Zur Einführung Inhalt

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SPIELZEIT 08/09
Zur Einführung
TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN
Zwei Akte und ein Requiem von Arthur Miller
Premiere 20.11.2008 im Großen Haus
Zusammengestellt von
Michael Sommer
Dramaturgie Schauspiel
Tel. 0731/161 44 02
[email protected]
Inhalt
Vorweg..........................................................................................................2
Ein Abend im Hause Loman.........................................................................2
Biographische Wurzeln.................................................................................3
Ein Theater der Träume.............................................................................13
Die Ulmer Fassung.....................................................................................17
Bibliographie / Literaturhinweise..............................................................22
Abbildungsnachweis..................................................................................24
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michael sommer • zur einführung: tod eines handlungsreisenden • theater ulm • 2008/2009
Vorweg...
Unser moderner Klassiker im diesjährigen Spielplan, Arthur Millers TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN ist einzigartig in seiner Aktualität: Obwohl das Stück vor sechzig Jahren geschrieben wurde, fällt es uns nicht schwer, uns vorzustellen, dass die
Geschichte um den Selbstmord des Handlungsreisenden Willy Loman auch heute in
der Zeitung stehen könnte - mit eben der lakonischen Überschrift, die Miller als Titel
wählt. Seit dem endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus vor achtzehn Jahren, der die Ausbreitung des Kapitalismus als alleinseligmachender Doktrin über den
gesamten Globus einläutete, hat dieses Drama um einen Mann, der an der Ideologie
des Kapitalismus - der unbedingten Hoffnung - scheitert, Gültigkeit für den größten
Teil der Menschheit. Willys tragischer Fehler ist, dass er sich nicht außerhalb des Systems denken kann, dessen Normen und Werte er völlig in seine Identität integriert hat.
Können wir es? Mehr denn je fehlen große alternative Visionen zum Dogma von Konsum und Erfolg. Wohin es führt, diesen Weg blind zu beschreiten, zeigt das Schicksal
von Willy Loman. Im Folgenden einige Gedanken zur Funktionsweise des Stücks und
einige Informationen zu seiner Entstehung.
Michael Sommer
Oktober 2008
Ein Abend im Hause Loman
Es ist ein ungewöhnlicher Abend im Hause Loman: beide Söhne sind wieder zu Besuch. Happy, der jüngere, wohnt zwar in der Stadt, lebt sein Leben zwischen Arbeitsstelle und wechselnden Damenbekanntschaften jedoch ziemlich unabhängig von den
Eltern. Biff, der ältere, arbeitet mal hier, mal dort, hat weder festen Wohnsitz noch
feste Beziehung – und gilt daher als „schwarzes Schaf“. Vater Willy sollte eigentlich
unterwegs auf Verkaufstour sein – aber er kommt unerwartet zurück. Wieder einmal
hat er es „nicht geschafft“ – er hat nichts verkauft, die langen Autofahrten machen ihm
zu schaffen, fast hätte er wieder einen Unfall gemacht. Willys Frau Linda versucht liebevoll, ihren Mann zu stützen und seine Verzweiflung darüber zu entschärfen, wie ihm
das Leben zwischen den Fingern zerrinnt. Gemeinsam klammern sie sich immer noch
und immer wieder an dem Traum fest, dass „morgen alles besser“ wird. Die Söhne
werden Zeuge von Willys Zustand und seinen Selbstgesprächen. Biff verspricht, in der
Stadt zu bleiben, sich eine Arbeit zu suchen und die Eltern ab sofort zu unterstützen.
Auch Willy will etwas an seinem Leben ändern. Am nächsten Tag sucht er seinen Chef
Howard auf und bittet ihn, aus dem Außendienst auf eine Stelle in der Stadt versetzt
zu werden. Dieser jedoch entlässt ihn statt dessen. Auch Biffs Vorhaben, ein Darlehen
zu organisieren, um einen Laden eröffnen zu können, scheitert im großen Stil an der
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Lomanschen Erbkrankheit: krankhaftem Optimismus, vermischt mit Wirklichkeitsverzerrung. Es ist weit und breit keine gute Nachricht für die Familie Loman in Sicht. Willy
hat jedoch einen Ausweg aus der Misere im Kopf, der mit seiner Lebensversicherung
zu tun hat.
Biographische Wurzeln
Arthur Asher Miller war ein waschechter New Yorker.
1915 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten im (damals noch angesehenen) Stadtteil
Harlem geboren, erlebte er mit seiner Familie eine
typisch amerikanische Jugend: Der Vater verlor durch
die Weltwirtschaftskrise sein Vermögen, die Familie
musste nach Brooklyn umziehen, dort hielten sie sich
über Wasser. Als Miller 1932 seinen Schulabschluss
gemacht hatte, musste er zwei Jahre lang in den damals raren Aushilfsjobs arbeiten, bis er genug Geld
zum Studieren beisammen hatte. Von 1934-38 studierte er Journalismus, später Literatur an der Universität von Michigan in Ann Arbor, im Studium begann er, Theaterstücke zu schreiben, und gewann mit
zweien davon sogar Preise. Damit war für ihn klar,
dass er von nun an als Schriftsteller arbeiten würde.
Er schrieb Hörspiele, einen Roman, und versuchte
sich immer wieder als Dramatiker. 1944 wurde ein
Stück von ihm am Broadway produziert: DER MANN,
Abb. 1 Miller in den Fünfziger Jahren
DER DAS GLÜCK GEPACHTET HAT floppte jedoch und wurde nach vier Vorstellungen
abgesetzt. Einen ersten Erfolg erzielte Miller 1947 mit ALLE MEINE SÖHNE, sein endgültiger Durchbruch folgte 1949 mit TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN. Der Autor
erhielt einen Pulitzerpreis, den New Yorker Kritikerpreis sowie einen Tony. Auch finanziell war das Stück ein sagenhafter Erfolg. Die Produktion lief 742 Mal und machte den
Autor zum Star.
In seiner Biographie Zeitkurven beschreibt Arthur Miller sehr detailliert das Vorbild,
das zur Entstehung Figuren von Willy Loman in TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN
führte:
Ich scheine immer gewusst zu haben, dass ich ein Zimmermann und ein Mechaniker bin.
Als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger kaufte ich Holz von meinem mit Brötchenaustra3
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gen verdienten Geldschmerzliche
zwölf
Dollar von dem Geld
für eine Arbeit, die mir
vier Dollar die Woche
einbrachte – und baute
damit an der Rückseite unseres kleinen Hauses in der Third Street
eine Veranda. Bei einem
Abb. 2 Brooklyn in den zwanziger Jahren
meiner beiden Pionier-Onkel holte ich mir Rat. Diese Onkel waren Anfang der zwanziger
Jahre mit ihren Familien nach Brooklyn gezogen, als die Gegend um Midwood so unbebaut war, dass sie ihre Kinder in dem buschigen flachen Land auf dem Weg in die zwölf
Blocks entfernte Schule im Auge gehalten konnten. Manny Newman und Lee Balsam waren beide Handlungsreisende, und im Gegensatz zu uns besaßen sie Werkzeuge, womit
sie an freien Tagen kleinere Reparaturen an ihrem Doppelhaus ausführten. Aber nur Lee
lieh mir einen Hammer, denn er nahm die handwerkliche Arbeit nicht ernst. Manny hatte
dagegen den Grundsatz, Werkzeuge nicht nur nie zu verleihen, sondern leugnete zum Beispiel unverfroren, dass er eine Schaufel besaß - selbst wenn er wusste, dass ich sie deutlich
an der Wand in der Garage hinter ihm hängen sah, wo er bei warmem Wetter in Unterwäsche saß und mit den Nachbarn Karten spielte. Lee Balsam, die reine Freundlichkeit,
hatte eine sanfte Stimme und ein krankes Herz, das ihn zwang, sich langsam und überlegt
zu bewegen. Er machte mit mir einen improvisierten Entwurf für die Veranda, der sich
recht gut bewährte. Leider entdeckte ich erst nach Fertigstellung, dass die Veranda keine
Verbindung mit dem Haus hatte. Trotzdem hielt sie zwanzig Jahre und entfernte sich nur
allmählich Zentimeter um Zentimeter von der Küche. Ich erlebte zum ersten Mal die Leidenschaft des Bauens und konnte in Erwartung des nächsten Tages nicht einschlafen. (...)
