeptiert wird, hängt
davon ab, ob die eingesetzten Mittel aus Sicht
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
dazu dienen, die Exzesse von ein paar verantwortungslosen Finanzjongleuren kosmetisch
zu überdecken. Sollte dieser Eindruck entstehen, würde der Staat als eine Institution
wahrgenommen, die quasi als ›Dienstleistungsagentur‹ für die Finanzwirtschaft agiert und
nicht als ausgleichende Instanz zur Wahrung
des Allgemeinwohls.
Garantie privater Spareinlagen
Alle Gesprächsteilnehmer/innen haben seinerzeit zur Kenntnis genommen, dass die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, in einer öffentlichen Erklärung die Sicherheit privater Spareinlagen garantiert hat. Illusionen machen
sich die Teilnehmer/innen über diese Erklärung nicht. Bei allen herrscht die Ansicht
vor, dass eine derartige Garantie nur
derjenige gibt, der es offenbar nötig hat:
›Hätten alle ihr Geld abgehoben,
wären der Markt und die Banken schnell
zusammengebrochen. (...) Die Rede von
Frau Dr. Merkel war wirtschaftspolitisch
notwendig.‹
Zugleich wird die Glaubwürdigkeit der Garantieerklärung stark angezweifelt. Dies nicht so
sehr deshalb, weil sich die durchaus vorhandene Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit
der Politik erneut Bahn bricht,
›Die Kanzlerin kann viel erzählen. (...)
Frau Merkel ist nicht glaubwürdig.‹
sondern vielmehr, weil die Garantie nichts
anderes als eine politische Absichtserklärung
darstellt. Die Befragten sind sich einig, dass
die Garantieerklärung rechtlich gesehen
keinen materiellen Hintergrund hat, sondern
Sicherheit stiften will, ohne den Adressaten
der Erklärung ein (Rechts-)Mittel an die Hand
zu geben, mit dem sie ihre Ansprüche im
Zweifel gerichtlich durchsetzen können.
2.6 Persönliche Betroffenheit
Die Gesprächsteilnehmer/innen sind nach
eigener Auskunft bisher weitgehend von
Krisenauswirkungen verschont geblieben. Nur
vereinzelt wurden Verluste in Aktiengeschäften
oder Zinsverluste im Versicherungsbereich
eingeräumt. Aber selbst in diesen Fällen kam
es nicht zu existenziellen Einbußen, weil nur
geringe Beträge im Spiel waren.
Alle haben aber Verwandte, Freunde oder
Bekannte, die es bereits härter getroffen hat.
Berichtet wird über Angehörige oder Freunde,
die ersparte Mittel in Fonds angelegt hatten
und bis zu zwei Drittel ihrer Anlagen verloren
haben. Im Bekanntenkreis haben außerdem
alle jemanden, der oder die seinen/ihren
Arbeitsplatz infolge der Krise verloren hat
oder deren befristete Verträge nicht verlängert wurden. Aus den Medien stammt die
Information, dass insbesondere die LehmannPleite viele ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer um ihre private Altersabsicherung gebracht hat. Insgesamt wird die
gegenwärtige Situation atmosphärisch so
beschrieben:
›Irgendwie ist das wie ein Damoklesschwert, das so über einem schwebt. Alle
reden davon, aber bislang ist man selbst
noch nicht berührt.‹
17
Erspartes
Überwiegend vertrauen die Gesprächsteilnehmer noch auf die als sicher eingestuften, einfachen Anlage- und Aufbewahrungsformen
ihres Geldes, wie etwa das Sparbuch oder ein
Festgeldkonto. Nur wenige Teilnehmer/innen
erwarten hier für die Zukunft Verluste. Stattdessen vermutet man eher einen Rückgang
der Sparzinsen und – was als schlimmer eingeschätzt wird – eine massive Inflationierung
des Geldes durch die enorme Staatsverschuldung, die die individuelle Konsumtionskraft
künftig massiv beschränken wird.
›Ich habe keine Angst.
Das Sparbuch ist eine feste Anlage.‹
›Ja, die Inflationsrate wird höher.
Also muss man Angst um sein Erspartes
haben.‹
Private Altersvorsorge
Die Gesprächsteilnehmer/innen mit einer
privaten Altersvorsorge nach zertifiziertem
Riestermodell äußern keine Angst vor Wertverlusten ihrer Anlagen. Das weitaus gravierendere Problem wird unabhängig von der Finanzkrise darin gesehen, die Kürzungen bei der
gesetzlichen Rente durch private Vorsorge
auffangen zu können. Vor dem Hintergrund
steigender Lebenshaltungskosten, rückläufiger Löhne und Gehälter sowie wachsender
Arbeitsplatzunsicherheit wächst die Angst,
den gewohnten Lebensstandard im Alter
nicht einmal annähernd halten zu können.
Immobilien
Die Teilnehmer/innen, die Häuser oder Eigentumswohnungen besitzen, beklagen den
gegenwärtigen Preisverfall ihres Besitzes,
sind sich aber nicht sicher, ob dieser in direktem Zusammenhang zur Finanzkrise steht:
›Wir haben ein Mehrfamilienhaus. Das
können wir unmöglich jetzt verkaufen.‹
›Ich habe mein Haus verkauft und ein bisschen was verloren. Ich weiß nicht, ob das
speziell an der Finanzkrise gelegen hat.‹
Konsumverhalten
Alle Gesprächsteilnehmer/innen geben an –
die Älteren dabei mit besonderem Nachdruck
–, dass sie ihr Konsumverhalten in den vergangenen Jahren, ganz unabhängig von der
Krise, grundlegend verändern mussten. Größere Anschaffungen oder Reisen konnten wegen
der zunehmenden Steuer- und Abgabenbelastung und massiver Preissteigerungen oft
gar nicht mehr oder nur in größeren zeitlichen
Intervallen geschultert werden.
›Liegt nicht an der Finanzkrise. Haben
jedes Jahr Urlaub gemacht, das ist vorbei.
Geht nur noch alle drei Jahre.‹
›Wir kommen noch hin. Wir können
aber keine großen Sprünge machen, zum
Beispiel essen gehen eingeschränkt.‹
Der Spardruck, der ohnehin bereits auf den
Gesprächsteilnehmern und Gesprächsteilnehmerinnen liegt, wird durch die Krise verstärkt:
In Bezug auf Anschaffungen oder das Eingehen finanzieller Verbindlichkeiten müsse man
künftig noch größere Sorgfalt walten lassen.
18
Resultate der Mitgliederbefragung
Wohlstand und Existenz
Eine praktische Konsequenz haben nahezu
alle Gesprächsteilnehmer/innen aus den
bereits vor der Krise enger gewordenen Teilhabemöglichkeiten am Konsum gezogen: Alle
stellen sich darauf ein und arrangieren sich
damit, dass die persönliche, finanzielle Situation schwieriger geworden ist und zukünftig
noch schwieriger werden könnte:
Dennoch ist das Klima unter den Gesprächsteilnehmern und Gesprächsteilnehmerinnen
nicht angstfrei, was Wohlstand und Existenzbedingungen in der Zukunft anbelangen. Zweifel kommen auf, ob man den kommenden
Schwierigkeiten auf die Dauer begegnen kann
und so sind erste Existenzängste deutlich auszumachen:
›Ja, ich bin ängstlich. Ich habe Angst,
dass meine Wohnung entwertet wird.‹
›Es geht uns nicht schlecht. Sind
Mittelstand. Aber es bedeutet schon
Entbehrung, zum Beispiel weniger Urlaub.
Ist noch nicht dramatisch.‹
›Kein Arbeitsplatz ist sicher.
Man macht sich Gedanken, wie manches
zu finanzieren ist.‹
›Ich habe mir angewöhnt, meinen
Lebensstandard runterzuschrauben.‹
›Es sind auch Verlustängste. Ich mache
mir Gedanken um meine Rente.‹
›Dass ich mich einschränken muss,
ist okay. Ich bin mit Einschränkungen
aufgewachsen.‹
Ganz vereinzelt beginnen Teilnehmer/innen die
Frage zu stellen, ob ihnen nicht doch bessere
Lebensbedingungen zugänglich sind. Allerdings sehen sie dabei keine Chancen am hiesigen Standort, sondern denken darüber nach,
ob sie ihre Lage durchgreifend durch Auswanderung verbessern können.
Auch in diesen Haltungen zeigt sich erneut,
dass die Teilnehmer/innen weit davon entfernt
sind, die rechtlichen oder ethischen Ordnungsprinzipien der Gesellschaft infrage zu stellen.
Alle haben inzwischen materielle Beschränkungen am eigenen Leibe erfahren – noch ganz
getrennt von den drohenden Folgen der globalen Krise. Bei allen überwiegt bislang die
Absicht, sich den Herausforderungen zu stellen und mit ihnen zurechtzukommen. Allerdings – die zur Bebilderung und Begründung
der Krise so oft und gern breitgetretene Phrase einer Gesellschaft, die angeblich ݟber ihre
Verhältnisse gelebt‹ habe, erweist sich angesichts der zitierten Einschätzungen als ideologisch. Den Exzessen der Finanzwirtschaft auf
der einen Seite entsprechen ganz offenkundig
die Strategien zur Selbstbeschränkung und
zum Rückbau der Konsumansprüche auf der
anderen Seite.
›Wir haben schon mehrmals damit
geliebäugelt, auszuwandern.‹
›Ich habe viele Möglichkeiten, egal,
wo ich hingehe auf unserem Planeten.‹
19
2.7 Krisenauswirkungen
auf soziale Marktwirtschaft und
demokratische Ordnung
Auf die Frage, ob die Finanz- und Wirtschaftskrise im Begriff steht, sich zu einer Krise
des politischen Systems auszuweiten, konnten
die Befragten keine einvernehmliche Antwort
finden. Zwei Standpunkte dominierten die
Gespräche: Eine Gruppe lehnte die These,
dass die politische Stabilität des Gesellschaftssystems durch die Krise gefährdet sei, rundheraus ab. In dieser Gruppe herrschte die
Meinung vor, dass die soziale und materielle
Ordnung abhängig sei vom Engagement
jeder/jedes Einzelnen. Die Befragten sehen
sich in der Pflicht, selbst aktiv zu werden,
nicht ›nur zu Hause zu sitzen und zu leiden‹,
sondern alles in den eigenen Kräften stehende
zu tun, um die gegenwärtige Depression zu
überwinden. Die politische und marktwirtschaftliche Ordnung wurde von diesen Teilnehmern
und Teilnehmerinnen als entscheidende Bedingung für den Erfolg derartiger Anstrengungen
angesehen. Allerdings – diese Meinung hatte
starke Züge eines ›Bekenntnisses‹, denn die
Verfechter dieser Meinung haben sich bislang
weder politisch noch sozial engagiert.
Die andere Fraktion zeichnete sich durch
einen enormen Rigorismus aus. Sie wies die
Frage an sich zurück, weil ›nichts in die Krise
geraten könne, das nicht mehr existiere‹.
Diese Gruppe vertritt die Position, die demokratische Ordnung und die soziale Marktwirtschaft seien bereits ein Zerrbild ihrer selbst.
Der Staat sei längst einseitiger Dienstleister
wirtschaftlicher Interessen, die ihrerseits
große Teile des gesellschaftlichen Lebens
kontrollierten. Möglichkeiten der Bürgerinnen
und Bürger, auf dieses ›Machtkartell‹ Einfluss
zu nehmen, wurden rundheraus bestritten.
Im Resultat trafen sich die Protagonisten dieser Auffassung schließlich mit ihren Gegnern
und Gegnerinnen: Auch sie zeichnen sich
durch Abstinenz aus, was politisches und
soziales Engagement anbelangt.
2.8 Ausblick
In einem letzten Gesprächsdurchgang stellten
die Teilnehmer/innen zumindest in einer Hinsicht wieder Einvernehmen her: Das Ende der
Krise ist längst nicht erreicht. Niemand traute
sich zu, eine umfassende Einschätzung über
die Auswirkungen der Krise zu geben, über
das hinausgehend, was Gegenstand der vorangegangenen Diskussionen war. Für die Hoffnung, dass irgendwann schon alles irgendwie
wieder gut werde, fand man zwar kein handfestes Material, aber einen Trost:
›Wenn irgendwo ein Tief ist, wird es
schon auch wieder ein Hoch geben!‹
20
Resultate der Mitgliederbefragung
2.9 Fazit
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise
ist allen Gesprächsteilnehmern und
Gesprächsteilnehmerinnen ein Begriff. Alle
haben sich – qualitativ sehr unterschiedliche – Gründe für das Zustandekommen
der Depression zurechtgelegt. Der bisherige Verlauf der Krise ist allen Befragten
bekannt.
Die Teilnehmer/innen sehen die Verantwortung für die Krise eindeutig bei der Finanzwirtschaft und ihren Leitfiguren. Eine Mitverantwortung trägt aus Sicht der Befragten aber auch der Staat, der durch seine
Maßnahmen oder durch unterlassene
Interventionen die Ausbreitung der Krise
begünstigt hat.
Die Gesprächsteilnehmer/innen wünschen
eine stärkere Regelung und Kontrolle des
Banken- und Finanzsektors, bezweifeln aber
zugleich, ob dies durchgreifend zu erreichen ist. Aus ihrer Sicht bleibt das Bankengeschäft undurchsichtig und hintergründig,
so dass es seinen Protagonisten stets
leichtfallen wird, sich externen Regelungen
zu entziehen.
Die Intervention des Staates zum Schutz
der Finanz- und Realwirtschaft wird dennoch unter gewissen Bedingungen begrüßt.
Von vorrangiger Bedeutung ist für die
Befragten dabei die Rettung und Sicherung
von Arbeitsplätzen, nicht nur bei den
Großunternehmen, sondern vor allem auch
im Bereich der kleinen und mittleren
Unternehmen.
Einvernehmen besteht allerdings in der Auffassung, dass jeder staatlichen Hilfe eine
intensive Ursachenforschung über das
Zustandekommen wirtschaftlicher Schieflagen vorausgehen müsse. In Fällen von
Missmanagement und Fehlkalkulationen
sind zunächst diejenigen zur Verantwortung
zu ziehen, die die Verwerfungen verursacht
haben.
Wenig Illusionen machen sich die Befragten
über die neuerliche, immense Staatsverschuldung zur Rettung der Banken und der
Konjunktur. Nachfolgende Generationen
werden für die neuen Lasten aufkommen
müssen. Bislang wird dies von allen als
Notwendigkeit akzeptiert.
Die bisherigen, unmittelbar-persönlichen
Folgen der Krise halten sich bei allen
Befragten noch in Grenzen.
Das teilweise distanzierte Verhalten der
Gesprächsteilnehmer/innen zur Krise und
ihren Auswirkungen lässt sich dadurch
erklären, dass alle bereits eine schwierige
wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht
haben, einschließlich massiver Verluste
an Konsumtionskraft und Lebensqualität.
Die Krise an sich verstärkt insofern nur ein
bestehendes Klima, in dem Verzicht und
Beschränkung zu Strategien ausgebaut
wurden, um mit den Herausforderungen
zurechtzukommen.
Soweit Zukunftsängste um sich greifen,
haben diese ihre Ursache häufig schon
vor der Finanzkrise (Rentenunsicherheit,
Arbeitslosigkeit, Leiharbeit, Spardruck),
haben nun aber zumindest atmosphärisch
durch die Wahrnehmung der sich entwickelnden Krisenphänomene an Nachdruck
gewonnen.
Bislang ist der Wille, den möglichen Herausforderungen der Krise individuell zu
begegnen, ungebrochen. Dennoch mischt
sich in den noch verhaltenen Optimismus
zunehmend die Angst, dass man nicht ewig
standhalten kann.
Insofern kann angesichts der Urteile der
Befragten gegenwärtig nicht die Rede davon
sein, dass sie die Finanz- und Wirtschaftskrise zugleich als eine Gefährdung der sozialstaatlichen Stabilität erleben. Die Frage,
ob es bei diesem Fazit bleiben kann, wenn
die staatlichen Maßnahmen zur Überwindung
der Krise weiterhin ins Leere laufen, ist ohne
Spekulation nicht zu beantworten; insofern
wird ihr keine Bedeutung beigemessen.
21
2.10 Wirkungen und Folgen der
Finanz- und Wirtschaftskrise –
Resultate der Mitgliederbefragung
Auf Basis der Resultate der unter den Punkten
2.1 bis 2.9 dargestellten qualitativen Studie
wurde vom 24. Februar 2009 bis zum 9. März
2009 eine repräsentative Meinungsumfrage
bei insgesamt 701 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern aus Bremen und Bremerhaven
durchgeführt. Ausgehend von den Einschätzungen, die wir in den Gruppen- und Einzeldiskussionen gewonnen hatten, fragten wir
gezielt nach
den Gründen der Krise;
ihren allgemeinen sowie privaten Ursachen
und Folgen;
den Informationsquellen, aus denen
Aufschluss über die Entwicklung der
Krise gewonnen wird;
den Einschätzungen zur staatlichen
Krisenintervention;
den Einschätzungen zur
gegenwärtigen Lage;
den Annahmen und Befürchtungen
der zukünftigen Entwicklung.
In den telefonischen Interviews wurde ein Fragebogen eingesetzt, der von der Arbeitnehmerkammer Bremen und dem Konkret Marktforschungsinstitut Bremen entwickelt worden
war und der offene und geschlossene Fragen
enthielt. Die 701 Personen, die an der Befragung teilnahmen, in Bremen oder Bremerhaven arbeiteten oder zuletzt gearbeitet hatten,
wurden nach dem Random-Verfahren ermittelt.
