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Aus der Werkstatt Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 799 Raumplanung, Raumentwicklung und der öffentliche Gestaltungsanspruch Mein Interesse für räumliche Planung wurde Anfang der 1970er Jahre geweckt – genau kann ich es nicht mehr datieren –, als mir in einer Düsseldorfer Autobücherei bei der Suche nach interessanten Bildbänden zu Architektur und Städtebau ein Exemplar des „Nordrhein-Westfalen-Programms (NWP) 1975“ in die Hände fiel. Ich gebe gern zu, dass mich seinerzeit die darin enthaltene Perspektive der gesellschaftlichen Gestaltung durch raumbezogene Planung durchaus fasziniert hat. Intuitiv erkannte ich darin einen für mich sehr konkreten Ausdruck des in dieser Zeit allerorten diskutierten Bedarfs an gesellschaftlichen Reformen auf dem Weg zu einer „besseren“, sozialeren, gerechteren Welt. Geprägt vom ethisch anspruchsvollen und politisch hoch motivierten „Klima“ dieser Zeit bestand für mich, bestand für uns überhaupt kein Zweifel, „dabei sein“ zu wollen, wenn es um die Gestaltung dieser „besseren Welt“ gehen sollte. In den dürren Worten des Nordhein-Westfalen-Programms war von einer „räumlich-zeitlich und finanziell abgestimmten Konzeption des Regierungshandelns“ in Bereichen mit „besonders großer struktureller und gesellschaftlicher Bedeutung“ die Rede1. Andreas Schlieper 2 hat dieses Selbstverständnis über ein Jahrzehnt später trefflich zusammengefasst: „Das gesellschaftliche und politische Verständnis in der Bundesrepublik wandelte sich: Wenn der Staat schon in die wirtschaftlichen Prozesse eingriff, dann sollte es auch überlegt, gezielt und planvoll vor sich gehen. Ab etwa 1968/69 begann in der Bundesrepublik die Ära der „politischen Planung“, die aus der Kritik und der Analyse gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen mit wissenschaftlicher Unterstützung politische Programme und Strategien ableiten sollte. … Es war der Schritt vom reaktiven Krisenmanagement zur bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung.“ Erst einige Jahre später, gegen Ende der 1970er Jahre wurde mir deutlich, welche Folgen eine vollständige Umsetzung der Modernisierungsstrategien im Sinne des NWP 1975 gehabt und welche Kosten sie mit sich gebracht hätte. Sie hätte nicht zuletzt zur flächenhaften „Sanierung“, d. h. z. B. Abriss von zahllosen Arbeitersiedlun- Rainer Danielzyk gen im Ruhrgebiet, geführt, die durch rational geplante „Siedlungsschwerpunkte an Haltepunkten des schienengebundenen Schnellverkehrs“ ersetzt worden wären. Gerade die Kritik an diesen Planungen und die Neubewertung des „Wohnwerts“ dieser Siedlungen kann als exemplarisch für die Probleme und Defizite, ja Realitätsferne der rationalistischen Modernisierungsstrategie angesehen werden. Eine neue Generation von Stadtplanern und insbesondere eine kritische „Gegenöffentlichkeit“ stellten die „Allmachtsphantasien“ eines Top-down-Restrukturierungsansatzes zu Recht infrage.3 Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob einer vergleichsweise kurzen Phase der „Planungseuphorie“ eine über Jahrzehnte dauernde Zeit der Planungskritik und Planungsskepsis folgte. Mit der sich in den 1980er Jahren immer stärker durchsetzenden Globalisierung und Ökonomisierung wurden Deregulierung und Privatisierung im staatlichen Sektor und damit auch im Bereich der Raumplanung gefordert. Immer knapper werdende Mittel der öffentlichen Hand und offenkundige Umsetzungsdefizite bisheriger planerischer Ansätze waren darüber hinaus pragmatische Gründe, die das bisherige raumplanerische System grundsätzlich infrage stellten.4 Die klassische Vorgehensweise der raumbezogenen Planung 5 mit ihrer Fixierung auf die Erarbeitung von Plänen und Programmen galt als längst nicht mehr angemessen. An der klassischen Planung wird dabei insbesondere kritisiert, dass vorgegebene Themenkataloge bei der Erstellung von Plänen auf den – bis zu sechs! – verschiedenen Planungsebenen unabhängig von ihrer aktuellen Relevanz bearbeitet werden. Des Weiteren wird bemängelt, dass die oft über Jahre aufwändig erarbeiteten Pläne, die dann wiederum für sieben bis fünfzehn Jahre Gültigkeit haben sollen, kaum auf den aktuellen Wandel reagieren können. Im Falle fortlaufender Änderungen und Ergänzungen der Pläne, die angesichts der sich rasch verändernden politischen und gesellschaftlichen Anforderungen in immer kürzeren Abständen erfolgen, stellt sich die Frage, ob die Pläne noch einer halbwegs konsistenten „Planungsphi- (1) NWP 1975, S. 1 f. (2) Schlieper, A.: 150 Jahre Ruhrgebiet: Ein Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte. – Düsseldorf 1986, S. 185 f. (3) Vgl. z. B. Blase, D.: Stadtentwicklung im Ruhrgebiet. Von den sechziger Jahren bis zur IBA Emscherpark. In: Die Entdeckung des Ruhrgebiets: Das Ruhrgebiet in NordrheinWestfalen 1946 bis 1996. Hrsg.: Barbian, J.P.; Heid, L. – Essen 1997, S. 221–245; Rommelspacher, T.: Staat, Montankapital und Ruhrgebiet. In: Ruhrgebiet – Krise als Konzept. Untersuchungen zur Situation und Zukunft eines industriellen Lebensraums. Hrsg.: Katalyse – Technikergruppe. – Bochum 1982, S. 11–54 (4) Vgl. Fürst, D.: Die Notwendigkeit, über Planung wieder nachzudenken. In: Wandel der Planung im Wandel der Gesellschaft. Hrsg.: Fürst, D.; Müller, B. – Dresden 2000. = IÖRSchriften 33, S. 1–7 (5) Aufgrund der Kürze dieses Beitrags wird hier etwas undifferenziert von Raumplanung bzw. raumbezogenem staatlichen Handeln gesprochen. Es wäre sinnvoll, hier zwischen Stadtplanung bzw. Stadtentwicklung und (überörtlicher) Raumplanung bzw. Raumentwicklung stärker zu unterscheiden. 800 Aus der Werkstatt losophie“ folgen können. Neben dem Vollständigkeitsanspruch und der Inflexibilität wird zudem eine mangelnde Umsetzungsorientierung kritisiert. Im Kontext der allgemeinen Liberalisierungsbestrebungen wird darüber hinaus behauptet, dass Raumplanung „Freiheit beschränkt“ und einer „Regulierungswut“ Vorschub leistet sowie durch „überzogene Planungs- und Genehmigungsverfahren“ die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte behindert. Insoweit steht raumbezogene Planung heute, mehr denn je, unter Rechtfertigungsdruck. (6) Vgl. Danielzyk, R.; Krüger, R.; Priebs, A.: Das Regionale Entwicklungskonzept als diskursiver Planungsansatz für den Raum Bremen/Bremerhaven/ Oldenburg. In: Der Unterweserraum – Strukturen und Entwicklungsperspektiven. Hrsg.: Krüger, R. – Oldenburg 1995, S. 111–136 (7) Vgl. z. B. Kegel, U.: Neue Planungsprozesse für die Regionalplanung. In: Praxis der Stadtund Regionalentwicklung. Hrsg.: Selle, K. – Dortmund 2006. = Planung neu denken, Bd. 2, S. 90–100 (8) Vgl. z. B. Priebs, A.: Planung neu denken! In: Praxis der Stadt- und Regionalentwicklung, a. a. O., S. 101–106 (9) Vgl. z. B. Knieling, J. ; Fürst, D. ; Danielzyk, R.: Kooperative Handlungsformen in der Regionalplanung. Zur Praxis der Regionalplanung in Deutschland. – Dortmund 2003 (10) Vgl. Danielzyk, R.; Priebs, A.: Regionale Entwicklungskonzepte. Erfahrungen aus Westdeutschland und Schlußfolgerungen für die ostdeutschen Länder. – Duisburg 1997 (11) Kruse, H.: Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen. In: Regionale Politik und regionales Handeln. Beiträge zur Analyse und Ausgestaltung der regionalen Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen. Hrsg.: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. – Duisburg 1991, S. 11 (12) Ebda., S. 12 f. Spätestens seit Anfang der 1990er Jahre hat die Raumplanung auf die Kritik durch eine zum Teil tiefgreifende Veränderung ihrer Planungsprozesse und -ansätze reagiert. Als ein frühes Beispiel für dieses veränderte Planungsverständnis kann das Regionale Entwicklungskonzept für den Raum der Gemeinsamen Landesplanung Bremen/ Niedersachsen gelten.6 Insbesondere die Regionalplanung hat sich hinsichtlich der Planungsprozesse7 und des Selbstverständnisses sehr deutlich weiterentwickelt 8 – hin zu einem stärker von einem kooperativen Planungsverständnis geprägten Vorgehen.9 Für das veränderte Selbstverständnis raumbezogenen staatlichen Handelns grundlegender waren aber wohl die neuen Steuerungsansätze im Kontext der regionalisierten Strukturpolitik, wie sie erstmals Ende der 1980er Jahre wiederum in Nordrhein-Westfalen und auch in Niedersachsen entwickelt und umgesetzt wurden.10 Heinz Kruse11 hat den Kontext zusammengefasst: „Innovative Technologien, neue Organisationsformen und dezentrale Entscheidungs- und Steuerungsfunktionen führten in den Betrieben und zwischen den Betrieben zu gravierenden Veränderungen … Der technologische Fortschritt hat demnach auch im betriebswirtschaftlichen Sinne schon soziale und kulturelle Voraussetzungen und Folgen“. Neben der dezidierten Betonung der soziokulturellen Dimension des Strukturwandels entstand auch eine geradezu „geographisch“ anmutende Diskussion über die Bedeutung unterschiedlicher räumlicher „Maßstabsebenen“12: „Mit der Globalisierung der Märkte werden diese größer, unvorhersehbar und instabil. Insgesamt wird das Wirtschaftssystem differenzierter und komplexer … Deshalb haben wir als Parallelprozess zur Globalisierung unserer Wirtschaft die enge regionale Vernetzung, weil die Regionen die Räume abbilden, in denen über zentrale Infrastrukturvorhaben und über die sonstigen qualitativen Standortfaktoren entschieden werden kann. Die Herausforderung an die Strukturpolitik des Staates besteht … darin, die Instrumente so eng wie möglich mit wirtschaftlichen Entwicklungen zu koordinieren … Deshalb setzt dieser konkrete Koordinierungsvorgang eine Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen auf die Region voraus“. Es wird hier also angenommen, dass die regionale Ebene besonders gut dafür geeignet sei, staatliches und privates Handeln zu koordinieren. Durch diese Konzeption werden Handlungsräume konstituiert, die eine zukunftsorientierte Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ermöglichen und zugleich die Legitimität staatlichen Handelns durch Nachweis seiner Handlungsfähigkeit in schwierigen Situationen sichern sollen, wobei sich sein Rollenverständnis durchaus verändert.13 Der gerade skizzierte Wandel des raumbezogenen öffentlichen Handelns, der nach meinem Eindruck sehr stark von paradigmatischen Veränderungen in der regionalen Wirtschaft- und regionalisierten Strukturpolitik inspiriert wurde und sich in letzter Zeit immer stärker, etwa bis hin zur ländlichen Entwicklungspolitik, ausgebreitet hat, kann wohl mit Klaus Selle am besten als „Raumentwicklung unter Beteiligung öffentlicher Akteure“ bezeichnet werden.14 Dabei sollte beachtet werden, dass es bei dem Hinweis auf eine „neue Planungskultur“ bzw. ein neues kooperatives Selbstverständnis der Planung nicht zuletzt um veränderte Schwerpunktsetzungen im Diskurs über das Selbstverständnis der Planung geht. In der Praxis der Planung ist durchaus festzustellen, dass traditionelle Handlungsmuster nicht abgelöst werden, sondern weiterhin eine Rolle spielen, und klassisch-hierarchische und kooperative Steuerungsansätze eng miteinander verknüpft sind 15. Auch wenn wohl die gegenwärtigen Ansätze zur Gestaltung räumlicher Strukturen besser als „Raumentwicklung unter Beteiligung öffentlicher Akteure“ denn im klassischen Sinne als „Raumplanung“ zu bezeichnen sind, so ändert das nichts daran, dass trotz aller Grundsatzkritik und Liberalisierungseuphorie wichtige Argumente für einen öffentlichen, politisch verantworteten Anspruch auf Gestaltung räumlicher Entwicklungen und Strukturen sprechen. Die wichtigsten Argumente dafür sind meines Erachtens: Raumbezogenes öffentliches Handeln ist notwendig, um künftigen Generationen Handlungsspielräume zu erhalten. Denn Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 ohne Regulierung entstehen Marktpreise nur auf der Basis der aktuellen Angebotsund Nachfragesituation. Die „Verantwortung gegenüber der Zukunft“ war demgegenüber schon immer ein wesentliches Argument für raumbezogene Planung. Gerade die Nutzung von Flächen schafft häufig kaum oder gar nicht reversible Strukturen, die die Handlungsspielräume nachfolgender Generationen massiv beeinträchtigen können, ohne dass es dafür eine Legitimation gäbe. Neben den jetzt noch gar nicht bekannten Motiven und Bedürfnissen künftiger Generationen sind auch die Interessen der jetzt Lebenden, die aber nur „eingeschränkt marktfähig“ sind, zu beachten. Hinter dieser abstrakten Formulierung verbergen sich die Bedürfnisse und Interessen einer großen Zahl sozialer Gruppen (z. B. Kinder, Alte usw.). Selbstverständlich bedarf dieses Argument einer intensiven Reflexion, denn damit ist die Idee einer „stellvertretenden“ Wahrnehmung von Interessen sowie damit zusammenhängender Fragen nach Fremdbestimmung und kultureller Kolonialisierung verbunden – was aber keinesfalls gegen das Argument, sondern nur gegen eine unreflektierte Form stellvertretenden Handelns spricht. Die Begrenztheit des Raums ist ein weiteres Argument für öffentliche, politisch legitimierte Raumgestaltung. Möglichkeiten zur Vermehrung nutzbarer Flächen mögen prinzipiell gegeben sein, sind aber vielfach nicht von nennenswertem Umfang und vor allem ökologisch, ökonomisch und auch sozial-kulturell problematisch (z. B. Landgewinnung im Meer, Kultivierung von Wüsten usw.). Da die Nutzbarkeit des Raums offenkundig begrenzt ist und die potenziellen Interessen nicht alle am Markt zur Geltung gebracht werden können, ist eine politisch vermittelte Organisation der Raumnutzung erforderlich. Privates Handeln (der Unternehmen und der Haushalte) erzeugt externe Effekte, die – aus grundsätzlichen oder aktuellen Gründen – (noch) nicht in den Marktpreisen zur Geltung kommen. Deshalb sind Maßnahmen erforderlich, um einer Sozialisierung der Kosten und Nachteile bei Privatisierung der Gewinne und Vorteile entgegenzuwirken. 801 Raumbezogenes öffentliches Handeln ist darüber hinaus für die Bereitstellung gesellschaftlicher Kollektivgüter erforderlich. Dazu gehören nicht nur verschiedene Infrastrukturen, sondern ebenso die Sicherung und Entwicklung von Naturraumpotenzialen und Freiraumfunktionen. Selbstverständlich kann sich die Auffassung dessen, was durch die öffentliche Hand bereitgestellt bzw. „nur“ reguliert werden muss, verändern (vgl. den Wandel im Bereich der Telekommunikations- und Verkehrsdienstleistungen). Darüber hinaus ist auch noch daran zu erinnern, dass auch frühere, öffentlich und von der Gesellschaft insgesamt bezahlte Investitionen im Hinblick auf ihre Nutzbarkeit gesichert werden müssen. Es wäre nicht zu verantworten, für kurzfristige Gewinninteressen über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsene und finanzierte Siedlungs- und Infrastrukturen aufzugeben.16 Die genannten Argumente sind eher aus funktionalen und prozessualen Überlegungen hervorgegangen. Es geht hier keinesfalls darum, vor dem Hintergrund bestimmter „Weltbilder“ normativ „richtige“ Strukturen zu postulieren. Kern eines zeitgemäßen raumbezogenen Gestaltungsansatzes kann nicht die Verwirklichung bestimmter inhaltlicher Leitbilder, sondern muss die Organisation adäquater Planungs- und Gestaltungsprozesse sein. Am Beispiel der traditionsreichen und zugleich vielfach kritisierten raumordnungspolitischen Leitvorstellung der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (§ 1 Abs. 2 ROG), die durchaus als räumlicher Ausdruck des sozialstaatlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik verstanden werden kann, kann gezeigt werden, dass weniger die klassischen Instrumentarien einer räumlichen Ausgleichspolitik heute noch angemessen sind, sondern vielmehr prozedurale Regelungen. So könnten Zielvereinbarungen zwischen übergeordneten staatlichen Ebenen und Teilregionen über die zur Verfügung gestellten Ressourcen und die zu erreichenden Ziele abgeschlossen werden. Das wäre eine interessante Alternative zur vielfach praktizierten konsensualen Formulierung allgemeiner Zielvorstellungen in der räumlichen Planung, die weithin zustimmungsfähig sind, aber kaum Relevanz für konkrete öffentliche Aktivitäten und Mittelvergaben haben.17 (13) Vgl. Kilper, H.: Die Internationale Bauausstellung Emscherpark. Eine Studie zur Steuerungsproblematik komplexer Erneuerungsprozesse in einer alten Industrieregion. – Opladen 1999. Von besonderem Interesse wäre die Untersuchung der Frage, ob Elemente und „Mentalitäten“ aus den Zeiten der „Integrierten Entwicklungsplanung“ („Planungseuphorie“) der 1970er Jahre in diesem „neuen“ struktur- und planungspolitischen Verständnis enthalten sind, mithin nur eine zeitgemäß modernisierte Fassung der planerischen „Allmachtsphantasien“ zum Ausdruck kommt. (14) Selle, K.: Shut down. Restart... Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion über die Entwicklung von Städten und Regionen und der mögliche Beitrag öffentlicher Akteure. In: Praxis der Stadt- und Regionalentwicklung, a. a. O., S. 557– 577. Mir ist bewusst, dass diese Interpretation stärker zwischen der historischen Entwicklung der Stadtplanung bzw. -entwicklung und der überörtlichen Raumentwicklungspolitik unterscheiden müsste. Gerade im Hinblick auf die konkrete lokale Gestaltung müsste die Bedeutung der „Einbindung“ von z. B. Grundstücksbesitzern und Investoren, aber auch die Auseinandersetzung mit bürgerschaftlichem Widerstand für den Wandel des Planungsverständnisses stärker gewürdigt werden. (15) Vgl. z. B. empirische Studien zur Praxis der Stadtplanung in Deutschland von Klemme, M.; Selle, K.: Zwei Jahre Stadtplanung. Versuch, den Alltag kommunaler Mitwirkung an der räumlichen Entwicklung zu beschreiben. In: Praxis der Stadtund Regionalentwicklung, a. a. O., 6, S. 262–284 (16) Vgl. Blotevogel, H. H.: Zum Verhältnis des Zentrale-OrteKonzepts zu aktuellen gesellschaftspolitischen Grundsätzen und Zielsetzungen. In: Die Fortentwicklung des ZentraleOrte-Konzeptes. Hrsg.: ders. – Hannover 2002. = ARL-Forschungs- und Sitzungsberichte 217, S. 17–23 (17) Vgl. dazu Blotevogel, H. H.; Danielzyk, R.: Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – Herausforderung für die Raumordnungspolitik? In: Praxis der Stadt- und Regionalentwicklung, a. a. O., S. 59–71 802 (18) Vgl. Selle, K.: Shut a. a. O., S. 562 (19) Ebda. (20) Ebda., S. 573 Otto Dienemann Aus der Werkstatt down, Genau in diesem Sinne ist Klaus Selle zuzustimmen, dass „räumliche Planung nur ein Beitrag öffentlicher Akteure zur räumlichen Entwicklung“18 ist. Zugleich ist auch sein Hinweis berechtigt, dass „gelegentlich überzogene Hoffnungen“ auf die Wirksamkeit kooperativer, Netzwerk-orientierter Steuerung gesetzt werden.19 Es sei an dieser Stelle daher die Prognose gewagt, dass räumliche Planung im engeren Sinne aufgrund der mit ihr gegebenen Möglichkeit, verbindliche Entscheidungen in Verteilungskonflikten zu treffen sowie Planungsund Investitionssicherheit auf längere Sicht zu schaffen, mittelfristig wieder eine größere Bedeutung erlangen wird. In zu vielen Fällen hat sich das ausschließliche Vertrauen auf den konsensorientierten Diskurs nicht bewährt. Allerdings ist damit keine Rückkehr zur hierarchischen Steuerung im Sinne der überkommenen integrierten Entwicklungsplanung der 1970er Jahre gemeint. Zeitgemäße Gestaltung der räumli- chen Entwicklung wird vielmehr diskursive Verfahrensschritte bei der Erarbeitung mit rechtsverbindlichen Entscheidungen zur Sicherung der Prozessergebnisse kombinieren. Dabei ist nicht auszuschließen, dass – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von den USA ausgehenden Immobilien-, Kredit- und Bankenkrise – die Deregulierungseuphorie ihren Höhepunkt überschritten hat und die Verlässlichkeit einer öffentlichen Gestaltung in politischer Verantwortung wieder eine höhere Bedeutung erlangt. Aber auch dann würde gelten, was Klaus Selle hinsichtlich der Gestaltung räumlicher Entwicklung treffend zusammenfasst: „Ob es nun um den vermeintlichen Gegensatz von moderierenden und hoheitlichen Steuerungsverhalten, um Plan- oder Prozessorientierung, um Rückzug oder Ausweitung öffentlicher Steuerungsansprüche oder eben um Projekt vs. Strategie geht – in allen Fällen gilt: Nicht entweder / oder sondern sowohl / als auch kennzeichnen die Wirklichkeit“ 20. Bauforschung, Raumordnung, Stadtsanierung und Entwicklung von Standorten im Land Brandenburg Ein Rückblick auf die letzten 25 Jahre Zur räumlichen Situation sowie zur Situation in ostdeutschen Städten und Dörfern kurz vor der Wende Die im Rahmen der Zwangsbindung des östlichen Teils Deutschlands an die UdSSR gesellschaftspolitisch verfolgten Ziele zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft sowjetischer Prägung mit Planwirtschaft, zentralem Dirigismus, Beseitigung von Privateigentum und Aufbau staatlich geführter Produktionsstrukturen waren grundlegend gescheitert. Begleiterscheinungen des Niedergangs der ehemaligen DDR waren eine unvertretbar hohe Beanspruchung der Naturressourcen, hohe Luft-, Wasser- und Bodenbelastungen sowie desolate Innenstädte, dies zum einen wegen der einseitigen Orientierung auf randstädtischen Plattenbau zur Lösung der Wohnungsfrage, zum anderen wegen des absolut vorrangigen Ausbaus von Berlin (Ost). Die Wirtschaftsordnung hatte sich als nicht zukunftsfähig erwiesen: Die produktive private mittelständische Wirtschaft war beseitigt und in staatliche Großbetriebe zwangseingegliedert, die zentrale Planwirtschaft auf der Basis volkseigener Betriebe nicht ausreichend produktiv. Die Abschaffung bzw. starke Einschränkung von Privateigentum und Privatinitiative hatten in Verbindung mit dem zentralen staatlichen Dirigismus diesen wirtschaftlichen und politischen Niedergang vorrangig mitzuverantworten. Der nach der Teilung Deutschlands und insbesondere nach der Grenzziehung einsetzende Eingriff in die räumlichen Strukturen Ostdeutschlands mit neuen Standorten für die in diesem Teil Deutschlands nicht vorhandene Grundstoff- und verarbeitend Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Industrie war nach der Wiedervereinigung in dem nun wieder räumlich zusammengehörigen deutschen Wirtschaftsgefüge nicht mehr zu halten, teilweise auch infolge des technologischen Rückstands. Der Rückbau war mit Bezug auf ein nun wieder einheitliches Deutschland überwiegend eine Folge wirtschaftlicher Vernunft, auch wenn das von den örtlich Betroffenen anfänglich oft nicht immer so gesehen wurde. Die Raumordnung stand im Zuge des nun erforderlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus vor sehr großen Aufgaben. Die Defizite waren enorm: • Der Anteil der Bausubstanz in den Bauzustandsstufen III (schwere Schäden) und IV (unbrauchbar) war überaus hoch. Das zeigte sich insbesondere in den Innenstädten sowie im Bereich der technischen Infrastruktur, wo er teilweise bei über 40 % lag. Rund 50 % der vor 1945 gebauten Mehrfamilienhäuser, rd. 30 % der Verkaufsstellen, 49 % der Großhandelslager sowie 66 % der kommunalen Straßen befanden sich ebenfalls in den Bauzustandsstufen III und IV. • Die ökologische Belastung in den industriellen Ballungsgebieten erreichte europäische Spitzenwerte. Die SchwefeldioxidEmission war fünf- bis sechsmal höher als in der Bundesrepublik Deutschland, und die baulichen Anlagen und Ausrüstungen waren teilweise in überaus schlechtem Zustand. Tagebaugebiete, Standorte des UranAbbaus sowie auch Militärstandorte waren Gebiete von besonderer ökologischer Brisanz. Aber auch überdüngte Felder in der Landwirtschaft stellten eine Bedrohung dar, insbesondere in den Gebieten mit leichten Böden und geringen Bodenwertzahlen. • Die technische Infrastruktur; besonders im Bereich Abwasserentsorgung und -behandlung, war in den Städten unter 20 000 Einwohnern sowie in den kleineren Siedlungen und Dörfrern wenig ausgebaut. Der Anschluss an Kläranlagen lag unter 40 %. Völlig unzureichend war die Ausstattung der Haushalte mit Telefonananschlüssen. • Die mit dem Ziel der Unterstützung einer zentralistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsführung geschaffenen 15 Bezirke (einschließlich Berlin/Ost) mit ihren Bezirksverwaltungen waren aufzulösen. Das historisch gewachsene Territorial- bzw. Regionalsystem mit Ländern und Landtagen war mit Blick auf das nun wieder einheit- 803 liche Deutschland und das in den Altbundesländern erfolgreiche förderale System wieder zur Ordnungsgrundlage einzurichten. Wichtigste Ziele zu Beginn der 1990er Jahre Unmittelbar nach der Wiedervereinigung setzte sich das Land Brandenburg vor allem folgende Ziele: • Bewahrung und Entwicklung der erhaltenswerten Bausubstanz der Städte und Dörfer, insbesondere der kulturhistorisch wertvollen Ensembles in den Kernbereichen der Städte, aber auch von respektablen Herrenhäusern und Landsitzen im Land Brandenburg; Nachbesserung der Plattenbaugebiete und Beseitigung ihrer Defizite • Erhalt und Ausbau der Netze der technischen Infrastruktur; Angleichung an die in den Altbundesländern erreichten Standards • Ökologischer und wirtschaftlicher Umbau der produzierenden Bereiche; Wiederaufbau mittelständischer und kleiner Betriebe bei durchgängiger Modernisierung; Rückbau der im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr benötigten Industriestandorte sowie Rekultivierung von überflüssigen Tagebau- und Militärflächen • Entwicklung des Großraums Berlin bei Orientierung an den künftigen Verkehrsund Verflechtungsbeziehungen zum osteuropäischen Raum, Gestaltung Berlins als Hauptstadt der BRD und Metropole des Ostens im Rahmen der EU; Entwicklung und Einbindung Berlins in das Netz der Weltmetropolen; Gestaltung Berlins und Brandenburgs als ein Bundesland; Erreichen einer neuen Art der Zusammenarbeit zwischen Zentralstadt und Umland • Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den Regionen West- und Ostdeutschlands; Sicherung regionaler Mindeststandards; Stärkung der regionalen Eigenkräfte; Überwindung des lähmenden Zentralismus ostdeutscher Prägung; Stärkung von Eigeninitiative und Privateigentum in den östlichen Bundesländern • Mitwirkung an der Schaffung von Grundlagen für ein europäisches Raumentwicklungskonzept, insbesondere mit Blick auf die östlichen Nachbarländer. 804 Aus der Werkstatt Zu den Rahmenbedingungen bei der Umsetzung der Ziele und ausgewählte Probleme der zurückliegenden Jahre • Grundlage für die anstehenden Aufgaben war, wie in allen neuen Bundesländern, ein breit angelegtes Förderprogramm, das alle vorgenannten Ziel- und Aufgabenstellungen bediente. Der materielle Rahmen war umfänglich und überaus wirkungsvoll. • Das Hauptproblem jedoch war, insbesondere in den neuen Bundesländern: Der wirtschaftliche Strukturwandel, der demographische Wandel, die Binnenwanderung sowie die Globalisierung verliefen parallel und schneller als vorhergesehen. Die Bedingungen für die Stadterneuerung und den Aufbau Ost veränderten sich ständig gravierend, und das in überaus hohem Tempo. Die Prozesse überlagerten sich. • Die enormen Rationalisierungsgewinne konnten in fast allen Wirtschaftsbereichen nicht mehr vollständig durch die Ausweitung der Märkte aufgefangen werden. Die Automatisierung erfasste immer größere Wirtschaftsbereiche und der Prozess hält an. Der Sockel arbeitsloser Menschen erhöhte sich bundesweit sehr rasch. Noch nicht automatisierbare lohnintensive Arbeiten wurden in Billiglohnländer ausgelagert. Die in den neuen Bundesländern entwickelten Gewerbegebiete füllten sich langsamer als erwartet. Es kam zu Rückabwicklungen bei bereits an Investoren verkauften Gewerbeflächen, weil sie in den östlichen Nachbarländern unter noch günstigeren Rahmenbedingungen produzieren konnten. • In einer Wissensgesellschaft, die mit zunehmender Geschwindigkeit den Technologiewandel vollzieht, wird es für weniger begabte junge Menschen immer schwieriger, sich zu integrieren und über einen Arbeitsplatz gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Sie werden sich an der notwendigen Bildungsoffensive naturgemäß nicht beteiligen können und auch keinen Nutzen aus ihr erfahren. Größere Bevölkerungsgruppen mit geringeren Einkommen waren zu integrieren, und dieser Prozess hält an. • Das Ausbluten der Kernstädte, die Verluste im stadttragenden Einzelhandel, die Verluste an Zentralität infolge höherer Mobilität und veränderter Lebensführung waren in den neuen Bundesländern spürbarer als in den alten. Die kleinräumig durchmischte europäische Stadt mit ihren unterschiedlichen Daseinsfunktionen litt erheblich. Funktionsverluste und teilweise Perforation wurden zum Problem vieler Städte in den neuen Bundesländern. Hinzu kamen virtuelle Welten. Nicht nur die Einheit des Ortes, auch die Einheit der Zeit lösen sich auf – Einkaufen rund um die Uhr vom häuslichen Sessel aus. Einkauf in künstlichen Welten, witterungsunabhängig gekoppelt mit Wellnesstempeln unter riesigen Glaskuppeln, sowie dreifach überhöhte Verkaufsflächenangebote setzten den historisch gewachsenen, kleinräumig durchmischten Städten zu. • Ein oft zweifelhaft gelebtes Demokratieverständnis in den neuen Bundesländern sowie auch wachsende Bürokratie in den Ämtern und Eigennutz standen vielen konzipierten zukunftsfähigen Lösungen im Wege. Überörtliches Denken mit Blick auf die Nachbargemeinden und die Region mussten sich erst entfalten. Die Einheit Berlin/Brandenburg war auf der gegebenen Basis nur in kleineren Schritten denkbar. Was ließ sich von diesen Zielen verwirklichen? Wo haben wir das Machbare erreicht? Wo fehlte uns seinerzeit der Weitblick? • Es gab Forschungsvorlauf in den alten Bundesländern, insbesondere vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung sowie den Fachverbänden für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung. Und es lagen die Erfahrungen aus der Städtebauförderung in den alten Bundesländern aus dem Beginn der 1970er Jahre vor. Das war zu Beginn der 1990er Jahre für die neuen Bundesländer von unschätzbarem Wert. Aber die Rahmenbedingungen hatten sich bereits geändert und änderten sich in den Folgejahren weiter sehr dynamisch, ohne dass notwendige Reaktionen hierauf immer rechtzeitig erfolgten. Nicht immer war formales Übertragen alter Erfahrungen angemessen, denn nicht alles, was einstmals erfolgreich war, ließ sich übernehmen. Mit der Sanierung der Städte, der Entwicklung der Infrastruktur sowie der Umgestaltung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern stellten sich für die Stadt und Raumentwicklung neue Fragen, auf die zu reagieren war. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 • Auf der Grundlage der Förderprogramme vom Bund und den Ländern und insbesondere der Förderpolitik des Bundes sowie des Landes Brandenburg wurde in den zurückliegenden 25 Jahren Bedeutendes geleistet. In historisch kurzer Zeit wurden eine vergleichbar hochentwickelte Infrastruktur sowie sanierte Innenstädte und vielerorts hochmoderne zukunftstragende Industriestandorte geschaffen. Überaus Beachtliches wurde so für eine nachhaltige Raum- und Siedlungsentwicklung und damit für ein zukunftsfähiges Deutschland in einem größeren Europa erreicht. Ausgebaute West-Ost-Achsen sind ein wichtiges Ergebnis. Der Flughafen Berlin-Brandenburg International ist im Bau. • Bedeutsames wurde auch bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den Regionen West- und Ostdeutschlands erreicht. Sanierte ostdeutsche Innenstädte sind heute Anziehungspunkt für die internationale Fachwelt sowie für kultur- und kunstbeflissene Menschen aus aller Welt. Die Stadt- und Infrastrukturentwicklung ist sehr positiv verlaufen. Die Städte in den neuen Bundesländern erfüllen ihre Funktion als Motoren der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung; größer sind ihre Probleme in den Fragen des sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Integration. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, verbunden mit sozialer Unsicherheit, die nun höhere Eigenverantwortung in einer Welt, in der es zu wenig Arbeit gab, die Brüche in den Arbeitsbiografien, aber auch Kleinmut und Intoleranz waren Ursache für Spannungen und Rückschläge in der Entwicklung und Angleichung der Lebensverhältnisse. • Eine flächenzersiedelnde Ausbreitung von Wohn-, Handels- und Gewerbegebieten in stadtnahen Gebieten, in den Verkehrskorridoren und stark genutzten Freizeiträumen konnte in den neuen Bundesländern trotz aller Negativerfahrungen in den alten Bundesländern und rechtzeitig ausgesprochener Warnungen nicht erreicht werden. Das Wohnen nach westeuropäischem Muster in freistehenden Einfamilienhäusern im Grüngürtel am Rande von Städten sowie die Ansiedlung von Handel und Gewerbe an den Knotenpunkten der Mobilität waren auch in den neuen Bundesländern das stärkere Argument. Die Technologieumbrüche und die hohe und ständig weiter wach- 805 sende Warenvielfalt im Handel sowie die Erfordernisse moderner arbeitsteiliger Produktion im nationalen und internationalen Maßstab rund um die Uhr mit den dazu gehörenden Transport- und Logistikprozessen favorisierten die Achsenkreuze der Verkehrsadern. Auch war die Schaffung von selbstgenutztem Wohneigentum den ostdeutschen Bürgern über Jahrzehnte nicht möglich gewesen, selbst wenn sie über das nötige Bauland verfügten. Das gewünschte Ziel, die Eigentumsquote deutlich zu erhöhen, wurde in den neuen Ländern erreicht, die Zersiedlung war dabei hinzunehmen. Die Nachfrage nach Geschosswohnungsbauten war nur begrenzt, zu einseitig war in den Jahren der DDR der Geschossbau favorisiert worden. Der Nachholbedarf bestand im Eigenheimbau. • Infolge der großzügigen Förderbedingungen und Rahmensetzungen für mögliche Abschreibungen sowie in Unterschätzung der demographischen Entwicklungen und der Binnenwanderungsbewegungen im Bundesgebiet geriet der Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern in Schieflage. Wohnungsleerstand, von Insolvenz bedrohte Wohnungsunternehmen sowie Banken mit faulen Krediten waren die Folge. Wohnungsleerstand in Plattenbauten wie auch in Altstadtquartieren von teilweise mehr als 15 % lähmten die Wohnungsunternehmen. Wohnungsbestände wurden gegen das Marktverhalten der Marktteilnehmer modernisiert. Von einem ausgeglichenen, funktionierenden Wohnungsmarkt hatte man sich entfernt. • Mit dem Förderrahmen zum Stadtumbau Ost wurde erfolgreich gegengesteuert. Bei vorrangiger Orientierung auf den Erhalt gewachsener Stadtstrukturen und den Rückbau nicht integrierter Wohnstandorte wurde der Prozess des Gesundschrumpfens als ein Prozess der Kontraktion von außen nach innen eingeleitet. Der Erhalt ortsüblicher Baustrukturen stand im Vordergrund. In diesem notwendigen Stadtumbauprozess wurde auch die Infrastruktur auf das Notwendige zurückgefahren. Die demographischen und sozialen Rahmenbedingungen in den Städten und Gemeinden wurden dabei auch mit Blick auf Nachbargemeinden vorausschauend einbezogen. Ein Lernprozess hatte sich vollzogen. Nicht Wachstum im herkömmlichen Sinne, sondern das sinnvolle Gesundschrumpfen bestimmt in 806 Aus der Werkstatt vielen brandenburgischen Städten und Gemeinden die Arbeit, und dieser Prozess hält an. Bis 2050 wird Brandenburg ein Drittel seiner Einwohner verlieren. Dieser Verlauf wird ganz sicher nicht mit Zuzügen aus Polen und weiteren osteuropäischen Ländern sowie anderen Bundesländern auszugleichen sein. Was sind die neuen Erfordernisse? Was ergibt sich aus den gemachten Erfahrungen und erkennbaren Entwicklungsverläufen? • War bisher die Stadt- und Raumentwicklung vorwiegend von der Wiedervereinigung und dem Aufbau Ost bestimmt, werden nun die Erfordernisse des wirtschaftlichen Strukturwandels und des demographischen Wandels sowie des vergrößerten Europas dominieren. • Es bedarf neuer Leitbilder und Handlungsstrategien in der Stadt- und Raumforschung. Zum Teil sind diese neuen Leitbilder bereits sichtbar. Großräumige Verantwortungsgemeinschaften, Städtenetze sowie neue Stadt-Umland-Kooperationen mit Blick auf rationelle Infrastrukturausstattungen, Energie- und Güterversorgung, interkommunale Kooperation in weiteren Bereichen stehen dabei im Blickfeld. • Nach wie vor gibt es strukturschwache Regionen, die durch die Neuausrichtung des Förderprogramms „ Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ weiter zu entwickeln sind. Und auch zur Stabilisierung der Wohnungsmärkte ist das Programm zum Umbau der Städte weiterzuführen. Neben dem noch erforderlichen Rückbau sollten die Sicherungs- und Aufwertungsmaßnahmen dabei bereits im Vordergrund stehen. • Für die Innenstädte und Stadtteilzentren müssen weitere Stärkungsmaßnahmen ergriffen werden, die vor allem auf das attraktive Wohnen dort und den Erhalt der Funktionsdichte im Sinne der kleinräumig durchmischten europäischen Stadt zielen. Es bedarf eines Städtebauförderprogramms, dass sich hierauf ausrichtet. • Wegen der Komplexität und der Interessenkonflikte in den städtischen Entwicklungsprozessen geht es um integrierte Handlungsansätze im Rahmen einer natio- nalen Stadtentwicklungspolitik. Die wichtigen Felder hierbei sind: demographischer Wandel, Strukturwandel in der Wirtschaft, energieeffiziente Städte, Folgen des Klimawandels, Migration und die Globalisierung der Wirtschaft mit Echtzeitkommunikation sowie der wachsende Einfluss virtueller Welten. • Zeitnah und von großem Einfluss ist die Energiepolitik mit den europäischen Zielwerten. Das wird ganz vielschichtige Auswirkungen auf die Stadtentwicklung, Wohnungswirtschaft, auf die Gebäude selbst und die europäische Raumentwicklung haben. Nunmehr 27 europäische Nationen werden ihre strategischen Rahmenpläne für die Entwicklung ihrer Regionen und nachhaltige, zukunftsfähige europäische Städte vorlegen. Energieverbundnetze, EnergieAutobahnen werden zukunftsorientiert europaweit auszubauen sein. Die regenerative Energiegewinnung und nahräumliche Energieversorgung, erneuerbare Energien im Verkehr, in der Strom- und Wärmebereitstellung sowie im Kältesektor werden unser Leben verändern. In dieser Konsequenz wurde das am Beginn der 1990er Jahre noch nicht ausreichend wahrgenommen. • Alles, was wiederholbar ist, ist auch automatisierbar und wird, wo es sich rechnet, auch automatisiert werden. Absehbar wird es dabei nicht nur um einfache Arbeit gehen. Es wird Technik geben, die auch komplexe, schöpferische Prozesse rund um die Uhr fehlerfrei mit großer Präzision abwickeln kann. Der Mensch wird neue Freiräume gewinnen. Bereits gegenwärtig können die in der Welt nachgefragten Güter mit wesentlich weniger Arbeitskräften hergestellt werden, als sich für die Arbeit anbieten. Es wird noch mehr freie Zeit geben, die sinn- und nutzbringend einzusetzen ist, aber auch das Verharren in Armut und der Abstieg in die Armut bleiben eine ständige Bedrohung. • Das Auseinanderdriften der Gesellschaft infolge der Bildungs- und Einkommensunterschiede sowie das weltweite Auseinanderdriften von armen und reichen Ländern bedrohen den gesellschaftlichen Frieden. Die Wanderungsbewegungen in Richtung der reicheren, wirtschaftlich stärkeren Länder werden ein ernstes Problem insbesondere auch für die Raumordnung in einer globalen Welt bleiben. Verzichtsgesellschaften haben gegenwärtig keinen Zulauf zu erwarten. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 • Die größten Einflüsse auf unsere menschliche Gesellschaft ergeben sich mit Sicherheit aus der fortschreitenden Geschwindigkeitsaufrüstung in der Wissenschaft. Im Minutentakt werden neue chemische, physikalische, medizinische, materielle und soziale Zusammenhänge aufgedeckt, die 807 zu neuem Denken und Handeln zwingen. Technologiefolgenabschätzung, das Erkennen von Bedrohungspotenzialen, der Blick auf mögliche Naturereignisse und die sich daraus ergebenden Erfordernisse zur Zukunftssicherung werden das Leben in allen Bereichen sehr nachhaltig beeinflussen. Wie viel ist ein Einwohner wert? Markus Eltges 1 Gleichwertige Lebensbedingungen als gesellschaftspolitisches Ziel Wie viel ist ein Einwohner wert? Diese Frage lässt sich grundsätzlich mit dem Wert- und Moralvorstellungen des christlichen Abendlandes schnell beantworten. Alle Einwohner sind gleich viel wert. Aber eben nur grundsätzlich. Dieses „grundsätzlich“ ist ein Einfallstor für Ökonomen. Denn ein Einwohner stiftet Nutzen und ein Einwohner verursacht Kosten. Fallen Kosten und Nutzen räumlich auseinander und beeinflussen diese Kosten und Nutzen dann noch die Struktur und die Höhe der öffentlichen Haushalte, so verlangt dies nach einem Ausgleich. Zumindest nach deutschen wie auch europäischen Wertvorstellungen. Darin kommt der Grundsatz der Solidarität zum Ausdruck. Diese Solidarität war und ist eine der wesentlichen Grundlagen und Säulen des föderativen Staatsaufbaus in Deutschland. Dieser Grundsatz, der üblicherweise auf das Individuum bezogen wird – der Starke hilft dem Schwachen –, hat auch eine regionsbezogene Komponente. Keinem Menschen soll ein Nachteil daraus entstehen, dass er – aus welchen Gründen auch immer – seinen Lebensmittelpunkt in einer bestimmten Region hat.1 Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist somit ein gesamtstaatliches Ziel von Verfassungsrang. Auch das Gesetz zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes mit Stand vom 16. Juli 2008 betont diesen Grundsatz in seinem Artikel 1 „Aufgabe und Leitvorstellung der Raumordnung: „(1) Der Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume sind durch zusammenfassende, überörtliche und fachübergreifende Raumordnungspläne, durch raumordnerische Zusammenarbeit und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maß- nahmen zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. … (2) Leitvorstellung bei der Erfüllung der Aufgabe nach Absatz 1 ist eine nachhaltige Raumentwicklung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt.“ Es ist vermessen zu glauben, man könne mit planerischen Instrumenten einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten. Die Raumordnung hat ihre Berechtigung, indem sie über die Formulierung von räumlichen Leitbildern Orientierung für alle Fachpolitiken liefern kann und muss. Die Instrumente, die die Raumordnung selbst zur Verfügung hat, sind zu schwach, um die gleichwertigen Lebensverhältnisse auch nur im Ansatz zu schaffen. Somit haben die Väter und Mütter der deutschen Verfassung dem Gesetzgeber nicht nur den Auftrag erteilt, für die Gleichwertigkeit zu sorgen, sondern ihm auch eine Reihe von Instrumenten an die Hand gegeben. Über die Jahrzehnte hat sich so ein ausgereiftes und historisch gewachsenes fiskalisches Ausgleichsystem zur räumlichen und sozialen Kohäsion in Deutschland entwickelt.2 In der Summe umfasst dieses Transfersystem eine beachtliche Summe. Diese Summe muss jemand aufbringen, womit einer zahlt und der andere bekommt. Dies birgt Konfliktstoff. Denn die Zahlenenden fühlen sich überfordert und die Empfangenden wollen mehr. Wie viel Ausgleich können und wollen (1) Insbesondere der Bundesebene kommt hierbei eine zentrale Verantwortung zu. Denn in Artikel 72 Absatz 2 heißt es: „(2) Auf den Gebieten des Art. 74 Abs. 1 … hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ (2) Vgl. zu Einzelheiten Eltges, Markus: Gleichwertige Lebensbedingungen und ihre fiskalische Basis. Informationen z. Raumentwicklund (2006) H. 6./7, S. 363 ff. 808 (3) Die Regelungen zur Einwohnerwertung finden ihre ursprüngliche, theoretische Begründung in den Arbeiten von Brecht/Popitz, wonach größeren Gemeinden ein höherer Finanzbedarf je Einwohner zugeschrieben wird als kleineren Gemeinden. Die instrumentellen Ausgestaltungen hinsichtlich der gemeindlichen Einwohnerwertung sind historisch gewachsen. Einzelne Regelungen dieses Systems lassen sich nicht (mehr) nachvollziehen. Historische Geburtsstunde der Einwohnerwertung ist der 30. Oktober 1923. Vgl. ausführlich zur historischen Entwicklung der Einwohnerverede lung Dietrich, B.: Das Prinzip der Einwohnerveredelung in den Finanzausgleichssystemen der Bundesrepublik Deutschland. – Bonn 1997, S. 28–88 (4) Die übrigen Finanzausgleiche, die finanziell nicht weniger bedeutsam sind, sollen hier einmal ausgeklammert werden. Zu denken wäre hier an die Risikostrukturausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen oder an den „verdeckten Regionalausgleich“ über die Sozialversicherungssysteme. (5) Mit der Finanzausgleichspolitik, an der Bund und Länder beteiligt sind, wird in erster Linie das Ziel verfolgt, alle Länder und Gemeinden unabhängig von ihrer originären wirtschaftlichen und fiskalischen Leistungskraft in die Lage zu versetzen, öffentliche Aufgaben ohne größere regionale Unterschiede wahrnehmen zu können. Damit wird das Gleichwertigkeitsziel auf staatlicher Ebene verfolgt. (6) Würden zum Beispiel alle Regelungen zur Einwohnerwertung im geltenden Finanzausgleichsrecht abgeschafft, würden unter sonst gleichen Bedingungen die Stadtstaaten einen Betrag von rd. 3 Mrd. E einbüßen. (7) Vgl. BVerfG (1999), 101, 207 Aus der Werkstatt wir uns noch leisten? Das ist eine zentrale Frage der deutschen Ausgleichspolitik. Zentrales Instrument dieser Ausgleichspolitik im regionalen Kontext ist der staatliche Finanzausgleich. Dieser hat in Deutschland eine lange Tradition.3 Er findet sowohl zwischen den Kommunen eines Bundeslandes als auch zwischen den Bundesländern statt.4 Im Mittelpunkt dieses Beitrags sollen jedoch der Länderfinanzausgleich5 und hier speziell die Einwohnerwertung – oft auch Einwohnerveredelung genannt – stehen. Warum? Nun, diese Einwohnerwertung ist in ihrer Wirkung finanziell so bedeutend, dass sie mit fast biblischer Regelmäßigkeit, also alle sieben Jahre, direkt oder indirekt Gegenstand von Klagen eines oder mehrerer Länder vor dem Bundesverfassungsgericht oder Urteilen dieses Gerichtes sind. Denn über die Einwohnerwertungen wird die tatsächliche Einwohnerzahl mit einem Faktor gewichtet mit der Folge, dass jene Länder mit Einwohnerwertungen „ärmer gerechnet“ werden. Dadurch erhalten sie mehr Zahlungen im System oder müssen weniger zahlen.6 Dies birgt Konfliktstoff. Arme Länder klagen gegen reiche und reiche gegen arme. Nach Urteilen von 1986 und 1992 war es 1999 wieder einmal so weit. Das Gericht entschied über die Klagen der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Insbesondere die Einwohnerwertung der Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin wurde seitens der Klageländer kritisch hinterfragt. „Die Einwohnerveredelung der Stadtstaaten gemäß § 6 Abs. 2 i. V. m. § 9 Abs. 2 FAG sei insgesamt verfassungswidrig, weil sie einen Bedarf berücksichtige und damit dem aufkommensorientierten verfassungsrechtlichen Begriff der Finanzkraft widerspreche. Im Übrigen lasse sich ein entsprechender Mehrbedarf auch sachlich nicht begründen. Die Einwohnerveredelung werde mit der Vermutung des Brecht/Popitzschen Gesetzes von der ‚progressiven Parallelität zwischen Ausgaben und Bevölkerungsmassierung‘ begründet. Danach hätten einwohnerreiche Städte und Gemeinden in der Regel höhere ProKopf-Ausgaben als solche mit einer kleineren Einwohnerzahl. Diese Vermutung sei jedoch weder theoretisch noch empirisch abgesichert und werde von Sachverständigen nachhaltig in Zweifel gezogen. Damit sei eine Ausnahme von der Regel, dass jeder Einwohner eines jeden Landes gleich zu bewerten sei und dass die Finanzkraft sich auf den realen Einwohner beziehe, nicht zu begründen und zu rechtfertigen.“ 7 Somit bestand Prüfbedarf. Dieser wurde vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Im Zentrum dieses Prüfauftrags stand zum einen die Einwohnerwertung für die Stadtstaaten und für Länder mit einem hohen Anteil von größeren Gemeinden. Zum anderen sah das Gericht unter dem Aspekt der Ländergleichbehandlung zusätzlichen Prüfbedarf, da im vereinten Deutschland neue siedlungsstrukturelle Gegebenheiten festzustellen seien. Den Stadtstaaten mit sehr hoher Bevölkerungsdichte und den dicht besiedelten alten Flächenländern stünden nun – teilweise extrem – gering besiedelte neue Flächenländer gegenüber. Aus dieser dünnen Besiedlung könnten – so das Gericht – ebenso Mehrbedarfe entstehen, die im Rahmen von Finanzausgleichsregelungen zu berücksichtigen seien. Mit anderen Worten: Nicht nur eine extrem hohe Ballung der Bevölkerung könne im Vergleich zu einer siedlungsstrukturellen Normalsituation mit abstraktem Mehrbedarf verbunden sein, sondern auch eine extrem niedrige Bevölkerungsdichte. Anfang 2001 kam das Bundesministerium der Finanzen auf den wissenschaftlichen Bereich des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) mit der Bitte zu, eine Untersuchung zur Begründung und Quantifizierung „abstrakter Mehrbedarfe“ beim Finanzausgleich unter den Ländern durchzuführen. Im Herbst 2001 lag das BBR das Gutachten vor. Die Erfüllung dieses Prüfauftrages verlangte eine wissenschaftlich fundierte Konzeption und Analysemethodik. 2 Die Einwohnerwertung im Länderfinanzausgleich Vom Einwohnermaßstab über den Mehrbedarf zum abstrakten Mehrbedarf Der Länderfinanzausgleich ist ein Finanzkraftausgleich. Artikel 107 Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes führt hierzu aus: „Durch das Gesetz ist sicherzustellen, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird; hierbei sind die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen.“ Nun haben wir große und klei- Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 ne Länder. Demnach muss die Finanzkraft der 16 Länder untereinander vergleichbar gemacht werden. Hierzu bedarf es eines einheitlichen Maßstabs. Laut Bundesverfassungsgericht hat das Grundgesetz als Bezugspunkt das Kriterium der Einwohnerzahl als abstrakten Bedarfsmaßstab vorgegeben. Mit der Anwendung des Einwohnermaßstabs wird ein gleicher Finanzbedarf je Einwohner unterstellt. Die Einwohnerzahl kann modifiziert werden, wenn abstrakte Mehrbedarfe begründet sind. Diese müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – objektiv und von ländereigenen (und auch lokalen) Prioritäts- oder Dringlichkeitsentscheidungen unabhängig sein und – sich auf Aufgabenbereiche beziehen, die allen Ländern gleichermaßen vorge geben sind. Überträgt man zusätzlich die Ausführungen des Gerichts zur kommunalen Einnahmeseite auf die Ausgaben, so sind abstrakte Mehrbedarfe dann ausgleichserheblich, wenn sie – finanziell erheblich sind und – alle Länder, jedoch in unterschiedlicher Intensität betreffen.8 In dem Gutachten wurde ein Verfahren zur Ermittlung abstrakter Mehrbedarfe entwickelt, mit dessen Hilfe eine solche indikatorgestützte Überprüfung staatlicher und gemeindlicher Bedarfe durchgeführt werden kann.9 Auf der Grundlage der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wurde ein einheitliches Prüfverfahren für die Aufgaben der Länder und Gemeinden/Gemeindeverbände entwickelt und angewendet. Die zusammenfassende Betrachtung der staatlichen und kommunalen Ebene machte es möglich, die Flächenländer einschließlich ihrer Gemeinden und Gemeindeverbände mit den Stadtstaaten zu vergleichen. In einem ersten Schritt wurden für alle Aufgabenbereiche der Länder die Nettoausgaben (im Gutachten Mehrausgaben genannt) ermittelt, die in den einzelnen Ländern aus allgemeinen Finanzmitteln finanziert wurden. Die Gemeinden wurden dabei den Ländern hinzugerechnet. Die Nettoausgaben wurden dadurch bestimmt, dass von den in den Haushalten ausgewiesenen Bruttoausgaben für die einzelnen Aufgabenbereiche 809 die zweckgebundenen Bruttoeinnahmen für die einzelnen Aufgabenbereiche abgezogen wurden. Bei den Mischfinanzierungen sind daher die Nettoausgaben identisch mit dem Landesanteil. Anschließend wurden in einem zweiten Schritt solche Aufgabenbereiche von der weiteren Betrachtung ausgeschlossen, bei denen sich die (im ersten Schritt ermittelten) Nettoausgaben pro Einwohner zwischen den Ländern kaum unterschieden. Solche Aufgabenbereiche konnten, weil sie die Länder in ähnlicher Intensität betrafen, keine Mehrbedarfe begründen. Dies waren im Wesentlichen die Aufgaben „Schulen, Schulverwaltung und Schülerbeförderung“ sowie „Raumordnung, Landesplanung, Vermessungswesen“. In einem dritten Schritt wurde anschließend mittels geeigneter statistischer Methoden für die verbliebenen Aufgabenbereiche untersucht, ob und inwieweit zwischen den (Netto-)Ausgaben der Länder pro Einwohner und potenziellen Bedarfsindikatoren grundsätzlich ein Zusammenhang bestand. Bestand grundsätzlich ein solcher Zusammenhang, hatte man einen geeigneten Bedarfsindikator für den entsprechenden Aufgabenbereich gefunden. In einem vierten Schritt wurden für die Aufgabenbereiche, für die geeignete Bedarfsindikatoren ermittelt werden konnten, auf der Grundlage anerkannter mathematischstatistischer Methoden Ausgabenmehrbzw. Ausgabenminderbedarfe aus den Indikatoren abgeleitet. Unterschiede bei den Ausgaben für die einzelnen Aufgabenbereiche zwischen den Ländern, die durch den jeweiligen Indikator erklärt werden konnten, stellten unterschiedliche Ausgabenbedarfe der Länder dar; Unterschiede, die durch den Indikator nicht erklärt werden konnten, wurden ländereigenen Prioritätsentscheidungen zugerechnet. In einem fünften Schritt wurde für die einzelnen Länder durch Addition jeweils ein Korridor für Gesamtausgabenmehrbedarfe (bzw. Minderbedarfe) bestimmt, und diese wurden anschließend miteinander verglichen. Über das Instrument der Einwohnerwertung wurden diese Gesamtausgabenmehrbedarfe (abstrakten Mehrbedarfe) quantifiziert. (8) Das Gericht stellt in seinen Ausführungen auf die kommunale Einnahmenseite ab. Gleichwohl können die Maßstäbe „finanziell erheblich“ und „unterschiedliche Intensität“ u. E. auch für die Ableitung abstrakter Mehrbedarfe herangezogen werden. (9) Vgl. Eltges, Markus; Zarth, Michael; Jakubowski, Peter; Bergmann, Eckhard: Abstrakte Mehrbedarfe im Länderfinanzausgleich, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen. – Bonn 2002 810 Aus der Werkstatt Empirische Ergebnisse des Gutachtens Neuregelung im Länderfinanzausgleich Die empirischen Ergebnisse belegten die strukturelle Besonderheit der Stadtstaaten. Deren abstrakte Mehrbedarfe je Einwohner lagen deutlich über denen der Flächenländer. Aufgrund ihres weitgehend gleichen abstrakten Bedarfsniveaus erschien eine Differenzierung zwischen den Stadtstaaten nicht sachgerecht. Verursacht wurden die hohen abstrakten Bedarfe der Stadtstaaten vor allem in den Bereichen Familien-, Sozial- und Jugendhilfe, öffentliche Sicherung und Ordnung, Rechtsschutz sowie Wohnungswesen. Auch die Bereitstellung von „Wissen“ und breitgefächerten Ausbildungsmöglichkeiten an Hochschulen, die auch den übrigen Ländern zugute kommen, prägten die strukturelle Besonderheit der Stadtstaaten. Der Gesetzgeber nahm diese Ergebnisse auf. Im Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz – FAG) in der Fassung der Bekanntmachung durch Artikel 5 des Gesetzes vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3955) heißt es hinsichtlich der Einwohnerwertung im § 9, Abs. 2 und 3: „(2) Bei der Ermittlung der Messzahlen zum Ausgleich der Einnahmen der Länder nach § 7 werden die Einwohnerzahlen der Länder Berlin, Bremen und Hamburg mit 135 vom Hundert und die Einwohnerzahlen der übrigen Länder mit 100 vom Hundert gewertet. – die weit überdurchschnittliche Anzahl von alleinerziehenden Haushalten, die ein erhöhtes Engagement der Jugendhilfe erfordert, und (3) Bei der Ermittlung der Messzahlen zum Ausgleich der Steuereinnahmen der Gemeinden nach § 8 werden die Einwohnerzahlen der Länder Berlin, Bremen und Hamburg mit 135 vom Hundert die Einwohnerzahl des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit 105 vom Hundert, die Einwohnerzahl des Landes Brandenburg mit 103 vom Hundert, die Einwohnerzahl des Landes Sachsen-Anhalt mit 102 vom Hundert und die Einwohnerzahlen der übrigen Länder mit 100 vom Hundert gewertet.