Manny Newman war niedlich und hässlich, ein aus der Erde gewachsener Pan, ein Wicht
mit einem Lispeln, tiefliegenden braunen Augen, einer langen, hängenden Nase, dunkelbrauner Haut und knorrigen Armen. Wenn ich in das Haus kam, sah er mich schweigend
an; meist trug er einen Overall und hielt einen Hammer, einen Schraubenzieher, vielleicht
auch den Schuhkarton mit seiner Sammlung pornographischer Postkarten in der Hand. Er
sah mich an, als habe er mich noch nie gesehen oder, wenn er mich sah, als würde er mich
am liebsten nie wieder sehen. Er empfand mich in allem und in jedem Moment als Konkurrenz. Mich und meinen Bruder sah er in einem Wettlauf, der in seiner Vorstellung nie aufhörte, Kopf an Kopf mit seinen beiden Söhnen. Er hatte zwei Töchter und zwei Söhne in die
Welt gesetzt: Isabel, die Älteste, war trotz ihrer Ähnlichkeit mit ihm eine echte Schönheit,
Margie, die Jüngste, war ein zierliches Mädchen und litt an einer scheußlichen Akne. Des4
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halb blieb sie traurig zu Hause, war aber trotzdem sehr schlagfertig. In diesem Haus wagte nicht einmal sie, die Hoffnung zu verlieren, und aus diesem Grund sah ich später darin
das vollkommene Amerika – denn dort war immer etwas Gutes im Werden, nicht einfach
nur etwas Gutes, sondern etwas Phantastisches, sich Verwandelndes und Triumphierendes.
In diesem Haus gab es keine Ironie, es bebte vor Entschlüssen und dem Siegesgeschrei über
Erfolge, die es noch nicht gab, aber mit Sicherheit morgen geben würde. Die beiden Jungen
mochten zwar Eagle Scouts sein, alle Trophäen gewinnen, die Betten selbst machen, ihre
Zimmer selbst aufräumen, und oft und ernst über die Familienehre sprechen – aber dann
gingen sie zusammen mit Bernie Crystal und Louis Fleishman in Rubins Süßwarenladen
und lenkten den armen Rubin so lange ab, bis sie mit seinem bauchigen, ein Meter hohen
Bonbonglas voller Bonbons verschwinden konnten. Oder sie verbrachten Wochen damit,
so gewichtig und ernst wie Forscher, die eine Expedition zum Südpol vorbereiten, eine
Zeltwanderung zum Bear Mountain zu planen; sie erstiegen den Berg und befolgten dabei
jede tugendsame Pfadfinderregel, doch als sie oben waren, stießen sie in einem Gasthaus
auf eine alte Hure, nahmen sie sich in dem winzigen Zelt abwechselnd vor, und am nächsten Morgen gaben sie der Frau nur die Hälfte, weil sie meinten, als Brüder müssten sie nur
für einen bezahlen. Jeder beneidete sie, besonders Buddy, den Älteren. Er spielte Baseball,
Basketball und Football und wurde zwei- oder dreimal im Brooklyn Eagle erwähnt. Für
eine Verabredung zog er sich zwei Stunden lang an, puderte sich das Gesicht, trommelte
sich auf den Bauch und fletschte vor dem Spiegel die Zähne. Er war dunkel wie sein Vater,
aber größer, hatte wie Annie, seine Mutter, Großvater Barnetts breite Schultern. Annie
war eine höchst rührende Frau, die für sie alle das Kreuz der Realität trug. Man bedauerte sie, weil sie Manny zum Beispiel vorsichtig klarmachen musste, dass Orange vielleicht
nicht die richtige Farbe war, um das Haus anzustreichen, selbst wenn er nach einem Brand
in der Fulton Street viele Liter im Sonderangebot erstanden hatte. dabei musste sie die
Ruhe bewahren, ihn voll Begeisterung anlächeln, damit er nicht den Eindruck hatte, sein
Einsatz werde etwa nicht gewürdigt. Mit den Mädchen konnte sie natürlich offener sein,
während sie Jahr um Jahr daran arbeitete, sie wie zwei lecke Schiffe sicher in den Hafen
der Ehe zu bringen: Margie mit ihrem deprimierenden Hautproblem und Isabel, die stän-
Abb. 3 Arbeitslose in der Großen Depression
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dig in Versuchung war,
zu früh wegzugeben,
was man besser noch
eine Weile hütete. Im
Grunde verbrachte ich
in meinem ganzen Leben nicht mehr als ein
paar Stunden in Mannys Gegenwart, aber er
war so absurd, so völlig
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von den normalen Gesetzen der Schwerkraft entfernt, er war so verstiegen in seinen phantastischen Erfindungen und liebte trotz seiner Hässlichkeit den Ruhm und Reichtum, der
unvermeidlich auf seine Familie herabregnen würde – alles auf eine so poetische Weise, dass
er meine Phantasie freisetzte und ich mehr oder weniger genau wusste, wie er auf jedes
Wort, jeden Hinweis, jeden Gedankenreagieren würde. Seine unberechenbare Manipulation der Tatsachen befreite meine Gedanken und ermutigte mich, mit eigenen Ideen zu
spielen; aber unter allem floss der Strom seiner Traurigkeit. Man hielt ihn und Annie für
hoffnungslos, fand es aber höchst interessant, über sie zu reden – unter anderem deshalb,
weil sie sich immer noch liebten. (...)
Ich war zwar fanatischer Sportler, doch meine Fähigkeiten ließen sich nicht mit denen von
Mannys Söhnen vergleichen, und da ich außerdem noch schlaksig und hässlich war, hatte
ich in seinen Augen keine Chancen bei dem Wettlauf in die Zukunft, so dass ich, wenn ich
mich bei ihm sehen ließ, immer mit einer Anspielung auf meinen wahrscheinlichen Misserfolg im Leben rechnen musste – und das schon, als ich noch nicht sechzehn war. Aber
das verringerte die Verlockung und die geheimnisvolle Anziehungskraft nicht, die die Newmans auf mich unerklärlicherweise ausübten. Auf dem Weg zu ihrem kleinen Haus erwartete ich immer, dort würde sich etwas Außergewöhnliches ereignen, eine sexuelle Ausschweifung vielleicht oder irgendeine andere erstaunliche Enthüllung. Kein vernünftiger
Mensch konnte Manny ernst nehmen. Er liebte es, den Clown zu spielen, aber trotzdem
fiel es schwer, von ihm nicht gerührt zu sein. Ich glaube, es lag daran, dass die Leute dicht
unter seinen verrückten Phantasien das gemeinsame Leiden spürten, das bei ihm nicht von
der Gleichgültigkeit zugedeckt worden war. Es war typisch für ihn, von seine Karten aufzublicken und zu sagen: „Ich hab keine Schaufel“, obwohl die Schaufel direkt über seinem
Kopf an der Garagenwand hing. Lee und meinem Vater und jedem anderen, der mit ihm
spielte, wäre es nie in den Sinn gekommen, ihn auf diesen offensichtlichen Widerspruch
anzusprechen. Alle wussten, Manny hatte für jedes schwierige Problem dieselbe Lösung:
er veränderte die Tatsachen, und jeder freute sich irgendwie darüber, als sei es genau das,
was er selbst liebend gerne tun würde, aber nicht wagte. Hinter dem allgemeinen Gespött
verbarg sich eine erregte Neugier, wenn nicht sogar Achtung oder Neid auf den verrückten
Mut, sich über die vernünftigen, üblichen Umgangsregeln hinwegzusetzen. Ich glaube,
für mich war Manny der Inbegriff zahlloser Möglichkeiten, er verkörperte Bedeutungen
und Anspielungen, die allen anderen fehlten; wenn er zum Beispiel unverblümt behauptete, er besitze keine Schaufel, schlug er damit in Wirklichkeit das Thema seines Lebens
an: den Konkurrenzkampf, der sein Denken betäubte. In Wirklichkeit sagte er: „Warum
kauft dein Vater nicht selbst eine Schaufel? Wenn er so bedeutend ist, um auf mich herabzusehen“ – Manny zweifelte keinen Augenblick daran, dass alle Konservativen das taten
– „dann hat er kein Recht, mich zu bitten, ihm ein Werkzeug zu leihen. Ist es unter seiner