Zur Finanzkrise im engeren Sinne konnten
N=679 der kontaktierten Personen einen relevanten Bezug herstellen. Sie wurden von uns
daher intensiv befragt. Diese Gruppe setzte
sich zusammen aus:
Frauen
Männer
N=286
N=393
Bremen
Bremerhaven
N=585
N= 94
Erwerbstätige
Vollzeit
Teilzeit
arbeitslos
N=600
N=445
N=155
N= 79
ohne Schulabschluss
Schulabschluss
ohne betriebliche
Ausbildung
betriebliche
Ausbildung
Fachhochschulabschluss
Hochschulabschluss
N=
18
26
36
40
46
56
– 25 Jahre
– 35 Jahre
– 39 Jahre
– 45 Jahre
– 55 Jahre
Jahre und älter
Deutsche
Ausländer/innen
6
N= 80
N=289
N=135
N=164
N=115
N= 85
N= 83
N= 90
N=228
N= 78
N= 650
N= 29
Migrationshintergrund N=135
kein Migrationshintergrund
N=544
22
Resultate der Mitgliederbefragung
2.11 Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise und Informationsquellen
Ein Resultat unserer Gruppen- und Einzeldiskussionen bestätigten die Teilnehmer/innen
der Meinungsumfrage uneingeschränkt: An der
Finanz- und Konjunkturkrise kommt man nicht
mehr vorbei. 99,7 Prozent der Befragten, also
699 von insgesamt 701 ausgewählten Personen, hatten von der Krise gehört und sich mit
ihr beschäftigt. Wohnort-, geschlechter- und
altersübergreifend waren sich nahezu zwei
Drittel dieser 699 Teilnehmer/innen darin
einig, dass man seit Mitte/Ende des vergangenen Jahres von einer ausgeprägten Finanzkrise in Deutschland sprechen müsse
(höchster Wert: 71 Prozent der Bremerhavener/innen, niedrigster Wert: 65 Prozent
der befragten Männer). Rund ein Viertel der
Befragten datiert den Beginn der Krise auf
den Anfang des vergangenen Jahres oder auf
einen früheren Zeitpunkt; bis zu 9 Prozent
der Befragten geben an, dass man erst seit
diesem Jahr von einer Finanzkrise sprechen
könne.
Abbildung 1: Seit wann spricht man aus Ihrer Sicht von dieser Finanzkrise?
(Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699)
seit diesem Jahr seit Mitte/Ende letzten Jahres
seit Anfang letzten Jahres
vorher
gesamt 9%
67%
19%
5%
Bremen 10%
66%
20%
5%
71%
15%
6%
68%
15%
5%
65%
22%
5%
18–25 Jahre 10%
66%
19%
4%
26–35 Jahre 10%
66%
21%
36–39 Jahre 14%
67%
18%
40–45 Jahre 8%
61%
23%
7%
46–55 Jahre 9%
69%
17%
6%
56 Jahre und älter 6%
68%
21%
6%
Bremerhaven 7%
weiblich 11%
männlich 8%
3%
1%
23
Abbildung 2: Wie informieren Sie sich über das Thema Finanzkrise?
(Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699)
Fernsehen
90%
Tageszeitung
75%
Radio
50%
Internet
46%
Familie/Freunde/Bekannte
39%
Kollegen
34%
überreg. Zeitungen/Zeitschriften
28%
sonstige
1%
Das Fernsehen ist die Hauptinformationsquelle
zum Thema Finanzkrise. 90 Prozent der Befragten beziehen ihr Wissen über die Entwicklung
aus diesem Medium. Kaum weniger wichtig
sind die Tageszeitungen. Drei von vier Befragten nutzen dieses Medium zur Information.
Jede/r Zweite nutzt das Radio als Informationsquelle und bereits 46 Prozent beziehen ihre
Informationen über die Krise aus dem Internet.
Die Frage, wie es zur Finanzkrise gekommen
ist, wird – unabhängig von Wohnort,
Geschlecht, Nationalität, Alter, Beruf oder
Qualifikation – von der Mehrheit der Teilnehmer/innen eindeutig mit dem Hinweis auf die
in der Finanzwirtschaft vorherrschende
Geschäftspraxis beantwortet. Bei den Banken
allgemein, speziell bei den amerikanischen,
bei den hohen Gewinnausschüttungen der
Institute, bei ihren fehlgeschlagenen Spekulationsgeschäften, der von ihnen mitheraufbeschworenen Krise des amerikanischen Immobilienmarktes und den in der Folge zu verzeichnenden Einbrüchen im System werden
die Hauptursachen für die Krise ausgemacht.
Dies bestätigt all die Einschätzungen, die
uns die Teilnehmer/innen der Gruppen- und
Einzeldiskussionen vermittelten.
24
Resultate der Mitgliederbefragung
Abbildung 3: Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Finanzkrise gekommen?
(Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699)
Banken allgemein
15%
USA allgemein
10%
Spekulation der Banken, verspekuliert
8%
amerikanische Banken, Bankencrash
7%
Immobilienkrise USA
6%
Geldgier, Gier der Menschen
6%
schlechte Politik
5%
zu hohe Geldausschüttung durch die Banken
5%
Bei der Frage nach der ökonomischen und
politischen Verantwortung für die Krise weichen die Resultate der Telefonumfrage aber in
einem Punkt deutlich von den Einschätzungen
der Teilnehmer/innen der Gruppen- und Einzeldiskussionen ab. Zwar bestätigen die
Umfrage-Teilnehmer/innen mit hohen Werten
zwischen 1,4 und 2,4 auf einer 6er-Skala die
Auffassung der Diskussionsteilnehmer/innen,
dass Banken (MW=Mittelwert 1,4), Aufsichtsräte/Vorstände (MW 1,9), Staat und Politik
(MW 2,0) sowie Großunternehmen (MW 2,4)
die Hauptverantwortung für die Krise tragen.
Auch besteht Einvernehmen darin, dass die
Konsumenten und Konsumentinnen (MW 4,4)
oder die kleinen und mittleren Unternehmen
(MW 4,6) keine oder kaum Schuld für die Krise
trifft. Aber – im Gegensatz zu den Resultaten
der Gruppen- und Einzeldiskussionen ergibt
sich aus der telefonischen Umfrage ein Trend
(MW 3,5) zu der Auffassung, dass ein Verlust
an Normen und Werten, der für die gesamte
Gesellschaft bezeichnend ist, die Krise verursacht.
In der repräsentativen Umfrage zeigt sich
mithin eine durchaus signifikante Tendenz, die
Verantwortung für die Krise nicht ausschließlich den Leitfiguren der Finanzindustrie und
der Politik zuzuordnen, sondern sie in eine allgemeine Haltung zu verlagern, die – in Form
allgemeinen Werteverlusts – von allen Gesellschaftsmitgliedern Besitz ergriffen haben soll.
Im Rahmen der Telefonumfrage war nicht zu
klären, warum die Befragten dieser Einschätzung zuneigen. Allerdings liegt die Annahme
nicht allzu fern, dass sich in dieser Einschätzung Erklärungen spiegeln, die in den von den
Teilnehmern und Teilnehmerinnen bevorzugten
Massenmedien in den vergangenen Monaten
immer wieder zum Tragen kamen: Dass ›wir
alle über unsere Verhältnisse gelebt haben‹,
dass ›eine neue Kultur des Miteinanders
auf der Grundlage klassischer Tugenden und
Werte‹ vonnöten sei, damit wir künftig vor
25
Krisen gefeit seien, sind bevorzugte Themen
in der deutschen ›Talkshow-Szene‹ von Frank
Plasberg bis Anne Will; finden sich als Versatzstücke aber auch in nahezu allen Statements
der Politik. Da die Finanzkrise – wie die
Befragten zu Recht angeben – ein hintergründiges, komplexes, oft auch undurchsichtiges
Thema ist, das sich dem Alltagsverstand verschließt, kommt es sicher nicht von ungefähr,
dass bei den Erklärungen für das Finanzdilemma viele doch auf Einfaches, Bekanntes,
sprich: auf die Mängel und Unzulänglichkeiten
der Menschennatur, zurückgreifen.
Abbildung 4: Wer ist Ihrer Meinung nach verantwortlich für die Krise?
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen können / N=679)
Banken
Aufsichtsräte/Vorstände
Politik/Staat
große Unternehmen
Gesellschaft/gesellschaftliche Werte
Werbung
Verbraucher
kleine und mittelständische Unternehmen
1
2
3
4
5
6
7
ist dafür auf jeden
ist ganz und gar
Fall verantwortlich
nicht verantwortlich
26
Resultate der Mitgliederbefragung
Da in den Gruppen- und Einzeldiskussionen
massiv befürchtet wurde, dass die Finanzkrise
einen zusätzlichen Anlass bieten wird, in
Zukunft feste Arbeitsplätze in Leiharbeitsverhältnisse umzuwandeln, sind wir dieser Einschätzung in der Telefonumfrage nachgegangen, mit eindeutigem Resultat: 34 Prozent
aller Befragten sind sich dieser Entwicklung
sicher und insgesamt 78 Prozent gehen davon
aus, dass der Ersatz von Festarbeitsplätzen
durch Leiharbeitsplätze zumindest wahrscheinlich ist. Auf einer 6er-Skala erreicht die
Position einen Mittelwert von 2,5.
Gleiches gilt für die künftige, durch die
Finanzkrise angetriebene Arbeitslosigkeit:
Satte 92 Prozent aller Befragten gehen davon
aus, dass die Arbeitslosigkeit spürbar zunehmen wird. Zum Zeitpunkt der Umfrage lag
die Arbeitslosenquote in Deutschland bei 8,3
Prozent. Erwartet wird von den Befragten,
dass diese Quote wieder deutlich über 10
Prozent ansteigt.
2.12 Auswirkungen der Finanzkrise
Zu der Frage, wie sich die Krise bisher ausgewirkt hat und wie sie sich künftig auswirken
wird, konnten insgesamt 679 Teilnehmer/innen einen relevanten Bezug herstellen. Auf
einer 7er-Skala markierten die Befragten mit
einem Mittelwert von 2,4 einen massiven
Anstieg der Arbeitslosigkeit, der nach ihrer
Einschätzung künftig noch zunehmen wird (MW
2,0). Prekäre Arbeitsverhältnisse (Mini-Jobs,
Leiharbeit) sind nach Auffassung der Teilnehmer/innen bereits stark angestiegen (MW 3,1)
und werden weiter stark ansteigen (MW 2,7);
ebenso die Leiharbeit: MW 3,1 für den gegenwärtigen starken Anstieg, MW 2,6 für die künftig erwartete Zunahme dieser Entwicklung.
Auch ein weiteres Steigen der Lebenshaltungskosten wird vermutet – gegenwärtig MW 3,3,
künftig MW 2,9; allein die absolute Höhe der
Löhne und Gehälter scheint sich nach Ansicht
der Befragten nicht signifikant zu verändern
(MW 4,0). Dennoch sind nahezu alle der Auffassung, dass, unabhängig davon, die Einkommensschere weiter auseinandergehen wird.
Abbildung 5: Wie hat sich die Krise bisher ausgewirkt/wird sich zukünftig auswirken?
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen können / N=679)
Arbeitslosigkeit
Mini-Jobs
Zeitarbeit
Lebenshaltungskosten
Löhne und Gehälter
1
2
3
stark angestiegen
4
5
7
bisher
stark gesunken
zukünftig
6
27
Abbildung 6: Sind Sie in beruflicher oder finanzieller (zum Beispiel Verluste bei Geldanlagen)
Hinsicht bisher von der Finanzkrise betroffen? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
ja, beruflich
ja, finanziell
ja, beruflich und finanziell
nein
gesamt 9%
14%
11%
66%
weiblich 7%
15%
9%
69%
männlich 10%
14%
13%
64%
mit
Migrationshintergrund
9%
17%
16%
58%
ohne
Migrationshintergrund
9%
14%
10%
68%
18–25 Jahre 11%
9%
6%
74%
26–35 Jahre 7%
7%
11%
75%
36–39 Jahre 6%
18%
15%
61%
40–45 Jahre 11%
14%
21%
53%
46–55 Jahre 9%
15%
11%
65%
56 Jahre und älter 4%
26%
6%
64%
Jede/r dritte Befragte (34 Prozent) gibt an,
dass sie/er bereits heute beruflich und/oder
finanziell durch die Finanzkrise geschädigt
ist (Frauen: 31 Prozent, Männer: 37 Prozent).
Die Arbeitslosen verbinden ihre Situation mit
Abstand am stärksten mit der Krise: 59 Prozent sehen sich beruflich und finanziell als
Opfer der Entwicklung. Ähnlich stark ist dieser
Trend bei den 40- bis 45-Jährigen ausgeprägt
(46 Prozent), gefolgt von den Befragten mit
Migrationshintergrund (42 Prozent) und den
Teilnehmern und Teilnehmerinnen ohne betriebliche Ausbildung (41 Prozent). Am wenigsten
trifft die Finanzkrise bislang die Hochschulabsolventen (24 Prozent) sowie die Fachhochschulabsolventen (29 Prozent).
28
Resultate der Mitgliederbefragung
Abbildung 7: Sind Sie in beruflicher oder finanzieller (zum Beispiel Verluste bei Geldanlagen) Hinsicht
bisher von der Finanzkrise betroffen? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
ja, beruflich
ja, finanziell
ja, beruflich und finanziell
nein
erwerbstätig 9%
14%
9%
69%
arbeitslos 9%
20%
30%
41%
15%
14%
60%
7%
11%
11%
71%
Hochschulabschluss 6%
14%
4%
76%
Schulabschluss ohne
8%
betriebliche Ausbildung
18%
15%
60%
betriebliche Ausbildung 11%
Fachhochschulabschluss
Im Gegensatz zu den Gruppen- und Einzeldiskussionen zeigt die Telefonumfrage deutlich,
dass die Auswirkungen der Krise die materielle Lebenslage für einen großen Teil der Arbeitnehmer/innen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Generation der über 55-Jährigen gibt an, deutliche finanzielle Verluste
erlitten zu haben. Dies wird auch näher spezifiziert. Von den 174 Befragten, die krisenbedingt finanzielle Einbußen beklagen, geben
39 Prozent Verluste bei Wertpapieren (Aktien,
Aktienfonds), 37 Prozent beim Ersparten und
immerhin noch 17 Prozent bei der privaten
Altersvorsorge an.
29
Abbildung 8: Wo haben Sie bisher finanzielle Verluste erlitten?
(Basis: Befragte, die finanziell betroffen sind / N=174)
Erspartes
(zum Beispiel Sparbuch)
37%
private Altersvorsorge
17%
Immobilienwert
14%
Wertpapiere
(zum Beispiel Aktien, Aktienfonds)
39%
Lebensversicherung
12%
Sonstiges
18%
Von den 135 Befragten, die aus beruflicher
Sicht einen Bezug zur Krise herstellen, werden
als häufigste Krisenfolgen Kurzarbeit/Teilzeit
(32 Prozent) und Arbeitslosigkeit (30 Prozent)
genannt. 24 Prozent der Befragten, also
rund ein Viertel, mussten auf Lohn und Gehalt
verzichten.
30
Resultate der Mitgliederbefragung
Abbildung 9: Wie hat sich die Finanzkrise bisher auf Ihre Lebensweise/Konsumverhalten ausgewirkt?
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
ich achte stärker auf die Preise
ich verhalte mich genauso wie vorher
gesamt
43%
57%
betriebliche Ausbildung
53%
47%
Fachhochschulabschluss
30%
70%
Hochschulabschluss
24%
76%
Schulabschluss ohne
betriebliche Ausbildung
65%
35%
arbeitslos
72%
28%
erwerbstätig
39%
61%
Teilzeit
47%
53%
Vollzeit
36%
64%
Migrationshintergrund
58%
42%
ohne Migrationshintergrund
39%
61%
In den Gruppen- und Einzeldiskussionen zeigte
sich eine deutliche Tendenz zu mehr Sparsamkeit und Preiskontrolle bei den Lebenshaltungskosten, ganz unabhängig von der Finanzkrise. Diese Tendenz haben wir in der Telefonumfrage eindeutig bestätigt gefunden.
Zwar geben 43 Prozent aller Befragten an,
dass sich die Finanzkrise auf ihre Lebensweise und ihr Konsumverhalten auswirkt, indem
sie stärker auf die Preise achten, aber – auf
genauere Nachfrage antworten mehr als zwei
Drittel (69 Prozent) dieser Gruppe (290 Personen), dass sie sich auch schon vor der
Krise preisbewusst verhielten und günstige
Produkte einkauften. Besonders stark ist
dieser Zusammenhang bei den Einkommensschwachen ausgeprägt. So geben 72 Prozent
der Arbeitslosen an, dass die Krise ihr Konsumverhalten beschränkt, 77 Prozent dieser
Gruppe fügen allerdings hinzu, dass sie auch
schon vor der Krise auf günstige Produkte
angewiesen waren. Ein ähnliches Verhältnis
findet sich bei den Befragten ohne betrieblichen Abschluss: 65 Prozent fühlen sich durch
die Krise in ihrem Konsumverhalten eingeschränkt, merken aber nach genauerer Nachfrage an, dass sie bereits zuvor dazu gezwungen waren, sparsam einzukaufen.
31
Abbildung 10: Haben Sie vor der Finanzkrise auch schon verstärkt auf Preise
geachtet/günstigere Produkte gekauft? (Basis: Befragte, die stärker auf Preise achten / N=290)
ja
nein
gesamt (N=290)
69%
31%
betriebliche Ausbildung (N=154)
66%
34%
Fachhochschulabschluss (N=41)
73%
27%
Hochschulabschluss (N=39)
80%
21%
69%
31%
arbeitslos (N=57)
77%
23%
erwerbstätig (N=233)
67%
33%
Teilzeit (N=73)
75%
25%
Vollzeit (N=160)
64%
36%
Schulabschluss ohne betriebliche
Ausbildung (N=52)
Eine Besonderheit ergibt sich dagegen in
den Gruppen der Hochschul- und Fachhochschulabsolventen und -absolventinnen, die zu
den Gutverdienenden zu zählen sein dürften.
Mit 24 Prozent (Hochschule) beziehungsweise
30 Prozent (Fachhochschule) liegen sie bei
der Frage, ob die Krise ihr Konsumverhalten
negativ beeinflusse, deutlich unter dem Durchschnitt. Diejenigen aber, die sich von der
Krise eingeschränkt fühlen, geben auf Nachfrage an, dass ihnen preisbewusstes Einkaufen (Hochschulabschluss: 80 Prozent, Fachhochschulabschluss: 73 Prozent) ohnehin
selbstverständlich ist.