“ – die besonderen Merkmale der Großstadt, die mit einer hohen Anzahl von Straftaten einhergehen. 3 Ausblick Innerhalb der neuen Länder setzten sich die besonders dünn besiedelten Länder (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) in der Höhe der abstrakten Mehrbedarfe je Einwohner von Thüringen und Sachsen ab. Dies wurde verursacht durch die abstrakten Mehrbedarfe in den Bereichen Kreis- und Gemeindestraßen, Jugendhilfe, öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie Landwirtschaft und Forsten. Im Unterschied zu den Stadtstaaten resultierte hier der erhöhte abstrakte Mehrbedarf aus jenen Ausgaben, die mehrheitlich in der kommunalen Zuständigkeit liegen. Ebenso wurden die abstrakten Mehrbedarfe dünn besiedelter Länder nicht nur durch räumliche, infrastrukturelle Faktoren begründet, sondern auch durch sozioökonomische Faktoren der neuen Länder. Im Vergleich zu allen anderen Flächenländern waren in der Summe diese abstrakten Mehrbedarfe so bedeutend, dass eine Einwohnerwertung auch hier gerechtfertigt erschien. Trotz der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs steht dieses Instrument stetig im Mittelpunkt finanzpolitischer Auseinandersetzungen, begleitet von wissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen. Indirekt ist mit dieser kontroversen Diskussion immer die Frage verbunden, welchen gesellschaftspolitischen Stellenwert die Schaffung von gleichwertigen Lebensbedingungen im föderativen Staatswesen in Deutschland haben soll. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 24. Oktober 2002 hierzu die Meßlatte für den Bund deutlich angehoben. „Das Erfordernis der ‚Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse‘ ist nicht schon dann erfüllt, wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen geht. Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist vielmehr erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundes- Ursächlich für die erhöhten abstrakten Bedarfe im Vergleich zu den Flächenländern waren aber auch – die sehr hohe Anzahl von Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt als Spiegelbild der hohen Arbeitslosigkeit, Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 staatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“ Ob sich mit mit diesem Leitsatz zum Urteil eine Entwicklung anbahnt, dass ein Einwohner in strukturschwachen Regionen „immer weniger wert wird“, muss die Zukunft zeigen. Dennoch: auch in Zukunft 811 wird diese Frage Wissenschaft wie Politik beschäftigen. Und das BBR wird seinen wissenschaftlichen Beitrag zu dieser wichtigen Frage leisten – zwischen der nicht nur abstakten Frage, was ein Einwohner des jeweiligen Raums wert ist und was der Raum dem Einwohner wert ist. Space and the public sphere (in the city) All cities have their spatial and social dimensions. This most commonplace statement, of course, conceals an almost unlimited range of circumstances, properties and various relationships. In this essay I would like to consider briefly and informally the question of the public sphere in the city’s socio-spatial realities and to point out several ways for future research and interpretation. Let us first consider what is “public” in the city. An answer to this question may perhaps be found by either an objective or an attributive concept, i. e., “a thing” or “certain properties.” We may as well start by focusing on the second version. It may be said that the public domain of the city and of city life developed outside the proper center of power and control over its realities, even in opposition to it. It may therefore be concluded that, historically, those aspects and qualities of the city’s entirety, which became public, developed outside the court (i. e., the partly real, partly metaphorical center of the city). In particular the making of autonomous, perhaps even independent patterns of social being-together, the formulation of opinions, the critical verification of the official position developed. For the public domain to function it was and still is necessary that it has a specific place of its own. The attribute of the public has always involved public space that defines the more objective side of the phenomenon. A public park, café, reading room or stadium (historically, in classical times, perhaps the foremost place for a spontaneous manifestation of an independent opinion) are some examples of public attributes and places in the city. Generalizations are always risky, given the enormous number of individual cases, but we may tentatively note that the public face of the city has often correlated with tensions, if not conflicts. The public domain is, again metaphorically, a domain of freedom. This is not to say that centers of power over the city (or whoever exercised that power with whatever underlying mechanisms) have been adverse to freedom. Nonetheless, we have seen highly characteristic situations which cannot be accidental and make us wonder. If, for example, historical sources can be relied on, Louis XIV hated Paris and would not tolerate in his midst anyone who liked it. To dwell for an instant on this special city, Baron Haussmann’s famous urbanistic modernization, among other things, involved attempts to strengthen control over unruly citizens. The public sphere in our title is a complex set of factors and events. The public sphere is a certain whole consisting of organizational features and awareness including constitutionally important material-spatial conditions and a subjective ability to act together as seen in various social ties. In helping to make the city, the public sphere is a factor that strengthens its elemental and consequently its infinite nature. Let us also consider those properties that appear where the spatial and the social meet. What is city space or rather how does it become the public facet of social life and positively correlated with it? It is impossible to draw a dividing line between the strictly material and the strictly social, both components being tightly interlocked. Nevertheless, we may attempt an analytical inter- Krzysztof Frysztacki 812 Aus der Werkstatt pretation and identify particulars that are more material and more social (including characteristic and symbolic). Seen from this first point of view, public space should first be relatively open and accessible; it should relatively freely serve those who wish to occupy and use it in some way. It should also be “genuine”, that is, it should meet with social expectations and preferences, develop and adjust in a way that would afford a measure of spontaneity, reflect what we might call the axiology of urban community. Finally, public space should be comprehensible. It should for example be visible to the naked eye, within walking distance, offering an opportunity to meet people whom we recognize and with whom we possibly identify (“anonymous ties”) and graspable to fleeting thought as well as deeper reflection. It is therefore space that can be said to be “good,” a place where public manifestations in the city can be reinforced. The second point of view presents another three qualities of public space. It should be a space spontaneously distinguished and designated, defined as public by those who make up the public. Consequently, it should also be socially accepted. Finally, it ought to offer a measure of broadly understood security including physical security and a sense of emotional security permitting participants to overcome feelings of alienation or shyness. Again, in search for a generalized property we might say that, from this point of view, it should be “friendly” space. The above fragmentary remarks have emphasized the natural and spontaneous aspects of public space. This is not to suggest that urban planning contradicts its public aspects. On the contrary, it may be of considerable good service. In my opinion, the key question here is the social process in planning, its ability to consider various points of view, to seek compromise and to include individual members of the city population at least as, co-authors of what is being planned and subsequently implemented. If these definitions of public space are accepted, then let us mention the rising and increasingly popular view that over the past decades we have been witnessing a shrinking of the public domain in many cities, even its deterioration. To name but a few characteristic and well-known examples, such concerns are voiced by Jane Jacobs in “The Death and Life of Great American Cities”, Henri Lefebvres in “The Right to the City”, Richard Sennett in “The Fall of Public Man”; Paul Virilio in “The Overexposed City”. It is deliberate that I do not include a bibliographical note nor do I engage in a searching analysis of those highly different but equally interesting publications. I merely mention them in alphabetical order, a random arrangement as regards their contents. All I want is to draw attention to the growing conviction and concern that the public sphere in contemporary cities is on the wane. The point is illustrated in an apt statement by P. Virilio, who wrote that we are dealing with a crisis of the “great narrative” of the city, a crisis of what is and what should be the city in its entirety, while having a growing and increasingly singleminded focus on a micro-narrative as may be epitomized by an otherwise perhaps interesting and functional single building or a small group of buildings that yet seems to be separated from that entirety. The separation increasingly equates with fences, security guards, access denied to the general public. This is of course a controversial point of view, but it undeniably makes one think. This is linked with the question of new trends in urban development. New complexes are being built, some of them being so large that they require a social-spatial quality of their own, occupy ever more land, tie up increasing resources, serve a rising number of functions and assemble more and more people. Two outstanding examples are shopping malls and airports. They may be said to virtually contain all that the city has to offer – yet they are no independent cities. Their highly advanced, intense spatially functional structure, their rapidly rising number of consumers and even the new styles of life they foster do not seem to contradict the observation that they are quasi-cities with many functionalities, but they do not add up to a publicly defined community. In a spirit that is a little more than simply anecdotal, we may recall Steven Spielberg’s motion picture “The Terminal”, starring Tom Hanks. The movie skillfully demonstrates that a prolonged forced stay at a large airport is anything but normal life. Remembering our earlier generalizations, we may note that such places Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 lack at least the genuineness and spontaneous distinction, the qualities we treat here as fundamental. At the same time, however, it should be noted that the evolving pattern and mechanism of socio-spatial niches seems increasingly meaningful in the urban public and its circumstances. We can thus say that in place of a general, common space with its inclusive public social life we are more and more dealing with sub-spaces and subpublic spheres. Somewhat metaphorically, the formula is offered here to emphasize the unstoppable progressive diversification in the structural-functional realities of cities and to create particular segments of such realities that seem to exist on the sidelines of all that is global and standardizing. In this concise format I must be highly selective. Still, some generalized tendencies can perhaps be isolated. Let us focus on those points of view where a strictly subjective, notional factor predominates. Our selected example here is the research project and especially the interpretive effort made several years ago at Cornell University.1 It concerns precisely the notional and “post-notional” aspect of knowledge about cities and the social consequences thereof. Cities generate certain highly subjective, individualized, varied notions about themselves with those notions again feeding back via states of social awareness into such cities and almost transforming them. All this becomes primarily public. An example cited there is as follows. Some qualities of Parisian life, I am not sure to what extent, brought forth Balzac’s writings, but his creation began to live a life of its own and contributed to altering the nature of Paris in so far that we see the city’s history at that time through the eye of the artist. Perhaps his writing left a mark on the city’s later history, a subject David Harvey wrote about. In another part of the project, Mary N. Woods offers an interpretation titled “After-Images of the ‘New’ New York and the Alfred Stieglitz Circle”. The author in her highly interesting manner draws our attention to the revolutionary role of photographic art in creating a collective imagery of cities and its impact on such cities “after” that imagery took root. New York, as photographed by Stieglitz and others in the circle in which he was a leading figure, received a special new dimension and presumptions 813 about the city and its legend received force and clarity, i. e., artistic imagination left its mark on the city. A capital example of it first was the photograph of the Flatiron Building at Broadway and Fifth Avenue in Lower Manhattan which consequently defined its social and material presence. This unique triangular structure, photographed over and over again, became a symbol of daring architectural ideas and New York’s readiness to adopt such ideas and forge them into physical realities. The Flatiron Building in century-old photographs documents a veritable challenge which New York – all of New York, with its public – wants to meet and is capable of doing so. Let us mention another example of recent research, this time more objectively oriented, which features the issue of the city’s public domain; this example is related to what may be the most classical path in the sociology of the city: the local community.2 To say that the field of local communities has a long, rich and varied history is to border on platitude. Nonetheless, I will risk such a remark as I wish to emphasize strongly that the wealth of research and commentary is also of great import for the public sphere of the city and in particular to the city’s public. To cite just one general conclusion, I want to repeat the observation that a local community includes a characteristic and difficult duality, perhaps ambiguity. On the one hand, mechanisms of social organization and ties typical for urban local communities seem to go a long way to reinforce the public dimension and to include individual participants in urban life by offering them more opportunities for being-together and acting-together. On the other hand, the integrated variant of social intercourse of a local community also probably exerts a pressure toward uniformity, a limitation of free expression in its varied forms. Unification happens, at least to some degree, at the expense of the particular. This duality has its theoretical, empirical, and practical aspects. Such aspects of public space are studiously considered in a book by Suzanne Keller. The empirical subject is one of the first “planned local communities” in the United States, Twin Rivers, New Jersey. The author addresses such essential details as where and how children can play, where adults meet, how strolling spaces are reconciled (1) Keller, Suzanne: Community: Pursuing the Dream, Living the Reality. – Princeton 2003 (2) Resina, Joan Ramon; Ingenschay, Dieter (eds.): AfterImages of the City. – Ithaca 2003 814 Aus der Werkstatt with the need to park vehicles, etc. The fundamental question boils down to how, if at all, a society guided by principles of individualism and private property can build a functional common reality in which the public dimension, the shared space and patterns of social participation reinforce expectations of a good, contented life. The details involved are as prosaic as they are fascinating. The main problem to overcome in such a setting seems to be what the author describes as social confusion as seen, for example, in standards of cleanliness, limits of personal circumstances and the importance of private property. Space, defined by the use of its equipment, and the tasks to be accomplished on it, determines the rights and obligations of what is “mine, yours, ours.” Reaching an agreement over all those is difficult but necessary and possible. It is a process that continues at various speeds depending on the nature of the problems at hand. In particular the principle of shared responsibility for the maintenance of order and security has gained a foothold and increasingly influenced ways of life. It might be said that the idea of local community in the specific conditions in question “won,” although there are still some disagreements and problems that need to be sorted out. Hans-Peter Gatzweiler Let us hasten to add that the city as such, even in its public dimension, is problemridden. We could hardly imagine any city that does not struggle with serious trouble, is free of problems to solve and social tensions to resolve. City realities largely consist of solving problems and attaining objectives that never disappear and never obviate initiatives for solutions. Appropriate tools continue to be needed. The ability to maintain and develop the public sphere is probably one such tool. Yet it is not a method which absolutely works, and broadly understood privacy, risk, financial investment, organizational principles, etc. also seem necessary. All experience supplies a wealth of at least seemingly contradictory evidence. Let us therefore finish these remarks on a note of ambivalence. I wrote them in the spirit of faith in the public domain of the city and with great sympathy for it. Still, we must recognize that it is not a silver bullet that can hit any target and cure all ills. Problems will remain. Lässt sich mit Vergangenheit Zukunft gewinnen? Eine kurze Reflexion der Raum- und Stadtentwicklungspolitik in Deutschland seit der Wende Herstellung der deutschen Einheit – beherrschendes Thema der 1990er Jahre Im Zuge der fundamentalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen im Osten Europas seit Mitte der 1980er Jahre kommt es im Herbst 1989 zur politischen Wende in der ehemaligen DDR. Schon ein knappes Jahr später erfolgt die rasche staatliche Vereinigung in Deutschland durch den am 3. Oktober 1990 gemäß Artikel 23 Grundgesetz erfolgten Beitritt der ehemaligen DDR zum Wirkungsbere- ich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und die Neubildung der Bundesländer Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Mit diesem Ereignis waren und sind auch besondere Herausforderungen für die Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik sowie für die wissenschaftliche Politikberatung der damaligen Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) und des heutigen Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) verbunden. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Die Probleme und Aufgaben, die sich aus der Herstellung der deutschen Einheit ergeben, sind das alles beherrschende Thema der 1990er Jahre. Die enormen Unterschiede in den Erwerbsmöglichkeiten, der Infrastrukturversorgung, den Wohnungs- und Wohnumfeldbedingungen sowie der Umweltqualität zwischen den alten und neuen Ländern treten überdeutlich zutage. Die Folge ist eine anhaltend hohe Abwanderung von vor allem jungen Menschen mit der Gefahr einer großräumig passiven Sanierung. Alte Antworten auf neue Herausforderungen Aus Sicht der Raumordnung besteht vordringlicher und gleichrangiger Handlungsbedarf auf drei Feldern: Es ist notwendig, Erwerbsmöglichkeiten zu sichern und neu zu schaffen, die wirtschaftsnahe Infrastrukturausstattung rasch zu verbessern und zugleich die hohe Umweltbelastung abzubauen. Auch die städtebaulichen Herausforderungen sind umfassend: Neben den Aufgaben einer allseitigen Stadterneuerung stellen sich angesichts der dynamischen Entwicklung in vielen Städten der neuen Länder zunehmend auch Aufgaben einer geordneten umwelt- und sozialverträglichen Stadterweiterung und einer Koordinierung von Stadt-Umland-Entwicklungen. Besonders dramatisch entwickelt sich die Konkurrenz der „grünen Wiese“, weil in den Innenstädten Fragen der ungelösten Bodenordnung die notwendigen Investitionen erschweren. Im Umland hingegen führt der Wettbewerb der Kommunen um Investoren zu einer Art „Wild-West“-Entwicklung bei großflächigen Gewerbeausweisungen und der Ansiedlung von Handelseinrichtungen. Angesichts der neuen räumlichen Ausgangslage in Deutschland erfährt die schon aus den 1960er und 70er Jahren bekannte raumordnungspolitische Leitbild- und Strategiediskussion eine Renaissance. Zur raumordnungspolitischen Flankierung des Aufschwungs im Osten legt das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau alsbald ein raumordnerisches Konzept vor, das recht eindeutig eine wachstumsorientierte Entwicklungspolitik unterstützt. In zwölf Regionen mit relativ günstigen Entwicklungsvoraussetzungen sollen Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen vordringlich so verbessert werden, dass 815 diese Räume im Wettbewerb europäischer Städte und Regionen um Investoren eine gute Ausgangsposition erlangen (Entwicklungsregionen). Das Konzept geht davon aus, dass nur von wirtschaftsstarken Regionen die notwendige flächendeckende Modernisierung getragen werden kann. Das Kümmern um räumliche Ausgleichspolitik im Osten überlässt die Raumordnung weitgehend der regionalen Strukturpolitik, also dem Bundesministerium für Wirtschaft. Die Städtebaupolitik des Bundes stützt sich im Wesentlichen auf drei Instrumente, um rahmensetzend eine geordnete städtebauliche Entwicklung in den neuen Ländern zu fördern: gesetzliche Vorschriften des Bau- und Bodenrechts, Finanzhilfen an die Länder und persuasive Mittel. Um den Neuaufbau der städtebaulichen Ordnung zu erleichtern, werden ins Baugesetzbuch eine Reihe von Besonderheiten eingeführt (Maßnahmengesetz), die bis zum 31. Dezember 1997 gelten. Damit sollen die Voraussetzungen für eine rasche Verwirklichung der marktwirtschaftlichen Ordnung und zur Verbesserung von Investitionsbedingungen geschaffen werden. Durch entsprechende Maßnahmen wird z. B. sichergestellt, dass Bauleitpläne aufgestellt werden können, auch wenn konkret formulierte Ziele der Raumordnung und Landesplanung noch nicht vorhanden sind. Zugleich werden neue Instrumente wie z. B. der Vorhabenund Erschließungsplan eingeführt. Er gibt den Gemeinden die Möglichkeit, auch ohne Flächennutzungsplan und Bebauungsplan mit Hilfe privater Träger dringliche Investitionen im Gemeindegebiet schnell durchzuführen. Wegen des immensen Erneuerungs- und Entwicklungsbedarfs in den neuen Bundesländern wird die Städtebauförderung des Bundes schwerpunktmäßig auf die Städte und Gemeinden im Osten verlagert. Maßnahmen der Stadterneuerung werden in den neuen Ländern mit dem Ziel gefördert, einen Beitrag zur Anpassung der Wohnund Lebensbedingungen an westdeutsche Standards zu leisten. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Förderung von städtebaulichen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, den Erhalt der historischen Stadtkerne und die städtebauliche Fortentwicklung der „Plattenbausiedlungen“. Im Rahmen des Experimentellen Wohnungsund Städtebaus des Bundesbauministe- 816 Aus der Werkstatt riums wird ein „Modellstadtprogramm“ eingerichtet zum Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer in Sachen Stadterneuerung. In insgesamt elf Städten verteilt über das Gesamtgebiet der neuen Länder werden städtebauliche Modellmaßnahmen als Pilotprojekte durchgeführt. Nach den ersten raumordnungs- und städtebaulichen „Sofortmaßnahmen“ in den neuen Ländern setzt sich schon bald die Erkenntnis durch, dass eine Neuorientierung der Raumordnung in ganz Deutschland erforderlich ist. Eingeleitet wird sie mit dem 1992 verabschiedeten Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen (ORA) und dem 1995 beschlossenen Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen (HARA). Danach soll sich die Raum- und Siedlungsentwicklung in Deutschland am Leitbild der dezentralen Konzentration orientieren. Dieses Leitbild wird als ein zentrales (ökologisches) Prinzip künftiger Raumentwicklung und Siedlungsentwicklung angesehen. Raumstrukturell soll es die Voraussetzungen dafür schaffen, die Funktionen Arbeiten, Wohnen, Versorgung und Erholung räumlich wieder stärker zusammenzuführen, d. h. die „Region und Stadt der kurzen Wege“ zu verwirklichen. Planungsrechtlich sind die alten und neuen Länder spätestens 1998 vereint. Mit dem Gesetz zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung (Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 – BauROG) endet die Periode des planungsrechtlichen „Experimentierens“ in den neuen Ländern. Das Gesetz führt nach Auslaufen des Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch und der Überleitungsvorschriften für die neuen Länder das Städtebaurecht wieder einheitlich im Baugesetzbuch zusammen. Gleichzeitig wird das Raumordnungsgesetz an die heutigen und künftigen Anforderungen angepasst. Wichtige Ziele sind, das Recht der Bauleitplanung und Raumordnung durch Vereinheitlichung der Verfahren und Instrumente übersichtlicher und einfacher zu gestalten und eine ganzheitliche, die nachhaltige Entwicklung in Deutschland fördernde Planung zu ermöglichen. Die räumlichen Folgen des westeuropäischen Integrationsprozesses, die Konsequenzen der Vollendung des EG-Binnenmarkts, geraten Anfang der 1990er Jahre durch die deutsche Vereinigung und die Um- wälzung in Osteuropa nur für kurze Zeit etwas aus dem Blickfeld. Denn mittlerweile hat eine breit angelegte Diskussion über die Perspektiven einer räumlichen Entwicklungspolitik für Europa eingesetzt. Leitend aus bundesdeutscher Sicht ist dabei die Vorstellung, durch Vorgabe gemeinsamer rahmensetzender inhaltlicher Ziele sowie durch eine verbesserte Koordination raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, aber auch auf Ebene der Regionen und Städte eine Politik der europäischen Raumentwicklung zu betreiben – konzeptionell also im Vergleich zum Aufgabenverständnis von Raumordnungs- und Städtebaupolitik auf Bundesebene nichts Neues. Nachhaltige Entwicklung als neues Leitbild für die Raum- und Stadtentwicklung Spätestens mit der auf der Konferenz zu Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen im Juni 1992 in Rio de Janeiro verabschiedeten Agenda 21 und der auf der Weltsiedlungskonferenz Habitat II der Vereinten Nationen im Juni 1996 in Istanbul beschlossenen Habitat-Agenda ist klar, dass Raumordnungs- und Städtebaupolitik nicht nur eine europäische Perspektive haben, sondern auch dazu beitragen können, globale Herausforderungen zu bestehen. Wichtige Schritte zu einer nachhaltigen Stadt- und Raumentwicklung weltweit müssen vor allem in den westlichen Industriestaaten selbst getan werden. Denn sowohl die dortigen Produktions- und Konsummuster als auch die dortigen Siedlungs- und Stadtstrukturen sind mehr oder weniger nicht nachhaltig. Deshalb muss auch in Deutschland eine Raumordnungs- und Städtebaupolitik betrieben werden, die sich zugleich der globalen Zukunftsverantwortung bewusst ist. Ausgehend von einer nüchternen Bestandsaufnahme des Stands der Siedlungsentwicklung sind die künftigen Probleme absehbar. Der 1995 im Wesentlichen von der damaligen BfLR – gestützt auf Ergebnisse ihrer laufenden Raum- und Stadtbeobachtung – erarbeitete Nationalbericht Habitat II „Siedlungsentwicklung und Siedlungspolitik“ benennt Sie eindeutig: Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Der Verstädterungsprozess wird weiter anhalten, das Siedlungswachstum wird sich weiter – nach Art einer Wanderdüne – in immer weiter von der Kernstadt entfernte Städte und Gemeinden im Umlang verlagern. Der Preis ist eine weitere flächenzehrende räumliche Ausdehnung der Agglomerationsräume ins kleinstädtische und ländliche Umland der Stadtregionen mit der Folge einer weiteren Zunahme des Autoverkehrs, eines weiteren Verlust siedlungsnaher Freiräume und einer weiteren Minderung ökologischer Ausgleichsfunktionen. Der ungebremste, disperse Verstädterungsprozess bringt auch soziale Probleme mit sich, vor allem in den Kernstädten. Während die einkommensstarken Bevölkerungsgruppen ins Stadt-Umland ziehen, bleiben die einkommensschwachen in den Städten zurück. Konzentration von Einkommensschwächeren und Entmischungsprozesse finden vor allem in drei städtischen Teilräumen statt: In den Innenstädten, den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus der 60er, 70er Jahre und ehemaligen Arbeiterquartieren. Mit der seit Ende der 80er Jahre anhaltenden Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen anderer Kulturen verschärfen sich die sozialen Konfliktlagen noch zusätzlich. Private Investoren ziehen sich aus solchen Stadtquartieren zurück. Es fehlen städtische Mittel um die Desinvestitionserscheinungen zu beseitigen und somit weiteren Desinvestitionsprozessen entgegenzuwirken. Denn die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven der Städte in Deutschland und ihre Finanzen sind höchst unterschiedlich. Polare Entwicklungsmuster zeichnen sich ab: Für die westdeutschen Stadtregionen liegt die Spannbreite der zukünftigen Entwicklung zwischen Stabilität und starkem Wachstum. Von den ostdeutschen werden sich einige – Leipzig und Dresden, vor allem aber Berlin – langfristig an die bisher nur im Westen bekannten Entwicklungsmuster angleichen. Den meisten Stadtregionen im Osten Deutschlands drohen dagegen anhaltende Beschäftigungs- und Arbeitsmarktprobleme sowie eine weitere Bevölkerungsabnahme, also Schrumpfungsprozesse. An diesen ungleichen wirtschaftlichen Perspektiven der Städte und Gemeinden wird sich mittelfristig nicht viel ändern lassen. Die generelle ökologische Kluft zwischen West- und Ostdeutschland wird zwar kleiner werden, zugleich aber werden die kleinräumigen Unterschiede (regionale Disparitäten) dennoch größer. Der Spannungsbogen der Diskussion um Raum-/Stadtenwicklung und Raum-/Stadtentwicklungspolitik in Deutschland reicht Mitte der 1990er Jahre von der Bewältigung der mit der Einheit Deutschlands entstandenen neuen Aufgaben bis hin zu Aufgaben auf dem Weg zu einer nachhaltigen Raum- und Stadtentwicklung. Vor diesem Hintergrund wurde die BfLR 1995 vom Bundesbauministerium beauftragt, einen Städtebaulichen Bericht zum Thema „Nachhaltige Stadtentwicklung“ zu erstellen. Der 1996 mit einer Stellungnahme der Bundesregierung dem Deutschen Bundestag zugeleitete Bericht stellt wichtige, notwendige Schritte zur Bewältigung der Aufgaben auf dem Weg 817 zu einer nachhaltigen Siedlungs- und Stadtentwicklung in Deutschland vor. In einem Szenario „Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Siedlungs- und Stadtentwicklung – Deutschland im Jahr 2010“ zeigt dieser Bericht auf, dass Kurskorrekturen auf der Handlungsebene, falls sie erfolgreich sind, dazu führen könnten, dass der Verstädterungsprozess mittelfristig anders als heute verlaufen wird: Anlässlich ihrer 10. Sitzung in Kassel stellte die Ministerkonferenz für nachhaltige Siedlungspolitik (MKSP) mit Genugtuung fest, dass der disperse Verstädterungsprozess im vergangenen Jahrzehnt in Deutschland abebbte. Heute im Jahr 2010 – konzentriert sich die Entwicklung wieder auf die Zentren und Mittelstädte in den Agglomerationen und verstädterten Räumen. Flächenrecycling, bauliche Verdichtung, kleinräumige Funktionsmischung, Reduzierung der Automobilität, Stärkung des Umweltverbundes, Abbau von Umweltbelastungen und so weiter haben die Stadtflucht, die flächenzehrende disperse Suburbanisierung von Haushalten und Betrieben nachhaltig gestoppt. Städte der kurzen Wege, der vielfältigen Mischung in polyzentrischen Regionen, haben sich als durchgängiges Siedlungsstrukturkonzept für eine nachhaltige stadtregionale Entwicklung durchgesetzt. Die neuen regionalplanerischen Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten zur Umsetzung dieses Leitbildes werden zunehmend akzeptiert. Die stadtregionale interkommunale Kooperation funktioniert. Insbesondere die Ausweisung neuer Siedlungsflächen erfolgt nur noch an gemeinsam festgelegten Siedlungsschwerpunkten und in begrenztem Maße, weil durch Flächenrecycling und dichtere Nutzung bereits erschlossene Flächen der Flächenbedarf reduziert werden konnte. Grundlegend für den interkommunalen Finanzausgleich sind die ungleich verteilten Chancen und Belastungen der einzelnen Gemeinden in der Stadtregion. Die Ausgestaltung der Fördermittel und der steuerrechtlichen Regelungen des Bundes zugunsten einer nachhaltigen Stadtund Regionalentwicklung haben die kommunalen Handlungsspielräume wesentlich verbessert. Maßnahmen wie die Einführung einer Flächennutzungssteuer, die Umschichtung der Verkehrshaushalte von Bund, Ländern und Gemeinden zugunsten des Umweltverbundes, die Auflage eines Investitionsprogramms zur Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden in Deutschland Schaffung attraktiver kommunaler und regionaler Schienen- und Bussysteme, die Umstellung der ÖPNV-Finanzierung aus der bisherigen Abhängigkeit von der Mineralölsteuer auf Nahverkehrs- und Nahverkehrserschließungsabgaben sowie die verkehrsmittelneutrale Begünstigung der Arbeitswege (Kilometerpauschale) anstelle der jahrzehntelangen Bevorzugung der Pkw-Nutzung entfalten zunehmend spürbare Wirkungen. Intensive Bemühungen um Mitwirkung der Bürger haben die gesellschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit einer nachhaltigen Stadtentwicklung gestärkt und den politischen Konsens zum Handeln gefördert (Quelle: Städtebaulicher Bericht „Nachhaltige Stadtentwicklung“ der BfLR, Bonn 1996) 818 Aus der Werkstatt Bilanz und Ausblick Eine nüchterne Analyse der Entwicklung von Stadt und Land rund 15 Jahre später bestätigt die Mitte der 1990er Jahre beschriebenen mittelfristigen Entwicklungstendenzen – wenn man so will, ein Beleg für die Funktionstüchtigkeit der laufenden Raum- und Stadtbeobachtung (s. Abbildung). Prägend für die Raum- und Stadtentwicklung in Deutschland ist heute ein räumliches Nebeneinander von Wachstums- und Schrumpfungsprozessen. Die Analyse zeigt, dass die mit wirtschaftsstrukturellem und demographischem Wandel verbundenen Wachstums- und Schrumpfungsprozesse die schon im Nationalbericht Habitat II 1995 erkannten Herausforderungen an eine nachhaltige Raum- und Stadtentwicklung noch verstärken. Jenseits der augenscheinlichen OstWest-Unterschiede findet Wachstum und Schrumpfung kleinräumig nebeneinander sowohl innerhalb der Stadtregion als auch außerhalb statt. Im Osten konzentrieren sich die schrumpfenden, im Westen die noch wachsenden Städte. Besonders betroffen sind die Großstädte sowie die Mittelstädte außerhalb der Stadtregionen. Auch wenn einige Entwicklungen des Wunschszenarios 2010 heute schon Realität geworden sind, bleibt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Raum- und Siedlungsentwicklung also noch viel zu tun. Jahrzehntelange Erfahrungen mit der Anwendung des Planungsrechts zeigen, dass gesetzliche Normen allein nicht ausreichen, um in der Raum- und Stadtentwicklungspolitik den Sprung von der Programmatik zum Vollzug zu schaffen. Deshalb kann in der immer weiteren Fortentwicklung des Planungsrechts nicht die Zukunft von Raum- und Stadtentwicklung liegen. Auch eine auf einzelne Projekte und Aktionen konzentrierte Politik allein kann nicht die Zukunft sein. Das damit angestrebte, gelegentliche Finden öffentlicher Aufmerksamkeit kann nicht der Maßstab sein für Politikrelevanz, für die Begründung von Raum- und Stadtentwicklungspolitik als Regierungsaufgabe. Für die Verwirklichung einer nachhaltigen Stadt- und Raumentwicklung sind gerade unter instrumentellen Gesichtspunkten aber weitere Anstrengungen notwendig. Im Mittelpunkt müssen dabei die finanziellen Anreize stehen. Die Städtebauförderung kann hier als erfolgreiches Beispiel für eine geglückte Kombination der beiden Maßnahmetypen „gesetzliche Normen“ und „finanzielle