Würde, eine Schaufel zu besitzen? Ist er ein solcher Erfolg, dass er sich es leisten kann, nur
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dann an eine Schaufel zu denken, wenn er oder sein Sohn unbedingt eine braucht? Glaubt
er, du kannst einfach rüberkommen und dir meine nehmen? Ich hab in die Schaufel Geld
investiert. Also hab ich für die Millers keine Schaufel.“ Aber er ging noch einen Schritt weiter. In seiner Vorstellung hatte die Schaufel in diesem Moment wirklich aufgehört zu existieren. Natürlich lernte ich von meinem Vater, Onkel Lee und den anderen Männern der
Familie, dass man an Manny nur verzweifeln konnte. Aber er beschäftigte sie ebenso wie
mich. Rommé ohne Manny war einfach nur Rommé. Dann saß etwa ein halbes Dutzend
Leute gelangweilt am Tisch. Sporadisch redete man über Operationen, Schwangerschaften, über den unaufhörlichen Regen oder die Trockenheit, wer Präsident werden würde;
vor allem redete man über ein Vermögen, das jemand gemacht oder verloren hatte, oder
wieviel Bing Crosby und Rudy Vallee in einer Woche verdienten. Bei Manny konnte man
jedoch damit rechnen, dass er schon in den ersten zehn Minuten eine Behauptung aufstellte
und damit das Thema des Abends lieferte. Etwa: „Ein Freund von mir in Providence hat
erzählt, dass dieser Rudy Vallee da oben alle Rekorde gebrochen hat. Sie haben an zwei
Anbenden dreißig Millionen Dollar eingenommen.“
„ Dreißig Millionen?“
„ Dreißig Millionen, die Matineen nicht gerechnet.“
Und schon ging es los. Sie schätzten die vermutliche Zahl der Sitze im Theater und teilten
die dreißig Millionen durch diese Zahl... Aber das Mitleid machte sie weich, ehe jemand
die völlige Absurdität dieser Behauptung aufdeckte. Manny hatte ohnehin mit einem Witz
und einem gewissen geständigen Augenzwinkern, das seinen Zuhörer mit Charme dazu
brachte, sie zu fragen, ob er es nicht vielleicht doch nur aus Spaß gesagt hatte, das Thema
gewechselt. Ihm, diesem Kobold von einem Mann, der sich fortwährend aller Vernunft entzog gelang es, sie alle im Verlauf eines Kartenspiels zu Empörung und Gelächter zu treiben
und schließlich wieder zu versöhnen. Annie, seine hellhäutige Frau, wurde dabei die ganze
Zeit über abwechselnd rot und blass; in einem Moment fürchtete sie, er könne sich zu sehr
zum Narr machen, und im nächsten war sie wieder erleichtert. Wenn er zu weit gegangen war, musste sie später dafür bezahlen, denn ohne Zuschauer, ihn bestätigten, fühlte er
sich verzweifelt unsicher. Wenn solche dunklen Wolken nicht wichen, begleitete Annie ihn
auf seinen Reisen durch
New England. Sie saß
neben ihm in dem kleinen Wagen mit der primitiven Heizung, die
das Innere im Winter
kaum über den Gefrierpunkt erwärmte, und
redete unermüdlich so
lange, bis er wieder son-
Abb. 4 Chevrolet aus den Dreißigern
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nigere Gedanken hatte. In jenen Tagen gab es noch keine Schnellstraßen und Autobahnen
wie heute. Er musste durch jede Stadt fahren, an jeder Ampel halten und hatte im Kofferraum eine Schaufel mit kurzem Stiel, um sich aus Schneeverwehungen freischaufeln zu
können. Es gab noch keine Winterreifen, und viele Städte räumten die Straßen bei einem
Schneesturm nur einmal.
Die Unberechenbarkeit verlieh seinem Leben etwas Romantisches. Er hatte keine langweilige Arbeit mit einem festen Gehalt, bei der man nie hoffen konnte, einmal wirklich
etwas zu verdienen. Die Hoffnung war für ihn Speise und Trank. Ich nahm an, das Bedürfnis, in eine Geschäftsreise die höchsten Erwartungen zu setzen, trug dazu bei, das Leben unwirklich zu machen. Fünfzig Jahre später versuchte Ying Ruocheng, der Schauspieler, der in meiner chinesischen Inszenierung von Tod eines Handlungsreisenden den Willy
spielte, sich das Äquivalent solcher romantischen Hoffnungen in einem chinesischen Beruf
vorzustellen, denn der Händler hatte für die Chinesen schon immer etwas Anrüchiges und
war niemand, den man romantisieren konnte. Schließlich kam er auf die Reiter, die früher
Karawanen durch China begleiteten, um sie vor Räubern zu schützen. Diese angeheuerten
Teufelskerle erlebten alle möglichen Abenteuer und bildeten eine Art Bruderschaft von
Aufschneidern, die sich unterwegs immer wieder trafen und sich gegenseitig die Geschichten ihrer Siege und Niederlagen zu erzählen. Die Eisenbahn machte ihre Dienste überflüssig. So endeten diese Männer auf Jahrmärkten, wo sie auf Zielscheiben schossen, Schwerter
schlucken und tranken, um zu vergessen, ähnlich wie unser Buffalo Bill.
Willy Loman sollte am Ende sehr viel mehr als ein einziges Vorbild haben. Ich sah Manny
so selten, und deshalb war er bereits in meiner Jugend ebenso sehr Mythos wie Wirklichkeit.
Doch es gibt Eindrücke von so klarer Kraft und Dichte, dass sie dem Schriftsteller zwar
keine konkreten Informationen liefern, trotzdem aber die Quellen seiner Kunst sind.
(Zeitkurven, pp. 162-169)
Die seltsame Faszination, die die Familie seines Onkels auf Arthur Miller ausübte, hinterließ einen bleibenden Eindruck. Schon kurz nachdem er auf dem College begonnen
hatte, Theaterstücke zu schreiben, beschäftigte ihn der Gedanke ein Theaterstück über
einen Handlungsreisenden zu schreiben. Er legte die Skizzen und Notizen allerdings
wieder zur Seite und nahm sie erst Jahre später wieder hervor. Er hatte gehört, dass
sein Onkel Manny gestorben war – vielleicht Selbstmord begangen hatte – und nahm
Kontakt mit dessen Sohn auf:
„Ich meine, wenn du sagen solltest, was er sich am meisten gewünscht hat, also das, woran
er am häufigsten dachte... was wär das?“ Mein großer, dunkler Vetter Abby, hin- und hergerissen zwischen den heftigen Widersprüchen seiner Zuneigung zu mir und der konkur8
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rierenden Ablehnung, der Verachtung für seinen toten, gescheiterten Vater und gleichzeitig
einer mitleidvollen Liebe und sogar amüsierter Bewunderung für den Wahnwitz des Mannes - dieser Vetter tauchte auch seit kurzem in meinen Träumen auf, und möglicherweise
hatte der Traum mich dazu gebracht, ihn nach so vielen Jahren anzurufen. „Er wollte ein
Geschäft für uns, damit wir zusammenarbeiten könnten,“ sagte mein Vetter, „ein Geschäft
für die Jungs.“ Dieser konventionelle, weltliche Wunsch traf mich wie ein elektrischer
Schlag, der die ungeordneten Eisenspäne in meinem Gehirn auf einen Punkt richtete. Der
hoffnungslos zerstreute Manny verwandelte sich in einen entschlossenen Mann mit einem
Ziel: er hatte versucht, als Krönung seiner mühevollen Jahre ein Geschenk zu machen; all
die Lügen, die er erzählt hatte, die Hirngespinste, die verrückten Übertreibungen, selbst
die beinahe militärische Disziplin, die er seinem Söhnen aufgezwungen hatte, verrieten in
diesem Augenblick Methode und ergaben einen Sinn. Gewiss, ein Geschäft war Ausdruck
seines Egoismus, aber auch seiner Liebe, Der hässliche, lächerliche kleine Mann hatte also
schließlich doch den Kampf um seinen Sieg nie aufgegeben, um die einzige Art Sieg, die
ihm in dieser Gesellschaft offen stand: verkaufen, um als Mann mit seinem Namen und
dem Namen seiner Söhne über einen eigenen Geschäft das verlorene Ich wieder zu finden.
