New Great Game - Universität Hamburg
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New Great Game - Universität Hamburg
Dr. Uwe Halbach, Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin "Neue Seidenstraße" und "New Great Game" – Zentralasien nach dem Zerfall der Sowjetunion Als die fünf zentralasiatischen Sowjetrepubliken 1991 als souveräne Staaten die Bühne der Weltpolitik betraten, bezeichnete ein Kommentator in der Washington Post sie als „Americas newest and least known diplomatic partners since Commodore Perry sailed into the bay of Tokyo“. Angesichts der geographischen Hauptmerkmale Zentralasiens mag dieses maritime Bild unpassend sein. Zentralasien entdeckt man nicht an Bord eines Schiffes durch Einbiegen in eine Bucht. Aber die Öffnung Japans im 19.Jahrhundert ist als Vergleich dennoch nicht ganz ungeeignet. Der Vergleichspunkt ist die Unbekanntheit des neuen diplomatischen Partners. Und die Unbekanntheit Kirgistans oder Turkmenistans war am Ende sowjetischer Zeit auch in den USA recht groß. Dabei gab es hier im Vergleich zu Europa noch eine gewisse Forschungslandschaft zu den nichtrussischen Teilen der Sowjetunion – etwa die Universität Bloomington mit ihrem Schwerpunkt auf sowjetischen Turkvölkern, die Forschungsabteilung von Radio Liberty und andere Institutionen. Bald wurde Zentralasien - als Teil eines größeren "kaspischen Raums", zu dem auch noch der Kaukasus gehört - zur geopolitischen Neuentdeckung des ersten nachsowjetischen Jahrzehnts. Was zuvor orientalische Sowjet-Peripherie war, wurde nun als Bühne eines neuen geopolitischen Kräftespiels wahrgenommen. Da wurden mit Blick auf Zentralasien geopolitische Schlagworte des 19. Jahrhunderts wiederbelebt – allen voran "Great Game", mit dem einst die Auseinandersetzung zwischen dem Britischen Empire in Indien und dem Zarenreich bezeichnet wurde. Das andere – harmlosere und sympathischere- historische Stichwort war „Seidenstraße“. Es begleitete vor allem die europäische Politik gegenüber Zentralasien und regte Projekte zur Schaffung von Ost-West-Verkehrskorridoren an, die den Zweck verfolgten, die bisherige einseitige Ausrichtung der Region auf Russland zu überwinden. 1 In der Folgezeit erhob sich bei der Darstellung regionaler Entwicklungen ein geopolitisches Getöse - ausgelöst durch Reize auf unterschiedlichen Feldern. Da war erstens die geografische Lage - grenzt doch das meeresferne Zentralasien an Weltregionen, die konfliktbeladen oder in Transformationsprozessen befindlich waren: Afghanistan, den Mittleren Osten, Süd- und Ostasien. Es wird von zwei atomaren Großmächten – Rußland und China – umrahmt. Dann hob sich Zentralasien beim Zerfall der Sowjetunion als eine Region interethnischer und politischer Konflikte hervor, die sich im Falle Tadschikistans 1991/92 zum Bürgerkrieg eskalierten – zum größten Gewaltereignis in der nachsowjetischen Entwicklung vor dem Ausbruch des Kriegs in Tschetschenien. Dazu kam die Tatsache, daß die internationale Politik in diesen einstigen kolonialen Hinterhof Rußlands seit etwa 1994 rasch vordrang. Da traten alte und neue Spieler auf, deren Interessenspiel bald als neues "Great Game" charakterisiert wurde: Rußland, China, Türkei, Iran, Pakistan, Indien und als neuer regionsferner Spieler, dem gewissermaßen der Part des Britischen Empire von einst zugeschrieben wurde, die USA. Gegenwärtig wird das Spektrum auf die Interessenlagen Rußlands, Chinas und der USA verengt. Dabei erleben wir derzeit eine Verschiebung der Einflußkoordinaten mit Geländegewinnen Rußlands und Geländeverlusten westlicher Akteure in Usbekistan. Drittens leisteten der Rohstoffreichtum und die Auseinandersetzungen um Exportkanäle für Erdgas und Erdöl aus dem kaspischen Becken der geoökonomischen Betrachtung kräftig Vorschub. Zu diesen Reizthemen kam viertens noch hinzu, daß in dieser Region auch ein Prozeß religiöser „Wiedergeburt” nach siebzig Jahren sowjetischer religionsfeindlicher Politik stattfand und