Anreize“ gelten. Weitere wichtige Ansatzpunkte für eine ökonomische Interventionspolitik sind die Förderung des kommunalen Verkehrs (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz) und die beiden Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ und „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (als wichtiger Eckpfeiler für die Entwicklung ländlicher Räume). Das Gemeinschaftswerk der nachhaltigen Stadtentwicklung geht alle an. Die Rückbesinnung auf aktives Leben in attraktiven Städten ist so auch das zentrale Ziel des neuen, 2007 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) gestarteten Politikansatzes der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. Mit diesem Ansatz bekennt sich die Bundesregierung zu ihrer Verantwortung für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Dabei geht es nicht um neue Kompetenzverteilungen. Gleichwohl muss allen Ministerien deutlicher bewusst werden, dass ihre fachpolitischen Maßnahmen Auswirkungen auf die Städte haben. Die Bemühungen der verschiedenen Fachministerien, die im Bereich Stadtentwicklung tätig sind oder auf die Stadtentwicklung Einfluss nehmen, müssen besser aufeinander abgestimmt und verknüpft werden. Mehr integrierte Stadtentwicklungspolitik ist künftig gefragt und muss das Ziel sein. Fazit Raum- und Stadtentwicklungspolitik auf Bundesebene sind ebenso wie gestern und heute auch morgen wichtige Politikbereiche zur Verwirklichung des Prinzips der regionalen Chancengleichheit und der Umsetzung des Konzepts Nachhaltige Entwicklung. Dies gilt umso mehr, da die Städte und Regionen in Deutschland noch ein gutes Stück davon entfernt sind, nachhaltig zu sein. Viele Ursachen der weltweiten ökologischen Probleme wie z. B. des Klimawandels liegen in den Industrieländern, nicht zuletzt in deren nicht nachhaltigen Raum- und Stadtstrukturen, Produktions- und Konsummustern. Es gilt politische Problemlösungen zu entwickeln, die zugleich Strategien der Zukunftsverantwortung sind, d.h. sich am Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Schrumpfende und wachsende Städte und Gemeinden in Deutschland 819 820 Aus der Werkstatt Konzept nachhaltiger Entwicklung orientieren. Um solche Strategien umzusetzen ist es aber notwendig, aus tradierten Handlungsbahnen auszubrechen, sich auf eine Politik einzulassen, die zunehmend in kooperativen und sich zwischen Akteuren selbstorganisierenden Prozessen stattfindet, auf informative Kooperations- und Koordinierungsstrategien zu setzen, trotz oder gerade wegen der Finanzkrise der öffentlichen Hände eine größere Zielkonformität raumwirksamer Mittel einzufordern oder auch mitzuwirken an der Ausformung gesamtstaatlicher marktsteuernder Instrumente. Alles in allem also müssen Raum- und Stadtentwicklungspolitik auf Bundesebene versuchen, neue Antworten auf alte Herausforderungen zu finden. Bleibt zu hoffen, dass sich auch der politische Wille dazu einstellt, neue Antworten zu geben. Epilog: Zur Rolle der angewandten Forschung Im Schauspiel „Raum- und Stadtentwicklungspolitik“ des Bundes spielt das BMVBS die Hauptrolle. Eine tragende Rolle im Hintergrund spielt die Ressortforschung, vor allem ausgefüllt vom wissenschaftlichen Bereich des BBR als Ressortforschungseinrichtung dieses Ministeriums. Selbstbewusst festzuhalten ist, dass ohne sie, ohne Information und wissenschaftliche Beratung, viele Aufgaben in den vergangenen Jahren weniger gut gelöst worden wären. Wegen der sich kontinuierlich Konrad Goppel wandelnden Aufgaben, der engen Bezüge zu anderen Fachpolitiken, der besonderen Abhängigkeit von allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, vor allem aber wegen der unmittelbaren Bedeutung von Raum- und Stadtentwicklungspolitik für die Lebensverhältnisse der Bevölkerung, die Umwelt und die Entwicklungsmöglichkeiten von Städten und Regionen ist eine qualifizierte wissenschaftliche Politikberatung für diesen Politikbereich besonders wichtig. Bei dieser Aufgabenstellung ergeben sich für das BBR drei Kernaufgaben, die eine Einheit im Prozess angewandter Forschung darstellen: eigenständige Bearbeitung von Forschungsaufgaben; Planung, Begleitung und Auswertung von Forschungsprojekten innerhalb der Ressortforschungsprogramme des BMVBS; Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis. Kontinuität im Wandel war und ist das Überlebensprinzip für die frühere BfLR wie jetzt für den wissenschaftlichen Bereich des BBR. Auch künftig ist der wissenschaftliche Bereich des BBR (oder das vorgesehene Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im BBR) gefordert, sich laufend auf neue Politikberatungsinhalte, -situationen und -anforderungen einzustellen. Von der Raum- und Stadtentwicklungspolitik werden Konzepte, Maßnahmen, Instrumente zur Umsetzung einer nachhaltigen Stadt- und Raumentwicklung erwartet. Es gilt, dazu neue politische Handlungsfelder und -formen zu erschließen, neue Antworten auf die bestehenden Herausforderungen zu finden – denn nicht immer lässt sich mit Vergangenheit Zukunft gewinnen. Zukunft braucht Vergangenheit Die Zukunft ist der Ansporn jeglicher Planung, gleich ob sie ordnet oder entwickelt. Es ist dem etwas Motivierendes, Ermutigendes zu eigen: ein wenig zuständig sein für die Zukunft. Zukunft heißt Perspektiven, heißt Aufbruch, Wagnis auch und Mut, Vorausschau mehr und weniger Rückblick, heißt Offenheit und Bereitschaft für das Kommende. Und überdies, zuständig zu sein nicht für eine beliebige Zukunft, zuständig zu sein für die Zukunft des Raums, des Landes also, dem man verbunden ist und das den Einsatz lohnt. Zukunft heißt freilich auch Ungewissheit, kein sicherer Weg zum sicheren Ziel. Zukunft bedeutet mögliches Verfallsdatum für Wohlerwogenes, Wohldurchdachtes und Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Wohlgeplantes, Abschiednehmen vom gelobten Land und Aufbruch zu neuen, ungewissen Ufern. Von der „Hürde der Zukunft“ hat Martin Lendi zu Recht gesprochen, der er die Raumentwicklung ausgesetzt sieht. Bei aller beflügelnden Perspektive und aller beklemmenden Unsicherheit, die demnach mit der Zukunft für eine Disziplin wie die Raumentwicklung verbunden sein mögen, hat die Zukunft rückblickend naturgemäß auch eine Vergangenheit. Und wenn sich diese auch genau genommen erst dann als solche erkennen lässt, nachdem die Zukunft zur Gegenwart geworden ist, so ist sie doch von unbestreitbarer Relevanz: Gerade die notwendige Verwegenheit und das systembedingte Wagnis einer zukunftsgerichteten Disziplin bedürfen der Vergangenheit als Maßstab und Richtschnur. Was in ihr erfolgreich gedacht, geplant und verwirklicht wurde, mag als Grundlage dafür dienen, was auch in Zukunft Erfolg und Wohlfahrt versprechen kann. Es darf in der Raumentwicklung keine Erbhöfe von immer schon gehandhabten und lieb gewonnenen Instrumenten und Strategien geben, es müssen aber gleichwohl neue Wege und neue gedankliche Ansätze an den Erfahrungen der Vergangenheit gemessen und deren strengen, verifizierbaren Maßstäben unterworfen werden. Dies selbstkritisch zu verinnerlichen, dürfte mancher abgehobenen Raumwissenschaft und mancher selbstgerechten Deregulierungswut gut anstehen. Was an Vergangenheit der Raumentwicklung gilt es sich nun bewusst zu machen? Worin findet die Zukunft dieser Disziplin ihre verlässlichen Wurzeln – und vor allem, was davon kann eine solide Basis bilden, um den gewagten Sprung in eine sicher spannende, aber gleichwohl ungewisse Zukunft wagen zu können? Als besondere Grunderfahrung der Vergangenheit, auf die sich die Zukunft der Raumentwicklung bauen lässt, erscheint mir die Rechtsverbindlichkeit ihrer klassischen Instrumente und deren strikte Beachtung. Raumordnung hat abzuwägen, abschließend abzuwägen, wenn sie sich in Zielen verfestigt. Sie hat sich um Akzeptanz zu bemühen, durch intensive Einbindung ihrer Adressaten. Sie beteiligt neuerdings sogar den Bürger, unbeschadet der fehlenden Drittwirkung ihrer Instrumente. Das Ergebnis allerdings all des Bemühens um Einbindung und Teilhabe, um Überzeugung 821 und Verständnis muss dann auch Gültigkeit beanspruchen, ist ein- und auszuhalten von Politik und Verwaltung. Überall dort, wo man diesen Grundsatz gelebt hat, wo selbstbewusst nach ihm verfahren wurde, hat Raumordnung und Landesplanung sich in der Vergangenheit gegenüber divergierenden Fachinteressen durchgesetzt, hat sie sich Ansehen und Respekt erworben und auch Zuspruch und Unterstützung durch die Rechtssprechung erfahren. Gerade diese Erkenntnis gilt es daher für die Raumentwicklung aus der Vergangenheit in die Zukunft zu tragen. Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen sind allerdings keine Leerformeln. Maßgeblich ist der Inhalt dessen, was von einer Disziplin vertreten wird. Nimmt man hier das Maß der Vergangenheit, so war es stets das Bemühen um die Schwächeren, das der Raumentwicklung zum Verdienst gereichte. Allein hieraus erwachsen ihr Legitimation und praktische Notwendigkeit. Hierin hat sie seit jeher die dritte Säule der Nachhaltigkeit, das Soziale vorausgeahnt. Konzentriert findet sich dieses Bemühen um die Schwächeren in dem Leitprinzip der wertgleichen Lebensbedingungen, dem Anliegen also, jedem Teilraum des Landes und damit auch den strukturschwachen Räumen in ihrem Wert vergleichbare Lebensbedingungen zu ermöglichen. Es mag durchaus wieder in Mode gekommen sein – etwa unter Verkennung oder bewusstem Missbrauch des Gedankens der Metropolregionen – nur auf die starken Räume zu setzen. Es mag dafür auch nachvollziehbare Argumente geben, etwa aus der Sicht einiger der neuen Länder, die sich auf den demographischen Wandel und fehlende Finanzmittel berufen und die ökonomische Machbarkeit der wertgleichen Lebensbedingungen in Zweifel ziehen. Dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes jedenfalls werden diese Ansätze nicht gerecht, und die Zukunft der Raumentwicklung vermögen sie keinesfalls zu begründen. So kann wohlverstandene Raumentwicklung immer nur das gesamte Land zum Gegenstand haben, ganz abgesehen davon, dass die stark strukturierten Räume einer Disziplin wie der Raumentwicklung kaum bedürften. Verdeutlicht man sich vor diesem Hintergrund die Instrumente der Raumentwicklung im Einzelnen, um Maß zu nehmen an deren Erfolg oder Misserfolg in der Vergan- 822 Aus der Werkstatt genheit und um diese dann wiederum zum Maßstab der Zukunft zu machen, gilt es vor allem die Regionalplanung zu nennen. Mag sie auch die angefochtenste und vor allem gerade von jenen, die ihrer im Besonderen bedürfen, auch die meist gescholtene Planungsebene sein, so erscheint sie doch und vielleicht gerade deshalb im Lichte der Vergangenheit als die am wenigsten verzichtbare. Gäbe es sie nicht bereits, sie müsste für die Zukunft erfunden werden. So ist den Kommunen sicher unbestreitbar hohe Kompetenz in der Bauleitplanung zuzusprechen, über den Tellerrand der Gemeindegrenzen werden kommunales Selbstverständnis und Verantwortungsbewusstsein allerdings selten hinausreichen. Es bedarf daher zwingend einer eigenen regionalen Planungsebene, die sich die Erstellung eines Siedlungs-, Verkehrs- und Freiraumkonzepts zum Thema macht, die etwa den Abbau von Bodenschätzen regionsweit verbindlich regelt, die Nutzung und Ausschluss von Windkraft sinnvoll zumisst und allgemein die Ansprüche an den Raum sachgerecht ordnet sowie verträglich verteilt. Es ist verständlich, aber keineswegs hinnehmbar, dass die kommunalen Gebietskörperschaften als Träger und Normgeber der Regionalplanung die mit dieser verbundene Möglichkeit, das Land und sogar den Bund zu binden, gern wahrnehmen, aber die darin liegende zwingende Konsequenz allerdings, an die getroffenen Festlegungen auch selbst gebunden zu sein, nur schwer zu ertragen vermögen. Vergleichbar vordergründig erscheint die Haltung jener Vertreter von Politik und Verwaltung, die der Regionalplanung deshalb mit deutlicher Abneigung begegnen, weil sie in vielen Fällen opportunen Wünschen und Bestrebungen Grenzen setzt, die man gern verwirklicht sähe, und denen es im Übrigen an Standhaftigkeit und Mut ermangelt, selbst bei Erkenntnis von deren Fragwürdigkeit die erforderliche Gegenwehr zu leisten. Dennoch oder gerade deshalb begründet verantwortungsvoll wahrgenommene Regionalplanung ein gewichtiges Pfund aus der Vergangenheit der Raumentwicklung, das bis heute unverzichtbar ist und mit dem auch in der Zukunft gewuchert werden sollte. Schließlich sei noch ein Ansatz aufgegriffen, der, aus der eher jüngeren Vergangenheit der Raumentwicklung stammend, deren Zukunft in besonderer Weise zu verbürgen scheint. Es sind dies die sog. weichen Instrumente, wie Teilraumgutachten, Regionalmarketing und Regionalmanagement – im Raum entstanden, aus dem Raum angestoßen und vom Raum selbst betrieben und gehandhabt. Die staatliche Raumentwicklung ist hier nur Partner; sie begleitet und unterstützt den Raum bei seinen Aktivitäten und teilt sich mit ihm den finanziellen Aufwand. Sicherlich werden diese Instrumente allein nicht die Zukunft der Raumordnung garantieren können und als Grundlegung und zwingende Begleitung der klassischen, hoheitlichen Instrumente bedürfen. Und sicher wird gegenüber ihren konfliktarmen, beifallheischenden Verlockungen auch eine gewisse Skepsis ratsam sein. Aber dennoch: Sie setzen regionale Energien frei, sie bringen Motivation und Begeisterung der Menschen vor Ort ins Spiel, sie fördern Vernetzung und Kooperation statt Ausgrenzung und Kirchturmdenken, sie führen zu Kreativität und Aufbruchsstimmung, statt trägem Beharren und ängstlicher Weinerlichkeit. Weiche Instrumente erscheinen damit bei aller Unsicherheit, die neuen Wegen innewohnen mag, als ein verlässlicher Garant künftiger Raumentwicklung, der in der jüngeren Vergangenheit seine Bewährung gefunden hat. Mögen sich durchaus auch noch weitere Grundfesten räumlicher Planung aufspüren lassen, so dürften allein schon die erwähnten genügend deutlich machen, dass sich eine auch noch so unbestimmte Zukunft von Aufgabenstellung und Inhalten dieser Disziplin auf hinreichend konkrete und bewährte Erfahrungen der Vergangenheit gründen lässt. Diese Verankerung in einer bewährten Vergangenheit mag allen Raumplanern die Zuversicht geben, dass weder ihr Instrumentarium noch dessen Inhalte die ungewisse Zukunft zu fürchten haben. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 823 Spurensuche in Zeiten der Ungewissheit Jeder Rückblick betrachtet und bewertet frühere Aktivitäten anders, als sie seinerzeit gesehen wurden. Heute verfügen wir über eine andere Sicht, weil sich inzwischen weitere Erfahrungen angesammelt und stark veränderte Verhältnisse eingefunden haben. Wenn ich das reflektiere, was ich seit den 1970er Jahren mit all dem bewirkt haben könnte, was ich inszeniert und zu Papier gebracht habe, so stoße ich nicht nur auf ein erhebliches Messproblem. Ich stoße auch auf das Dilemma, dass ich sowohl die Aufbruchstimmung als auch die Erkenntnisschranken der früheren Zeit zu berücksichtigen habe, wenn ich die Aussagen nun überwiegend mit heutiger Brille interpretiere, die ihrerseits in gewisse Stimmungen und Schranken, wenn auch andere (kurzlebigere) eingebettet ist. Ich stoße zudem auf eine Art eingebauter Enttäuschung, die wir offenbar immer gleich mitproduzieren, wenn wir über Gegenwärtiges hinausweisen und hinauskommen wollen (und das wollten wir!), und die sich doch ganz sachbezogen einfach dadurch ergibt, dass zwischen normativem Bemühen und erreichbarer praktischer Folge eine Diskrepanz klafft und immer klaffen wird. Als ich 1982 nach Bamberg berufen wurde, konnte mir noch ein Fachgebiet mit der Bezeichnung „Sozialplanung“ im Rahmen des Soziologie-Studiengangs zugeeignet werden. Trotz breiter theoretischer Fundierung 1 und einer Erweiterung auf Themen der Stadtforschung war schon nach wenigen Jahren zu erkennen, dass das Etikett einer gesellschaftlichen und sozialen Planung nicht mehr griff, weder theoretischsoziologisch noch praktisch-planerisch; die Absolventen blickten sich ratlos auf dem Arbeitsmarkt um und steuerten andere Häfen an. Hätte man dies schon bei der Widmung der Stelle wissen müssen? Bietet die Erweiterung um „Urbanistik“ die Gewähr für eine dauerhafte Tragfähigkeit? Ich jedenfalls hatte mich darauf eingelassen, erlebte die drohende Irrelevanz als Abseits in der sozialwissenschaftlichen Community und wollte doch aus tiefer Überzeugung daran festhalten, den Studierenden die Voraussetzungen für normative Entwürfe einer „besseren“ Gesellschaft zu liefern und diese zu erproben. Heute meine ich, dass an einem Karl-Dieter Keim solchen Anliegen – abgesehen von dem Auf und Ab der gesellschaftlichen Nachfrage – mit den Aufgaben und Möglichkeiten einer Fachprofessur nur im mehrjährigen Verbund mit anderen Einrichtungen befriedigend gearbeitet werden kann; man sollte sich lieber bescheidenere Ziele setzen. Immerhin: Im Jahr 1987 ließ sich, mit guter Mobilisierung von Fachkompetenz und örtlicher Kommunalpolitik, ein „Wiesbadener Forum zur Stadtentwicklung“ organisieren. Mit den Erfolgen der „Grünen“ schien wieder so etwas wie eine Aufbruchstimmung aufzukommen. Aus den Referaten und Debatten entstand damals eine Publikation 2 mit verschiedenen Ansätzen einer neuen Steuerungs- und Reformstrategie, zentriert durch das theoretische Konzept einer „selbst-produktiven Gesellschaft“ (Touraine). Die Stadt trat als kulturelles Produkt und Projekt in den Blickpunkt. Resonanz gab es reichlich, doch die möglichen Wirkungen wurden ab Ende 1989 völlig überlagert durch den Prozess der deutschen Einigung. Andere Konzepte traten in den Vordergrund. Die Renaissance der „civil society“, erst auf der Makroebene, später auch lokal und regional, eröffnete die Chance, die Bedingungen für eine „selbstproduktive Gesellschaft“ weiterzuverfolgen. Seitdem sind dazu zahlreiche Ausarbeitungen entstanden, auch praktische Erfahrungen traten hinzu – es bleibt der Eindruck, dass zivilgesellschaftliche Ansätze oft zu ungenau ausfallen, um Analysen mit überprüfbaren Befunden leisten zu können. Mit der Wende begann ein neues Spiel. Zwar gab es auch schon in den 1980er Jahren gelegentliche Begegnungen mit DDRKollegen, gab es Soziologen, die Bekannte im Osten hatten und ab und zu dorthin reisten, doch im Grunde genommen war es ein totaler Neubeginn. Ich erinnere mich noch, wie sich das anfühlte: Es war, als sei man lange Jahre einen Weg gegangen, dessen Kontext einem vertraut war. Jetzt lehrte der historische Einschnitt, dass dieser Weg nicht mehr weiterführte – ein ganz anderer war zu beschreiten, und dessen Kontext war unbekannt. Dieses Gefühl erfasste diejenigen unter uns stärker, die sich damals entschlossen, im deutschen Osten tätig zu (1) Dazu zählten, ähnlich wie bei Bernhard Schäfers i. d. H., Texte von Karl Mannheim, Friedrich Tenbruck, Charles E. Lindblom, Fritz W. Scharpf, Alain Touraine, Amitai Etzioni, Manuel Castells und John Friedmann. (2) Siehe hierzu Keim, K.