Ich verstand ihn plötzlich mit meinem ganzen Wesen. (Zeitkurven, pp. 174-175)
Im Jahr 1948 hatte Miller diese Figuren lange genug mit sich herumgetragen und machte sich daran, das Stück zu schreiben. Er zimmerte sich in der Nähe seines Hauses in
Connecticut eine Hütte von drei mal dreieinhalb Metern Größe, setzte sich hinein und
schrieb innerhalb weniger Tage den ersten Akt des Stückes. Innerhalb einiger Wochen
stellte er den HANDLUNGSREISENDEN dann fertig. Dieses rituell anmutende „Einnisten“ vor dem Schreiben hat ein großes Vorbild in der amerikanischen Literatur: Henry
David Thoreau hatte etwas über hundert Jahre zuvor seine berühmte selbstgebaute
Hütte in den Wäldern von Concord, Massachusets, bezogen und dort in zwei Jahren
Einsamkeit sein bekanntestes Werk, Walden oder das Leben in den Wäldern geschrieben. Die Unterschiede zu Millers Unternehmen sind bezeichnend: Während Thoreau in
seinem Refugium die Möglichkeit einer alternativen Lebensweise erkundete und bewusst ein Gegenmodell
zum Leben in der Betriebsamkeit und Getriebenheit der großen Städte und der
kapitalistischen
Gesellschaftsordnung
erkundete,
widmete
sich Miller genau der
Abb. 5 Thoreaus Hütte am Walden-See
Lebensweise, vor der
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sein Vorgänger geflohen war. Die Geschwindigkeit,
mit der die beiden Autoren arbeiteten, entspricht ihrer
Zeit und ihrem Thema: Thoreau suchte Erkenntnis in
der meditativen Lebensweise, im Rhythmus der Natur und brauchte so zwei Jahre um ein nicht allzu dickes Werk zu verfassen; Miller schrieb sein vielleicht
bedeutendstes Stück in wenigen Wochen, den ersten
Teil in sogar nur wenigen Tagen. Dennoch gibt es auch
Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Autoren. Die
Tatsache, dass Miller der geistigen Arbeit des Schreibens eine körperlich-handwerkliche Arbeit vorangehen ließ, hatte mit Sicherheit weniger mit Thoreaus
Vobild zu tun, als vielmehr damit, dass Miller gern
schreinerte, dass ihm diese einfache körperliche Arbeit eine gewisse Befriedigung verschaffte, mit dem
sinnlichen und sinnvollen Vergnügen einer nicht-entfremdeten Arbeit. Es ist kein Zufall, dass sein Nachbar
Charly über Willy sagt: „Mit einem Eimer Zement war
er ein glücklicher Mann.“ Miller stattete seine Figur
Abb. 6 Miller in der Salesman-Hütte
mit einem Charakterzug aus, den er von sich selbst kannte, und gab ihm damit den
Drang nach einer Beschäftigung mit, die ihn als Beruf vielleicht glücklicher gemacht
hätte, als die vergebliche Jagd nach Reichtum. Auch Biff, das schwarze Schaf, beschreibt seine Sehnsucht, das was er wirklich will, folgendermaßen: „Ich stand mitten
in diesem Geschäftshaus und sah – den Himmel. Ich sah alles, was ich wirklich liebe auf der Welt. Die Arbeit und das Essen und die Zeit, sich hinzusetzen und eine zu
rauchen.“ Und ganz zu Beginn des Stückes: „Vielleicht könnten wir ’ne Ranch kaufen.
Viehzucht, Muskelarbeit! Wer so wie wir gebaut ist, sollte im Freien arbeiten.“ Während Willy sich das Vergnügen die Veranda zu renovieren oder mal eben eine neue Decke in der Küche einzuziehen nur in seiner Freizeit gönnt, hat Biff erkannt, dass er mit
diesen „einfachen“ Tätigkeiten eine viel größere Zufriedenheit erreichen kann, als sie
ihm die Jagd nach dem Geld jemals bringen könnte. Auch wenn dieses Gegenmodell
zum landläufigen „Amerikanischen Traum“ nur in Ansätzen im Stück entwickelt ist,
bildet es doch einen wichtigen Hintergrund für Millers Arbeit: Das „wahre Glück“ liegt
für den Autor und seine Männerfiguren in einer Mischung aus sozialistischer „Produktion“ – einfacher manueller Arbeit – und jenem anderen amerikanischen Mythos,
nämlich demjenigen von der Eroberung des Westens und der Bezähmung der Natur.
In seiner Biographie beschreibt Miller vor dem Hintergrund des finanziellen und sozialen Abstiegs seiner Familie leicht ironisch ein sozialistisches „Erweckungserlebnis“
in jungen Jahren:
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An jenem Tag gab es keine Unfälle. Die Straße lag im Sonnenlicht, während ich über meinem Rad stand und dem Spiel zusah. Ein älterer Junge, dessen Namen ich längst vergessen
habe, stand neben mir und erklärte, es sei zwar mit dem bloßen Auge vielleicht nicht erkennbar, aber es gebe in der Gesellschaft zwei Klassen von Menschen: die Arbeiter und die
Arbeitgeber. Er fügte hinzu, überall auf der Welt, natürlich auch in Brooklyn, bahne sich
unaufhaltsam eine Revolution an, die alle Länder verwandeln werde. Dann würden Güter für den Bedarf produziert und nicht für den persönlichen Profit irgendwelcher Leute.
Für alle werde es sehr viel mehr geben, und überall werde Gerechtigkeit herrschen. An sein
Gesicht kann ich mich nicht erinnern, ich weiß nur noch mit Sicherheit, dass er bereits aufs
College ging. Warum hatte er mich für diese Offenbarung auserwählt? Welchen Anhaltspunkt hatte ich ihm gegeben, dass ich auf das Ballspielen verzichtete, als die Reihe an mir
war? Ich sagte zu ihm: „Alles steht auf dem Kopf!“ (...)
Es sollte lange dauern, ehe ich verstand, welchen Anstoß dieser anonyme Collegestudent
meiner Seele gegeben hatte. Für mich hatte die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft
wie für Millionen anderer junger Menschen damals und heute eine entwaffnende Schönheit, die für die Großmut der Jugend unwiderstehlich war. Wie es schien, war die wahre
Natur des Menschen das genaue Gegenteil des von Konkurrenz bestimmten Systems mit
all seinem Hass und seinen Intrigen, wie ich es für das Normale gehalten hatte. Das Leben konnte ein kameradschaftliches Miteinander sein; die Menschen halfen einander und
versuchten nicht, sich gegenseitig zu Fall zu bringen. So ist es nicht verwunderlich, dass
dieser Tag alles änderte, was ich von der Welt wusste. Marx revolutionierte nicht nur meine Vorstellungen, sondern auch die damals für mich wichtigste Beziehung – die zu meinem Vater, denn hinter dem marxistischen Versprechen der kameradschaftlichen Welt liegt
der Vatermord. Auf alle, die psychologisch bereit für dieses uralte Abenteuer sind, hat die
Sublimierung der Gewalt, die der Marxismus bietet, eine beinahe euphorische Wirkung.
Einerseits preist er das Rationale, andererseits befreit er die ödipalen Furien und hüllt ihre
Gewalttätigkeit in ein humanes Ideal. Die Wirkung des Marxismus erinnert an die Weisung, die Jesus seinen Jüngern gab, sich auch von ihren Eltern abzuwenden und ihm zu folgen. Denn es ist tatsächlich unmöglich, zwei Herren zu dienen. Und auch in seinen Worten
liegt die versteckte Andeutung des Vatermords. (ZEITKURVEN, pp. 149-150)
Dieser psychologisch-metaphorische „Vatermord“ – die Emanzipation des Sohnes von
den Ansprüchen des Vaters an ihn – ist eines der wichtigsten Themen in TOD EINES
HANDLUNGSREISENDEN. Willy Loman macht sich zurecht Gedanken darüber, was
er falsch gemacht hat, dass aus seinem Sohn Biff kein erfolgreicher Geschäftsmann
geworden ist, wie etwa aus dessen Schulkameraden Bernard (der in unserer Fassung
des Textes eins geworden ist mit Willys Juniorchef Howard). Er wendet sich an seinen
imaginierten Bruder Ben: „Manchmal frag’ ich mich, ob ich ihnen das richtige beibrin11
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ge – Ben, was soll ich ihnen beibringen?“ und später
an seinen Chef: „Was – was ist das Geheimnis? (...) Wie
– wie hast du’s geschafft?“ Er gibt sich also die Schuld
daran, seine Söhne (vor allem Biff) falsch erzogen zu
haben, für ihren vermeintlichen Misserfolg im Leben
verantwortlich zu sein. Neben einer falschen Erziehung macht er noch ein punktuelles Ereignis für sein
Versagen gegenüber seinen Söhnen aus: Als er auf
einer Geschäftsreise eine Affäre mit einer Frau hatte,
überraschte ihn Biff in einer kompromittierenden Situation. Dieses für Vater und Sohn traumatische Erlebnis führte in der Tat dazu, dass Biff seine Abschlussprüfung in der Highschool nicht wiederholte und so
ein Studium ebenso wie eine sportliche Karriere in
den Wind schrieb. Objektiv-psychoanalytisch betrachtet leidet Willy vermutlich daran, dass seine eigenen
Fehler sich in seinem Sohn wiederholen: Er glaubt,
sich der gesellschaftlichen Normerwartung beugen
zu müssen, die darin besteht, beruflichen und finanziAbb. 7 Szene aus der Uraufführung: Arthur
Kennedy (Biff), Lee J. Cobb (Willy), Cameron
ellen Erfolg zu haben, und hängt an diese Erwartungen
Mitchell (Happy)
sein Glück und seine Zufriedenheit. Für den Erfolg im Business bringt Willy jedoch
die völlig falschen Voraussetzungen mit. Er orientiert sich in seinem Handeln nicht an
objektiven Kriterien (den Regeln des Marktes), sondern glaubt es sei wichtig „beliebt
zu sein“, um Erfolg zu haben. Er hat keinen Erfolg, aber um das Gesicht zu wahren –
vor allem vor seiner Frau Linda – mauschelt er sich durch, leiht sich Geld von Nachbar
Charley und versucht immer wieder schnelle Lösungen; Patentrezepte, mit denen sich
nicht wirklich etwas an seinem Leben ändert. Genau diese widersprüchliche Botschaft
hat er seinen Söhnen vermittelt: Seid wirtschaftlich erfolgreich aber auch beliebt –
macht ein Vermögen aber im Handumdrehen. Ein gutes Beispiel für diese fantastische
Vorstellung vom Karriere machen (nämlich: keine harte Arbeit, sondern großes Glück)
ist die formelhafte Erfolgsstory von Willys Bruder Ben: „ Als ich in den Dschungel ging,
war ich siebzehn. Als ich rauskam, war ich einundzwanzig. Und, weiß Gott, ich war
reich.“ Natürlich erfahren wir und Willy nicht, wie der mystische Vorgang des Erwerbs
von Reichtum vor sich geht – es wird ihm immer ein Rätsel bleiben.
