TAZ_06062010_Das Ende der Talfahrt - Deutsch

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TAZ_06062010_Das Ende der Talfahrt - Deutsch
06.09.2010
SPAREN IN ESTLAND
Das Ende der Talfahrt
Die Krise hatte das Land voll erwischt. Alle haben ohne Murren
gespart. Nun feiert das Land den neuen Aufschwung. Doch nicht
alle Bürger profitieren von ihm.
VON RENATE ZÖLLER
Talinn, die Perle des Baltikums: Für manche Esten kein Ort, den sie sich leisten
können.
Foto: rtr
TALINN taz | "Müüa" heißt sie auf Estnisch, die bittere Rache für ein
fröhliches Leben auf Pump in Zeiten des Aufschwungs. "Müüa" - "zu
verkaufen" - ist eines der wenigen Worte, die sich auch weniger
sprachbegabte Ausländer in Estland schnell merken können: Ob im
Strandbad Pärnu, in der Tallinner Altstadt oder in den
Fischerdörfchen bei Käsmu, überall kann der aufmerksame
Beobachter die Schilder entdecken. Und überall erzählt man
Geschichten von den Optimisten, die hohe Kredite aufgenommen
haben und sie jetzt nicht mehr zurückzahlen können. "Vertrauen"
wurde noch 2008 ganz groß geschrieben, ohne Bonitätsprüfung
konnte man Kredite aufnehmen, bis zu 10.000 Kronen (640 Euro)
einfach per SMS. Dann steckte das 1,3-Millionen-Volk plötzlich tief in
der Wirtschaftskrise und viele Menschen verloren nicht nur ihre
Arbeit, sondern auch Haus und Hof.
Nun propagieren Regierung und Banken erneut den Aufschwung.
Die Menschen im Lande sollten endlich wieder optimistischer sein,
forderte Präsident Toomas Hendrik Ilves am 20. August, dem Tag
der Unabhängigkeit. Die Krise in Estland sei vorbei!
Die Nerven behalten
ESTLANDS WIRTSCHAFT
Wirtschaftskraft: Estland hat lange
zu den Ländern Europas mit dem
höchsten Wachstum gezählt. Noch
im Jahr 2006 verzeichnete es ein
Wirtschaftswachstum von 10
Prozent - im Jahr 2009 waren es
dramatische minus 14,1 Prozent.
Toomas Metsis, Dolmetscher
und Reisebegleiter, wirkt an sich
nicht gerade wie ein Optimist. Er
hat Bedenken, dass es regnen
könnte, dass das Gepäck der
Reisegruppe verloren gehen
könnte. Doch diesmal kann sich
der 50-Jährige auf dem Deck des
Ähnliches gilt für das
Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im
Zeitraum von 2000 bis 2007 ist es
um durchschnittlich über 8 Prozent
pro Jahr gestiegen. Dann sank das
BIP von 16,1 Prozent im Jahr 2008
auf 13,7 im Jahr 2009. Im Laufe des
Jahres 2009 hat sich die Talfahrt des
BIP jedoch verlangsamt und ist im
vierten Quartal im Vergleich zum
Vorquartal bereits wieder leicht
gewachsen. Aktuell wird ein
Wachstum von 0,9 Prozent für das
Jahr 2010 vorausgesagt.
Schulden: Estland hat die Krise
deutlich besser überwunden als
seine beiden baltischen Nachbarn,
da es in den "guten Jahren"
Reserven aufgebaut und nicht zu
sehr der Versuchung nachgegeben
hat, im Aufschwung alles
Erwirtschaftete gleich wieder
auszugeben. Das, gepaart mit einem
drastischen Sparkurs, hat dem Land
sehr geholfen. Die niedrige
Staatsverschuldung von 9,6 Prozent
kann für das restliche Europa als
vorbildlich gelten.
Preise: Die Inflation lag 2008
besonders hoch, bei 10,6 Prozent.
Im Jahr 2009 sank sie auf minus 0,2
Prozent, 2010 wird sie
voraussichtlich 1,3 Prozent
betragen.
Arbeitslosenrate: Die
Arbeitslosenzahl ist in den
vergangenen Jahren stetig
gewachsen, von 5,5 Prozent im Jahr
2008 über 13,8 Prozent im Jahr
2009 auf voraussichtliche 15,8
Prozent im laufenden Jahr.
Besonders betroffen sind junge
Leute mit geringer Qualifikation.