Zentralasien die größte zusammenhängende Muslimregion der ehemaligen Sowjetunion bildet. Die “vergessenen Muslime”, wie Alexandre Bennigsen in den achtziger Jahren die Sowjetbürger mit islamischem Kulturhintergrund nannte, betraten die Weltpolitik zu einem Zeitpunkt, als in den westlichen Politik- und Kulturwissenschaften von der Rückkehr der Religionen die Rede war, Huntingtons These vom Kampf der Zivilisationen diskutiert wurde und sich “Islamismus” als politischer Terminus etablierte. Die erste deutsche Fernseh-und Buchproduktion über den postsowjetischen islamischen Raum trug 1992 den Titel “Den Gottlosen die Hölle”. Andere Beiträge titelten "Von Marx zu Mohammed" oder ähnlich reißerisch. Die Wahrnehmung islamischer "Wiedergeburt" bestimmte auch die 2 Erwartungen an geopolitische Entwicklungen in diesem Raum. So sah man zu Beginn der 90er Jahre die Türkei und den Iran, zwei historische Regionalmächte im Kaspischen Raum, im Kampf um die Seelen der ex-sowjetischen Muslime, die in ethnisch-linguistischer Hinsicht mit Ausnahme der iranischstämmigen Tadschiken überwiegend Turkvölker sind, und man ordnete diese Konkurrenz in das Schema "Laizismus versus Islamismus" ein. Dabei wurde aber weder die laizistische Türkei noch der theokratische Iran zum Hauptspieler in einem neuen "Great Game". Seit 1993/94 kamen die USA zunehmend ins Spiel. Sie erklärten den kaspischen Raum zu ihrer strategischen Interessenzone. In Zentralasien konzentrierten sich ihre Interessen zunächst auf die nukleare Abrüstung Kasachstans, dann auf den Zugang zu den Energieressourcen des kaspischen Beckens, gegen Ende der neunziger Jahre auf sicherheitspolitische Kooperation (Grenzschutz, Drogenbekämpfung). Die sicherheitspolitische Komponente trat nach dem 11.September 2001 und der "Operation Enduring Freedom" in Afghanistan in den Vordergrund. Rußland reagierte auf die Einrichtung amerikanischer Militärbasen in Uzbekistan und Kirgistan anfangs gelassen. Einige russische Kommentatoren sahen darin einen Sicherheitsgewinn für den postsowjetischen Raum. Seit 2002 bemüht sich Moskau aber, seinen militärischen und ökonomischen Einfluß in Zentralasien wieder auszubauen. In den letzten zwei Jahren nutzte es dabei vor allem die wachsende Frustration der lokalen Regime über westliche Kritik an Wahlfälschungen, Reformresistenz und Menschenrechtsverletzungen. Innenpolitische Ereignisse wie das Blutbad von Andižon im Mai 2005 übertrugen sich auf die "große Geopolitik", führten Uzbekistan von der strategischen Ausrichtung auf die USA weg zur Anlehnung an Rußland und China. Der Umsturz in Kirgistan im März 2005 brachte das Gespenst der "Farbrevolutionen" nach Zentralasien, das Rußland dazu benutzte, sich den verunsicherten regionalen Machteliten als politische Anlehnungsmacht zu empfehlen. So überschattet Geopolitik die eigentlichen Problemfelder. Die liegen überwiegend im Bereich endogener Entwicklung, in Handlungszonen, in denen die Regierungen der unabhängig gewordenen Staaten selbst Verantwortung tragen. 3 Wirtschaftsentwicklung und Lebensstandard In Zentralasien blickten die amtierenden Machteliten um 1991 skeptischer in eine postsowjetische Zukunft als die Führer der baltischen Republiken oder nationale Bewegungen, die "wirtschaftliche Selbstbestimmung" zu einem Kernelement ihrer Souveränitätsbehauptung erhoben. Zwar wurden alle Unionsrepubliken angesichts ihrer Verflechtung mit dem gesamtsowjetischen zentralistischen Wirtschaftssystem beim Aufbau einer selbstbestimmten Volkswirtschaft mit enormen Herausforderungen konfrontiert, aber in Zentralasien waren bestimmte Aspekte der Abhängigkeit besonders kraß ausgeprägt. So waren die Republikhaushalte hier in hohem Maße auf Subventionen aus Moskau angewiesen, die nun entfielen. Die sozialökonomische Ausgangslage beim Eintritt in die Unabhängigkeit war in Zentralasien schlechter als in den europäischen Teilen der Sowjetunion. In der Periode von Glasnost veröffentlichten sowjetische Medien