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Ein Theater der Träume
Willy Loman träumt den so genannten „Amerikanischen Traum“; hierzu einige Bemerkungen aus dem Vorwort zu einer Sammlung von Interviews zu diesem Thema:
Erstaunlicherweise scheint die Formel „the American
Dream“ erst seit einem halben Jahrhundert breite Wirkung zu entfalten. Laut Hartmut Keils Münchner Dissertation von 1968 taucht sie erstmals in James T. Adams’
umfassender Darstellung und Deutung der amerikanischen Geschichte auf. Das Werk des Historikers – deutsch
unter dem Titel Der Aufstieg Amerikas vom Land der
Indianer zum Weltreich – wurde 1932 zum Bestseller
und die neue Formel sofort begierig aufgegriffen. Angesichts der Erschütterungen durch die Wirtschaftskrise
drängte man zur Besinnung auf Werte und Beweggründe der Nation. Das Wort vom amerikanischen Traum erwies sich als griffiger Aufhänger: im rationalen Diskurs
fast unbrauchbar, da nicht verbindlich zu definieren,
konnte es assoziativ-emotional umso wirksamer werden.
Es leuchtete einfach ein.
Bei dieser seltsamen Mischung ist es bis heute geblieben.
Unvermeidlich, da konstitutiv, ist auch die Vermischung
Abb. 8 Star-sprangled banner
der Zeitebenen, sobald vom amerikanischen Traum die Rede ist. Leicht herauslösen lässt
sich dabei die Projektion in die Vergangenheit, denn aus nahe liegenden Gründen vermutet man gern, der amerikanische Traum habe „früher“ höheren Realitätsgehalt gehabt als
„heute“. So heißt es auf der letzten Seite von F. Scott Fitzgeralds Great Gatsby (1925): „Als
der Mond höher stieg, zerflossen die belanglosen Häuser, und ich wurde an dieser Stelle
der alten Insel gewahr, die einst vor den Augen holländischer Seefahrer erblüht war – eine
grüne, frische Brust der neuen Welt. Verschwunden, Gatsbys Haus gewichen waren die
Bäume, die wispernd einst den letzten und größten aller menschlichen Träume kupplerisch
umschmeichelt hatten. Einen flüchtigen Augenblick musste der Mensch den Atem angehalten haben angesichts dieses Kontinents, nachdenklich gebannt – ohne es zu wollen, ohne es
zu verstehen – bei einem Schauspiel, das zum letzten Mal in der Geschichte des Menschen
seiner Fähigkeit zum Staunen standhielt.“
(DER AMERIKANISCHE TRAUM, Vorwort)
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michael sommer • zur einführung: tod eines handlungsreisenden • theater ulm • 2008/2009
Eben diese Vermischung der Zeitebenen findet auch systematisch in TOD EINES
HANDLUNGSREISENDEN statt. Der Traum ist eben nicht nur ein wichtiger Inhalt des
Stückes, sondern Miller bedient sich auch des erzählerischen Mittels des Traums. Natürlich war Arthur Miller keineswegs der erste Dramatiker, der die Zerbrechlichkeit
der Realität, die verführerische Kraft von Träumen und Projektionen thematisierte.
Seit der Neuzeit, so etwa bei Shakespeare, Calderon de la Barca oder Kleist, kommen
in der Geschichte des abendländischen Theaters immer wieder Figuren vor, die Probleme mit der Wirklichkeit haben, in ihrer Wahrnehmung verwirrt werden, nicht mehr
wissen, was echt und was „nur“ ein Traum ist oder war.
I have had a most rare
vision. I have had a dream, past the wit of man to
say what dream
it was. (Bottom, A Midsummer Night’s Dream)
Wiewohl dieses Thema zu allen Zeiten auf Interesse stieß, widmeten sich seit Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts besonders viele Dramatiker dem Thema, es entstehen
zunehmend Stücke, in denen der Traum und seine Logik sogar das Stück beherrschen
(etwa Strindbergs Traumspiel), oder in denen der Realität und Vision gleichwertig nebeneinander stehen (etwa Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt). In der realistischen
Tradition etwa Tschechows und Ibsens sind solche Momente nicht anzutreffen, gerade
diese beiden Autoren übten allerdings einen großen
Einfluss auf das amerikanische Drama seit Eugene
O’Neill aus; die experimentelleren Strömungen der
europäischen Avantgarde-Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre wurden offenbar erst zeitversetzt in Amerika rezipiert. So war die Theatertradition, in der Arthur Miller begann, Mitte der Dreißiger
Jahre Stücke zu schreiben, und an der sich auch Ende
der Vierziger noch nicht viel verändert hatte, eine zutiefst realistische Tradition. Millers Verdienst besteht
darin, die bereits als Versatzstück erprobten Mechanismen von Traum und Projektion konsequent in ein
realistisches Stück eingewoben zu haben. War bis ins
zwanzigste Jahrhundert hinein der Traum stets nur
die Ausnahme von der Realität – die Figuren erlebten
also einen Ausflug aus ihrem Leben – und erhoben die
Expressionisten und Symbolisten den Traum zur Alternativen Realität – die Bühnenwirklichkeit gehorchte hier einfach anderen Regeln –, so stellte Miller in Abb. 8 Elia Kazan (Regisseur) und Arthur
seinem Stück zum ersten Mal die Gegenwart, die Ver- Miller im Bühnenbild der Uraufführung
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gangenheit, den Traum und die Vision gleichberechtigt nebeneinander. Er erreichte
dies durch die radikale Verengung der Perspektive seines Stückes auf die Sicht der
Hauptperson, Willy Loman. Nahezu alles was in TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN
geschieht, wird aus seiner Sicht gezeigt – nicht umsonst lautete der Titel bis kurz vor
der Premiere „The Inside of his Head“. Dabei sind die vom Hier und Jetzt des Stückes
(einer Abfolge von etwa 24 Stunden im Hause Loman, mit zwei zusätzlichen Handlungsorten) abweichenden Partien eine Art Mischung aus Traum und Erinnerung:
In dieser Zeit war ich besessen von verschwommenen, aber aufregenden Bildern einer
Flugbahn – anders kann man es nicht bezeichnen. Mir schwebte ein Bogen des Erzählens
ohne Zwischendialoge und ohne einen einzigen festgelegten Schauplatz vor. Diese Methode würde den Kopf eines Menschen öffnen, damit das Stück darin stattfinden konnte und
sich durch gleichlaufende und nicht aufeinander folgende Handlungen entwickelte. (...)
Für mich kündigte sich damit die neue, dramatische Form an, von der ich mir bisher nur
tastend vorgestellt hatte, dass es sie überhaupt geben könne. (...). Wie wundervoll wäre es,
dachte ich, ein Stück ohne Übergänge zu schreiben, in denen der Dialog einfach von einem
Element einer Struktur zum nächsten springt; und dieser Faden würde nicht abreißen und
ständig etwas zu dem Ganzen hinzufügen, bis schließlich ein Organismus entstand, der so
streng funktional wie ein Blatt und so zweckmäßig wie eine Ameise war. Noch wichtiger
wäre, [was] dieses Theaterstück bei den Zuschauern bewirken würde (...): es sollte durch
die Zeit schneiden wie das Messer durch eine Torte oder wie eine Straße durch einen Berg,
wobei sie seine geologischen Schichten freilegt. Statt dass ein Ereignis chronologisch auf ein
anderes folgt, sollte es Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig zeigen, ohne dass deshalb
das eine oder das andere jemals abgeschlossen war. Ich erkannte, dass die Vergangenheit
nur eine Form ist, eine blassere Gegenwart, denn alles, was wir sind, ist in jedem Augenblick in uns lebendig. Das wäre ein grandioses Stück, in dem die Simultaneität des Geistes
nicht zum Stillstand kommt, ein Stück, das einem Menschen nicht erlaubte zu „vergessen“
und ihn dazu brachte, die Gegenwart durch die Vergangenheit und die Vergangenheit
durch die Gegenwart zu sehen. Das Stück hätte eine Form, die losgelöst von ihrem Inhalt
und ihrer Bedeutung unentrinnbar ein psychologischer Prozess wäre und ein Sammelbecken für alles, womit das Leben in der Gesellschaft den Menschen „gefüllt“ hatte.