32
Resultate der Mitgliederbefragung
Abbildung 11: Planen Sie für dieses Jahr noch größere Anschaffungen, zum Beispiel einen neuen Fernseher
oder eine Waschmaschine? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
ja, das schließe ich nicht aus ich warte bis etwas kaputt geht
nein, ich spare lieber
nein, dazu fehlen mir die Mittel
gesamt 25%
34%
21%
20%
betriebliche Ausbildung 21%
42%
21%
16%
Fachhochschulabschluss 27%
35%
19%
20%
Hochschulabschluss 34%
28%
18%
20%
21%
18%
30%
31%
arbeitslos 19%
23%
19%
39%
erwerbstätig 26%
36%
21%
17%
Teilzeit 22%
31%
25%
23%
Vollzeit 27%
37%
20%
15%
Migrationshintergrund 26%
22%
25%
27%
kein Migrationshintergrund 25%
37%
20%
18%
Schulabschluss ohne
betriebliche Ausbildung
Größere Neuanschaffungen planen für dieses
Jahr nur 25 Prozent der von uns Befragten;
34 Prozent warten, bis etwas kaputt geht, 21
Prozent sparen lieber und 20 Prozent geben
an, dass ihnen die Mittel für hohe Ausgaben
ohnehin fehlen. Dass die Einkommensschwachen bevorzugt zur letztgenannten Gruppe
zählen, bedarf sicher keiner näheren Erläuterung: 39 Prozent der Arbeitslosen, 31 Prozent
der Befragten ohne betrieblichen Abschluss
und 27 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund geben an, dass ihre finanziellen
Spielräume ohnehin zu eng sind, um gegenwärtig größere Anschaffungen zu tätigen.
Nur 7 Prozent aller Befragten gehen davon
aus, dass die Finanzkrise ihren Höhepunkt
bereits erreicht habe. 26 Prozent hoffen, dass
sie Mitte 2009 ihren Höhepunkt erreicht, 42
Prozent nehmen an, dass es bis Ende 2009
dauern wird. 22 Prozent vermuten, dass erst
im Verlauf des Jahres 2010 der Höhepunkt
erreicht sein wird und 4 Prozent befürchten,
dass die Krise erst zu einem späteren,
nicht vorhersagbaren Zeitpunkt überwunden
sein wird.
33
2.13 Staatliche Gegenmaßnahmen
In den Gruppen- und Einzeldiskussionen deutete sich bereits an, dass es nicht gelungen ist,
die staatlichen Gegenmaßnahmen zur Krisenbewältigung verständlich zu machen. Dieser
Befund wird durch die Telefonumfrage
bestätigt: Weitgehend unbegriffen sind Sinn
und Funktionsweise des Kredit- und Bürgschaftsprogramms zur Stützung der Banken;
auch aus den beiden Konjunkturprogrammen
sind nur einzelne Maßnahmen bekannt. Das
Verhältnis, in dem die beiden Maßnahmen
stehen, wird nicht thematisiert, so dass wir
davon ausgehen müssen, dass den Befragten
die staatlichen Interventionsprogramme ebenso komplex und hintergründig vorkommen,
wie die Ursachen der Finanzkrise selbst.
Unter den Einzelmaßnahmen ist den Befragten (92 Prozent) insbesondere die Abwrackprämie bekannt. Allerdings ziehen nur 16 Prozent in Erwägung, sie für den Kauf eines
neuen Autos in Anspruch zu nehmen. Dieses
Resultat deckt sich damit, dass 75 Prozent
aller Befragten angeben, gegenwärtig keine
größeren Anschaffungen tätigen zu wollen
(vergleiche Kapitel 2.12 dieses Berichts). 89
Prozent der Befragten sind die Kapitalhilfen
für die Banken (Bankenschirm) bekannt; 85
Prozent haben von der geplanten Verstaatlichung der Hypo Real Estate und von der Möglichkeit von Teilverstaatlichungen gehört, 81
Prozent identifizieren die Konjunkturprogramme mit der Vorstellung von einer ›Kapitalhilfe
für Unternehmen‹, 74 Prozent wissen um die
Kindergelderhöhung im Konjunkturprogramm II
und immerhin 68 Prozent erinnern sich an
die Garantieerklärung der Kanzlerin für die
Spareinlagen.
Das Vertrauen darauf, die Politik könne mit
diesen Maßnahmen die Krise beherrschen, ist
jedoch begrenzt (MW 4,2 auf einer 6er-Skala).
Nur 11 Prozent der Befragten sind sich absolut sicher, der Staat könne mit seinen Interventionen die Lage in den Griff bekommen, satte
42 Prozent hingegen zweifeln an den staatlichen Maßnahmen und schätzen deren Wirkung
als wenig durchschlagskräftig ein. Auch hier
bestätigt sich ein Trend, auf den wir bereits in
den Gruppen- und Einzeldiskussionen stießen:
Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen
wird nicht in Zweifel gezogen, aber – gegenüber der staatlichen Fähigkeit, der Krise Herr
werden zu können, herrscht starker Zweifel.
Es wäre sicher überzogen, anhand dieses
Befundes bereits von einer tief greifenden
Vertrauenskrise zu sprechen. Dennoch ist
nicht von der Hand zu weisen, dass sich eine
deut-liche Mehrheit der Befragten zunehmend
die Frage stellt, ob der Staat seine Rolle als
Wahrer des Allgemeinwohls und als Instanz,
die den gerechten Ausgleich der materiellen
und sozialen Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen herbeiführt, noch zufriedenstellend erfüllt. Auffassungen, die in die Richtung
gehen, der Staat interpretiere seine Rolle
mehr und mehr im Sinne einer einseitig an
den Absichten der Finanz- und Realwirtschaft
ausgerichteten ›Dienstleistungsinstanz‹,
sind durchaus nachzuweisen (vergleiche auch
Kapitel 2.5 dieses Berichts).
34
Resultate der Mitgliederbefragung
2.14 Einschätzungen
zur gegenwärtigen Lage
Dass die Auswirkungen der Finanzkrise bei
einem erheblichen Teil der Bremer und Bremerhavener Bürgerinnen und Bürger angekommen sind, ihr Arbeits- und Privatleben beeinflussen, ist im Vorangegangenen gezeigt worden. Dies führt bei allen Befragten, unabhängig von Wohnort, Geschlecht, Beruf oder Alter
zu einer starken Tendenz, Geld und Vermögen
zusammenzuhalten und sparsam zu wirtschaften. Auf einer 6er-Skala erreicht dieser Vorsatz einen Wert von 2,7. Aber: Eine gewisse
Unsicherheit, ob Geld und Ersparnisse bei
den Banken sicher angelegt sind, ist spürbar.
Fast die Hälfte aller Befragten gibt an, dass
sie heute kein Geld mehr bei Banken anlegen
würden.
Den Standpunkt, dass die Finanzkrise in erster
Linie Ausdruck der Gier von Banken und
Managern sei, die ausschließlich ihren eigenen
Vorteil im Auge haben, teilt mit über 90
Prozent die große Mehrheit aller Befragten.
Eine vergleichbare Intention wird den ›kleinen
Leuten‹ eher nicht zugeschrieben (über 50
Prozent). Dennoch stimmen über 40 Prozent
der Auffassung zu, dass die Krise auch auf
die ›Gier‹ derjenigen zurückzuführen sei, die
ihr Leben mit Kredit und Schulden finanzieren.
Anklänge an die Positionen der wenigen
Teilnehmer/innen der Gruppen- und Einzeldiskussionen, die ›menschliche Gier‹ im Allgemeinen für die Krise verantwortlich machten
und einen Werteverlust in der gesamten
Gesellschaft beklagten, werden hier deutlich.
Abbildung 12: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Ich lege mein Geld heute lieber
nicht mehr bei der Bank an. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
gesamt
erwerbstätig
arbeitslos
Vollzeit
Teilzeit
1 = stimme voll und ganz zu 12%
11%
15%
11%
12%
2 = stimme voll zu 12%
11%
17%
9%
17%
3 = stimme zu 22%
22%
29%
23%
19%
4 = weiß nicht 14%
14%
13%
13%
16%
5 = stimme nicht zu 17%
17%
17%
18%
14%
6 = stimme überhaupt nicht zu 24%
26%
10%
27%
23%
35
Abbildung 13: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen:
Die Krise ist Ausdruck der Gier der Banken und Unternehmensmanager, die ausschließlich auf
den eigenen Profit bedacht sind. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
gesamt
erwerbstätig
arbeitslos
Vollzeit
Teilzeit
1 = stimme voll und ganz zu 61%
62%
57%
63%
59%
2 = stimme voll zu 23%
22%
24%
23%
21%
3 = stimme zu 10%
10%
10%
10%
10%
3%
4 = weiß nicht
5 = stimme nicht zu
6 = stimme überhaupt nicht zu
1%
2%
3%
4%
1%
2%
3%
2%
3%
1%
2%
7%
2%
1%
Abbildung 14: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen:
Die Krise ist Ausdruck der Gier der ›kleinen Leute‹, die durch Kredite auf Pump leben.
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
gesamt
1 = stimme voll und ganz zu 8%
erwerbstätig
arbeitslos
Vollzeit
Teilzeit
7%
11%
6%
11%
2 = stimme voll zu 12%
13%
5%
14%
12%
3 = stimme zu 22%
21%
27%
21%
22%
4 = weiß nicht 16%
16%
22%
17%
12%
5 = stimme nicht zu 19%
19%
15%
19%
20%
6 = stimme überhaupt nicht zu 23%
24%
20%
24%
23%
36
Resultate der Mitgliederbefragung
Demgegenüber sind nur 58 Prozent davon
überzeugt, dass Banken und Unternehmen die
Kosten der Finanzkrise auffangen werden. Die
Enttäuschung darüber, dass die Verursacher
der Finanzkrise nicht oder nur unzureichend
haftbar und für ihre Überwindung verantwortlich gemacht werden, war in der Befragung
spürbar. Die Befürchtung, dass die gesamte
Gesellschaft die Kosten exzessiver, fehlgegangener Spekulationen einer dünnen Elite von
Finanzjongleuren zu tragen haben wird, steht
ebenso im Raum. Dass diese erwartete Entwicklung als zutiefst unsozial und ungerecht
empfunden wird, bedarf sicher keiner weiteren
Erklärung.
Dass der Staat der Finanzindustrie strikte
Regeln auferlegen und diese intensiv kontrollieren sollte, befürworten 88 Prozent aller
Befragten. Allerdings – auch dieser Wunsch
geht, wie schon unter Kapitel. 2.3 erörtert,
einher mit dem wachsenden Zweifel in das
Vermögen des Staates. 68 Prozent aller
Befragten sind der Auffassung, die Finanzwirtschaft lasse sich nicht mehr effektiv kontrollieren. Auch hier also nimmt der Zweifel in die
Fähigkeiten, möglicherweise auch in die Intentionen des Staates deutliche Konturen an.
Vor dem Hintergrund ihrer gegenwärtigen
materiellen Lage kommen 61 Prozent aller
Befragten zu dem Schluss, dass ihnen weitere
materielle Einschränkungen bei der Bewältigung der Finanzkrise überhaupt nicht, nicht
oder eher nicht zuzumuten sind. Dennoch
machen sich vergleichsweise wenige Illusionen
über die Krisenbewältigungsstrategie: 88 Prozent der Befragten stimmen der Auffassung
zu, dass letztlich doch wieder die Steuerzahler für die Lasten der Finanzkrise aufkommen
müssen.
Abbildung 15: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen:
Letztlich wird der Steuerzahler für die Finanzkrise zahlen müssen.
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
gesamt
erwerbstätig
arbeitslos
Vollzeit
Teilzeit
1 = stimme voll und ganz zu 54%
56%
41%
56%
56%
2 = stimme voll zu 20%
19%
25%
19%
19%
3 = stimme zu 14%
13%
18%
13%
14%
4 = weiß nicht 6%
5%
11%
5%
5%
5 = stimme nicht zu 4%
4%
5%
4%
6 = stimme überhaupt nicht zu
3%
3%
0%
2%
3%
3%
37
Abbildung 16: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen:
Letztlich werden die Banken/Unternehmen für die Finanzkrise zahlen müssen.
(Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679)
gesamt
erwerbstätig
arbeitslos
Vollzeit
Teilzeit
1 = stimme voll und ganz zu 18%
18%
14%
19%
16%
2 = stimme voll zu 18%
20%
10%
20%
17%
3 = stimme zu 22%
22%
23%
20%
25%
4 = weiß nicht 14%
14%
14%
14%
14%
5 = stimme nicht zu 15%
14%
25%
13%
17%
6 = stimme überhaupt nicht zu 14%
14%
14%
14%
12%
2.15 Erwartungen
Die Finanzkrise beeinflusst die Einschätzungen
über die allgemeine politische Entwicklung
bislang nur wenig. Das Gros aller Befragten
war sich im Dezember 2007 nicht sicher,
wohin die Reise geht (47 Prozent); daran hatte
sich im März 2009 nichts geändert. 50 Prozent waren sich über die Entwicklung der
politischen Lage im Unklaren. Jede/r dritte
Befragte schätzte die politische Entwicklung
Ende 2007 negativ ein – auch daran hat sich
nichts geändert. Optimistisch gestimmt waren
2007 20 Prozent der Befragten; dieser Wert
ist heute schlechter: Nur 15 Prozent erwarten
eine Wende zum Besseren.
Deutlich gesunken sind dagegen die Hoffnungen auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung.
Im Dezember 2007 befürchteten 29 Prozent
der von uns Befragten eine negative Entwicklung, im September 2008 waren es 32 Prozent
und im März 2009 sahen satte 53 Prozent
schwarz, was die wirtschaftliche Lage anbelangt.
In Bezug auf die Einschätzung der Arbeitsplatzsicherheit ist wenig Veränderung zu
verzeichnen: Dass der Arbeitsplatz sicher ist,
meinten im Vorjahr 56 Prozent der Befragten,
heute sind es 54 Prozent. Jede/r Dritte
schätzt seinen Arbeitsplatz als labil ein (2008:
35 Prozent, 2009: 34 Prozent). Nur 12 Prozent der Befragten fürchten um ihren Arbeitsplatz (2008: 10 Prozent). Auch bei der persönlichen finanziellen Zukunft gerät nichts in
Bewegung: Rund 41 Prozent der Befragten
erwarten eine positive Entwicklung, rund 40
Prozent halten ihre finanzielle Lage für unsicher und etwa 21 Prozent gehen von einer
negativen Entwicklung aus. Diese Erwartungen
bestehen seit 2007 unverändert fort. Überraschend ist dieser Trend nicht, da das Gros
aller Befragten sich darin einig war, dass ihre
materielle Situation durch negative Einflüsse
geprägt ist, die bereits vor Beginn der Krise
Bedeutung bekamen.
Optimistisch sehen die Befragten in einer Hinsicht in die Zukunft: Was ihre Gesundheit anbelangt, besteht bei den Befragten Zuversicht: Auf
einer 5er-Skala erreichen ihre Einschätzungen
einen Mittelwert von 2,4. Auch der hat sich, im
Vergleich zum Vorjahr nicht verändert.
38
Resultate der Mitgliederbefragung
2.16 Schlussbemerkung
Unsere Umfrage bestätigt in weiten Teilen die
allgemeinen Resultate der Gruppen- und Einzeldiskussionen, die wir zu Beginn des Jahres
zum Thema ›Ursachen und Wirkungen der
Finanzkrise‹ geführt haben. Was ist nun als
Fazit unseres Berichts festzuhalten?
Ist die Krise im beruflichen und familiären
Alltag der Bremer und Bremerhavener Arbeitnehmer/innen ›angekommen‹?
Ja, ganz eindeutig.
Verändert sie das gesellschaftliche Klima;
wachsen Existenzängste und Zukunftssorgen?
Ganz ohne Zweifel.
Zwingt die Krise den Beschäftigten Verhaltensänderungen auf; beschneidet sie ihre
Kaufkraft und ihre Möglichkeiten zur Teilnahme
am gesellschaftlichen Konsum?
Ja, auch dafür gibt es starke Indizien,
wenngleich viele geltend machen, dass
ihre materielle Lage schon vor der Krise
alles andere als ›rosig‹ war.
Wächst die Befürchtung, dass die Krise die
Arbeitswelt tief greifend verändern wird?
Eindeutig ja! Die Angst, dass die Krise das
Transportmittel dafür wird, prekäre
Beschäftigungsformen, insbesondere Leiharbeit, zur Normalform der Erwerbstätigkeit zu machen, ist mit Händen zu greifen.
Werden die Ursachen der Krise von den
Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen durchschaut?
Nein, die Finanzwirtschaft ist und bleibt
für die erdrückende Mehrheit ein undurchschaubarer, hintergründiger Sektor mit
Geschäftsmodellen. Die Befragten mutmaßen gar, dass nicht einmal die Fachleute deren Risiken durchschauen.
Trauen die Befragten dem Staat ein erfolgreiches Krisenmanagement zu; sind sie der
Auffassung, dass die getroffenen Maßnahmen
zur Überwindung der Krise führen werden?
Nein, eindeutig nicht?
Ist damit der Systeminfarkt (vergleiche
Seite 7) da? Ist die politische Stabilität aus
Sicht der Arbeitnehmer/innen bedroht? Ist
in ihren Augen die soziale Marktwirtschaft am
Ende? Steht die ›Systemfrage‹ bereits im
Raum?
Nein, keineswegs.
39
Unübersehbar stellen sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Frage, wie eine
Abkehr von einer Praxis ökonomischen Handelns gelingen kann, bei der es nur noch um
ungezügeltes Streben nach hohen und höchsten Renditen geht. Diese Frage steht fast
immer hinter der spürbaren, oft wütenden
Empörung darüber, dass erneut die gesamte
soziale Gemeinschaft einstehen muss für
die unverantwortlichen Finanzexzesse einer
Schicht von Bankern und Managern, die in
ihrer Eigenwahrnehmung die gesellschaftliche
Elite sind. Es empört, dass bislang kein Banker im juristischen Sinne zur Rechenschaft
gezogen werden kann und stattdessen die
Gesellschaft die Haftung für alle aus dubiosen
Bankengeschäften entstandenen Schäden
übernehmen muss. Dieser Sachverhalt wird
von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
nicht als Akt der Solidarität, sondern als
Ungerechtigkeit, als etwas ›Asoziales‹ im
Wortsinne begriffen.