Sparmaßnahmen: Schon vor der
Krise hatte der estnische Staat die
Ausgaben möglichst knapp gehalten,
die bürokratischen Strukturen
verschlankt und die eingesparten
Mittel als Rücklagen genutzt. Als die
Wirtschaftskrise ausbrach, ging es
radikal ans Sparen. Der
Staatshaushalt wurde massiv
gekürzt, die Löhne sanken im Schnitt
um zehn Prozent, und auch viele
Gesundheits- und Sozialleistungen
wurden gestrichen. (rz)
Schnellboots zur Insel Naissaar
behaglich zurücklehnen. Nicht
nur, weil die Reisegruppe, die er
heute begleitet, doch noch
rechtzeitig die Fähre erwischt
hat. Vor allem auch, weil diese
Reisegruppe ein weiterer Beweis
dafür ist, dass er alles richtig
gemacht hat.
Noch im Frühjahr dieses Jahres
hatte Toomas große Geldsorgen.
Schon seit 2006 bekam der
Freiberufler immer weniger
Aufträge von der EU, ab
November 2009 blieben sie ganz
aus. Eine Zeit lang reichte das
angesparte Geldpolster, dann
wurde es eng. Freunde rieten
ihm, wieder Lehrer zu werden.
Doch Toomas beschloss, ruhig
zu bleiben, die Ausgaben auf das
Nötigste zu reduzieren. "Ich habe
schon ganz andere Krisen
erlebt", sagt er stolz. Er hat die
Flaute der letzten Monate
ausgesessen. Parallel bemühte
er sich um neue Auftraggeber.
Heute übersetzt er für
Wirtschaftsunternehmen und
Reisegruppen: "Ich kann mich
vor lauter Arbeit kaum retten."
Toomas sieht der Zukunft
gelassen entgegen, ganz wie
Präsident Ilves es wünscht. "Ich
bekomme zwar insgesamt
weniger Geld, aber ich spare ja
dadurch, dass ich keine Zeit
habe, etwas auszugeben", sagt
er breit lächelnd.
Radikal sparen, das war auch die
Strategie der Regierung, als die
Wirtschaftskrise ausbrach. Der
Staatshaushalt wurde massiv
gekürzt, die Löhne sanken im
Schnitt um zehn Prozent und
viele Gesundheits- und
Sozialleistungen wurden
gestrichen. "Solche extremen Maßnahmen wären in vielen
westeuropäischen Staaten nur schwer durchzusetzen gewesen",
vermutet Alexander Welscher von der Deutsch-Baltischen
Handelskammer (AHK): "Die Esten aber haben alles still mitgemacht
und sich gesund gespart - und sind nun fit für den Euro."
Auch Maia Smoslova hielt zunächst still, als ihr Arbeitgeber
versuchte, sein Restaurant mit drastischen Kürzungen vor der
Schließung zu bewahren. Die Köchin zahlt immer noch den Dispo-
Kredit zurück, den sie aufnehmen musste. Sie denkt nicht gerne an
das Frühjahr 2010. Während ihres Urlaubs im März kam die
Nachricht, dass sie und ihre Kollegen in diesem Monat das Gehalt
nicht ausgezahlt bekämen. Aus einem Monat wurden drei. Zuerst
überzog Maia ihr Konto, solange es ging. Als der Dispo ausgeschöpft
war, verkaufte sie ihr Fahrrad. Am Ende zahlte sie einen Monat lang
keine Miete und Nebenkosten. Zum Glück ging dann wieder Geld ein
- aber monatlich 30 Prozent weniger als bisher.
Maia hat seither enorm sparen müssen und zahlt Schritt für Schritt
ihre Schulden ab. Langsam wird die Summe überschaubar: "Es ist zu
spüren, dass es uns besser geht: Meine Freunde und ich treffen uns
ab und zu wieder in Cafés." Von Aufschwung würde sie allerdings
noch nicht sprechen, denn davon komme bei den Arbeitnehmern
bisher nichts an: "Ich sehe uns eher am Ende der Talfahrt."
Das Vertrauen verloren
Das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber ist für Maia seither nachhaltig
gestört. "Ich fühle mich betrogen", sagt sie. "Wenn sie mich
wenigstens vorher gewarnt hätten. Dann hätte ich nicht mein ganzes
Urlaubsgeld verprasst." Maia fing daher sofort an, sich nach einem
neuen Job umzusehen. Und tatsächlich bekam sie vor wenigen
Tagen das Angebot, in einem anderen Restaurant Küchenchefin zu
werden.