(ZEITKURVEN, pp. 174-177)
Es ist also die Gleichzeitigkeit und Gleichgewichtigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, aber auch von Realität, Traum und Fiktion, die das Innovative an Millers TOD
EINES HANDLUNGSREISENDEN ausmachen. Diese Simultaneität sollte nach Vorstellung Millers auch ihren Ausdruck im Bühnenbild finden – und zwar in Form einer Simultanbühne:
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Vor uns das Haus des Handlungsreisenden. Dahinter bemerkt man turmartige, rechtwinklige Formen, die es von
allen Seiten einschließen. Nur ein blauer Schein fällt vom
Himmel auf das Haus und die Vorderbühne; die Umgebung liegt in einem aggressiven, orangefarbenen Dunst.
Als es heller wird, erkennt man eine solide Mauer von
Wohnblocks rund um das kleine, zerbrechliche Eigenheim.
Eine traumartige Stimmung liegt über der Szene, ein der
Wirklichkeit entrückter Traum. Die Küche im Mittelpunkt
wirkt ziemlich real durch einen Küchentisch, drei Stühle
und einen Eisschrank. Aber keine anderen Einrichtungsgegenstände. Im Hintergrund der Küche ist ein Durchgang mit einem Vorhang zum Wohnzimmer. Rechts von
der Küche ist auf einer um einen halben Meter erhöhten
Fläche ein Schlafzimmer, das nur mit einem metallenen
Ehebett und einem einfachen Stuhl möbliert ist. Auf einem Regal über dem Bett steht eine silberne Sporttrophäe.
Ein Fenster geht auf den seitlichen Wohnblock. Hinter der
Küche liegt, ungefähr zwei Meter erhöht, das Schlafzim- Abb. 9 Arthur Kennedy (Biff), Cameron Mitchell (Happy) in der Kulisse der Uraufführung
mer der Jungen; es ist im Augenblick jedoch kaum sichtbar. Man ahnt zwei Betten und an der Rückwand ein schmales Mansardenfenster. (Dieser
Raum liegt über dem nicht gezeigten Wohnzimmer.) Links führt eine Treppe von der Küche
im Bogen hinauf. Der ganze Bau ist zum Teil, an manchen Stellen sogar vollständig, durchsichtig. Der Dachgiebel ist eindimensional; darüber und darunter sind die Wohnblöcke zu
sehen. Vor dem Haus dehnt sich eine Fläche über die Rampe bis in den Orchestergraben.
Diese vordere Fläche stellt sowohl den Hinterhof als auch den Raum für Willys Visionen
und die Szenen in der Stadt dar. Immer wenn die Handlung in der Gegenwart spielt,
achten die Darsteller auf den imaginären Grundriss und betreten das Haus nur durch die
Tür auf der linken Seite. In den Szenen aus der Vergangenheit jedoch gibt es solche Grenzen nicht, und Personen
kommen und gehen
„durch“ die Wand auf
der Vorderbühne.
(TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN)
Abb. 10 Mildred Dunnock (Linda) und Lee J. Cobb (Willy) in der Kulisse der Uraufführung
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Auch wenn das heutige Theater oft die Regieanweisungen von Autoren ignoriert, wenn
es um Ausstattung und Kulissen geht, kommt doch im Falle dieses Stücks kaum ein
Inszenierungsteam darum herum, Millers Vorgaben auf die eine oder andere Weise
aufzunehmen – denn sie sind der sinnvollste Ausdruck seiner Funktionsweise. Und
natürlich spielt Millers Rezept auch eine Rolle auf der Ulmer Bühne. Bühnenbildner
Nikolaus Porz hat das kleine Haus der Millers in Form eines Setzkastens auf die Szene
gestellt, der sich öffnen kann, um den Blick auf die „weite Ebene der Vergangenheit“
frei zu geben, auf der sich Willys Rückblenden und Träume abspielen. Zusätzlich zum
Haus der Lomans und kleineren Versatzstücken spielt ein Element in der Ulmer Inszenierung eine Rolle, das zur Entstehungszeit des Stückes technisch noch nicht realisierbar war: Willys Bilder der Vergangenheit entstehen als Zeichnungen auf einem
Schleiervorhang, bevor sie realiter auf der Bühne erscheinen. Seine Projektionen in
die Vergangenheit werden also in technische Projektionen übersetzt.
Die Ulmer Fassung
A propos technische Innovationen: Miller stattet Willys Chef Howard mit einem Statussymbol aus, das zur Entstehungszeit des Stücks eine technische Innovation war – ein Tonbandgerät. Dieses Spielzeug, das einen erwachsenen Mann zum kleinen Jungen werden
lässt, völliger Wohlstandsmüll aber dennoch recht teuer ist, verortet die Handlung des
Stücks sehr stark im Nachkriegsamerika. Es ist eines von vielen Zeichen, die TOD EINES
HANDLUNGSREISENDEN zeitlich und geographisch einordnen. Diese Verortung birgt
eine Gefahr in sich, und zwar diejenige, dass ein Stück „damals und dort“ statt „hier und
jetzt“ spielt, und, dass das Publikum sich deshalb davon distanzieren kann. Die unmittelbar nach dem HANDLUNGSREISENDEN anbrechenden Fünfziger sind in der volkstümlichen Erinnerung das große Jahrzehnt der USA: Petticoat, Jukebox, Straßenkreuzer, runde
Kühlschränke, Coca-Cola und Kaugummi – all diese Symbole gehört zu den stereotypen
Vorstellungen von den Fifties und Amerika, der strahlenden freiheitlichen Siegermacht
des Zweiten Weltkriegs. Unser Blick auf diesen Aspekt der Nachkriegszeit ist zumeist ein
nostalgischer – die erwähnten Symbole haben alle einen gewissen Kultstatus. Und diese
Bedeutungszuordnung, die selbstverständlich überhaupt nichts mit Millers Wahrnehmung
der Wirklichkeit in TOD EINS HANDLUNGSREISENDEN zu tun hat, droht den Blick auf die
Figuren und ihre Geschichte zu verstellen. In der Ulmer Fassung haben wir uns deshalb
dafür entschieden, die zeitliche und geographische Verortung des Stückes zu reduzieren:
Statt American Football ist Biffs Sportart das Boxen, viele Ortsnamen haben wir gestrichen, das Tonbandgerät ist ein Diktiergerät, wird aber nicht so stark thematisiert wie im
Original. Der Effekt dieser Textbehandlung ist hoffentlich, dass das Lokalkolorit reduziert,
die Geschichte und die Figuren jedoch gestärkt werden.
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Neben diesen Veränderungen gegenüber dem Original gibt es auch einige, die die Figuren des Stückes betreffen. Um mit dem kleinsten dieser Eingriffe zu beginnen: Das
Treffen zwischen Willy und seinen Söhnen am Ende des Stückes findet nicht mehr in
einem, sondern zu Hause statt. Damit fällt Stanley, der Kellner, und die beiden Mädchen weg, die Happy dort aufreißt. Diese Änderung hat zur Folge, dass die Handlung
zum Ende hin gestrafft wird und die Auseinandersetzung zwischen Willy und Biff direkt
ins Finale mündet. Die weitaus größere Veränderung gegenüber dem Original betrifft
allerdings die Figuren Bernard und Howard. Bei Miller ist Bernard der Schulkamerad
von Biff, der als Junge ein Streber und nicht sonderlich lebensfroh ist, als Erwachsener jedoch ein erfolgreicher Anwalt. Er hat den amerikanischen Traum verwirklicht
– im Gegensatz etwa zu Biff. Howard ist im Original Willys Juniorchef; Willy war unter
seinem Vater eingestellt worden und hatte (so behauptet er wenigstens) damals wesentlich größeren Erfolg und ein besseres Standing in der Firma. In unserer Fassung
nun haben wir diese beiden Figuren zusammengelegt; der neu entstandene Howard ist
also sowohl Biffs Schulkamerad als auch später Willys Chef. Er vereinigt die Charakterzüge des kleinen Strebers, des eiskalten Geschäftsmanns und des Anteil nehmenden Exnachbarn von Willy. Diese Veränderung hat auch Auswirkungen auf die Rolle
des Charly. Während er im Original nur der Vater von Bernard und Willys „einziger
Freund“ ist, ist er in unserer Fassung also auch noch Willys Seniorchef. Der Effekt dieser Reduktion des Figurenkreises ist eine Verdichtung der Motive, auch ein Gewinn an
Dimension für die Rollen Howard und Charly.