Dennoch führt all dies bislang nicht dazu,
dass die Beschäftigten selbst nachdrücklich
die Frage nach einem neuen, sinnvolleren
wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Weg
auf die Tagesordnung setzten. Dies ist ein
weiteres Resultat unseres Berichts und gerade
das sollte nachdenklich machen:
Wenn an der Absichtserklärung der Politik
etwas dran ist, es werde nach der Krise nicht
so weitergehen wir zuvor, wenn tatsächlich in
Zukunft mit rechtsstaatlichen Mitteln und
Instrumenten dafür gesorgt werden soll, dass
›Finanzjongleure‹ nicht noch einmal unter
Inkaufnahme von neuer Massenarbeitslosigkeit
die Wirtschaft an den Abgrund führen, dann ist
es Zeit, den Arbeitnehmern die dafür erforderlichen praktischen Belege und Maßnahmen zu
präsentieren. All das, was Bund und Länder
gegenwärtig als Krisenintervention betreiben,
mögen notwendige Schritte sein – eine Antwort darauf, worin in Zukunft verantwortungsbewusstes wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Handeln bestehen soll, das nicht die
Renditen, sondern den Nutzen der Beschäftigten in den Vordergrund stellt, ist es – aus
Sicht der Arbeitnehmer/innen – bislang jedenfalls nicht.
2
Teil
3
Prof. Dr. Rudolf Hickel
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise –
Ursachen und Lehren:
Plädoyer für einen regulierten Kapitalismus
Weltwirtschaft am Abgrund: Ein neuer Krisentyp?
Ein ›Capitalism reloaded‹ würde die alten Probleme potenzieren
und neue Herausforderungen nicht bewältigen.
41
In der Studie zur Analyse der Weltwirtschaft
(›World Economic Outlook‹) vom April 2009
wird durch den Internationalen Währungsfonds
(IWF) das bisher nicht gekannte und für möglich gehaltene Ausmaß der aktuellen Wirtschaftskrise abgeschätzt: Erstmals seit 60
Jahren schrumpft in diesem Jahr die Weltwirtschaft. Die Ökonometriker des IWF rechnen
beim Bruttoinlandsprodukt 2009 mit einem
Minus von 1,3 Prozent. Ob es im kommenden
Jahr wieder aufwärts gehen wird, hänge maßgeblich von weltweiten Maßnahmen gesamtwirtschaftlichen Gegensteuerns ab. Wegen der
Tiefe der aktuellen Weltwirtschaftskrise ließe
sich erkennen: ›Das wird kein schneller Aufschwung, wie wir ihn nach anderen Wirtschaftskrisen beobachten konnten.‹1 Während
in den letzten Jahren über das Ausmaß der
Globalisierung heftig gestritten wurde,
bestätigt diese Wirtschaftskrise gleichsam
spiegelbildlich die weltweit vorangeschrittene
Vernetzung des Wirtschaftens. Grundsätzlich
kann sich in dieser Situation kein Land der
Welt des Verlustes an gesamtwirtschaftlicher
Produktion und damit auch an Arbeitsplätzen
entziehen. Allerdings spiegelt sich in der
Wirtschaftskrise die unterschiedliche Teilhabe
von Ländergruppen an den ökonomischen Vorteilen der Globalisierung gleichsam verkehrt
wider. Die reichen Länder, die besonders von
der Globalisierung in den letzten Jahren profitiert haben, müssen jetzt auch hohe Wachstumsverluste hinnehmen. So stellt der IWF in
seinem ›World Economic Outlook‹ zutreffend
fest: ›Die sieben größten Industriestaaten
werden den mit Abstand schärfsten Einbruch
seit dem Zweiten Weltkrieg erleben.‹2 Auch
die aufsteigenden Schwellenländer sind betroffen. Allerdings führen in China die Reduktion
der zuvor sehr hohen Raten des Wirtschaftswachstums auf circa 8 Prozent und der damit
verbundene Verlust von Arbeitsplätzen zu
schweren Belastungen dieser Expansionsgesellschaft. Schließlich verschärft sich in den
durch ökonomische Entwicklungsschwäche
und Armut gekennzeichneten Entwicklungsländern die Lage katastrophal. Insgesamt ist
mit dem weltweiten Einbruch der Nachfrage
nach Gütern und Dienstleistungen der Welthandel zusammengebrochen. Während in den letzten Jahren der Welthandel mit einer doppelt
so hohen Wachstumsrate (circa 8 Prozent)
gegenüber circa 4 Prozent der Weltproduktion
zugenommen hatte, ist dieser mit verheerenden Folgen für die Transportwirtschaft zusammengebrochen. Seit dem Höchststand im
Herbst 2008 reduzierte sich der Welthandel
bis Februar 2009 um knapp 20 Prozent. Als
eine der Folgen der Globalisierung zeigt sich
erstmals in dieser Deutlichkeit der konjunkturelle Gleichschritt der dominanten Industriestaaten. Durch diese Synchronisation des
wirtschaftlichen Abschwungs in den Industriemetropolen fallen die in früheren Phasen einsetzbaren Länder als Konjunkturlokomotiven
weg. Daraus ergibt sich eine neue wirtschaftspolitische Schlussfolgerung: Die globale, auf
die wirtschaftsstarken Staaten konzentrierte
Wirtschaftskrise verlangt eine international
koordinierte Expansionspolitik. Protektionismus einiger ökonomisch dominanter Länder,
die glauben, sich gegen die Internationalisierung nationale Vorteile durch das Aushungern
anderer Länder schaffen zu können, verstärkt
am Ende die Krise. Diese Lehre aus der
aktuellen Wirtschaftskrise, nämlich nicht auf
eine ›Beggar-my-Neighbour-policy‹, sondern
auf internationale Koordination zu setzen,
ist, wie zu zeigen sein wird, im Bereich einer
fiskalischen Impulspolitik noch viel zu wenig
begriffen worden.
1 Internationaler Währungsfonds,
World Economic Outlook –
Crises and Recovery, April 2009:
http://www.imf.org/external/index.htm
2 Ebenda.
42
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Die Wucht des globalen Absturzes zu verstehen und andererseits nach einer Antikrisenstrategie zu suchen, verlangt nach einer ideologiefreien Analyse der Ursachen. Im Kern
handelt es sich um eine Krise im Dreierpack:
Eine tiefe Konjunkturkrise, die auch strukturelle Überkapazitäten beispielsweise in der Automobil- und Werftenindustrie offenlegt, trifft
erstmals in dieser Deutlichkeit mit einer tief
greifenden Krise der weltweiten Finanzmärkte
zusammen. Dabei schaukeln sich die konjunkturelle und finanzmarktgetriebene Krise wechselseitig mit einer bedrohlichen Gesamtwirkung hoch. Oftmals wird bei der Bewertung
der heutigen Rezession die 1929 entbrannte
Weltwirtschaftskrise – die große Depression –
herangezogen. Dieser Vergleich taugt wenig.
Er ist eher Ausdruck der mangelnden Bereitschaft, die heutigen Krisenursachen empirisch
zu beschreiben und analytisch zu erfassen.
Sicherlich gibt es Parallelen, aber auch durch
die vorangeschrittene Globalisierung ausgelöste systemische Unterschiede. Der große
Postkeynesianer Axel Leijonhufvud betont
deshalb zu Recht: Dies ist ›eine Rezession wie
keine andere‹.3 Gegenüber der Weltwirtschaftskrise lassen sich durchaus Elemente
eines neuen Krisentyps erkennen.
Insbesondere der Zusammenbruch der
Finanzmärkte ist nicht mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu vergleichen. Denn während
damals eine klassische Börsenkrise, die
die Produktionswirtschaft zusammenbrechen
ließ, dominierte, sind es heute neue erfundene
Finanzmarktprodukte, die sich als Schrott
erwiesen und damit das gesamte Bankensystem in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt
haben.
3 Leijonhufvud, Axel: Eine Rezession wie
keine andere; in: Financial Times
Deutschland vom 24. 2. 2009.
Das Zusammenwirken stellt sich
wie folgt dar:
Der konjunkturelle Absturz ist vor allem in
den großen Industriestaaten die Folge einer
vorangegangenen aggressiven Strategie um
Zuwachsgewinne auf den Weltmärkten. In
den lange davon profitierenden Ländern hat
sich der Typ einer extrem exportlastigen
Wirtschaftsstruktur durchgesetzt. Was in der
Expansionsphase nicht deutlich geworden
ist: Damit haben die außenwirtschaftlichen
Ungleichgewichte zwischen den Ländern massiv zugenommen. Außenwirtschaftliche Defizitländer stehen Überschussländern gegenüber.
Gleichzeitig ist in den exportstarken Wirtschaften die Entwicklung der Binnenwirtschaft vernachlässigt worden. Der Zusammenbruch der
Exporte infolge rückläufiger Nachfrage aus
anderen Ländern traf auf eine in den letzten
Jahren vergleichsweise unterentwickelte Nachfrage im Inland. Ein sich selbstverstärkender
Prozess der gesamtwirtschaftlichen Schrumpfung war die Folge. Diese Erklärung des konjunkturellen Absturzes, der zugleich strukturelle Probleme aufgedeckt hat, trifft auch für
Deutschland zu. Der Einbruch der Exporte von
Gütern und Dienstleistungen von zuvor hohen
Zuwachsraten (2007 noch 7,5 Prozent) auf
Wachstumsverluste von 25 Prozent in den
ersten Monaten 2009 stieß auf einen schon
längere Jahre sogar leicht rückläufigen privaten Konsum. Auch der Staat hat durch die
Rückführung der öffentlichen Investitionen im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt die Binnenwirtschaft geschwächt und zugleich zu
wenig zur infrastrukturellen Zukunftsvorsorge
beigetragen. 2007 lag der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt
mit 1,3 Prozent nur halb so hoch wie im
Durchschnitt der Länder der Europäischen
Union (EU). Bereits im Frühjahr 2008 zeichnete sich nach einem vergleichsweise schwachen Aufschwung die Schrumpfung der
gesamtwirtschaftlichen Produktion mit Belastungen für die Arbeitsmärkte und öffentlichen
43
Arbeitnehmerentgelt, Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Deutschland
1991 = 100
200
180
160
140
120
100
80
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Quelle: Statistisches Bundesamt – Bruttoinlandsprodukt 2008.
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Unternehmens- und Vermögenseinkommen
Arbeitnehmerentgelt
Haushalte ab. Vom Grundmuster her handelt
es sich um die Bewegung auf einem klassischen Konjunkturzyklus. Überraschend ist
jedoch die Tiefe des Abschwungs. Diese ist
maßgeblich auf zwei Determinanten zurückzuführen: Zum einen handelt es sich um die
durch die Liberalisierung und Globalisierung
ermöglichte Expansion der Auslandsmärkte,
von der Deutschland wegen seiner hohen
internationalen Wettbewerbsfähigkeit besonders profitiert hat. Zum anderen ist die stagnierende, ja leicht rückläufige Entwicklung
des privaten Konsums als wichtigstes Aggregat der Binnenwirtschaft auf eine massive
Umverteilung zugunsten der Unternehmensund Vermögenseinkünfte sowie zulasten
der Arbeitnehmereinkünfte zurückzuführen.
Seit 2003 hat sich die Schere zwischen den
Einkünften aus Kapital und den Einkommen
aus Arbeit deutlich auseinanderentwickelt.
Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen ist vom Spitzenwert mit 72,2
Prozent auf knapp 64 Prozent zurückgefallen.
Im Rückgang der Lohnquote drückt sich eine
Umverteilung zwischen den Einkommen aus
Kapital und Arbeit aus. Moderate Lohnpolitik
sollte auch der Stärkung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit dienen. Der Preis dafür
waren Verteilungsverluste bei den Arbeitnehmereinkommen. Diese Schwächung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage wurde durch
eine restriktive Finanzpolitik zusammen mit
Steuersenkungen zugunsten der Unternehmensgewinne verstärkt. Eine solche Form
der Umverteilungspolitik ist das Ergebnis einer
gezielten Strategie der Stärkung der einzelwirtschaftlichen Unternehmen ohne Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge. Aus ökonomischer Sicht wird dieses
Konzept als Neoklassik bezeichnet und in
der Politik mit dem Kampfbegriff Neoliberalismus belegt. Die aktuelle Krise rückt zwangsläufig die Kritik an dieser Politik des Abbaus
sozialer und ökologischer Regulierungen
der Märkte – also das Modell der Deregulierung – in den Mittelpunkt.
44
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Die Deregulierung sollte jedoch noch in einem
ganz anderen Zusammenhang zu einer wichtigen Ursache der derzeitigen Weltwirtschaftskrise werden. Überlagert und zugleich
beschleunigt wurden der gesamtwirtschaftliche Verlust an realisierter Produktion und an
Arbeitsplätzen durch eine zuvor nicht für
möglich gehaltene Finanzmarktkrise, die die
Funktionsfähigkeit des Bankensystems massiv
eingeschränkt und die bisher geltenden
Regeln zur Geldpolitik außer Kraft gesetzt hat.
Im nachfolgenden Abschnitt werden die Ursachen, die Instrumente und die Folgen der
zusammengebrochenen Finanzmärkte mit dem
Ziel beschrieben, kurz- und mittelfristige
Wege zur Stabilisierung der der Wirtschaft
dienenden Funktionen des Bankensystems zu
beschreiben. An dieser Stelle gilt es die
Erkenntnis festzuhalten: Der Zusammenbruch
eines Großteils der Finanzmärkte ist einerseits
Ergebnis einer gegenüber dem Weltsozialprodukt schneller wachsenden Suche nach rentablen Finanzanlagen. Im Zuge der Vermögenskonzentration, auch Folge der Einkommensumverteilung, geht es um die kurzfristige Erzielung von im Vergleich zur Produktionswirtschaft üppigeren Renditen – dies allerdings
zum Preis von riskanten Spekulationen. Andererseits mussten dazu neue Finanzmarktprodukte geschaffen werden. Dabei stehen die
sogenannten Derivate im Vordergrund. Nicht
mehr der ökonomische Ursprungswert, etwa
der Aktien und Rentenpapiere zählt, sondern
davon mehrfach abgeleitete Indikatoren. Eine
massenhaft erzeugte Finanzmarktinnovation
ist das Verbriefungsgeschäft. Forderungen
auch aus minderwertigen (subprime) Krediten
sind zu Wertpapieren verpackt und dann weltweit gehandelt worden. Die die Kredite verbriefende Hypothekenbank verteilt dadurch
ihre Risiken und reduzierte so das notwendige
Eigenkapital. Heute erweisen sich diese
Produktkreationen zusammen mit weiteren
konstruierten Instrumenten mangels Werthaltigkeit als Schrott.
Diese toxischen Produkte belasten vor allem
die Bilanzen vieler Banken und zwingen zu Verluste treibenden Abschreibungen. Die Folgen
dieser massenhaften Produktion von Giftmüll
auf den Finanzmärkten, die am Ende auch die
Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt schwer belasten, werden noch beschrieben. Hier gilt es festzuhalten, dass es sich
bezogen auf die Rolle der Finanzmärkte um
einen neuen Krisentyp handelt, der sich nicht
unmittelbar mit der Weltwirtschaftskrise ab
1929 vergleichen lässt. Damals führten sich
selbst verstärkende Spekulationen auf steigende Kursgewinne der Unternehmen mit neuen
Produkten (Automobile, Telefonie, Filmproduktion) an der Börse zu einer Spekulationsblase,
die platzen musste. Eigentümer dieser Aktien,
auch die Banken, mussten hohe Vermögensverluste hinnehmen. Am Ende brach die von
den Banken abhängige Produktionswirtschaft
ein. Die Ursachen der heutigen Krise liegen
jedoch in einer Schwerpunktverlagerung zu
einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus
mit völlig neuen, hochriskanten Spekulationsobjekten. Zu Recht ist die Rede vom Kasinokapitalismus, in dem die dienende Funktion
des Bankensystems an Bedeutung verloren
hat. Auch Unternehmen haben nicht sachinvestiv verwendete Gewinne an den Spieltischen
des internationalen Kasinokapitalismus eingesetzt. Zugleich dominierten die Mega-Finanzinvestoren auch die gegenüberstehende
Produktionswirtschaft durch das Diktat nicht
aus der Wertschöpfungsperspektive ableitbarer, viel zu hoher Renditeansprüche.
Eine entscheidende Ursache der explodierten Risiken aus der relativen Entkoppelung der
45
Finanzanlagen von der ökonomischen Wertschöpfung liegt in der Liberalisierung und
Deregulierung der Finanzmärkte. Durch diese
Entfesselung der Finanzmärkte hat die Politik
die Schleusen für gesamtwirtschaftlich hoch
riskante Finanzanlagen geöffnet und diese
Fehlentwicklung auch zu verantworten. Jetzt
lehrt die Wucht der aktuellen Krise: Das
Finanzsystem ist das Nervensystem einer
modernen Wirtschaft, jedoch auch extrem
anfällig gegenüber einem sich schnell verbreitenden Vertrauens- und Akzeptanzverlust. Deshalb sind streng kontrollierte Regulierungen
unverzichtbar. Finanzmärkte brauchen klare
Spielregeln, die durch die Gier getriebene riskante Geschäfte einschränken, ja nicht zulassen. Entsprechend der Gleichzeitigkeit der
Krise in einer globalisierten Welt sind internationale Abkommen zur Regulierung der Finanzmärkte, aber auch zur abgestimmten Finanzund Geldpolitik erforderlich. Nach der Vertrauenskrise der Banken, die die abhängige Produktionswirtschaft belastet, müssen kurzfristig
unkonventionelle Maßnahmen wie die Teiloder Totalverstaatlichung von einzelnen Banken ebenso wie eine Politik der Geldschöpfung
durch die Notenbanken ergriffen werden. Für
die Stabilisierung des Wirtschaftens ist jedoch
der Aufbau einer in sich stabilen Finanzarchitektur durch strenge Regeln entscheidend.