erstmals Daten über den Lebensstandard in der Region, die das Vorurteil von den privilegierten "Südländern" revidierten. In allen relevanten Kennziffern des Lebensstandards rangierte Zentralasien am Ende der sowjetischen Regionalskala. Die Gesundheits-und Bildungssysteme galten zwar im Vergleich mit Pakistan oder Iran als größte Errungenschaft der sowjetischen Modernisierung, wiesen aber im innersowjetischen Regionalvergleich deutliche Defizite auf. In der nachsowjetischen Entwicklung geraten dann diese und andere Bereiche sozialer Grundsicherung durch die Verschärfung der Einkommensarmut und den massiven Sozialabbau unter gewaltigen Druck. Die meisten sowjetischen Nachfolgestaaten erlitten in den ersten Jahren ihrer Unabhängigkeit eine drastische Wirtschaftsschrumpfung, die am Stand des jeweiligen Nationalprodukts von 1991 gemessen zwischen 30 und 60 Prozent lag. Erst gegen Ende der neunziger Jahre fingen sie an, schwarze Zahlen beim Wirtschaftswachstum zu schreiben. Die Abkoppelung vom "gesamtsowjetischen Wirtschaftskomplex" und die Umstellung von der Plan-zur Marktwirtschaft war von Deindustrialisierung, Inflation und massenhafter Armut begleitet. So verzeichnete zum Beispiel Kirgistan schon im ersten Jahr der Unabhängigkeit 1992 einen Rückgang des BIP um 25%. In Tadžikistan kollabierten Wirtschaft und Verwaltung aufgrund der nun ausbrechenden Kämpfe. Das Land fiel vom unteren Rand der ehemaligen "zweiten Welt" in Armutsverhältnisse einer 4 "vierten Welt". Bei Annahme einer international üblichen Armutsgrenze wurden hier nach der Überwindung des Bürgerkriegs gegen Ende der neunziger Jahre 81% der Bevölkerung als arm eingestuft. 49% lebten von einem Einkommen von 1 US-$ pro Tag und weniger. Lediglich Uzbekistan stellte seinen ökonomischen Übergang in die Unabhängigkeit positiv dar. Günstige Wirtschaftsentwicklung wurde zum festen Bestandteil seiner Selbstdarstellung. Damit sollte eine Politik der behutsamen Reform, der graduellen, sozial schonend gestalteten Transformation untermauert werden, die auf der Bewahrung traditioneller Industriesektoren und Schutz der heimischen Märkte beruhte. Taschkent setzte dem Wirtschaftsliberalismus im Nachbarland Kirgistan ein Streben nach wirtschaftlicher Autarkie und staatlicher Kontrolle der Ökonomie entgegen. Seit 1996 geriet es damit in Konflikt mit dem Internationalen Währungsfonds und westlichen Organisationen und führte nach einer Mißernte im Baumwollsektor noch verschärfte Maßnahmen von Devisenbewirtschaftung und Handelskontrolle ein. Letztlich vergraulte die Regierung damit Teile der eigenen Bevölkerung, die vom Grenzhandel mit Nachbarländern lebten, und häufte soziales Protestpotential an. Hinter der Fassade von Stabilitätswahrung und vom Staat geschützter Wirtschaftsentwicklung bildete sich eine brisante Mischung aus sozialökonomischer Stagnation und politischer Repression heraus. Wiederholt mußte Taschkent die Angabe seiner Wirtschaftsdaten nach unten korrigieren. In Hinsicht auf Reformverzögerung wurde es nur noch von Turkmenistan übertroffen, das negative Konsequenzen dieser Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung durch eine von hohen Rohstoffeinkommen gedeckte soziale Subventionspolitik zu verschleiern versuchte. Als einziges Land der Region und eines der wenigen im GUS-Raum konnte sich Kazachstan von der postsowjetischen Wirtschaftskontraktion erholen. Die Ölexporte aus Kazachstan haben sich zwischen 1996 und 2004 verfünffacht und wurden zur Haupteinkommensquelle des Landes. Doch neben dem energy honeymoon wirkten sich auch Reformen aus, z.B. der als vorbildhaft gelobte Aufbau des Bankensektors. Die Kombination von Rohstoffreichtum, Wirtschaftsreformen, relativer politischer Stabilität und Öffnung nach außen machte das Land zum Magneten für ausländische Investitionen in der Region, die 5 insgesamt in weltwirtschaftlicher Marginalität verharrt. Der breiteren Bevölkerung hat sich das anhaltende Wirtschaftswachstum erst ansatzweise