-D. (Hrsg.): Arbeit an der Stadt. Plädoyers für eine selbst-produktive Politik der Stadtentwicklung. – Bielefeld 1989 824 (3) K.-D. Keim (Hrsg.): Aufbruch der Städte. Räumliche Ordnung und kommunale Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern. – Berlin 1995 Aus der Werkstatt sein. Nun galt es, neue Zukunftsthemen erst einmal zu erschließen. Es half nicht so recht, einfach mit den herkömmlichen Analyseansätzen und -begriffen vorzugehen; genau das aber geschah reichlich. Es bedurfte einer neuen Begrifflichkeit von Transformation, von Anpassungsverhalten, von nachholender Modernisierung, von dürftiger Demokratisierung, von zähen Mentalitätsmustern. Jahre waren nötig, um diese Begrifflichkeit zu erarbeiten. („multiple self“) verkörpern, wenn sie zudem kooperativ und als strategische Akteure auftreten. Welche Angebote gab es hierzu? Wie haben die Kommunen sie aufgegriffen? Aus heutiger Sicht meine ich: Trotz zutreffender Charakterisierungen erwies sich der normative Rahmen als zu anspruchsvoll; er hat wissenschaftlich wenig Weiterarbeit mit den vorgeschlagenen Kategorien ausgelöst und politisch und öffentlich keine Resonanz hervorgerufen. Also l’art pour l’art? Die für dieses Heft zentrale Frage nach der Zukunftsbedeutung früherer Konzepte besitzt auch eine wichtige institutionelle Seite. Wissenschaftliche Standorte und Perspektiven können in Instituten viel besser „auf Dauer“ gestellt werden (was ihre permanente Revision einschließt) als bei Professuren mit wenig stabilen Ressourcen. In meinem Fall war der Neubeginn mit der Gründung des heutigen Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin verbunden. 1991 wurden drei solche Institute der Blauen Liste in Ostdeutschland gegründet; sie verkörpern inzwischen eine beachtliche Kapazität der (außeruniversitären) raumwissenschaftlichen Forschung. Zusammen mit der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) bilden sie einen Verbund und konnten sich so in Politik und Öffentlichkeit mehr Gehör verschaffen, als dies den einzelnen Professuren seither möglich war. Erwiesen sich ihre Ausarbeitungen als relevant? Keineswegs. Heute zeigt sich, dass dieselben Fragen unter neueren begrifflichen Vorzeichen weiterverhandelt werden. Dies lässt sich vor allem an den zahlreichen Governance-Konzepten zeigen. Sie enthalten, da es nicht nur um Regierungs-Akteure geht, auch zivilgesellschaftliche, also selbst-produktive Ansätze, und sie geben der räumlichen Planung eine andere theoretische Einbettung, die auf längere Sicht eher zu einer Annäherung an angelsächsische Auffassungen hinführen wird. Auf diese Weise wird sich nach und nach auch eine stärkere Internationalisierung unseres Fachgebiets herausbilden, was auch nötig ist. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Kommunen und das Ausmessen des künftigen Handlungsraums der lokalen Politikarena standen im Mittelpunkt einer IRS-Veröffentlichung 3; die Autoren waren angetreten, um wissenschaftlicher Beratung und kontextsetzenden Fachpolitiken eine Orientierungshilfe zu bieten. Als ein gemeinsames Situationsmerkmal in der Phase der Transformation galt die Ungewissheit (Unsicherheit). Dieses Merkmal wirkte sich nicht nur auf die Charakterisierung der Realität als fragil und auf eine Vorläufigkeit verwendeter Begriffe und Konzepte aus, es stellte auch zwingend die Frage, wie Akteure lokal- und regionalpolitisch verfasst sein sollten, um in ungewissen, unübersichtlichen Situationen erfolgreich handeln zu können. Kommunen wurden eher Chancen eingeräumt, wenn sie mehrere Identitäten An dieser Stelle möchte ich mit Nachdruck dafür plädieren, die Beurteilung früherer Ansätze bei Sozialwissenschaftlern und bei Planern (beiderlei Geschlechts) systematisch zu unterscheiden. Der oftmals enge Dialog zwischen beiden und die durchaus bemerkenswerten gemeinsamen Projekterfahrungen verschleiern allzu leicht, dass es hierbei um zwei alternative Funktionen geht. Für Soziologen und Politikwissenschaftler – das gilt wohl begrenzt auch für Humangeographen – steht die Analyse im Vordergrund, auch normative Theorien sind zunächst einmal hinsichtlich ihrer empirischen Realisierungsformen, ihrer Instrumentalisierungen, ihrer Verwendungs-Selektivität und ihrer Bedeutung für Diskurse zu untersuchen. Dieser analytische Vorrang lässt sich nur einlösen, wenn ein erheblicher Anteil der Forschungskapazität hierauf gerichtet (und gefördert) wird. Wie ist das für die letzten zwanzig Jahre zu beurteilen? Wie viele Studien sind analytisch, wie viele sind konzeptuell angelegt worden, mit welchen Wirkungen? Aufbereitete Daten dazu gibt es nicht, jede Aussage hierzu wäre spekulativ. Doch festzuhalten bleibt: Erst nachgeordnet, von Fall zu Fall, wird es Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 (meist in Kooperation mit anderen Disziplinen) sozialwissenschaftlich um das Entwerfen von Steuerungs- und Planungskonzepten gehen, ob allgemeiner oder konkreter Art. Dazu zählen auch Sozialexperimente. Diese normativen Konzepte hingegen bilden den Hauptanteil des Wirkens der Planerkollegen und -kolleginnen. Bei ihnen lässt sich meinem Eindruck nach besser ausfindig machen, inwieweit ihre Vorschläge und Entwürfe realisiert worden sind, welche längeren Wirkungen sie hervorgerufen oder welche Kräfte ihre Umsetzung verhindert haben. Die disziplinäre Differenz verdeutlicht noch einmal, dass es bei einer Würdigung der früheren Arbeiten in wissenschaftlicher Sicht um eine Beurteilung des erzielten Erkenntnisgewinns gehen muss. Meiner Auffassung nach sind durch die zahlreichen Studien, Konzepte, Umfragen und interdisziplinären Forschungen in der durch Transformation und Globalisierung drastisch veränderten deutschen Raumszenerie umfangreiche neue Erkenntnisse gewonnen worden. Doch nach und nach schälte sich auch eine schwere Hypothek des neuen Zeitgeists heraus: Es fehlt strukturell an der konzisen Bearbeitung grundlegender Theorieansätze, an Konzeptualisierungen und synthetischen Auswertungen von empirischen Befunden. Das meiste Tun in unserem Fachgebiet zerfällt in individuelle Aktivitäten, anscheinend beliebig zu steigern und beliebig zu ersetzen, und diese Haltung ist selbstverständlich dem Konkurrenz- und Karrierezwang geschuldet. Ich bin überzeugt davon, dass dies nur anders ist, wo es zu mehrjährigen gemeinsamen Forschungsprogrammen kommt – was leider selten der Fall ist. Andererseits gibt es keinen Grund, warum es – unabhängig von einer mittelfristigen Forschungsprogrammatik – um die wissenschaftlichen Produkte anders bestellt sein sollte als zum Beispiel um die Produkte der Belletristik, der Filmkunst oder von Städtebau/Architektur: Manches setzt sich durch, das meiste hat eine Aufmerksamkeitszeit von ein, zwei Jahren und ist dann nur noch im „Speicher“ vorhanden, aber je nach Bedarf auch wieder rückhol- und aktualisierbar. Das ist der Rhythmus der intellektuellen Fortschrittsmelodie. Auch hier also hohe Ungewissheit, und niemand weiß 825 zu sagen, ob das, was sich im Mainstream durchsetzt, aus späterer Sicht tatsächlich einen Fortschritt bedeutet. Wenn allerdings nicht der Erkenntnisgewinn angestrebt wird, sondern Arbeiten für die praktische Politik und Planung durchgeführt werden, schalten wir einen anderen Scheinwerfer ein. Dann fragen wir: Gelang es den Experten, ihre Vorstellungen (die im besten Fall auf neuem Erkenntnisgewinn fußen) gegenüber einer verharrenden oder ideologisch gesteuerten Politik und einer im bürokratischen Routinehandeln befangenen Verwaltung durchzusetzen? Da wird jede Bilanz enttäuschender ausfallen, auch wenn sich viele Anhänger bemühen, der Tradition der deutschen Raumforschung gemäß möglichst politiknah tätig zu sein. Das ist zwiespältig. Wer Politiknähe sucht, gibt im Grunde den Anspruch auf, ein auf unabhängige Weise produziertes raumwissenschaftliches Wissen zu erarbeiten und es ebenso unabhängig in die Politikarena oder die Öffentlichkeit zu transferieren. Soll dadurch Ungewissheit in der Verwendung von Wissen reduziert werden? Oder geht es eher um einen machtbestimmten Gestaltungsanspruch, um ein Bewegenwollen? Wer in einer Behörde arbeitet, ist ihren Regelsystemen unterworfen, das versteht sich. Doch hier spreche ich von der eigenen Sphäre des kulturellen Teilsystems Wissenschaft. Ich nehme für mich in Anspruch, über viele Jahre alle Facetten des normativen Handelns eines Wissenschaftlers ausgelotet zu haben. Mein Fazit lautet: Wissenschaftler sollten nur das öffentlich und politisch vertreten, was sie mit guter Begründung als ihr gesichertes Fachwissen und als Ergebnis ihrer (methodisch gut durchgeführten) Untersuchungen erarbeitet haben. Alles andere zählt zur aktiven Bürgerrolle ohne wissenschaftliche Legitimation. Das was sie anzubieten haben, sollten sie allerdings anwendungsorientiert und in Praxisvorhaben auch bereitstellen und konstruktiv-kritisch kommunizieren. Ich bewerte es als positiven Lerneffekt der letzten 15 Jahre, dass inzwischen das Verständnis für ein unabhängigeres raumwissenschaftliches Arbeiten zugenommen hat.4 Mehr Politikferne schwächt die fundierte Beeinflussung der Raumpolitik nicht, sondern stärkt sie. Dies ließe sich besonders (4) Dies wird näher ausgeführt in Keim, K.-D.: Das Fenster zum Raum. Traktat über die Erforschung sozialräumlicher Transformation. – Opladen 2003, Kap. 3 und 4; ders.: Besondere Stellung raumbezogener Wissenschaftsdisziplinen. In: Zur Zukunft ländlicher Räume. Entwicklungen und Innovationen in peripheren Regionen Nordostdeutschlands. Hrsg.: Hüttl, R.; Bens, O.; Plieninger, T. – Berlin 2008, S. 88–95 826 Aus der Werkstatt dadurch demonstrieren, dass im Politikbereich der Raum-, Regional- und Stadtentwicklung alle zwei oder vier Jahre ein unabhängiges Sachverständigengutachten erarbeitet wird (wie in anderen Ministerien üblich), das die zuständige Regierung nicht ummodelt, sondern nur kommentiert. Thomas Kontuly Von Heinrich Böll stammt der Satz: „Das Wirkliche liegt immer ein wenig weiter als das Aktuelle.“ Welch ein Motto für die nahe Zukunft eines Fachgebiets, dessen Fortentwicklung bereits in der Vergangenheit immer wieder formuliert worden ist! Changing interregional human settlement patterns in Germany and other developed countries Twenty-five years ago, Roland Vogelsang and I embarked on a research trajectory that investigated the processes of interregional change in the old Federal Republic of Germany (FRG). Research on the existence of an possible “new” trend of population deconcentration in the USA1 generated a great deal of interest world-wide and motivated the question of whether this process was international in scope and was occurring in other highly industrialized countries 2. The European literature adopted Berry’s 3 term of “counterurbanization” to characterize this new phenomenon, while in the USA it was called the migration or population “turnaround”. Researchers from economics, demography, geography, regional science, rural sociology, and sociology contributed to this body of work. Research on this new trend completed with Daniel R. Vining, Jr., at the comparative level 4, suggested the possible existence of interregional deconcentration in the old FRG, and the next step in better uncovering the reasons for and explanations of this process was to undertake this investigation at the individual country level. There were several advantages to do so on the old FRG. The first was the existence of a central place urban structure, second was the existence of a set of functional urban delimitations, and third was the availability of high-quality, yearly internal migration data disaggregated by age. If this research thrust proved to be correct, there could be far-reaching implications for future human settlement patterns in Germany and in other highly industrialized countries. Investigating this process in the old FRG, an interregional or spatial deconcentration of human population was discovered in the 1970s and this process was found to be distinct from the process of suburbanization.5 In this Informationen zur Raumentwicklung article, the terms interregional/ spatial/regional deconcentration and counterurbanization will be used interchangeably. Then the USA experienced a migration “turn-back-around” during the 1980s, and reverted to traditional patterns of urbanization.6 Other developed countries showed either continuing or a new pattern of counterurbanization7 or a return to urbanization. The original euphoria surrounding the possibility of a new trend of population deconcentration, in the developed world, dampened as a result of these findings on the 1980s. However, since the findings were not conclusive and did not indicate a clear, dominant trend in one direction or another, this research trajectory continued. The old FRG closely followed the changing patterns of interregional movement identified in other developed countries. Between 1970 and 1984 a trend toward greater interregional deconcentration occurred in West Germany, measured in terms of a net shift down the urban size hierarchy from large to small-sized metropolitan regions.8 This shift occurred within the context of a northto-south redistribution of population that occurred at the scale of the entire country and that reflected the economic and industrial transformations taking place in the Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 old FRG. A shift back toward interregional concentration or an urbanization tendency, with net migration occurring up the urban size hierarchy, started in 1985 and continued through 1988.9 As the result of these changes it was not clear if regional tendencies in the old FRG were returning to traditional patterns of concentration, were a temporary postponement of deconcentration tendencies or represented alternating cycles of spatial concentration and deconcentration. Other researchers also investigated the phenomenon in the old FRG and provided additional evidence of interregional population deconcentration.10 Then, reunification impacted the patterns of interregional change in Germany. During the years 1989 to 1994, a major relocation of the German population occurred from the eastern to the western part of the country.11 An interregional deconcentration of the population was found once again for the western part of Germany during the post-unification period of the 1990s; Eastern Germany, on the other hand, showed interregional population concentration.12 A similar trend also occurred in the old German Democratic Republic during the 1980s.13 How did the situation in West Germany compare to the changes experienced by other European countries? Using an international comparative perspective, over the period of the 1970s, 1980s, and 1990s, Kontuly 14 classified eighteen European countries based on their tendencies of regional population change. An urbanization trend was equated to regional population concentration while regional population deconcentration was considered the same as counterurbanization. A six-part classification15 divided the eighteen countries into the following: • Czechoslovakia, Germany (East) and Portugal – strong urbanization during the 1970s, 1980s, and 1990s • Finland, Ireland and Norway – slowing urbanization during the 1970s • Spain – slowing urbanization during the 1980s • Belgium, Denmark, France, Iceland, the Netherlands, Sweden and Switzerland – counterurbanization during the 1970s • Austria, Germany (West) and Italy – counterurbanization during the first half of the 1980s 827 • Greece – counterurbanization in the second half of the 1980s. After the year 1985, changes were found to be “complex” 16 with • Finland, Ireland and Norway – returning to strong urbanization • Austria, Iceland and the Netherlands – returning to urbanization from a prior counterurbanization trend • Denmark, France, Greece and Italy – showing continued counterurbanization • Belgium, Germany (West), Spain, Sweden and Switzerland – showing no clear trend in one direction or the other. So, West Germany was one of several European countries that exhibited counterurbanization during the 1980s, but then showed no clear tendency after 1985. Britain was the only European country showing a consistent, long-term trend of counterurbanization that started as early as 1950 and lasted until 1991.17 In a 2003 comparative study of fifteen European Union member countries, Panebianco and Kiehl 18 concluded that during the 1980s and 1990s regional population trends in Europe did not show a single tendency toward either concentration or deconcentration. Also, they commented that research on the existence of counterurbanization in Germany is a rather controversial topic, with several researchers, such as Bade 19 and Bade et al.20, contending that the deconcentration of economic activity worked against the large agglomerations, and others such as Klemmer 21, Stahl 22, and Irmen and Blach23 do not see a great deal of potential for economic growth in the rural regions. They 24 concluded that while the above-average performance of rural areas in Germany represents counterurbanization, the aboveaverage development of urban regions also represents a form of renewed urbanization or a form of re-urbanization. The controversial nature of this debate continues today. As an example, Gatzweiler and Schlömer 25 contend that the re-urbanization trend recently seen in Germany will not continue into the future. Research on the counterurbanization topic continues on the European countries of Estonia, France and Spain.26 828 Aus der Werkstatt In an attempt to help unravel this mystery, Kontuly and Dearden 27 used the differential urbanization model 28 to understand interregional change 29 in the old FRG. Counterurbanization is imbedded as a separate stage in the broader differential urbanization model, and the model is useful