Die materielle Gewalt der Wirtschaftskrise
zeigt, dass die Politik der Entfesselung der
Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte gescheitert
ist. Eine ordnungspolitische Rückbesinnung
auf die Nutzung der Marktkräfte innerhalb
politisch klarer Spielregeln ist dringend erforderlich. Der neue Krisentyp verlangt eine entschiedene Ordnungspolitik. Gesamtwirtschaftliche Politik mit den fiskalischen, monetären
und strukturbezogenen Instrumenten muss
zusammen mit der Setzung kontrollierter
Spielregeln durchgesetzt werden. Erste Ansätze in diese Richtung sind erkennbar. Ein
Vorteil, so scherzte unlängst Robert Solow,
Nobelpreisträger der Ökonomie, habe die
Krise: Ökonomen beschäftigten sich wieder
mehr mit der Konjunktur, ja überhaupt der
Makroökonomik.4 Noch zögert die beratende
Wirtschaftswissenschaft, sich diesen notwendigen Abschied vom neoklassisch-neoliberalen
Paradigma einzugestehen. Dabei ist unstrittig,
die ›Mainstream-Economics‹ haben sich in den
letzten Jahren blamiert. Während die Deregulierungen nicht nur auf den Finanzmärkten
ohne ausreichende Risikoanalyse durchgesetzt
worden sind, zeigen sich jetzt deren verheerende Auswirkungen. Die Krisenrealität
erzwingt, dass jetzt auch die angemessene
Theorie dazu geschrieben wird. Erst auf dieser Grundlage kann die Kompetenz zur Wirtschaftsprognose zurückgewonnen werden.
Denn die Vertrauenskrise der Banken mit sich
verändernden Verhaltensweisen für die Produktionswirtschaft kommen in den ökonometrischen Prognosemodellen nicht vor. Deshalb
taugen diese Mutmaßungen zur konjunkturellen Entwicklung nichts. Zu Ostern 2009 hat
der Internationale Währungsfonds die
Schrumpfung der deutschen Wirtschaft um 5
Prozent prognostiziert.5 Im April korrigierte
die Bundesregierung ihre Prognose von -2,25
Prozent auf -6 Prozent. Diese 6 Prozent drohen zur unerschütterlichen Wahrheit mystifiziert zu werden. Die Treffsicherheit ist jedoch
theoretisch wenig fundiert und damit ungewiss. Anstatt Prognosegenauigkeit zu suggerieren, ist es wichtig gegen den unbestreitbaren Schrumpfungstrend wirtschaftspolitisch
gegenzusteuern. Denn durch eine aktive
Politik gegen die Krise werden auch die Prognosen zur Makulatur.
4 Vgl. Storbeck, Olaf: Makroökonomie - Über
die Tücken der Konjunkturpolitik. In: Handelsblatt vom 6.4. 2009.
5 Vorabberichterstattung über die Ergebnisse
der Fortschreibung des „World Economic
Outlook“ des IWF, der Ende April 2009 offiziell vorgelegt wurde; vgl. Spiegel-Online
(http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,d
ruck-618379,00.html)
46
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Vor allem aber gilt, gegen den Optimismus
Selbstheilung vorzugehen. Die Bundesregierung hat keinen realistischen Grund dafür,
dass sie in ihrem Wirtschaftsbericht vom April
dieses Jahres hofft, 2010 würde es allmählich
wieder aufwärtsgehen. Solche Weissagungen
lenken vom Einsatz einer Antikrisenpolitik
nur ab.
Für zutreffende Prognosen, vor allem aber
die Politik gegen die Krise, braucht es einer
einigermaßen plausiblen Theorie. Nach der
jahrelangen Ausblendung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge und der Risikoanalyse
ist die Arbeit an einem realistischen Ordnungsmodell mit einer effizienten Wirtschaft und
einem handlungsfähigen Staat erforderlich.
Die Frage, ob und wie der Kapitalismus überleben wird, hängt von einer mutigen Politik der
Regulierung und damit einer Bändigung der
Finanzmärkte ab.
3.1 Entfesselte Finanzmärkte:
Ursachen und Folgen des Supergaus
3.1.1 Finanzmarktgetriebener Kapitalismus
mit zu hohen Renditeansprüchen
Im Fokus der Suche nach den Ursachen des
neuen Krisentyps stehen die sich gegenüber
der Produktion außerhalb der monetären
Institutionen verselbstständigten und dominierenden Finanzmärkte. Das Gefüge der kapitalistischen Produktion hat sich seit Mitte der
1990er Jahre deutlich in Richtung Expansion
der Geschäfte auf den Finanzmärkten verschoben. Vor allem wird durch die Macht der
Finanzmärkte Einfluss auf die Renditeerwartungen der Produktionswirtschaft genommen.
6 Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der
Beschäftigung, des Zinses und des Geldes; Zehnte, verbesserte Auflage, Berlin 2006, S. 131.
Vergleich zu Keynes Analyse des Spekulationskapitalismus: Hickel, Rudolf: Keynes wiederentdecken und weiterentwickeln: Theoretiker des
Kasinokapitalismus; www.iaw.uni-bremen.de/rhickel
Die heute oft genannten Zielgrößen von 15
oder 25 Prozent Gewinn nach Steuern, bezogen auf das eingesetzte Eigenkapital, werden
den Unternehmen von den hoch konzentrierten Finanzmarktinstituten vorgegeben. Dies
wird zur schweren Belastung für die Produktionswirtschaft. Anstatt die Renditen aus dem
Potenzial einer längerfristigen Sicherung der
Unternehmen mit gut bezahlten und damit
motivierten Beschäftigten abzuleiten, dominiert der Druck durch viel zu hohe Renditeansprüche der Finanzinvestoren.
Herausgebildet hat sich ein ›finanzmarktgetriebener Kapitalismus‹, den Helmut Schmidt
mit Blick auf die Treibjagd nach schnellen,
jedoch hoch riskanten Renditen vor allem auf
den Vermögensmärkten als ›Raubtierkapitalismus‹ bezeichnet hat. Mit dem Trieb, schnell
hohe Renditen zu erzielen, nehmen die Spekulationen atemraubend zu. Damit verfügt das
System über ›keine solide Grundlage für eine
vernünftige Berechnung‹6 mehr. Nachdem die
die Produktion beherrschende und belastende
Finanzsphäre zusammengebrochen war und
die Weltwirtschaft in die Krise gestürzt ist,
setzt sich die Erkenntnis durch, dass erst wieder durch eine Bändigung der Finanzmärkte
und damit die Rückkehr zur dienenden Funktion der Banken der Pfad einer nachhaltigen
Entwicklung eingeschlagen werden kann.
Voraussetzung ist jedoch eine schonungslose
Analyse der Ursachen und Instrumente, die zu
diesem Supergau der Finanzmärkte geführt
haben. Hier handelt es sich nicht um einen in
der kapitalistischen Entwicklung üblichen Einbruch und schon gar nicht um ein singuläres
Ereignis. So taugt der Hinweis, durch den
Verzicht der Politik auf die Rettung der Lehman-Brothers-Investmentbank am 15. September 2008 sei letztlich die Krise verursacht
worden, herzlich wenig. In diesem Zusammenbruch, den die Politik allerdings fälschlicherweise hingenommen hat, kulminiert eine lang
angelegte Fehlentwicklung durch hoch riskante Finanzgeschäfte.
47
Entwicklung des weltweiten Anlagevermögens
200
180
160
140
120
100
80
60
40
20
0
Bruttosozialprodukt
Anlagevermögen
1980
10
12
1990
22
43
2000
32
94
2001
32
92
2002
33
96
2003
37
117
2004
42
134
2005
45
142
2006
49
167
2007
55
196
Quelle: http://www.mckinsey.com/mgi/publications/fifth_annual_report_Executive_Summary.asp
Die Illusion von Alchemisten, die glaubten, ein
Stein, der golden bemalt wird, sei Gold wert,
ist deutlich zu erkennen. Auch die Kritik, durch
die expansive Geldpolitik von Alan Greenspan
nach der geplatzten New-Economy-Blase seien
die Finanzmärkte geflutet worden und deren
Geschäfte mit billigen Krediten finanzierbar
geworden, trifft nicht den Kern. Diese Ursachenzuweisung lenkt von der selbstzerstörerischen Dynamik der Finanzmärkte ab. Gesamtwirtschaftlich waren die Notenbanken gefordert, in dieser Krisenphase die Liquiditätslöcher zu stopfen. Auch die Europäische
Notenbank hat zu Recht eine Politik der billigen Liquiditätsversorgung betrieben. Dass dieses makroökonomische Angebot Liquidität vor
allem von Hypothekenbanken in den USA zur
Vergabe von Hypothekenkrediten an einkommensschwache (›subprime‹) Privathaushalte
missbraucht worden ist, kann der Geldpolitik
nicht angelastet werden. Die Vertragsbedingungen, vor allem die Zinsgleitklauseln waren
großteils dubios. Am Ende ging es diesen
Banken darum, ihre Forderungen in hypothekenfundierte Wertpapiere zu bündeln. Wären in
der Phase dieser expansiven Geldpolitik nach
2001 bereits die heute diskutierten Finanzmarktregulierungen realisiert worden, und
etwa die Verbriefung von Krediten auf 80 Prozent beschlossen worden, dann wäre es zu
diesem weltweiten Handel mit ›Subprime-Krediten‹ nicht gekommen. Damit zeigt sich, die
Geldpolitik kann erst dann funktionieren, wenn
alle Bankinstitute, über die die monetären
Impulse gesteuert werden, strengen Regeln der
Transparenz und der Risikominimierung für die
Geschäfte auf den Finanzmärkten unterliegen.
Der Zusammenbruch der Finanzmärkte
und in der Folge die tiefe Vertrauenskrise der
Banken sind Ausdruck einer bereits seit Mitte
der 1990er Jahre erkennbaren Fehlentwicklung. Folgende Trends lassen sich zusammenfassen und Reformbedarfe formulieren:
Das Weltfinanzsystem ist erheblich schneller gewachsen als die Weltwirtschaft. Nach
einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank beliefen sich die globalen Finanzaktiva
(Bankaktiva, Schuldverschreibungen, Börsenkapitalisierung) Ende 2006 auf das Vierfache
des Weltsozialprodukts.7 In einer McKinseyStudie wird belegt: Während sich von 1990
bis 2007 das weltweite Anlagevermögen von
43 auf 196 Billionen US-Dollar fast verfünftfacht hat, hat sich das Weltsozialprodukt
von 22 auf 55 Billionen US-Dollar lediglich um
2,5 vervielfacht.8
7 Vgl. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank: Neuere Entwicklungen im internationalen Finanzsystem, Juli 2008, S. 17.
8 http://www.mckinsey.com/mgi/publications/fifth_annaul_
report_Executive_Summary.asp
48
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Mit dieser relativen Entkoppelung der Finanzmärkte von der wertschöpfenden Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt hat sich
ein am Ende nicht mehr beherrschbares Krisenpotenzial herausgebildet. Triebkraft war
die Verlagerung von der Finanzierung der Wirtschaft ohne die monetären Institutionen hin zu
lukrativen Geschäften auf den Finanzmärkten.
Überschüssiges Vermögen und Einkommen,
das nicht in die Finanzierung der Produktion
eingesetzt wurde, ist auf die Finanzmärkte mit
der Spekulation auf hohe Renditen geflossen.
Der Preis dafür war allerdings ein explosives
Verlustrisiko mit negativen Auswirkungen auf
das Gesamtsystem. Lange Zeit wirkten die
Finanzmärkte wie ein Staubsauger, der die
Anleger in lukrative Anlagenversprechen sog.
Durch den zusätzlichen Einsatz von Krediten
vor allem in der Niedrigzinsphase sind die
ursprünglichen Finanzmassen vervielfacht worden. Diese wachsende Dominanz der Finanzmärkte ist durchaus Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der kapitalistischen
Entwicklung. Wachsende Schwierigkeiten, in
der Produktion längerfristig vergleichsweise
hohe Gewinne bezogen auf das eingesetzte
Kapital zu erzielen, verstärkten die Flucht auf
die Finanzmärkte, die anspruchsvollere Renditen zumindest kurzfristig versprachen.
Treibende Kraft wurden auch hier die Banken,
die wegen der niedrigen Margen im klassischen Einlage- und Kreditgeschäft auf den
Finanzmärkten mit hoch spekulativen Geschäften aktiv geworden sind.
Mit diesem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus rücken wegen der sprunghaften, seriös
nicht kalkulierbaren Risiken, Spekulationen bei
ökonomischen Entscheidungen in den Vorder-
9 Keynes, John Maynard: a.a. O., S. 135.
10 Vgl. Minsky, Hyman: Stabilizing an unstable Economy, New Haven / London Yale (University Press)
1986 sowie
ders., John Maynard Keynes, Marburg 1990.
grund. Wie gesagt, Spekulationen reduzieren
die Kalkulierbarkeit. John Maynard Keynes hat
in seiner ›Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes‹ 1936 die
nicht mehr rational kalkulierbare Erwartungsbildung und daraus erwachsende Spekulationen weitsichtig betont. Mit der Veränderung
der Rolle der Spekulationen erklärt er die
Maserung des modernen Finanzkapitalismus:
›Spekulanten mögen unschädlich sein als Seifenblasen auf einem steten Strom der Unternehmenslust. Aber die Lage wird ernsthaft,
wenn die Unternehmungslust die Seifenblase
auf einem Strudel der Spekulation wird. Wenn
die Kapitalentwicklung eines Landes das
Nebenerzeugnis der Tätigkeit eines Spielsaals
wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht
getan werden.‹9 Hyman Minsky, der die
Theorie der Spekulationen und unsicheren
Erwartungsbildung von J. M. Keynes weiterentwickelt hat, bestätigte die Aussage von
Keynes: In der längerfristigen wachstumsstarken Entwicklung werden in zunehmendem
Ausmaß Vermögenswerte spekulativ interessant und durch Kredite finanziert.10 In diesem
kaum noch durch Gesetzmäßigkeiten zu erfassenden ›kaleidoskopischen Kapitalismus‹
entfernen sich die Vermögensgeschäfte in
einer dafür geschaffenen Eigenwelt gegenüber
der wertschöpfenden Produktion. Eine kleinste
Änderung der Erwartungsbildung führt zur
Krise, die sich bei reißenden Kreditketten als
Dominoeffekt gleichsam über das gesamte
Wirtschaftssystem ausbreitet. Viele der bei
ihrer Einführung noch hoch gelobten Finanzinnovationen, die sich jetzt als Schrott erweisen, fügen sich in diese Erklärung gut ein.
Bei der Analyse der Ursachen dieses Dominanzgewinns der Finanzmärkte hilft der Blick
auf die Typen von Nachfragern und Anbietern
nach Vermögenswerten. Damit wird deutlich,
dass hier sehr unterschiedliche Triebkräfte
wirken, aus denen sich zugleich der Reformbedarf ableiten lässt:
49
¢
¢
Ein wichtiger Grund der Expansion der
Finanzanlagen liegt in den dramatisch gewachsenen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten ökonomisch bestimmender Länder.
Während die Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten – etwa die USA – für deren
Finanzierung ausländisches Kapital benötigen,
legen die Überschussländer einen Großteil
ihrer Währungsreserven auf den Finanzmärkten an. So sind in China von 2002 bis Ende
2008 die Währungsreserven von 268 Millionen
US-Dollar auf knapp zwei Billionen US-Dollar
angestiegen. Nach Angaben der Notenbank
Chinas sollen davon über 700 Milliarden USDollar in US-Staatsanleihen gehalten werden.
Von den gigantischen Wertverlusten dieser
Staatsanleihen infolge der Krise ist China jetzt
betroffen. Viel zu wenig wird aktuell darüber
diskutiert, die Expansion der Finanzmärkte
durch den Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte in der Weltwirtschaft zu stoppen.
Nach dieser bitteren Erfahrung wird auch
verständlich, warum der Chef der Zentralbank Chinas die Ablösung der Vormachtstellung des US-Dollars durch eine übereinheitliche Leitwährung, die durch den Internationalen Währungsfonds gesteuert werden soll,
fordert.
Die Expansion der Finanzmarktgeschäfte ist
auch auf die wachsende Zahl von Vermögenden zurückzuführen. Dazu zählen Großfamilien
und Oligarchen, mittlerweile auch in aufsteigenden Ökonomien, wie Russland. Ziel ist es,
durch lukrative Anlagen das Vermögen auch
durch die dadurch fließenden Einkommen zu
vermehren (Reproduktion der Vermögenden
auf erweiteter Stufenleiter). Bei der Suche
nach lukrativen Anlagen für Vermögende bieten sich die Finanzmärkte an. Banken und
Megafonds übernehmen bei satten Provisionen
die Vermittlung dieser Finanzierungsgeschäfte.
Auch Vermögende mussten – allerdings von
einem hohen Reichtumsniveau aus – im Zuge
der Finanzmarktkrise deutliche Verluste bei
ihren Anlagen hinnehmen. Um diese Fehlentwicklung zu bremsen, muss die ungezügelte
Vermögensmehrung bei wachsender Armut mit
verschiedenen Instrumenten gebremst werden.
¢
Auch die Unternehmen der Produktionswirtschaft haben zur Ausweitung der Finanzmarktgeschäfte beigetragen. Der Teil der Gewinne,
der nicht in Sach- und Restrukturierungsinvestitionen sowie in andere Maßnahmen zur
Stärkung des Unternehmens beispielsweise
zum Abbau der Schulden geflossen ist, sondern auf den Finanzmärkten angelegt worden
ist, hat zugenommen. Empirisch lässt sich
zeigen, dass das Finanzvermögen der Kapitalgesellschaften (ohne Banken und Versicherungen) schneller als das Realvermögen, vor
allem seit Mitte der 1990er Jahre, gestiegen
ist. In Deutschland laufen die Gewinne und
Investitionen seit dieser Zeit besonders stark
auseinander. Während die Gewinne (Nettobetriebsüberschuss der gesamten Volkswirtschaft) vom Indexwert 100 in 1980 bis 2006
auf 400 gestiegen sind, haben sich die Investitionen der Unternehmen (Nettokapitalbildung
der Unternehmen) nach einem Anstieg Mitte
der 1990er Jahre auf den Indexwert um 300
bis 2006 praktisch auf den Index von 100
50
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
¢
in 1980 zurückgebildet. Der Einsatz von
Unternehmensgewinnen an den Spieltischen
des internationalen Kasinokapitalismus hat die
Geschäfte auf den Finanzmärkten ebenfalls
angetrieben. Damit rückt die moderate Lohnpolitik, die vor allem der Stärkung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Exportwirtschaft dienen sollte, in ein ganz anderes
Licht. Wäre die Umverteilung zugunsten der
Gewinneinkommen durch einen höheren Anteil
der Arbeitseinkommen an der ökonomischen
Wertschöpfung reduziert worden, hätte sich
ein doppelter Effekt ergeben: Die Kaufkraft
der Beschäftigten und damit die Binnenwirtschaft wären einerseits gestärkt und die Anlageaktivitäten auf den Finanzmärkten andererseits reduziert worden. Oftmals wird dieser
Zusammenhang übersehen: Der per Umverteilung erzielte Gewinnvorsprung hat zusammen
mit anderen Einflüssen die Überbewertung von
Finanzanlagen vorangetrieben.