mitgeteilt. Zwar ist die Armutsquote geringer als in den Nachbarstaaten, aber Armutsbekämpfung vor allem im ländlichen Bevölkerungssektor bleibt auch im ölreichen Kazachstan eine entwicklungspolitische Herausforderung. Die soziale Polarisierung und die Kluft auf regionaler Ebene zwischen aufstrebenden Ölprovinzen und zurückgebliebenen Regionen wachsen. Kazachstan brachte bereits am Ende der sowjetischen Periode den Energiesektor als das international am meisten beachtete Wirtschaftsthema Zentralasiens ins Spiel. Verhandlungen zwischen sowjetischen Behörden und einem westlichen Wirtschaftsakteur, der amerikanischen Chevron, zur Erschließung des TengizFeldes am Nordostufer des Kaspischen Meeres begannen bereits 1988. Sie führten 1993 zum ersten Abschluß eines Großprojekts mit westlichen Investoren in Zentralasien. Damals war Tengiz das größte noch unerschlossene Ölfeld der Welt. Später folgten andere Superfelder wie Kažagan. Der Boden Kazachstans birgt im Schelf des Kaspischen Meeres und im angrenzenden Festland die reichsten Vorkommen an Kohlenwasserstoffen im kaspischen Raum. Beim Ölvorkommen stehen Turkmenistan und Uzbekistan deutlich hinter Kazachstan zurück, beim Gasvorkommen liegt Turkmenistan vor Uzbekistan und Kazachstan. Insgesamt beträgt der Anteil Zentralasiens und Azerbajdžans beim Öl rund 5 Prozent der Weltreserven, beim Erdgas etwas mehr als 4%. Das macht aus der Region zwar längst nicht den "Golf des 21.Jahrhunderts", wie es in völlig übertriebenen Meldungen über den kaspischen Rohstoffreichtum hieß, aber doch ein relevante Quelle für die Diversifizierung von Energie-Exportmärkten. Das Fehlen verläßlicher Rechtsstrukturen, der ungeklärte Rechtsstatus des Kaspischen Meeres und die unvollkommene Infrastruktur für den Export begrenzen allerdings die Wettbewerbsfähigkeit der kaspischen Exporteure im globalisierten Energiemarkt. Auch ihre Fähigkeit, ihre Ressourcen für ein breites, über den Energiesektor hinaus reichendes Wirtschaftswachstum und für den Wohlstand breiterer Bevölkerungsteile einzusetzen, ist begrenzt. Dem Bild vom unermeßlich reichen Zentralasien, das oft durch die Presse geistert, sei entgegen gehalten, daß derzeit alle fünf –Stans zusammen etwas mehr als die Hälfte vom 6 Bruttoinlandsprodukt Polens erwirtschaften und davon mehr als die Hälfte allein auf Kasachstan entfällt. Territorialfragen und Grenzprobleme Kurz vor Auflösung der Sowjetunion registrierte man in Moskau 165 Fälle innersowjetischer Territorialdispute. Mehr als dreißig der damals registrierten potentiellen Konfliktpunkte lagen in Zentralasien. Dennoch gehörte das nachsowjetische Zentralasien nicht zu den Regionen, in denen sich nach dem Zerfall eines multinationalen Imperiums massive Konflikte um postkoloniale Grenzen entfalteten. Hier unterschied es sich von der kaukasischen Region, die durch Sezessionskonflikte erschüttert wurde. Gleichwohl hat die Tatsache, daß innersowjetische Verwaltungsgrenzen zu neuen Staatsgrenzen wurden, auch hier Probleme aufgeworfen. Besonders im Ferghana-Tal, wo sich Grenzen von drei neuen Staaten ineinander verwirren, wirken sich diese Probleme aus. Dieses Länderdreieck zwischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan wurde zur kritischsten Subregion Zentralasiens. Die heutigen Staatsgrenzen wurden in der "nationalen Abgrenzung" festgelegt, mit der die Sowjetmacht 1924 Zentralasien in Unionsrepubliken und nachgeordnete autonome Gebietskörperschaften aufteilte. In der Folgezeit – vor allem bis 1936 - wurde der Status dieser nationalen Gebietseinheiten wieder geändert und Grenzabschnitte neu gezogen. So berufen sich heute nationalistische Kräfte in den Republiken auf widersprüchliche Grenzdokumente, um Territorialansprüche gegenüber Nachbarstaaten zu rechtfertigen. Auch wenn solcher Revisionismus nicht zur Regierungspolitik geworden ist, werden Grenzfragen in der Praxis doch zu einem Problem. Regierungen schreiten zu einseitigen grenzpolitischen Maßnahmen, die