Ein Einzelaspekt: Willy und sein Garten
Ich habe weiter oben ausgeführt, welchen größeren Zusammenhang es zwischen Willys Drang nach einfachen, handwerklichen Tätigkeiten, dem marxistischen Traum von
nicht-entfremdeter Arbeit und dem amerikanischen Mythos von der Eroberung des
Westens gibt. Ein wichtiger Punkt, an dem sich Willys Sehnsucht nach dieser einfachen Tätigkeit zeigt, ist sein vergeblicher Versuch, etwas in seinem Garten zu ziehen.
Am Ende wird Willy klar, dass er den Ruf der frischen Luft zu lange ignoriert hat. Er
versucht auf vergebliche Weise, beim Licht einer Taschenlampe Samen zu säen. Wäre der
Dialog schwach geschrieben, würde die Szene ihn nur lächerlich erscheinen lassen. Stattdessen wirkt er, während er wie ein Verrückter mit seinem toten Bruder spricht, wie ein
Vertreter-König Lear auf einer Garten-Heide. (Hayman, p. 36, meine Übersetzung)
Vermutlich hatte Arthur Miller jedoch nicht König Lear vor Augen, als er die Szene
schrieb, sondern seine ganz eigenen Gefühle gegenüber seinem Garten:
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michael sommer • zur einführung: tod eines handlungsreisenden • theater ulm • 2008/2009
Ich habe nie ganz verstanden, warum wir einen Garten
haben und warum ich vor fünfunddreißig Jahren, als ich
mein erstes Haus auf dem Lande kaufte, ein Gemüsebeet
anlegte, bevor ich irgendetwas anderes in Angriff nahm.
Wenn man sich überlegt, wie leicht und vergleichsweise
billig es ist, ein Bund Karotten oder Rüben zu kaufen,
fragt man sich doch, warum man sie selber ziehen sollte.
Und gerade bei Wurzelgemüse ist gekauftes von selbstgezogenem kaum zu unterscheiden. Dem Ganzen muss
ein Atavismus zugrunde liegen, eine zermürbende Heuchelei, der keine Wirklichkeit entspricht. Außerdem bin
ich kein großer Gemüseesser. Was Saftiges, Fettes ist mir
viel lieber. Hot Dogs zum Beispiel.
Also Hot Dogs mit Senf und warmem Sauerkraut –
wenn man die im Garten anbauen könnte! –, die wären
mühelos zu rechtfertigen. Oder Pastramiranken.
Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass ich mich, kaum
ist der April da, draußen auf den Zaun lehne, das verdammte Rechteck mustere, meinen
ganzen Grips zusammennehme und mir schwöre, es dieses Jahr nun aber wirklich nicht
zu bepflanzen. Nicht mal finanziell lohnt es sich mehr, seit das Saatgut so teuer geworden
ist, und wenn ich mir ausrechne, wie viel Geld ich schon in eine Fräse und andere Geräte
gesteckt habe, in Dünger, Maschendraht und was noch alles, dann fass ich mir an den Kopf.
Von meiner Zeit und meiner Frau wage ich gar nicht zu sprechen; da käme ich auf sechsbis siebentausend Dollar pro Tomate – in guten Jahren.
Abb. 11 Garten
Aber unweigerlich naht ein Morgen, an dem schon beim Aufwachen ein Duft durchs Fenster zieht, etwas Erdig-Luftiges, ein Geruch, der direkt aus dem Mittelpunkt unseres blauen
Planeten aufzusteigen scheint. Auch die Sonne meint es plötzlich ernst, und ihre Strahlen
auf dem Teppich bekommen ein anderes, tieferes Gelb. Die Vögel trällern plötzlich hysterisch und denken dasselbe wie ich – dass sich die köstlichen Würmer aus der tauenden Erde
winden. Aber nicht nur das Vergnügen treibt mich hinaus und lässt mich die Parzelle anstarren, in Wirklichkeit hadere ich. Alljährlich stellt sich dieselbe Frage – welche Methode
sollen wir anwenden? In den letzten Jahren haben wir neunzig Zentimeter breite schwarze Plastikplanen zwischen den Reihen ausgelegt, und das hat Wunder gewirkt; die Erde
bleibt unkrautfrei und frucht, auch wenn es lange nicht regnet, und wenn wir ein paar
Tage wegfahren, ist das Wiederfinden des Gartens hinterher nicht so schwer wie früher, als
wir den Boden noch grubberten.
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Aber da geht’s schon los – schwarzes Plastik sieht so künstlich aus, so unromantisch, und
wahrscheinlich bekommt man vom Ausbreiten Fingerspitzenkrebs. Manche Leute finden
es natürlich auch unfair, schwarzes Plastik zu nehmen, weil es so effizient ist. Wie damals
beim Widerstand gegen die Einführung großer Tennisschläger. Was das Leben erleichtert,
muss schlecht sein. Dennoch bin ich nach und nach zu Heumulch übergegangen, vor allem
weil wir viel heuen und weil er beim Verrotten die Erdkrume verbessert, hübsch aussieht
und nichts kostet. Er muss aber sehr dick aufgetragen werden, sonst hat man ein Heufeld
gepflanzt, was uns vor langer Zeit mal passiert ist. Mindestens fünfzehn Zentimeter dick,
außer Sie kaufen Mulch aus Salzgras, aber der ist so teuer, da können Sie auch gleich Salat
im Restaurant essen. (...)
Ich nehme an, die Reize der Gartenarbeit sind zumindest für viele Gärtner neurotischer
und moralischer Natur. Immer wenn das Leben sinnlos und unübersichtlich zu werden
droht, kann man in den Garten gehen und etwas getan kriegen. Auch väterliche bzw. mütterliche Instinkte kommen zum Tragen, weil hilflose lebende Wesen auf einen angewiesen
sind, Förderung, Disziplin, Ermutigung und Schutz vor Feinden und schlechten Einflüssen brauchen. In manchen Fällen, etwa bei Kürbissen und einigen Gurkensorten, wendet
sich sozusagen der Nachwuchs in großer Zahl gegen einen, hat sich allmorgendlich weiter
vermehrt und droht, einem ins Haus zu folgen und einen mit seinen Ranken zu erwürgen. Zucchini verstecken ihre Früchte unter breiten Blättern, bis sie zu phallischen grünen
Monsterknüppeln herangewachsen sind, die Männer verspotten und Frauen verderben.
(...)
Die Psychologie des Gärtners ist ziemlich kompliziert. Meiner Erfahrung nach geben sich
gebildete Städter, die aufs Land gezogen sind, viel mehr Mühe mit Gärten als Menschen,
die auf dem Land zur Welt gekommen sind. Diese haben ihre helle Freude daran, aus
dem Gröbsten heraus zu sein und nicht mehr so hart arbeiten zu müssen, um Kopfsalat zu
essen. Vielleicht haben Städter das Gefühl, sie müssten ihre Sünden abarbeiten, oder sie
sind überzeugt, vergiftet zu werden, wenn sie das Gemüse spritzen. Leute vom Lande, die
generell konservativer und geschäftsorientierter sind, spritzen alles, was stillhält. Vielleicht
wollen sie damit ihren Glauben an die Chemiekonzerne demonstrieren.
Vermutlich gärtnere ich, weil ich muss. Es wäre unerträglich, mehrmals täglich einen unbestellten eingezäunten Garten durchqueren zu müssen. Aber wenn seine Kultivierung
auch finanziell kaum Sinn und geschmacklich nur zweifelhafte Vorteile hat, so gibt es doch
gewissen Entschädigungen, und deretwegen finde ich mich anscheinend alle Jahre wieder geneigt, die ganze Arbeit auf mich zu nehmen. Kaum ein Bild ist in seiner Schönheit
so erquickend wie ein in der Sonne funkelnder Gemüsegarten, der morgens um sieben
unter dem Tau und in einem Dutzend verschiedener Grünschattierungen erglänzt. Weit
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lieblicher, ehrlich gesagt, als Reihen von Hot Dogs. Irgendwo im Hinterkopf könnte sich
sogar der Hang verstecken, die Vision in die persönliche Gewissheit zu verwandeln, all dies
gesunde Wachstum, diese Ordnung, dieses quellende Leben müsse auf irgendeiner Ebene
vergleichbare Bewegungen im eigenen Geist widerspiegeln. Müsste ich keinen Garten bestellen und bepflanzen, ich wüsste gar nicht, wozu der April gut sein soll.