Einige wichtige Banken, insbesondere
einige Landesbanken, aber auch Privatbanken
mit ihren Investmentbanking-Einrichtungen,
wurden zu Triebkräften der Expansion der
Finanzmärkte und damit der Überwertung der
Finanzanlagen, die zu einer Reinigungskrise
führen mussten. Die klassischen Geschäfte
wie das Einlagen- und Kreditgeschäft reichten
zur Erzielung einer hohen Kapitalrendite
wegen unzureichender Margen nicht aus. Deshalb wurden hochspekulative Geschäfte auf
den Finanzmärkten in großem Stil betrieben.
Die Grundregeln für Bankgeschäfte – wie die
ausreichende Risikovorsorge durch Eigenkapital – sind durch die Schaffung spezieller
Zweckgesellschaften außer Kraft gesetzt worden. Viele Banken haben ihre dienende Funktion für die Unternehmen, die privaten Haushalte und den Staat zugunsten schnell erzielbarer, jedoch höchst riskanter Anlagegeschäfte auf den Finanzmärkten vernachlässigt.
Viele, in die Bilanz hereingenommene Vermögensobjekte erweisen sich heute als toxische,
vergiftete Produkte. Nachdem die Blase
geplatzt ist, kommt es im Zuge der Wertberichtigungen beziehungsweise Abschreibungen
zu Verlusten und am Ende sind Insolvenzen
nicht mehr auszuschließen. Die tiefe Vertrauenskrise und die drohende Pleitenwelle im
Bankenbereich zeigen deutlich, dass die
Beherrschbarkeit der Finanzmärkte durch eine
Redimensionierung der Banken auf ihre dienenden Funktionen erforderlich ist.
51
¢
Schließlich haben die riesigen Pensionsfonds, aber auch die Versicherungsunternehmen, die Expansion der Finanzmärkte vorangetrieben. Versicherungen, die die Risiken im
Alter auffangen sollen, waren gezwungen, ihre
Beitragsüberschüsse auf den Finanzmärkten
anzulegen. Zumindest in Deutschland sind
durch die gesetzliche Regulierung der Versicherungsunternehmen schlimmste Exzesse
verhindert worden. So ist es verboten, forderungsfundierte Wertpapiere in das Portfolio
der Versicherungsunternehmen einzustellen.
Direkt durch zugelassene Finanzanlagen und
indirekt durch die Auswirkungen von allgemeinen Wertverlusten auf den Finanzmärkten
sind jedoch Belastungen entstanden. Aus den
Ursachen und Folgen der Finanzmarktkrise
folgt die Notwendigkeit, die politisch initiierte
Ablösung einer gesetzlichen Mindestsicherung
gegen soziale Risiken zugunsten des Ausbaus
der Eigenvorsorge auf den privaten Finanzmärkten zu überdenken. Die seinerzeit zur
Begründung angeführte Unerschöpflichkeit im
Prinzip krisenfreier Kapitalmärkte ist durch
den aktuellen Absturz widerlegt worden.
Immerhin hatte sich die Bundesregierung bei
der Subventionierung der Eigenkapitalvorsorge
im Rahmen der Riesterrente gegen den erbitterten Widerstand der Versicherungs- und
Bankenwirtschaft durchgesetzt und hoch
riskante Wertpapiere nicht als förderungswürdig anerkannt.
Bei der Beschreibung der Anbieter und Nachfrager auf den Finanzmärkten zeigt sich, dass
es sich hier um vermachte Märkte handelt,
die durch Mega-Finanzinvestoren beherrscht
werden. Aktiv sind: Private Equity- und Hedgefonds sowie die speziell zuständigen Investmentbanken und Großbanken, in Deutschland
auch einige Landesbanken. Die Macht dieser
Mega-Finanzinvestoren äußert sich unter anderem darin, dass sie die Renditeerwartungen
an die Unternehmen formulieren und schlussendlich versuchen, diese durchzusetzen. Um
für die Finanzmärkte attraktiv zu sein, wird
den Produktionsunternehmen beispielsweise
eine Mindestrendite von 15 oder 25 Prozent –
Anteil der Nettogewinne am eingesetzten
Eigenkapital – ohne Rücksicht auf die Substanz der Unternehmen vorgegeben. Zur Aufhebung dieser irrationalen Renditedominanz
muss die Macht auf den Finanzmärkten gebändigt werden. Dazu gehören vor allem strenge
Regulierungen, die Transparenz herstellen
und Risiken einschränken.
52
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
3.1.2 Vom Elend der Produktinnovationen
auf den Finanzmärkten: Alchemisten,
Kasinospieler, toxische Produkte
Damit die Finanzmärkte tatsächlich wie Staubsauger für wachsende Vermögensanlagen
funktionieren, reichten die klassischen Produkte nicht aus. Geschaffen worden sind auf der
Basis mathematischer Modelle – teils aber
auch mit krimineller Energie – Produkte, die
als Finanzmarktinnovationen hoch gelobt
wurden. Entscheidend ist jedoch, dass diese
neuen Finanzmarktprodukte ohne Gütetest
und Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden
eingeführt worden sind. Es bedurfte erst der
Finanzmarktkrise, um den Regulierungsbedarf
sichtbar zu machen und durchzusetzen. Auf
dem G-20-Gipfel in London ist am 2. April
2009 zu Recht der Grundsatz formuliert worden: Kein Finanzmarktprodukt und kein Anbieter darf ohne genaue Kontrolle und die Einhaltung von Regeln tätig werden. Gegenüber
dem traditionell direkten Handel von Geld,
Devisen, Aktien, festverzinslichen Wertpapieren, aber auch speziellen Waren wie Weizen
oder Öl rücken sogenannte Derivate in den
Mittelpunkt. Diese Derivate entkoppeln sich
vom unmittelbaren Vermögenswert etwa einer
Aktie, die sich auf die unternehmerische
Wertschöpfung bezieht. Dabei werden Konstruktionen geschaffen, bei denen der Bezug
zu einem mit der Produktion verbundenen
Vermögenswert verloren geht. Der Grad der
Abstraktheit ist hoch. Ein wichtiges Beispiel
sind die Zertifikate. Hier wird nur noch auf die
Veränderung eines Indexwertes für Aktien –
etwa des DAXes – spekuliert. Sinkt der Index
unter einen bei Vertragsabschluss festgelegten Prozentsatz, dann wird keine Rendite
ausgeschüttet. Am Ende handelt es sich um
ein reines Glücksspiel. Wie die vielen Prozesse, die gegen Anlageberater laufen, zeigen,
ist der Kauf von Zertifikaten auch an nicht mit
Finanzmarktgeschäften Vertraute wegen der
hohen Provisionsgebühren massenhaft betrie-
ben worden. Hier zeigt sich ein Grundproblem
neuer Finanzmarktprodukte. Sie sind für den
normalen Anleger undurchschaubar. Eine ausreichende Aufklärung durch den Anlageberater
beziehungsweise durch Prospekte gab es
kaum. Diese Informationsdefizite müssen
durch strenge Regulierungen, vor allem Informationspflichten, geregelt werden. Erforderlich ist ein Anlage-TÜV, das heißt, die Risiken
der Finanz-Produkte müssen erkennbar und
nachvollziehbar sein. Die negativen Erfahrungen mit Zertifikaten lassen sich verallgemeinern. Auch die sogenannten Leerkäufe von
Aktien gehören dazu: Geliehene Aktien werden
mit dem Ziel verkauft, dass der spätere Rückkauf zu einem niedrigen Kurs erfolgt. Dieses
Spekulationsgeschäft ist volkswirtschaftlich
schädlich. Die ohnehin schwierige Signalfunktion der Preisbildung an den Börsen wird vollends außer Kraft gesetzt. Belastet werden die
betroffenen Unternehmen durch die erfolgreiche Spekulation auf Kursverluste, die nichts
mit der ökonomischen Substanz zu tun hat. Es
gibt gute Gründe, dieses neue Spekulationsprodukt wegen der viel zu großen Risiken zu
verbieten, zumindest jedoch streng zu kontrollieren. Erst in den letzten Jahren sind auch
Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteile als Vermögensobjekte auf den Finanzmärkten gehandelt worden. Dabei steht nicht
die Substanzsicherung der Unternehmen,
sondern eine schnell erzielte Rendite aus dem
Kauf und späteren Weiterverkauf von filetierten Unternehmen im Vordergrund. Hier sind
vor allem die Hedgefonds aktiv. Die Summe,
die die Hedgefonds zum Kauf eines Unternehmens aufwenden müssen, wird im Durchschnitt zu drei Viertel per Kredit finanziert
(Leverage Effekt).
53
Die Kosten für diese Kredite werden meistens
den Unternehmen ang-lastet. Nach einer vergleichsweise kurzen Haltefrist, während der
eine hohe Verwertung angestrebt wird, erfolgt
ein Weiterverkauf. Viele Unternehmen werden
durch diesen Handel schwer belastet, ja in
die Insolvenz getrieben. Arbeitsplätze gehen
verloren. Mittlerweile ist in der internationalen
Debatte um eine funktionsfähige Finanzmarktarchitektur anerkannt, dass diese machtvollen
Hedgefonds einer kontrollierten Regulierung
unterzogen werden müssen. Allerdings konnte
sich der G-20-Gipfel in London nur entschließen, ›bedeutsame‹ Hedgefonds der staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Dadurch
besteht die Gefahr der Umgehung der Kontrolle durch die Zersplitterung dieser Fonds bei
derselben Eigentümerstruktur.
Exkurs:
Krisentriebkraft Kreditverbriefung
Im Mittelpunkt der ideenreichen Schöpfung
neuer Finanzmarktprodukte, die zur Krise
geführt haben, steht die in unterschiedlichen
Formen vorgenommene Verbriefung von Krediten. Den Anfang der Kette bildet die Vergabe
eines Kredits. Die dadurch entstehende Forderung einer Bank wird zusammen mit anderen
Forderungen zu einem Wertpapier gebündelt,
das auf den Finanzmärkten gehandelt wird.
Diese einfach gehaltene Verbriefung ist durch
mehrfache Umpackungen verkompliziert
worden. Entscheidend ist der Grundgedanke:
Mit der Vergabe von Krediten werden handelbare Wertpapiere für die Anleger auf den
Finanzmärkten geschaffen. Am Ende entscheidet sich die Werthaltigkeit solcher Papiere
daran, ob der Kreditnehmer in der Lage ist,
die Zinszahlungen zu bedienen. Ist das nicht
(mehr) der Fall, wird das forderungsbegründete Wertpapier zur Makulatur. An diesem, in
mehrfachen Stufen produzierten und am Ende
vom eigentlichen Anlass der Kreditbeziehung
immer weiter entfernten Wertpapier, lassen
sich die schwerwiegenden Regulierungsmängel exemplarisch auch für andere Produkttypen aufzeigen. Nicht nur die Verbriefung von
Hypothekenkrediten, sondern auch andere
Kredite, vor allem auch Forderungen aus
Kreditkarten, sind zu handelbaren Wertpapieren verpackt worden.
An der aus den USA ins Ausland exportierten sogenannten Subprime-Hypothekenkrise
wird der unterschiedliche Regulierungsbedarf
erkennbar. Anfang der 1990er Jahre boten
sich durch niedrige Hypothekenzinsen günstige Konditionen für die Kreditaufnahme. Die
Finanzierung von Häusern auch durch einkommensschwache Familien war lukrativ. Im Zuge
eines Immobilienbooms stiegen die Häuserpreise und suggerierten den Kreditnehmern
wie Kreditgebern einen andauernd steigenden
Vermögenswert. Eine Besonderheit am amerikanischen Immobilienmarkt war die freigiebige
Kreditvergabe auf der Basis einer variablen
Verzinsung (›Adjustable Rate Mortgage‹). Nach
einer kurzen Phase extrem niedriger Zinssätze
sprangen die Zinssätze durch die Koppelung
an die Geld- und Kapitalmarktzinsen nach
oben. Die billige Liquidität, die die Notenbank
in den USA anbot, nutzte den Kreditnehmern
nur in den ersten Jahren. Auf die vertraglich
festgelegte spätere Verteuerung der Kredite
wurde meist nicht explizit hingewiesen. Die
Häuserpreise, die von 2000 bis 2006 um 170
Prozent stiegen, ließen die Vergabe von Immobilienkrediten auch im Segment der Einkommensschwachen (Subprime-Sektor) für die
Banken lukrativ erscheinen. Daher wurde der
Begriff der nachfolgenden ›Subprime-Krise‹
geprägt. Neben den in der späteren Phase
höheren Zinsen und Vermögenszuwächsen
54
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
über die steigenden Immobilienpreise brachten diese Geschäfte den Hypothekenbanken
hohe Gebühren. In dieser optimistischen
Konstellation wurde vonseiten der Hypothekenbanken auf eine genaue Kontrolle der Kreditwürdigkeit sowie einem ausreichenden Anteil
an Eigenfinanzierung sträflich verzichtet.
Eine Vielzahl von Hypothekenkrediten wurde
schließlich zu handelbaren Wertpapieren verbrieft (›Mortgage Backed Securities‹). Damit
konnte sich die Bank der sonst erforderlichen
Unterlegung der Kredite mit zusätzlichem
Eigenkapital entziehen. Entscheidend ist
jedoch der Verkauf der mit den Hypothekenkrediten verbundenen Risiken an andere
Finanzmarktinvestoren. Diese Weiterwälzung
der Risiken erhöhte den Anreiz, auf die Bonität
der ursprünglichen Kreditgeschäfte nicht mehr
zu achten. Schließlich blieb es nicht bei dieser
einfachen Verbriefung. Die Hypothekenkredite
wurden mit anderen Krediten zu CDOs umgepackt (Collateralized Debt Obligations). Im
neuen Bündel ist eine Abschichtung nach
der Höhe der Zinsen und dem Ausfallrisiko in
drei Tranchen vorgenommen worden. Dadurch
entstand der Eindruck, bei den SubprimeKrediten handle es sich um eine sichere Anlage. Nach den Mehrfachverpackungen konnte
die Werthaltigkeit des Papiers nicht einmal
mehr von Insidern einigermaßen angemessen
bewertet werden. Zum Teil kannten die Banker, die diese CDOs gekauft haben, nicht
einmal die Risiken, hofften jedoch auf hohe
Renditen. Diese systematischen Informationsdefizite über solche Finanzmarktprodukte
versuchten Rating-Agenturen abzubauen. Ohne
selbst das systemische Risiko zu erkennen,
vergaben sie viel zu gute Noten. Auf dieser
Basis kauften die Banken in Deutschland in
der Erwartung auf sichere und hohe Renditen
diese forderungsbesicherten, handelbaren
Wertpapiere. Dazu wurden eigens Zweckgesellschaften (Special Purpose Verhicle)
gegründet. Die Finanzierung erfolgte über den
Verkauf von kurzfristigen Unternehmensanlei-
hen (›Commercial Papers‹, CD). Die Folge war
eine riskante Transformation von langfristigen
Forderungen in kurzfristige Verbindlichkeiten
bei diesen Zweckgesellschaften (›Conduits‹).
Klar musste sein, wenn die CDs nicht mehr
am Markt untergebracht werden können,
bricht das Geschäftsmodell zusammen. Dazu
ein Beispiel: Die Sächsische Landesbank
gründete eine Zweckgesellschaft in den Docks
von Dublin außerhalb der Bilanz und ohne
Absicherung durch Eigenkapital sowie Liquidität. Mit dem Absturz der Immobilienpreise
nach dem Bauboom in den USA, den steigenden variablen Zinsen, die durch die Kreditnehmer nicht mehr aufgebracht werden konnten
sowie der allgemeinen Verschlechterung der
konjunkturellen Lage spitzte sich die Krise
2007/2008 zu. Der Preis für die hoch gelobten neuen Wertpapiere sank ins Bodenlose –
sie entpuppten sich als toxische Produkte in
den Bilanzen vieler Banken. Massive Abschreibungen und dadurch steigende Verluste
zwangen viele Banken in die Krise. Staatliche
Rettungsmaßnahmen wurden notwendig. Die
Banken, die bei der Konkurrenz einen hohen
Bestand an toxischen Produkten vermuteten,
verfielen in eine für die Gesamtwirtschaft tiefe
Vertrauenskrise. In dem Ausmaß, in dem die
kurzfristigen Ausleihungen am Interbankenmarkt zusammenbrachen, wurden die Übertragungskanäle der Geldpolitik durch die Notenbanken verstopft. Der Transport dieses dramatischen Werteverlustes infolge der geplatzten Blase pflanzte sich schnell auf die Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzsphäre
fort. Eine schwere Krise der Weltwirtschaft,
die noch konjunkturell verstärkt wurde, ist
das Ergebnis.
55
Heute ist klar, dass ohne eine Überwindung
des Finanzmarktdebakels die Wirtschaftskrise
nicht zu bewältigen sein wird. Dazu gehört
zumindest die strenge Regulierung der hier
beschriebenen CDO-Verbriefung. Aber auch
die neu geschaffenen Wertpapiere auf der
Basis der Versicherung von Krediten (Credit
Default Swaps, CDS), deren Marktwert im
Zuge geplatzter Kredite massiv abgestürzt ist,
müssen in die kontrollierte Regulierung einbezogen werden.