Rücksicht auf ihre Nachbarn vermissen lassen und dem Gebot regionaler Kooperation Hohn sprechen. Dieser Vorwurf hat besonders Uzbekistan getroffen, das an alle übrigen zentralasiatischen Staaten grenzt und das regionale Kernland darstellt. Es hat seit 1999 Grenzabschnitte zu Tadžikistan und Kirgistan vermint, ohne die Regierungen der Nachbarn ins Benehmen zu ziehen. Die nicht kooperative Grenzpolitik wird durch Migration illegal bewaffneter Gruppen und durch den von Afghanistan ausgehenden Drogentransit über den GUS-Raum verschärft. Da wächst ein Dilemma zwischen Grenzsicherheit und - offenheit. Beides ist in hohem 7 Maße erforderlich: Die Grenzen müssen gesichert sein – angesichts neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen. Sie können aber in einer Region, in der die Bevölkerung auf grenzüberschreitende Kommunikation und auf Handel wie im Ferghana-Tal in hohem Maße angewiesen ist, nicht einfach geschlossen und vermint werden. Kulturelle, nationale und religiöse "Wiedergeburt" und ihre Politisierung Beim Zerfall der Sowjetunion ertönte in verschiedenen Nationalsprachen das Schlagwort "Wiedergeburt". Es wurde zur Namensgrundlage für nationale Volksfronten und informelle Bewegungen von Estland ("Rahvarinne") bis Tadžikistan ("Rastochez"). Mit seinen kulturellen und religiösen Konnotationen appellierte es an ein von der Sowjetmacht angeblich oder tatsächlich unterdrücktes "nationales Erbe". In Zentralasien war die Rückbesinnung auf das "Erbe der Ahnen" aber bereits in der sowjetischen Periode nach Stalin im Gange. Seit den sechziger Jahren erschien hier "miros" (Erbe) als Stichwort in Literatur und Publizistik und gab einer kulturellen Strömung den Namen (Mirasismus). Es war in dieser Region ein schillernder Begriff, der auf unterschiedliche Identifikationsmuster abzielte. Schriftsteller wie der Kirgise Ajtmatov überschritten bei ihren Exkursen in traditionelle Lebenswelten ihrer Landsleute die Grenzen der Unionsrepubliken. Doch vieles, was sich an Geschichtsbesinnung vollzog, folgte der "nationalen Abgrenzung" Zentralasiens und bewegte sich mithin in einem Muster, das die Sowjetmacht der Region vorgegeben hatte. In der nachsowjetischen Entwicklung verstärkte sich die "nationale Abgrenzung" noch, waren doch die innersowjetischen Grenzlinien nun zu realen Staatsgrenzen geworden. In allen Staaten wurde eifrig an der Deutung der jeweils eigenen – uzbekischen, turkmenischen usw. - Geschichte gearbeitet. Als Instrument der Nationsbildung, besser gesagt der Ethnisierung von Eigenstaatlichkeit, erschien diese Geschichtspolitik auf der zwischenstaatlichen Ebene als Konfliktquelle. Da wurde die Vergangenheit nationalstaatlich okkupiert, wurden mittelasiatische Kultursymbole ethnisch vereinnahmt. Dabei gingen zum Beispiel uzbekische und tadžikische Geschichtsrekonstruktionen auf Kollisionskurs. 8 Der religiöse Aspekt von "Wiedergeburt" unterlag auf noch riskantere Weise einer Politisierung. Zum einen, weil sich unter verschiedenen Varianten "islamischer Wiedergeburt" auch politische, im Extremfall militant-islamistische Bewegungen herausbildeten. Zum anderen weil die aus sowjetischer Zeit stammenden, dem Säkularismus verpflichteten Machteliten sich mit der Unterscheidung zwischen observanten Muslimen, politisch aktiven Islamisten und gewaltorientierten Glaubenskämpfern schwer taten und ein Feinbild des religiösen Extremismus über ein heterogenes Spektrum regimekritischer Kräfte stülpten. Daraus erwuchs ein Wechselspiel, das besonders in Uzbekistan die Konfrontation zwischen einem zunehmend repressiven Regime und religiös orientierten Oppositionskräften verschärfte. Zum Zusammenstoß zwischen dem nachsowjetischen Staat und islamistischen Kräften kam es im uzbekischen Teil des Ferghana-Tals bereits 1991-92. Im tadžikischen Bürgerkrieg 1992-1996 trat politischer Islam als eine Hauptkonfliktpartei auf. Seit Mitte der neunziger Jahre entfaltete dann die global agierende Bewegung Hizb-ut-Tahrir