Der April ist allerdings auch gut dazu, sich wieder mal über dieses sinnlose und zeitraubende Hobby zu ärgern. Ich verstehe Menschen nicht, die behaupten, sie „liebten“ die Arbeit
im Garten. Ein Garten ist die Erweiterung des Selbsts, also muss er eine Arena sein, in der
der Kampf nicht etwa ein Ende findet, sondern mit anderen Mitteln fortgesetzt wird. Sie
müssen beispielsweise darauf gefasst sein, sich irgendwann eingestehen zu müssen, dass Sie
den Kopfsalat zu tief gesetzt oder nicht genug gegossen haben. Sie müssen die Hoffnung
aufgeben, er werde morgen seine Spitzen zeigen, und die Reihe wieder ausgraben. Aber es
hat etwas Wohltuendes, sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert zu haben. Und das ist der
springende Punkt aller Gartenarbeit – sie bildet den Charakter. Weshalb Adam Gärtner
war. (Was er davon gehabt hat, wissen wir ja.)
Aber kann man sich vielleicht vorstellen, unser aller Vater wäre Maurer, Weber, Schuster
oder sonst etwas anderes als Gärtner gewesen? Natürlich nicht. Nur der Gärtner ist imstande, immer wieder so große Hoffnung aufzubringen, dieses Jahr werde er allen Dürren,
Sintfluten, Taifunen und eigenen Idiotien zum Trotz alles richtig machen! Überlassen Sie
es ruhig Gottvater, seiner einzigen Schöpfung, die zu so anhaltendem und unbelehrbaren
Selbstbetrug imstande ist, den richtigen Beruf ausgesucht zu haben.
Der Ehrlichkeit halber sollte ich hinzufügen, dass das Obige an einem der kältesten Tage
im Dezember geschrieben wurde.
Revolutionen
Und zum Abschluss dieser Einführung zu TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN einige
Gedanken von Arthur Miller, die den Kapitalismus im allgemeinen, vor allem aber auf
erschreckende Weise unsere eigene Zeit betreffen:
In den fünfziger Jahren verschickte Life einen Fragebogen, um ein Meinungsbild zur damals angeblich stattfindenden neuen Revolution zu erstellen. Ich schickte meinen unausgefüllt zurück und schrieb dazu, es gäbe keine Revolution. Heute glaube ich, dass ich damit
richtig und falsch lag.
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Zum einzigen Augenblick einer unmittelbar bevorstehenden Revolution – zumindest
während meiner Lebenszeit – kam es im Winter 1932, als die führenden Bankiers der Vereinigten Staaten nach Washington fuhren und mit dem Finanzministerium allen Ernstes
die Verstaatlichung ihrer Institute diskutierten. HInzu kommen ein paar Tage während
der Sitzstreiks in Flint, Michigan. Diese Ereignisse – ferner die in Geschäftskreisen wie in
der Bevölkerung weit verbreitete Meinung, das System habe einen toten Punkt erreicht
und in nächsten Schritt müsse es ganz einfach zu sozialistischen Eigentumsverhältnissen
kommen, wenn die USA nicht vom Chaos überrollt werden sollten – waren eine greifbare
Angelegenheit. In den nachfolgenden „ersten hundert Tagen“ der Regierung Roosevelt
kam es zu einer Unmenge von Sofortprogrammen zur Rettung des Kapitalismus, die einen
gesetzlichen Rahmen dafür schufen, wie kriminell oder wie raubgierig man sein durfte,
ohne ins Gefängnis zu wandern. Und die direkte Geldzahlung an verzweifelte Menschen
wurde offizielle Politik. Es war ein revolutionärer Augenblick, der meiner Meinung nach
nur deshalb vier oder fünf Jahre andauerte, weil das Establishment die Nerven verloren
und keine Ahnung hatte, wie es das Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekommen sollte. Sich in die Avantgarde einzureihen bedeutete daher notgedrungen, für den
Sozialismus einzutreten; es bedeutete, sich als politischen Menschen zu definieren.
(WIDERHALL DER ZEIT, p. 168)
Abb. 12 Arthur Miller
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Bibliographie / Literaturhinweise
I. Das Stück
Das Original, DEATH OF A SALESMAN, liegt in vielen Ausgaben vor. Stellvertretend
sei hier die gute alte Penguin-Ausgabe genannt:
Arthur Miller. DEATH OF A SALESMAN. London: Penguin, 1976.
Die heutzutage am meisten gespielte Übersetzung von TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN ist diejenige von Volker Schlöndorff und Florian Hopf, die im Fischer Verlag auch als Buchausgabe vorliegt:
Arthur Miller. TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN. Übersetzung Volker Schlöndorff
und Florian Hopf. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1986.
II. Über den Autor
1987 veröffentliche Arthur Miller seine Autobiographie, ein langes, aber sehr vergnügliches
Werk, in dem der Autor sich nur grob an die Chronologie seines Lebens hält und immer
wieder vorgreift oder zurückgeht, wenn ein Ereignis seines Lebens ihn gerade an ein anderes
erinnert. Eine lohnenswerte Anschaffung!
Arthur Miller. TIMEBENDS: A LIFE. London: Methuen, 1987.
Arthur Miller. ZEITKURVEN: EIN LEBEN. Deutsch von Hans Sartorius und Manfred Ohl.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1988.
Eine gute Gesamtdarstellung von Millers Werkt findet sich in der Biographie von Gottfried:
Martin Gottfried. ARTHUR MILLER: HIS LIFE AND WORK. New York: Da Capo Press,
2003.
III. Über das Stück
Ein lohnenswerter Einblick in die Arbeit des berühmten Regisseurs der Uraufführung,
Elia Kazan, stellen seine Notizen dar:
Elia Kazan. „Excerpts from the Notebook kept in preparation for directing _Death of a
Salesman.“ in Kenneth Thrope Rowe, A THEATER IN YOUR HEAD. New York: Funk &
Wagnalls, 1960, pp. 44-59.
Einige der wichtigsten Interpretationen des Stücks wurden zusammengestellt im folgenden
Büchlein:
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Helene Wickham Koon (Herausgeberin). TWENTIETH CENTURY INTERPRETATIONS
OF DEATH OF A SALESMAN: A COLLECTION OF CRITICAL ESSAYS. Englewood Cliffs,
New Jersey: Prentice-Hall, 1983.
Weit über TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN hinaus interessant sind die Äußerungen von Arthur Miller über seine eigene Theaterarbeit, die in einer Sammlung von
Essays vorliegen:
Arthur Miller. THEATERESSAYS. Herausgegeben von Krista Jussenhoven und Helmut
Harald Fischer. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1981.
III. Themen aus dem Stück
Arthur Miller schrieb nicht nur Theaterstücke, sondern vor allem auch viele Essays und einige Erzählungen, die beinahe alle lesenswert und ausgesprochen unterhaltsam sind. Hier
die deutschen Ausgaben:
Arthur Miller. WIDERHALL DER ZEIT: ESSAYS. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag,
2003.
Arthur Miller. GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag,
1969.
Sehr interessante Quellen zum „Amerikanischen Traum“ finden sich in einer Sammlung
von Interviews zu diesem Thema:
Studs Terkel. DER AMERIKANISCHE TRAUM: 44 GESPRÄCHE MIT AMERIKANERN.
Berlin: Wagenbach, 1981.
Abbildungsnachweis
Abbildung 1, 6, 7, 9, 10
Aus Arthur Miller. ZEITKURVEN. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987.
Abbildung 2, 3
Von http://www.nyc-architecture.com/SPEC/GAL-BW.htm 30.10.2008, 12.00 CET.
Abbildung 4
Von http://auto.howstuffworks.com/1939-chevrolet.htm, 30.10.2008, 12.00 CET.
Abbildung 5
Von http://www.wilsonart.com/design/statement/printarticle.asp?articleID=234,
30.10.2008, 12.00 CET.
24
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Abbildung 8
Von http://www.webstart.com/jed/house/trip/compressed/c7-ne-niagara/, 30.10.2008,
12.00 CET.
Abbildung 11
Von http://home.balcab.ch/r.l.sperandio/rezept_866.html, 30.10.2008, 12.00 CET.
Abbildung 12
Von http://www.culturekitchen.com/ archives/002813.html, 30.10.2008, 12.00 CET.
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