3.2 Schritte zu einem und Eckwerte
eines regulierten Kapitalismus
Der hier beschriebene neue Krisentyp bedroht
die Grundlagen des Wirtschaftens. Das Bankensystem ist in eine tiefe Vertrauenskrise
geraten. Die Wert schöpfende Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt schrumpft,
nicht zuletzt, weil durch die Finanzmarktkrise
dringende Kredite durch die Banken nicht weitergegeben werden. Wegen der verstopften
Übertragungskanäle versagt auch die traditionelle Geldpolitik. Der Abbau von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen wird durch eine
völlig unzureichende Nachfrage nach Gütern
und Dienstleistungen vorangetrieben. Die hoch
entwickelten Ökonomien produzieren derzeit
massiv unter ihren Verhältnissen. Durch die
mangelnde Nachfrage bewegt sich die
Gesamtwirtschaft in einer Rationalitätsfalle.
Von den einzelnen Unternehmen sind in dieser
Situation mangels Nachfrage kapazitätserweiternde Investitionen nicht zu erwarten. Es
bedarf eines gesamtwirtschaftlichen Impulses
durch den Staat, der außerhalb des Marktwettbewerbs steht. Diese tiefe Krise ist letztlich
die Folge der in den letzten Jahren entfesselten Märkte sowie des Verzichts auf die
gesamtwirtschaftliche Steuerung. Waren- und
Arbeitsmärkte, jedoch besonders radikal die
Finanzmärkte, sind dereguliert worden. Auch
die Umwelt ist unter dem Diktat einzelwirtschaftlicher Gewinnsteigerung als ›Gratispro-
duktivkraft‹ belastet worden. Anstatt der
versprochenen Wohlstandssteigerung sind
dadurch die Grundlagen eines zukunftsfähigen
Wirtschaftssystems wegreguliert worden.
Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise macht
eine Selbstverständlichkeit deutlich: Um die
Effizienzvorteile moderner Wettbewerbsökonomien zu nutzen, müssen diese zielorientiert
in einen kontrollierten Ordnungsrahmen eingebunden und gesamtwirtschaftlich gestärkt
werden. Es gilt, die systemimmanente, selbstzerstörerische Tendenz der Marktentfesselung
zugunsten einer geordneten Ausschöpfung
der produktiven Dynamik des ökonomischen
Wettbewerbs zu brechen. Die Mehrheit innerhalb der Wirtschaftswissenschaft, die auf
die wohlstandssteigernde Wirkung deregulierter Märkte unter Verzicht auf die gesamtwirtschaftliche Steuerung gesetzt hat, ist gescheitert. Infolge einer breiten Empfehlung der
Marktentfesselung an die Politik und in der
Öffentlichkeit hat sie auch eine Mitverantwortung für die Krisen-entwicklung. Umso mehr
steht sie jetzt in der Pflicht, an einem Ordnungskonzept mitzuarbeiten. Dabei kann auf
wichtige, in den letzten Jahren verdrängte
Analysen etwa im Rahmen des Ordoliberalismus, des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft und Keynesianismus zurückgegriffen
werden. Es geht um einen grundlegenden
Paradigmenwechsel zu einer regulierenden
Ordnungspolitik und sinnvollen Instrumenten
der gesamtwirtschaftlichen Steuerung. Was
theoretische und politische Diskurse nicht
geschafft haben, erzwingt heute die Gewalt
der Krise: einen fundamentalen Kurswechsel.
Nur durch eine aktive Konjunkturpolitik, Regulierungen der Finanzmärkte, wie überhaupt
durch die Wiederentdeckung der Gesamtwirtschaft, eröffnet sich ein Weg aus dieser Krise.
Deutschland steht heute vor einer doppelten
56
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Aufgabe. Zu allererst müssen auch unkonventionelle Maßnahmen ergriffen werden – eine
Symptomtherapie reicht sicherlich nicht aus.
Dazu kommen muss eine auf die lange Frist
angelegte ökonomische, soziale und ökologische Ordnung des Wirtschaftens. Nachfolgend
werden die wichtigsten Maßnahmen – vor
allem mit dem Ziel, aus der aktuellen Krise
herauszukommen – auf unterschiedlichen
Ebenen aufgezeigt.
3.3 Wege zur Regulierung
der Finanzmärkte
Im Angesicht der Finanzmarktkrise stellt sich
eine doppelte Aufgabe: Ad hoc müssen
Maßnahmen zur Wiederherstellung der Funktionen des Bankensystems durchgesetzt werden.
Jedoch ist gleichzeitig der Aufbau einer
stabilen Finanzmarktarchitektur anzustreben.
Wie die Beschreibung der Dynamik des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zeigte, haben
die Finanzmärkte in den letzten Jahren die
Dominanz über die Waren- und Arbeitsmärkte
gewonnen. Aus dieser Hierarchisierung
der Märkte leitet sich der Vorrang für die
Sanierung der Finanzmärkte zusammen mit
dem Bankensystem ab.
Kurzfristige Maßnahmen
Kurzfristig geht es darum, die für die Gesamtwirtschaft dringlichen Funktionen des Bankensystems wieder sicherzustellen. Der ›Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin)‹ mit
einem Volumen von 480 Milliarden Euro greift
aus verschiedenen Gründen nicht richtig.
Neben den Mitteln für die Stärkung des Eigenkapitals der Banken sowie der Übernahme von
toxischen Produkten werden die 400 Milliarden
Euro an Bürgschaften zur Kreditvergabe auf
dem kurzfristigen Interbankenmarkt kaum
genutzt. Dies zeigt die Tiefe der Vertrauenskrise zwischen den Banken. Deshalb war
es richtig, im ›Konjunkturprogramm II‹
100 Milliarden Euro zur Förderung der Kreditnahme durch die Wirtschaft direkt zur Verfügung zu stellen. Zur Rettung systemischer
Banken, deren Zusammenbruch weite Teile
der Wirtschaft belasten würde, ist eine zeitlich
befristete Teilverstaatlichung unvermeidbar.
Als Ultima Ratio ist auch eine Vollverstaatlichung, wie bei der Hypo Real Estate, ökonomisch durchaus sinnvoll, denn die Kosten des
Zusammenbruchs wären auf jeden Fall viel
höher. Diese Sozialisierung der Verluste durch
den Staat muss jedoch durch eine Sozialisierung der später zu erwartenden Gewinne
ergänzt werden. Schließlich sollte ein Teil der
durch die staatliche Kapitalbeteiligung zusätzlichen Aufsichtsratsmandate an die Belegschaft zum Ausbau der unternehmerischen
Mitbestimmung weitergegeben werden. Da
das Bankensystem erst wieder funktionieren
kann, wenn aus den Bilanzen die toxischen
Produkte, die zu Wertberichtigungen zwingen,
herausgenommen werden, ist es sinnvoll,
gekoppelt an die jeweils zu sanierende Bank
eine Bad Bank anzudocken. Diese Bad Bank
übernimmt mit staatlicher Unterstützung die
Abwicklung dieser vergifteten Produkte in der
Nähe zum jeweiligen Kreditinstitut. Insgesamt
zwingt die Finanzmarktkrise zu derartigen
unkonventionellen, vor Jahren unvorstellbaren
Maßnahmen. Gerettet werden dürfen jedoch
nur Banken mit systemischer Relevanz und mit
einer ernsthaften Chance auf ein künftig tragfähiges Geschäftsmodell. Bei Banken, die
diese beiden Kriterien nicht erfüllen, ist deren
Abwicklung unvermeidbar.
57
Stabilisierung der Finanzmärkte
durch dauerhafte Regulierungen
Nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte
infolge eines Verzichts auf ein ausreichendes
Regulierungs- und Kontrollsystem müssen
strenge Spielregeln aufgestellt werden. Es ist
schon erstaunlich, wie in den letzten Jahren
die ordoliberale Botschaft verdrängt worden
ist: Regulierte Finanzmärkte sind die fundamentale Voraussetzung für eine funktionierende, wettbewerbliche Produktionswirtschaft.
Deshalb müssen die hochriskanten und entwicklungsbestimmenden Finanzmärkte durch
eine Redimensionierung gebändigt werden.
Um es im Fußball-Jargon auszudrücken: Das
Foul darf künftig nicht mehr als Spielregel
zugelassen werden. Damit gewinnt vor allem
auch die Geldpolitik ihre Wirksamkeit zurück.
Die Bändigung der Finanzmärkte zielt auch
darauf, die machtvolle Durchsetzung viel zu
hoher Ansprüche auf Kapitalrenditen in der
Unternehmenswirtschaft zu verhindern. Ein
entschiedenes ›Raus aus dem Kasinokapitalismus‹ wirkt wie ein ökonomischer Befreiungsschlag.
Eine kaum noch überschaubare Flut an
Instrumenten zur Regulierung der Finanzmärkte wird derzeit diskutiert. An den beschriebenen, weltweit verbreiteten toxischen Finanzmarktprodukten, die im Rahmen der Verbriefung geschaffen wurden, sind bereits wichtige
Hebel der Regulierung deutlich geworden:
Ein ernsthaftes Risikomanagement ist bei der
Kreditvergabe durch Finanzinstitute auf der
Basis transparenter Verträge sicherzustellen.
Die Weitergabe der unkontrollierbaren Risiken
durch die Verbriefung muss massiv begrenzt
werden. So sollten die Banken mindestens
20 Prozent der Kredite in der Bilanz behalten
müssen, also nicht verbriefen dürfen. Das
schafft den Anreiz, bei der Kreditvergabe auf
die Bonität der Kreditnehmer zu achten.
Ratingagenturen, die ihre objektive Informationspflicht verletzt haben, müssen entweder
umgebaut oder aber die Informationspflicht
geht auf staatliche Organe über. Die privatwirtschaftlich organisierten Ratingagenturen
bewegen sich in einem folgenreichen Widerspruch. Sie benoten Unternehmen, während
sie gleichzeitig höchst profitabel für diese
als Investmentfinanzdienstleister tätigt
werden. Ratingagenturen dürfen nur raten
und nicht zugleich mit den zu benotenden
Unternehmen Geschäfte betreiben.
Zweckgesellschaften dürfen nicht mehr
außerhalb der Bilanz geführt werden. Alle
Geschäfte müssen entsprechend dem Risikoprofil mit Eigenkapital unterlegt werden.
Managergehälter und Bonuszahlungen, die
einen Anreiz für eine kurzfristige Orientierung
zulasten der Zukunftsfähigkeit geschaffen
haben, müssen deutlich begrenzt werden.
Die Anlageberater, die beispielsweise reine
Glückswetten in Form von Zertifikaten an
ahnungslose Kunden vermittelt haben, müssen
in Haftung genommen werden. Dabei nützt
eine kundenstützende Beweislastumkehr, die
die Banken in die Pflicht nimmt.
58
Resultate der Mitgliederbefragung
Alle Finanzmarktprodukte müssen einem TÜV
unterzogen werden. Dabei sind vor allem die
versteckten Risiken in einer verständlichen
Prospektbeschreibung offenzulegen. Dieser
TÜV nützt auch den vielen Bankern, die in den
letzten Jahren Produkte propagierten, deren
Risiken sie selbst nicht kannten.
Banken sollten wieder auf tragfähige
Geschäftsmodelle redimensioniert werden.
In diesem Zusammenhang fordert der Nobelpreisträger der Ökonomie, Edmund Phelps,
in einem Brief an Großbritanniens Premierminister Gordon Brown anlässlich des G-20Treffens in London, die Investmentbanken
aufzulösen, zumindest scharf von den jeweiligen Geschäftsbanken zu trennen (vergleichbar dem Glass-Steagall Act von 1933 in
den USA).11
Gerade wegen der intensiven Globalisierung
der Finanzmärkte müssen Regulierungen auch
international vereinbart und kontrolliert werden. Voraussetzung dafür ist die Schaffung
von Regulierungsinstrumenten in Deutschland
sowie auf der Ebene der EU. Was die Internationalisierung betrifft, weisen die Beschlüsse des G-20-Gipfels (Treffen am 2. April 2009
in London) in die richtige Richtung. Sicherlich
waren die Erwartungen an verbindliche Festlegungen höher. Aber erstmals haben sich
zwanzig Staaten – zusammen mit Russland,
China und Indien – auf konkrete Regeln verständigt. Die wichtigsten Ergebnisse lauten:
Kein Markt, kein Produkt, keine bedeutende
Finanzmarktinstitution soll künftig ohne Regulierung und Aufsicht bleiben. Erstmals werden
Hedgefonds, leider nur die ›bedeutenden‹,
11 Vgl. Eberle, Matthias: Topökonomen fordern eine neue
Finanzwelt. In: Handelsblatt vom 24.3.2009.
einbezogen. Künftig sollten alle Fonds zur
Vermeidung von Ausweichreaktionen einbezogen werden.
Auch Managergehälter und Bonuszahlungen
sollen weltweit geregelt werden. Allerdings
ist nicht zu erkennen, wie diese Regulierung
ausgestaltet und durchgesetzt wird.
Auch weil insbesondere Steueroasen zur
Abwicklung von Finanzmarktgeschäften
genutzt worden sind, verdient der Beschluss,
Staaten auf eine ›schwarze Liste‹ zu setzen,
die die OECD-Standards für faire Besteuerung
nicht einhalten, Anerkennung. Mittlerweile liegt
auch eine ›graue Liste‹ vor. Hier sind Staaten
wie Österreich, die Schweiz und Luxemburg
verzeichnet, die trotz offizieller Zusagen diese
Standards immer noch nicht gesetzlich verbindlich geregelt haben. Insgesamt lautet
das Motto: Die Ära des Bankgeheimnisses ist
vorbei und damit eine Hauptquelle der Steuerhinterziehung verstopft.
Große Anerkennung verdient dieser Gipfel für
die Reform des Internationalen Währungsfonds
(IWF). China und Indien erhalten mehr Einfluss.
Allerdings wächst dadurch nicht die erforderliche Chance für die Länder des Südens, an
den Entscheidungen des IWF aktiv mitwirken
zu können. Es werden jedoch die Mittel
des Fonds für die von der Krise am stärksten
betroffenen Staaten auf 750 Milliarden USDollar verdreifacht. Um den Welthandel zu stabilisieren, sind Garantien von 250 Milliarden
US-Dollar geplant. Insgesamt wächst der
Spielraum des IWF, besonders krisenbedrohten Entwicklungs- und Schwellenländern
ohne die früheren ärgerlichen Auflagen zum
Sozialabbau zu helfen.
59
Nicht auf der Tagesordnung stand die
Bekämpfung der Ungleichgewichte zwischen
den Überschuss- und Defizitländern. Hier gibt
es einen dringlichen Nachholbedarf. Auch
wurde über eine grundsätzliche Reform des
Weltwährungssystems mit einem für Stabilität
sorgenden Wechselkurssystem nicht verhandelt. Der chinesische Zentralbankgouverneur
forderte in einem Aufsatz vom 23. März 2009,
durchaus auf der Linie des chinesischen
Ministerpräsidenten, wie gesagt, die Ablösung
der Vormachtstellung der USA durch eine
übereinheitliche Leitwährung, die von einer
globalen Institution gemanagt werden sollte.12
Die Arbeit an diesem Weltwährungssystem
mit einem modernden Wechselkurs-system à
la Bretton Woods darf nicht auf die lange
Bank geschoben werden. Um wenigstens die
hochspekulativen Währungstrans-aktionen zu
dämpfen, ist kurzfristig die Einführung einer
Devisenumsatzsteuer (Tobin-Steuer) anzustreben. Vor allem aber hat der Gipfel bei der
dringlichen Aufgabe, eine koordinierte expansive Finanzpolitik durchzusetzen, versagt.
So hat Deutschland der Forderung des USPräsidenten sowie der japanischen Regierung
nach einem weltweit abgestimmten Konjunkturimpuls widersprochen. Den einzelnen Ländern
bleibt es überlassen, in welchem Umfang
konjunkturpolitische Maßnahmen durchgesetzt
werden. Dieser Verzicht auf eine gemeinsame
Initiative zeigt, wie wenig die Tiefe dieser
Globalisierungskrise in vielen Ländern begriffen worden ist.
Die wichtigen Vereinbarungen dieses Gipfels sind nur vor dem Hintergrund der materiellen Gewalt der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise zu verstehen. Die Beschlüsse zu sichern
und voranzutreiben sowie die nicht thematisierten Schwerpunkte schnell aufzunehmen,
dazu bedarf es einer entschiedenen Fortsetzung dieser Gipfelarbeit.
3.4 Monetäre und
gesamtwirtschaftliche Steuerung
Erst durch die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die maßgeblich auf den Abbau ordnender Regeln der Wettbewerbswirtschaften
zurückgeht, sind die Gesamtwirtschaft und
der Steuerungsbedarf wiederentdeckt worden.
Wie es Keynes in seiner ›Allgemeinen Theorie‹
1936 formulierte, das ›freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte‹, der ›kapitalistische Individualismus‹, bedarf der politischen Zügelung
und makroökonomischen Leitung.13 Im Zuge
der Angebotsdoktrin, die sich nur auf die
Stärkung der Einzelwirtschaft von der Kostenseite her konzentrierte, ist die Geld- und
Finanzpolitik verdrängt worden.
Unkonventionelle,
expansive Geldpolitik
Die Geldpolitik wird jetzt zu völlig unkonventionellen Maßnahmen gezwungen. Der Grund
liegt in der hartnäckigen Vertrauenskrise der
Geschäftsbanken. Die Variation der Leitzinsen
und damit die übliche Geldmengensteuerung
der Notenbank werden kaum noch über das
Bankensystem in die Wirtschaft transportiert.
Daher ist die USA dazu übergangen, bei einem
praktischen Nullzinssatz durch den Ankauf
von Staats- und Unternehmensanleihen Geld
zu schöpfen. Die Technik der Verteilung von
Geld per Helikopter, die der Monetarist und
Deregulierer Milton Friedman und der heutige
US-Notenbankpräsident Ben Bernanke für
Phasen der Depression beschrieben haben,
werden heute immer wieder zitiert. Im Kern
geht es darum, der Volkswirtschaft an den
Banken vorbei Liquidität zuzuführen.
12 Ohne Verfasser: China schlägt eine neue Leitwährung vor.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.3.2009.
13 Vgl. Keynes, John Maynard: a.a.O., S. 320 f.
60
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Zur derzeitigen Geldschaffung durch den Kauf
von Staats- und Unternehmensanleihen gibt
es keine Alternative. Aktuell wird diese Politik
wegen der später drohenden Inflationsgefahren kritisiert. Auf die unverantwortlich
geschürten Inflationsängste gibt es zwei Antworten: Zum einen droht heute nicht eine
Inflation, sondern die Gefahr einer Deflation,
also des Preis- und Gewinnverfalls. Zum
anderen hat die Notenbank genügend Möglichkeiten, die später drohende Inflationsgefahr
zu bekämpfen.