Propagandatätigkeit gegen die "gottlosen" postsowjetischen Regierungen und für ein transnationales Kalifat. Sie tritt zwar gewaltlos, aber so konspirativ und regimefeindlich auf, daß sie nicht nur in Uzbekistan ein politisches Feindbild für die Regierungen abgibt. Als Gewaltakteur trat die Islamische Bewegung Uzbekistans 1999 in Erscheinung. Sie stand mit islamistischen Netzwerken in Afghanistan in Verbindung. Dennoch kann von regionsweiten islamistischen Massenbewegungen in Zentralasien, wo sich Islam schon immer regional in sehr unterschiedlicher Weise manifestiert hat, kaum die Rede sein. Aber es wächst Konfliktpotential zwischen staatlichen Organen und der offiziellen Geistlichkeit auf der einen Seite und religiös argumentierenden Oppositionskräften, die an prekären politischen und sozialökonomischen Verhältnissen Anstoß nehmen und damit ihren Nachwuchs rekrutieren, auf der anderen. Ökologische Katastrophenzonen Die Sowjetmacht hatte Zentralasien mit enormen ökologischen Problemen belastet, indem sie die südlichen Teile der Region als Baumwoll-Kolonie und die Steppenregionen Kazachstans als Testgelände für ihre Hochrüstung mit atomaren und biologischen Waffen mißbrauchte. Als zentrales Symbol für die Umweltsünden in der Region fungiert der Aralsee. Das einst viertgrößte Binnengewässer der Erde mit einer Fläche so groß wie 9 Bayern schrumpfte seit Beginn der sechziger Jahre bis heute auf ein Zehntel seiner ursprünglichen Wassermenge und ein Viertel seiner Oberfläche. Das restliche Seegelände ist inzwischen in eine nördliche und südliche Hälfte geteilt. Das Seebett verwandelte sich in eine Wüste, von der aus toxische Salzmengen aufgewirbelt und weithin ausgetragen werden. Die damit verbundene ökologische Krise betrifft das gesamte Aralbecken, die Einzugsgebiete der Flüsse Syr-Darja und Amu-Darja, eine Region, die neben den direkten Anliegern des Sees weitere Teile Zentralasiens, Irans und Afghanistans umfaßt. Das Epizentrum der Krise bildet die Umgebung des Sees mit der autonomen Republik Karakalpakstan und der Provinz Choresm im Westen Uzbekistans und der Provinz Dašchovuz im Norden Turkmenistans. Diese Zone mit einer Bevölkerung von rd. vier Millionen Menschen wurde 1992 zum Welt-Katastrophengebiet erklärt. Hier verdichten sich die ökologischen, medizinischen und demographischen Symptome der Aral-Krise mit den höchsten Raten von Kindersterblichkeit, einer signifikanten Häufung umweltbedingter Krankheiten, einem existenzbedrohenden Mangel an Trinkwasser. Zur Eindämmung der Krise schlossen die fünf – Stans 1993 ein "AralAbkommen", verpflichteten sich zur Zusammenarbeit für eine umweltfreundliche und nachhaltige Nutzung der begrenzten Wasserressourcen und gründeten zur Umsetzung solcher Absichten und Programme einen "Internationalen Fonds zur Rettung des Aral-Sees". Doch zwischenstaatliche Kooperation blieb nicht nur auf dem Feld von Ökologie und Ökonomie ein gravierendes Problem der nachsowjetischen Entwicklung in Zentralasien. Auch die internationalen Hilfsmaßnahmen, die seit 1992 zur Rettung des Aral einsetzten, konnten beim Kampf gegen Wüstung und der Entwicklung von Strategien für ein besseres Wassermanagement nicht zur spürbaren Verbesserung der Situation führen. Die strukturellen Bedingungen, die zur Aral-Krise geführt haben, blieben erhalten. Eine der Hauptursachen für die zentralasiatische Boden-und Wasserkrise war die maßlose Ausweitung der Baumwollwirtschaft seit den sechziger Jahren und die damit verbundene Überbeanspruchung der regionalen Bewässerungssysteme. Einer vom Baumwollanbau wegführenden Umstrukturierung der Landwirtschaft waren in der nachsowjetischen Entwicklung enge Grenzen gesetzt. In Uzbekistan, Turkmenistan und Tadžikistan 10 spielt die Baumwollwirtschaft weiterhin ihre prekäre Rolle im WirtschaftsGesellschafts- und Machtgefüge. Eine Studie von 2005 stellt in Hinsicht auf die politischen Rahmenbedingungen fest: "Die drei wichtigsten Baumwolle produzierenden