"Wenn man seinen Job richtig gut macht, dann kann man immer
auch neue Arbeit finden", glaubt die resolute 33-Jährige. Die
Statistiken scheinen ihr Recht zu geben. "Rund 75 Prozent aller
Arbeitslosen sind weniger als ein Jahr lang ohne Arbeit", sagt
Alexander Welscher. Die Postimees, eine der wichtigsten
Tageszeitungen in Estland, veröffentlicht jedes Wochenende auf der
Titelseite die Zahlen: Oben rechts die aktuelle Arbeitslosenquote in
Schwarz und unten in Blau, um wie viele Personen diese Zahl in der
vergangenen Woche geschrumpft ist. Am 22. August waren 73.873
Menschen arbeitslos, 838 hatten einen neuen Job gefunden.
Doch nicht alle haben die Kraft und die Chance, sich neu zu
orientieren. Anna Raud, 52 Jahre alt und von starker Neurodermitis
geplagt, kann nicht mehr so richtig an einen Neuanfang glauben.
Schüchtern blickt sie sich im Café in der Tallinner Innenstadt um,
schon lange ist dieses Pflaster hier für sie viel zu teuer. Früher
arbeitete Anna bei einer deutschen Firma. Anfang August 2008 kam
sie von einer Geschäftsreise zurück und fand die Kündigung auf
ihrem Schreibtisch - rückwirkend ab Juli. "Die angespannte Situation
ist schon vorher zu spüren gewesen. Wir wussten, es würden Leute
gehen müssen", erzählt Anna. Die Kündigung war für die
alleinerziehende Mutter trotzdem ein Schock: "Sie hat mein ganzes
Leben umgekrempelt."
Innerhalb eines Jahres stand Anna vor dem Nichts. Drei Monate lang
bekam sie die Hälfte ihres Gehalts als Arbeitslosengeld gezahlt,
weitere neun Monate 40 Prozent, dann war Schluss. Die
Neurodermitis behindert nur indirekt ihre Jobsuche, das jüngste Kind
ist schon 14. "Aus staatlicher Sicht gibt es also keinen Grund, mich
zu unterstützen", so Anna. Deshalb leben sie und ihre beiden Söhne
wieder mit Annas erwachsener Tochter Hedi und deren zweijährigem
Sohn Albert zusammen. Hedis Mann hat Selbstmord begangen. Er
arbeitete in der Baubranche, erwähnt Anna nebenbei. Der Branche
also, die in der Krise völlig kollabiert ist. Anna betreut das Kind der
jungen Witwe, dafür zahlt diese die gemeinsame Miete.
Mit ihren Problemen ist Anna unter Esten vielleicht eher eine
Ausnahme, zumal im reichen Tallinn. Für die wichtigste Minderheit im
Land, die 26 Prozent Russen, ist Arbeitslosigkeit dagegen die Regel.
In Ostestland, nahe der russischen Grenze, meint man die
Perspektivlosigkeit mit den Händen greifen zu können. Junge
Männer mit kurz rasierten Haaren und Bierflaschen in der Hand
lungern mittags auf dem Rathausplatz von Sillamäe herum. Hier sind
86 Prozent der Bevölkerung Russen. Kaum jemand spricht Estnisch,
denn kein estnischer Lehrer oder Kindergärtner verirre sich freiwillig
hierher, erklärt Museumsdirektor Aleksandr Popolitow. Aber ohne
Estnisch sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht.
Das Land verlassen
Die Textilfabrik Krenholm, Hauptarbeitgeber in Narva, hat während
der Krise 800 Arbeiter entlassen müssen. Andere Industriezweige
wie Landwirtschaft oder Bergbau, die bisher Lebensgrundlage für
viele unqualifizierte Arbeiter waren, sind ebenfalls stark betroffen.
Wohin also mit den vielen Arbeitskräften? Viele geben auf. Sergej,
der in Narva seit drei Stunden in der Autoschlange an der Grenze
nach Russland wartet, hat seinen eigenen Weg raus aus der Krise
gefunden. Noch vor zwei Jahren versuchten die Russen auf der
anderen Seite alles, um Geld im reichen Estland zu verdienen. Um
seine Familie ernähren zu können, pendelt Sergej dagegen seit
Neuestem zum Arbeiten nach St. Petersburg.