Vor allem die Europäische Zentralbank
(EZB) lässt sich bei ihrer Geldpolitik mit den
Instrumenten der Geldschöpfung viel zu stark
von späteren Inflationsfolgen beeinflussen.
Sie hält auch mit ihrer Zinspolitik am Vorrang
der (vorauseilenden) Inflationsbekämpfung
fest und setzt immer noch auf die traditionellen Übertragungskanäle ihrer Geldpolitik.
Diese funktionieren aber angesichts der tiefen
Vertrauenskrise des Bankensystems längst
nicht mehr. Derzeit droht auch im Euroraum
keine Inflationsgefahr. Vielmehr spekuliert die
Wirtschaft auf weitere Preissenkungen, die am
Ende zu Gewinneinbrüchen führen. Wenn sich
die Deflation festsetzen sollte, dann wird die
Wirtschaftskrise, wie das Beispiel Japan in
den 1990er Jahren zeigt, viele Jahre andauern. Eine Geldpolitik, die dazu beitragen will,
eine Deflation zu vermeiden, muss die Wirtschaft mit quasi kostenloser Liquidität fluten.
Es geht um die Schaffung eines monetären
Spielraums für die Nachfrage nach Gütern und
Dienstleistungen. Wenn die Wirtschaft, unterstützt durch eine expansive Geld- und Finanzpolitik, wieder auf den Wachstumskurs einschwenken sollte, bleibt genug Zeit, mit den
Instrumenten der Geldpolitik erfolgreich inflationstreibende Liquidität abzusaugen. Die
Europäische Notenbank sollte daher im Gleichschritt mit den Notenbanken in den USA und
Japan den Leitzins in die Nähe von null Prozent bringen. Die monetäre Steuerung erfolgt
dann quantitativ über die Schaffung von
Liquidität durch den Kauf von Wertpapieren. In
die richtige Richtung weist die Diskussion im
EZB-Rat, in dieser Ausnahmesituation den Kauf
von Unternehmensanleihen direkt beim Herausgeber der Papiere, also beim Unternehmen
oder aber indirekt über die Geschäftsbanken,
zuzulassen.
Fiskalische Steuerung
Die monetäre Steuerung allein bleibt gesamtwirtschaftlich wirkungslos. Schließlich bewegt
sich auch Deutschland in einer Liquiditätsfalle,
das heißt, wegen der negativen Geschäftserwartungen finden die Geldanlagen nicht den
direkten Weg in die Finanzierung der Produktion. Es fehlt an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Diese Nachfragelücke kann nur durch
eine expansive Finanzpolitik durchbrochen
werden. Dies lehrt auch die 1929er Weltwirtschaftskrise. Während Roosevelt mit seinem
›New Deal‹ die Wirtschaft stärkte, hat die Brüningsche Notverordnungspolitik in Deutschland
die Krise massiv beschleunigt und damit sich
selbst verstärkende Produktions- und Arbeitsplatzverluste ausgelöst.14 Heute ziehen vor
allem die USA und Japan mit gigantischen
öffentlichen Ausgabenprogrammen die richtige
Lehre aus dieser Erfahrung mit der damaligen
›New-Deal‹-Politik. Der Staat muss eine sich
vervielfachende Nachfrage durch die Finanzierung zukunftswichtiger Projekte generieren.
14 Christina Romer, Wirtschaftsberaterin des amerikanischen Präsidenten,
hat in einer empirischen Studie den Erfolg der New-Deal-Politik nachgewiesen. Vgl. Romer, Christina: Lessons from the Great
Depression for Economic Recovery in 2009 (März 2009); Download
über www.handelsblatt.com/oekonomie
61
Dadurch ist ein doppelter ökonomischer Nutzen zu erreichen: Für jeden US-Dollar, der von
der Regierung investiert wird, so Paul Krugman, wird über Multiplikatoren und Akzeleratoren das Bruttoinlandsprodukt um mindestens
1,50 Dollar vermehrt.15 Zugleich werden
durch Zukunftsinvestitionen die Lebens- und
Produktionsbedingungen künftiger Generationen verbessert. Durch diese beiden Aspekte
rückt die Nutzung der Staatsverschuldung in
positives Licht. Oftmals wird eingewendet,
Konjunkturprogramme würden zu spät beziehungsweise überhaupt nicht wirken. In einer
jüngeren Untersuchung haben zwei Ökonomen
des Internationalen Währungsfonds beim
Vergleich der Wirkungsweise von Konjunkturprogrammen festgestellt, dass in wichtigen
Ländern der G7-Gruppe diese zu Wachstumsimpulsen geführt hätten. Jedoch wird der
antizyklischen Finanzpolitik insgesamt kein
Freibrief ausgestellt.16
Die Bundesregierung hat zwei Konjunkturprogramme vorgelegt. Hinzuzurechnen sind
die Entlastungen durch die Wiedereinführung
der Pendlerpauschale mit 7 Milliarden Euro
in 2009 und 2010, die allerdings das Bundesverfassungsgericht erzwungen hat. Von den
50 Milliarden Euro des Konjunkturprogramms
II sind in den Jahren 2009 und 2010 17,3 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen vor
allem in den Kommunen vorgesehen. Diese
Entscheidung geht in die richtige Richtung.
Durch die Kleinteiligkeit der Projekte etwa im
Bereich der Schulsanierung kann am Ende
auch die lokale Wirtschaft profitieren. Allerdings ist der Schritt zu halbherzig. Die drohende Deflation sollte durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm von jährlich mindestens zwei
Prozent des Bruttoinlandsprodukts – also pro
Jahr 50 Milliarden Euro – gebannt werden.
Ad-hoc-Maßnahmen zur Rettung stark vernetzter Unternehmen – wie etwa des Autobauers
Opel samt der Zulieferindustrie – lassen
sich gegenüber den Kosten einer Insolvenz
durchaus rechtfertigen. Die Unterstützung der
Unternehmen durch die Verlängerung des
Kurzarbeitergelds, um Entlassungen zu verhindern, ist richtig. Unternehmen und Politik
haben begriffen, dass die Beschäftigten für
die künftige wirtschaftliche Entwicklung im
Betrieb gehalten werden müssen. Dabei ist die
Verbindung mit Qualifizierungsmaßnahmen
besonders positiv hervorzuheben. Die gewonnene Zeit muss jedoch dazu genutzt werden,
den Brückenschlag an das rettende Ufer auch
zu schaffen. Schließlich müssen auch die
Maßnahmen der Deregulierung der Arbeitsmärkte, die zu einer Zunahme der Zeit-/
Leiharbeit sowie prekärer Arbeitsverhältnisse
geführt haben, dringend auf den Bedarf an
Reregulierung hin überprüft werden.
15 Vgl. Krugmann, Paul: Das Konjunkturprogramm – Wie die amerikanische Regierung dazu beitragen kann, die Wirtschaft anzukurbeln:
Bloß keine Angst vor großer Verschuldung. In: Frankfurter Rundschau
vom 8.4.2009, S. 30–31.
16 Vgl. Leigh, Daniel/Stehn, Sven Jari: Fiscal and Monetary Policy
During Downturns: Evidence from the G7, IMF-Working Paper Nr.
09/50 (März 2009); Download über www.handelsblatt.com/oekonomie
62
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Konjunkturprogramm in ein Zukunftsinvestitionsprogramm umbauen:
1. Die beiden Konjunkturpakete I und II: zu
wenig ausgerichtet auf die Stärkung der
öffentlichen Nachfrage und der Schaffung
eines Beschäftigungsschirms.
2. Ein drittes Konjunkturprogramm: als
Zukunftsinvestitionsprogramm erforderlich.
Zu 1.: Die Konjunkturpakete I und II
Finanzielle Auswirkungen des Konjunkturpakets I, der Wiederherstellung
der Pendlerpauschale und des Konjunkturpakets II auf die öffentlichen
Haushalte insgesamt in Mrd. Euro1 (2009 – 2010)
Konjunkturpaket I
2009
2010
2009+2010
1. Erhöhung und Unterstützung von Investitionen
1,3
1,4
2,7
Erhöhung Verkehrsinvestitionen
1,0
1,0
2,0
Aufstockung Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsförderung
0,2
0,1
0,3
Aufstockung KfW-Programm energieeffizientes Bauen
0,0
0,2
0,3
weitere KfW-Programme, z.B. Kommunalkredit
0,1
0,1
0,1
2. steuerliche Entlastungen für private Haushalte
0,4
1,0
1,4
Kfz-Steuerbefreiung 2009/10
0,4
0,1
0,5
-
0,9
0,9
3. steuerliche Entlastungen für Unternehmen
2,2
4,7
6,9
degressive AfA 25%
1,9
4,3
6,3
erhöhte steuerliche Förderung für Handwerksdienstleistungen
Sonderabschreibung KMU
0,2
0,4
0,6
4. Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit
0,3
0,5
0,8
Summe
4,2
7,6
11,8
Pendlerpauschale: (Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts)
5,5
1,5
7,0
Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Hand
9,0
8,3
17,3
Innovationsförderung des Bundes (ZIM)
0,5
0,5
0,9
Konjunkturpaket II
Abwrackprämie
1,5
-
1,5
Förderung der Mobilitätsforschung
0,3
0,3
0,5
Beschäftigungssicherung
2,5
3,5
5,9
a) Sozialversicherungsbeiträge Kurzarbeit
1,1
1,1
2,1
b) Aktivierung und Qualifizierung
1,3
1,3
2,6
c) 5.000 zusätzliche Stellen Arbeitsagentur und Argen
0,1
0,1
0,2
1,0
1,0
Senkung der Einkommenssteuer
2,9
6,1
9,0
d) Stabilisierung Arbeitslosenversicherung bei 2,8% zweite Hälfte 2010
Senkung der Beitragssätze zur GKV (gesetzliche Krankenversicherung)
3,0
6,0
9,0
Familien: kinderbezogene Leistungen
2,0
0,4
2,4
a) Kinderbonus
1,8
-
1,8
b) Regelsätze für Kinder
0,2
0,4
0,6
Summe
21,6
24,9
46,5
Konjunkturpaket I + II + Pendlerpauschale Summe
31,3
34,0
65,3
1,3
1,4
-
in % des BIP
Für die Maßnahmen: Beschleunigung von Investitionen durch Vereinfachung des Vergaberechts, Kredit und Bürgschaftsprogramm,
Ausweitung der bundesgedeckten Exportförderung, Breitbandstrategie der Bundesregierung, Neuregelung Kfz-Steuer ist noch
keine Quantifizierung verfügbar.
1 Ohne makroökonomische Rückwirkungen.
Quellen: Bundesregierung; Schätzung des IMK.
63
Zu 2.: Ein drittes Konjunkturprogramm
als Zukunftsinvestitionsprogramm ist
erforderlich
1. Die Krise fällt mit minus 6 Prozent tiefer als
bisher in der Politik angenommen aus. Auch
die Krise der Finanzmärkte/Banken hält an.
Vor allem steigt die Arbeitslosigkeit.
2. Die bisherigen Programme sind unzureichend und setzen vor allem im Bereich der
Abgabensenkung falsche Schwerpunkte.
Laut OECD beträgt das Gesamtvolumen der
beiden ersten Konjunkturprogramme im Durchschnitt 2008–2010 nur 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr (in den USA 5,6 Prozent,
pro Jahr 1,8 Prozent).
3. Volumen, Struktur und Finanzierung des
Zukunftsinvestitionsprogramms:
n Volumen: 100 Milliarden Euro pro Jahr bis
zunächst 2011.
n Struktur: 75 Milliarden Euro in öffentliche
Investitionen, in Sachausgaben und Personal
und 25 Milliarden Euro in ein arbeitsmarktpolitisches Sonderprogramm.
Danach sollen jährlich 50 Milliarden
Euro dauerhaft in Arbeit, Bildung, Umwelt
investiert werden.
n Absicherung von 2 Millionen tarifabgesicherten Arbeitsplätzen.
n Finanzierung:
Verbesserung des Steuervollzugs;
Finanztransaktionssteuer, Reform Erbschaft/Schenkungssteuer, Selbstfinanzierung,
Aufnahme öffentlicher Kredite:
Vorsorge für künftige Generationen.
Zwei Bemerkungen:
1. Künftige Generationen profitieren von einem
schuldenfinanzierten, öffentlichen Ausgabenprogramm, das in die Bildung, die Hochschulen, die Umwelt und die Stärkung einer modernen Wirtschaftsstruktur fließt.
2. Der Hinweis, es würde die Inflation
beschleunigt, trifft nicht zu. Die deutsche Wirtschaft bewegt sich am Rande einer Deflation,
das heißt, es fehlt an Nachfrage. Gäbe es
eine Inflation, dann wäre wenigstens die Nachfrage größer als das Angebot.
Die konjunkturpolitischen Maßnahmen
für Bremen und Bremerhaven
1. Das Konjunkturpaket II des Bundes wird im Land
Bremen mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm
2009/2010 umgesetzt:
Gesamtvolumen: 117,933 Millionen Euro, davon
25 Prozent Eigenfinanzierung aus dem Landeshaushalt Bremen.
Die Komplementärfinanzierung erfolgt über die
Aufnahme öffentlicher Kredite im Rahmen eines
Nachtragshaushalts.
Die Schwerpunkte sind:
Einrichtungen der frühkindlichen Infrastruktur,
Schulinfrastruktur (Gebäudesanierung und
nutzerspezifische Maßnahmen),
Hochschulen (Gebäudesanierung,
Einrichtungen der Weiterbildung, Forschung),
Krankenhäuser,
Stadtbau (Lärmschutzmaßnahmen, Verbesserung
der Verkehrssicherheit),
Informationstechnologien,
sonstige Infrastrukturinvestitionen (beispielsweise
Hafenbahn, Weser-Anleger in der Innenstadt).
2. Bewertung:
Das Zukunftsinvestitionsprogramm konzentriert sich
auf öffentliche Investitionen zugunsten auch künftiger
Generationen. Die Ziele sind: kurzfristige Realisierbarkeit, die Zusätzlichkeit und die längerfristige Nutzung. Durch die Kleinteiligkeit und eine breite Steuerung
der Auftragsvergabe wird die lokale Wirtschaft (kleine
und mittlere Unternehmen sowie Handwerk) gestärkt.
Wegen dem zu erwartenden Arbeitsplatzabbau und
der steigenden Arbeitslosigkeit sollte sich die Politik
umgehend auch auf die Stärkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen konzentrieren. Dazu gehört auch
die Weiterbildung, wie sie im Rahmen der Verlängerung der Kurzarbeit festgeschrieben worden ist.
In Bremen und Bremerhaven sollte die Politik Unternehmen, die wegen des Einbruchs der Nachfrage
zum Erhalt der Arbeitsplätze beschäftigungspolitische Bündnisse abschließen müssen, unterstützen.
Dazu gehören Mercedes-Benz, die Hafenbetriebe und
die Stahlindustrie, aber auch die kleinen und
mittleren Unternehmen.
Die Aufbaubank sollte zusammen mit den Regionalbanken vor Ort dafür sorgen, dass Unternehmen
zur Überwindung von Liquiditätsengpässen den
Zugang zu den Kreditprogrammen erleichtert bekommen (KfW-Mittel in den Konjunkturprogrammen I + II
sowie der Rettungsfonds für die Banken).
64
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
Ein vorläufiges Fazit
Nach dieser Krise, vor allem infolge deregulierter Finanzmärkte, darf nicht einfach zur
Tagesordnung übergegangen werden. Die wirtschaftsschädlichen Spieltische im Kasinokapitalismus müssen geschlossen, das Wirtschaftssystem muss sozial und ökologisch
gestaltet werden. Wer jetzt darauf spekuliert,
nach der Überwindung der Krise mit extrem
hohen steuerfinanzierten Staatsausgaben wieder in das alte Wirtschaftssystem zurückzukehren, der setzt auf die nächste, dann noch
tiefere Krise. Ein ›Capitalism reloaded‹ würde
die alten Probleme potenzieren und neue
Herausforderungen nicht bewältigen. In der
Tat, jede Krise bietet Chancen. Diese jedoch
auch konstruktiv zu nutzen, verlangt die
Revitalisierung einer gestaltenden Politik des
Wirtschaftens unter gesamtwirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Maßgaben. Dazu
gehört auch der Abbau von Marktmacht-Konzentrationen zugunsten eines funktionsfähigen
Wettbewerbs. Bei der Suche nach dem Ordnungskonzept hilft die Botschaft, die John
Maynard Keynes in der letzten Weltwirtschaftskrise formuliert hat: Bei den Regulierungen
sowie der öffentlichen Investitionspolitik geht
es nicht um die Etablierung eines ›autoritären
Staatssystems‹.17 Vielmehr richten sich die
Spielregeln gegen die selbstzerstörerischen
Kräfte entfesselter Märkte.
Es geht nicht um die Abschaffung des ›freien
Spiels der wirtschaftlichen Kräfte‹, sondern
darum, die ›Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren‹. Allerdings wäre ein ›Ersatzkapitalismus‹,
den Joseph Stiglitz in den USA durch Obamas
Art der Bankenrettung im Entstehen sieht,
nicht die richtige Antwort.18 Der Staat darf
nicht als Reparaturbetrieb im Dauereinsatz
missbraucht werden. Vielmehr ist das Leitbild
eines unter sozialen und ökologischen Zielen
regulierten Kapitalismus in einer globalisierten
Weltwirtschaft zu erarbeiten. Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft, die sich mit
ihrer Theorie dominanter Marktliberalisierung
unter Verzicht auf eine gesamtwirtschaftliche
Steuerung blamiert hat, sollte jetzt die Chance
nutzen und an dem Ordnungsmodell eines
modernen, regulierten Kapitalismus mit enormem Forschungsinput mitarbeiten.
17 Vgl. Keynes, John Maynard: a.a.O., S. 321.
18 Vgl. Stiglitz, Joseph: Obamas Ersatzkapitalismus –
Wie die amerikanischen Steuerzahler draufzahlen werden.
In: Frankfurter Rundschau vom 8.4.2009, S. 29.

Documentos relacionados