Republiken haben zwar unterschiedliche politische Systeme, aber in allen dreien existiert für die Farmer so gut wie kein Freiraum für die Verteidigung ihrer Rechte gegenüber Wirtschaftseliten, die nicht nur den Baumwollsektor kontrollieren, sondern die Staatsorgane einschließlich des Rechtsschutzsektors und des Justizwesens." So bleibt die Umweltkrise Zentralasiens in den wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen verankert, und die bieten für marktwirtschaftlich-rechtsstaatliche Transformation besonders im landwirtschaftlichen Sektor wenig Spielraum. Regionale Kooperation und Integration In kaum einer anderen Region ist die Notwendigkeit für zwischenstaatliche Kooperation größer als in Zentralasien. Die fünf neuen Staaten sind durch gemeinsame Geschichte, Infrastruktur, Wirtschaft, Geographie und Ökologie miteinander verbunden. Schon allein die Probleme der Wasser-und Landnutzung in einer hochgradig von Bewässerung abhängigen Zone macht die Kooperation zwischen ihnen nach dem Zerfall der zentralen Regelungsmechanismen aus sowjetischer Zeit dringend notwendig. Was regionale Organisationen und zwischenstaatliche Kooperation betrifft, ist das Bild in Zentralasien verwirrend. Die neuen Staaten nehmen an einer Vielzahl von Organisationen teil. Dazu gehören Kooperations- und Integrationsformate, in denen die Staaten mit Rußland und anderen sowjetischen Nachfolgestaaten interagieren, wie die Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags, die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (Rußland, Belarus, Kazachstan, Kirgistan, Tadschikistan), der Gemeinsame Wirtschaftsraum (Rußland, Kazachstan, Ukraine, Belarus). Andere Regionalorganisationen überschreiten den GUS-Raum, beziehen Drittländer ein wie die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Rußland, China und zentralasiatische Staaten). In einigen der genannten Organisationen werden vordringlich Sicherheitsfragen (Anti-Terrorismus) behandelt, in anderen Wirtschaftskooperation (Zollunion, Freihandelszone u.a.). Eine strikte Trennung dieser Kooperationsbereiche gibt es aber nicht. Bis vor kurzem existierte eine auf die Region beschränkte Organisation für Zentralasiatische Kooperation. Ihr Werdegang ist bezeichnend für regionale 11 Kooperation im postsowjetischen Raum. Sie ging aus einer Zentralasiatischen Union hervor, die 1994 zwischen Uzbekistan, Kazachstan und Kirgistan geschlossen wurde. 1998 trat Tadžikistan nach Beendigung seiner Kämpfe bei. 2004 trat dann Rußland bei. Kurz darauf wurde die Verschmelzung dieser Organisation mit der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft beschlossen, was auf ihre Auflösung in dieser größeren Einheit hinausläuft. Dieser Werdegang steht für ein Experimentieren mit wechselnden Formaten, Umbenennungen, Statusveränderungen, für ein Integrationstheater mit immer neuen Aufführungen, hinter dem reale Kooperation zurückbleibt. Die zwischenstaatlichen Beziehungen sind eher von Rivalität (Uzbekistan-Kazachstan) als von Kooperation geprägt. Wachsende Bedeutung erlangt in letzter Zeit die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, an der mit Rußland und China zwei bedeutende externe Akteure in Zentralasien teilnehmen. Sie ging aus einem Grenzregelungs-und Vertrauensbildungsprozeß zwischen China und seiner exsowjetischen Nachbarschaft hervor und wurde 2001 in eine formelle Regionalorganisation umgewandelt, die Drittstaaten wie Iran, Pakistan, Indien und der Mongolei offensteht. Wenn die Schanghaier auch betonen, ihre Tätigkeit nicht gegen Drittmächte auszurichten, erlangte die Organisation zuletzt doch durch Ambitionen Aufmerksamkeit, die sich gegen die seit 2001 bestehende Militärpräsenz der USA in der Region richten. Dabei ist unklar, ob das Verhältnis zwischen Rußland und China langfristig eher von Kooperation oder Rivalität bestimmt sein wird. Jedenfalls liegt diese Organisation an einer Schnittstelle zwischen regionaler Kooperation und großer Geopolitik, zwischen „Seidenstraße“ und „Great Game“. Politische Transformation? Eine Besonderheit Zentralasiens im postsowjetischen Raum war die Kontinuität präsidialer Regime, die sich hier am Ende der sowjetischen Periode formiert hatten. Sie wurde im März 2005 mit der Entmachtung des seit 15 Jahren amtierenden kirgisischen Präsidenten Akaev unterbrochen. Was hatte sich in diesen 15 Jahren an Transformation im nachsowjetischen Zentralasien vollzogen? Da wurde zu Beginn der Unabhängigkeit die Umwandlung von kommunistischer Parteiherrschaft in eine offene Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Strukturen in Aussicht gestellt – in einer Region, die noch weniger als andere Regionen der 12 Sowjetunion über historische Erfahrung mit demokratischer Staatlichkeit verfügte. Da sollte von der Planwirtschaft auf marktwirtschaftliche Strukturen umgestellt werden – unter Bedingungen einer gravierenden Wirtschaftsschrumpfung beim Eintritt in die Eigenstaatlichkeit. Da war moderne Nationsbildung angesagt – in einem polyethnischen Raum, der erst einige Jahrzehnte zuvor von sowjetischen Kommissionen in nationale Gebietseinheiten aufgeteilt worden war. Im Rückblick erscheint das in der Transformationstheorie formulierte "Dilemma der Gleichzeitigkeit" besonders in bezug auf Zentralasien als krasse Überforderung. Es bildeten sich politische Systeme heraus, in denen sich vorsowjetische, sowjetische und nachsowjetische Herrschaftsmuster mischten. Ein westlicher Kommentar brachte diesen Entwicklungspfad 1997 in einem Aufsatztitel auf den Punkt: „From Khan to Comrade back to Khan“. Allerdings verpflichteten sich die nachsowjetischen Herrscher gegenüber internationalen Organisationen zu Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit. Sie staffierten ihre Herrschaft mit entsprechenden Attributen aus – mit Parlamenten, neuen Verfassungen, teilweise auch mit einem gewissen Parteienpluralismus. Selbst in Turkmenistan, wo 1992 am frühesten eine nachsowjetische Verfassung verabschiedet wurde, ging diese in der Präambel und in einzelnen Artikeln auf individuelle Bürgerrechte ein. Die nachsowjetische Verfassung Usbekistans spricht in mehr als einem Viertel ihrer Paragraphen von Bürger-und Menschenrechten. Gerade in diesen beiden Staaten wurde aber in der nachsowjetischen Entwicklung der gesamte politische Raum von der Person des Präsidenten ausgefüllt. Beide wurden für internationale Menschenrechtsorganisationen zu den größten Sorgenkindern im postsowjetischen Raum. Der stark personalisierte Staat gerierte sich hier im angeblichen Dienst an der Stabilitätswahrung in einer prekären Übergangsperiode zunehmend repressiv. Stabilität kann er damit letztlich nicht gewährleisten. Das zeigt sich in Uzbekistan in letzter Zeit durch die Häufung von Protestaktionen. Das Regime schreibt sie stereotyp "extern gesteuerten islamistischen Kräften" zu, kann aber die endogenen politischen und sozialökonomischen Ursachen kaum noch verleugnen. Auch im übrigen Zentralasien hat sich die zu Beginn der Eigenstaatlichkeit in Aussicht gestellte "demokratische Transformation" nicht vollzogen. Was die westliche Politikwissenschaft als Minimalbedingungen von Demokratie definiert – 13 Meinungsfreiheit, Assoziationsfreiheit, Pluralismus von Informationsquellen, freie und faire Wahlen, Institutionen, die Regierungspolitik von Wählerstimmen und anderen Ausdrucksformen der Bürgerpräferenzen abhängig machen – hat sich in den fünf Staaten unterschiedlich, bestenfalls ansatzweise, aber nirgendwo im Vollbild entfaltet. Die zentralasiatische Präsidialautokratie warnt vor „chaotischem Pluralismus“ und stellt als Alternative zu sich selbst vor allem die „islamistische Herrschaftsvariante“ dar. Sie steht aber nicht für gefestigte Staatlichkeit. Sie weist einen erheblichen Mangel an Institutionenbildung auf. Personalismus, Klientelismus, regionaler Faktionalismus prägen die Politik sowohl auf der Regimeseite als auch bei der Oppositionsbildung. 14