as a tool for investigating change in the entire settlement system of the old Federal Republic of Germany (FRG). The model distinguishes between large, medium and small-sized urban and metropolitan regions and hypothesizes that these regions pass through successive temporal stages of rapid and slow growth. The three stages are labeled as urbanization, polarization reversal and counterurbanization, with the urbanization stage characterizing a period of regional population concentration while the polarization reversal and counterurbanization stages depict periods of population deconcentration. The model suggests that the temporal sequence is the following: from urbanization to polarization reversal to counterurbanization, and this sequence represents the first phase of the model. After completion of the first phase, the second phase begins. The differential urbanization model was found to accurately characterize regional population change in Western Germany between 1939 and 2010 and a progression through the stages of the model was evident as a “consistent tendency in a general direction” 30. Between 1987 and 1995, regional population deconcentration was apparent in all of western Germany in the form of polarization reversal. During the stage of polarization reversal, medium-sized regions grow faster than large metropolitan and small-sized regions. Using projected regional population data, it was predicted that western Germany would experience counterurbanization between 1995 and 2010.31 Then, utilizing the differential urbanization model to investigate yearly variations in net internal migration rates between 1970 and 1988, changes in the national settlement system of the old FRG were also found to correspond with the temporal expectations of the model. By 1986 the settlement system in western Germany passed through the first phase of the differential urbanization model and entered the second phase. In addition, transitions from one stage of the model to another, or temporal change, occurred over very short periods.32 The two studies mentioned above 33 provide examples of the potential of using the differential urbanization model to understand better the complex temporal changes of a settlement system in a developed nation. These studies also suggest that regional change in the old FRG and in Unified western Germany can be represented as alternating cycles of regional concentration and deconcentration. In keeping with the theme of this special issue to evaluate research trajectories as topics that at one time were important and then passed out of consequence, it can be said that the investigation of interregional change in western Germany remains alive and well. The interregional deconcentation of population, identified by Kontuly, Wiard and Vogelsang 34 in the old FRG during the 1980s, was disturbed by political unification, and then returned in the western part of unified Germany during the 1990s. This paper argues that the differential urbanization model provides a better understanding of past temporal change in a national settlement system and is useful in establishing educated guesses about future change. It suggests that interregional change can be represented as alternating cycles of concentration and deconcentration. Also, temporal change appears to occur much faster than originally expected, with this acceleration possibly due to the process of globalization. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 829 References (1) Berry, B. J. L.: The counterurbanization process: how general? In: Human Settlement Systems: International Perspectives on Structure, Change and Public Policy. Hrsg: Hansen, N. 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Especially German unification brought various issues and research items not only to German researchers but also to Korean ones. Many politicians and scholars in South Korea argued that various aspects of German unification should be reviewed for preparing Korean unification in the future. In this regard, research works concerning transition economies became very popular not only in Europe but also in South Korea. Many papers about German unification and transition economies were published in the 1990s. Although outputs concerning transition economies were reduced in the 2000s, many Korean researchers believe that the theme of unification and integration is one of the most important issues on the Korean peninsula. As seen in the German case, South and North Korea are expected to face many obstacles in the course of integration after unification. I am not sure whether the German case is the best model of unification for the two Koreas. However, it is evident that the German case gives us valuable insights of unification and integration on the Korean peninsula. Many Korean unification experts said that we should not repeat the way of German unification on the Korean peninsula because two Germanys were unified by a radical way and the social and economic costs were enormous. However, two Germanys were unified peacefully. Since a peaceful unification may be the best way of unification for the two Koreas, we need to learn the German way of unification. The German experience will help us to avoid the mistakes in the process of integration of the two Koreas. Urban and regional consequences of unification Unification brought many issues concerning transformation and integration in the former GDR (German Democratic Repub- lic). Since 1990, many cities in the former GDR have been confronted with drastic challenges such as a massive loss of jobs in the secondary sector. According to empirical studies on the German unification and on transition economies, transformation did not only bring social but also spatial changes. Restructuring social and spatial systems in transition economies was one of the major issues in the 1990s. The experience of transition economies showed that marketization, privatization and economic globalization are defined as the key variables determining the postreform spatial development in transition economies. Marketization in land and housing and privatization of enterprises by attracting foreign investment in transition economies have begun to change the scene of urban and regional development. Suburbanization and revitalization of central areas through a growth of commercial areas in large cities in the former GDR and Central and Eastern Europe were spatial consequences of marketization, privatization and globalization. Suburbanization was one of the spatial consequences of the changing spatial behavior of private enterprises affected by special transformation measures like the privatization of land ownership and state-owned enterprises. However, it also brought negative impacts such as shrinking central areas and diminishing green areas around large cities. After the privatization of land and state-owned enterprises, a pattern of diverse and intensive land use developed in the former GDR and Central and Eastern Europe. Although the former GDR and countries in Central and Eastern Europe had similarities in many aspects of transformation, the role of the government was apparently different. The Federal Government of Germany played a more important role in transformation than that of Central and Eastern Europe. Many foreign experts agreed that the former GDR had been transformed more successfully than the other former socialist countries in Central and Eastern Europe. I think that one of the factors, which brought success to the former GDR, was a deep engagement of the Federal Government in the process of transformation. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 In the 1990s, many policy instruments for urban and regional development including urban renewal programs were implemented in the former GDR and they played an important role in improving the living environment of regions. Especially many old dwellings of inner city areas were fully or partially renovated and the living conditions in the inner city were improved significantly. One of the most important problems of German unification were social and spatial disparities, which were direct consequences of transformation. Although the Federal Government has implemented many policies designed for a balanced regional development in the former GDR since 1990, a rapid economic transformation brought serious problems such as regional disparities. At the time of German unification, economic disparities in the former GDR were not more serious than in the former FRG (Federal Republic Germany). The former GDR has been developing with high economic growth rates since unification, but a balanced regional development has not yet been achieved. In the beginning of the transformation process, the reduction of jobs in rural areas and in so-called old industrial regions was higher than in other regions in the former GDR. The gap of economic power between rural regions like Mecklenburg-Western Pomerania and agglomerated regions like Berlin became more acute in the 1990s. Especially old industrial regions in Sachsen-Anhalt suffered a reduction of jobs and a lack of new investments in the context of a process of industrial restructuring. The process of economic transformation and its spatial consequences in the former GDR showed the costs of unification and integration. Some lessons and tasks for Korean planners Like the former GDR, North Korean people will have to overcome many difficulties including those arising in the globalisation process as well as in the process of transformation and integration. I think that one of the most serious problems with spatial policies after German unification was a lack of comprehensive and integrated policy meas- 831 ures for urban and regional development. Only sectoral investments were planned and implemented. Some plans, which were established under political consideration, had negative consequences. In many areas in cities, it became necessary to remove vacant dwellings which already exceeded the demand. In general, urban development measures should be based on a solid demand. Therefore, policy measures to promote infrastructure development should be established in respect of changing demands. The German case reveals the importance of adequate and integrated policy measures for urban development. The German experience in the spatial context gives us two important implications. First, we should consider a balanced regional development as one of the most important policy objectives in the process of economic integration after unification. Changing industrial demand and geographic characteristics of cities and regions are the main factors which might play an important role in urban and regional development in the process of transformation. If policy measures concerning privatization and marketization are implemented in North Korea, the winners and losers among North Korean cities might become more apparent. Economic problems such as high unemployment and low investment might be more serious in cities that are based on heavy industries than in other cities. Furthermore, cities, which have poor geographical conditions, would face problems of low investment. South Korea has experienced the negative effects of economic and population concentration in the Seoul metropolitan region for the last three decades. To achieve a balanced urban development in North Korea in the future and to attract foreign investments, the improvement of infrastructure in cities, which have poor geographical conditions and are specialized in heavy industries, should be considered as one of the most important policy targets. In order to achieve a balanced regional development, an active and adequate role of the central government is very important. Second, integrated policy measures for preventing urban sprawl and enhancing the living conditions of urban areas should be prepared to achieve a sound spatial development and to enhance the competitive- 832 Aus der Werkstatt ness of cities. Minimizing the destruction of green areas should not be neglected in the process of transformation. The German case shows the importance of living conditions in the transformation process. While the maintenance and creation of jobs will be the most urgent issue in the transformation process in North Korea after unification, they should be promoted in combination with the creation of good living conditions. In this regard, an improved living environment in cities of North Korea should be considered as an important factor for rebuilding the economy of North Korea. Thomas H. Morszeck Horst Degenkolbe Apparently, unification might provide an opportunity for the two Koreas. However, the problems and challenges arising from unification might be more extensive and difficult than expected. Therefore, careful preparations for unification are essential for minimizing the negative effects and costs of unification. This is a reason why we are concerned with failures and successes of Germany. Winds of change coming from Germany would bring us a chance for building peace and prosperity on the Korean peninsula. It depends on our willingness. Fachinformation für Raumordnung, Städtebau, Wohnungswesen und Bauwesen Vom IuD-Programm bis zum Web 2.0 Geht man davon aus, dass die Gegenwart die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft darstellt, dann beschreiben die letzten 25 Jahre – unter Einbeziehung der Gegenwart – stets die Vergangenheit der Zukunft. Ganz besonders gilt das für die rasante Dynamik im Umfeld des Internets, das die technische Entwicklung der gesamten Fachinformation entscheidend geprägt hat. Daneben beeinflusste in diesem Zeitraum eine Reihe politischer Vorgaben die Aufgaben und Zielsetzungen der Fachinformationseinrichtungen. (1) Der Bundesminister für Forschung und Technologie: Programm der Bundesregierung zur Förderung der Information und Dokumentation (IuD-Programm) 1974–1977. – Bonn 1976, S. 21 (2) Der Bundesminister für Forschung und Technologie: Fachinformationsprogramm 1985-88 der Bundesregierung. – Bonn 1985, S. 13. Hier wird auch eine privatwirtschaftliche Öffnung angedacht: „…, um die Finanzierung der Fachinformationsdienste über die Nachfrage zu verstärken, die Strukturen der IuD-Einrichtungen mit dem Ziel höherer Effizienz, insbesondere bei der Vermarktung, zu überprüfen“. Im politischen Bereich griff die Bundesregierung in den 1970er Jahren mit ihrem „IuD-Programm“ und den darauffolgenden Fachinformationsprogrammen nachhaltig in die Gestaltung des Systems der deutschen Fachinformation und damit auch in den Aufgabenbereich des Fraunhofer Informationszentrums Raum und Bau (IRB) ein. Damals hieß es: „Das Strukturkonzept zielt insbesondere darauf ab, durch Umgestaltung und Neuorganisation des wissenschaftlichen und technischen Informationswesens die bisher recht verstreuten Dokumentationsaktivitäten, zentralen Fachbibliotheken und Übersetzungsdienste zu etwa 16 großen überregionalen Fachinformationssystemen zusammenzufassen und systematisch zu leistungsfähigen Einheiten fortzuentwickeln …“.1 Die Umsetzung dieses Programms bestimmte wesentlich den Zielbildungsprozess und die Entwicklung des IRB in den 1980er und 1990er Jahren. Die auf das IuD-Programm aufsetzenden Fachinformationsprogramme der Bundesregierung veränderten auch grundsätzlich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für alle geförderten Informationseinrichtungen: „Das Gutachten über die Fachinformation in der Bundesrepublik Deutschland … vom April 1983 empfahl eine Neuformulierung der Fachinformationspolitik, um die Kernfrage zu beantworten, ob es sich bei der Fachinformation um eine Infrastruktur handelt, die der Staat vorzuhalten hat, oder um einen Markt, bei dem der Staat die Rahmenbedingungen setzt.“ 2 Die dynamischen Entwicklungen im technischen Bereich (Datenbanken, Telekommunikation) führten in den 1990er Jahren im IuK-Sektor zu tiefgreifenden Veränderungen in allen Komponenten der Fachinformationsinfrastruktur, insbesondere natürlich durch die weltweite allgemeine Einführung des Internets. Drei Beispiele zur Infrastruktur der RSWB (Raumordnung, Städtebau, Wohnungswesen, Bauwesen)-Fachinformation sollen stellvertretend für die Vielzahl von strategi- Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 schen Planungsansätzen und Produktentwicklungen in den vergangenen 25 Jahren vor dem Hintergrund der oben angeführten Rahmenbedingungen kurz vorgestellt werden: (1) das Konzept des Informationszentrums in einem Fachinformationssystem Raumordnung, Bauwesen, Städtebau bzw. Raumordnung, Städtebau, Wohnungwesen, Bauwesen (RSWB), (2) der Versuch des angepassten individuellen Informationstransfers und (3) die strukturelle Integration von Informationszentrum und Fachverlag. Das Konzept des IRB Im Rahmen der Planung und Ausprägung des IuD-Programms wurde unter Federführung des damaligen Forschungsministeriums und nach Abstimmung mit dem damaligen Bauministerium eine Fachplanungsgruppe (FPG) gebildet, die die Notwendigkeit und Möglichkeiten des Aufbaus eines Fachinformationssystems (FIS) Raumordnung, Bauwesen, Städtebau untersuchte. Zur fachlichen Beratung der beteiligten Ministerien wurde ein Ad-hoc-Ausschuss gebildet, dem Vertreter der Nutzergruppen aus Forschung und Praxis und Fachleute aus der Information und Dokumentation angehörten. Die Fachplanungsgruppe 8 empfahl nach Abschluss ihrer Untersuchungen den Aufbau eines FIS Bau mit einem koordinierenden Fachinformationszentrum FIZ 8 bzw. dessen Vorläufer, einem Informationsverbundzentrum (IVZ). Der Ad-hoc-Ausschuss unterstützte diese Empfehlung und es entstand der Vorläufer des heutigen Fraunhofer IRB, das Informationsverbundzentrum RAUM und BAU. Im Planungsbericht hieß es: „Eine wichtige Voraussetzung zur Realisierung eines FIZ wurde bereits durch Vereinbarung zur Gründung eines sogenannten Informationsverbundzentrums (IVZ) geschaffen. Ab 1.1.1977 wird dieses IVZ, das sich durch den Zusammenschluß der DBt (Dokumentationsstelle für Bautechnik) und dem IfWP (Institut für Wohnungsund Planungswesen) bildet und durch die FhG getragen wird, gegründet sein.“ 3 Der strategisch wichtigste Punkt dieser Entscheidung bestand darin, dass eine zentrale Informationsinfrastruktur 4 geschaffen wurde, die sowohl die Planer-Fachbereiche Raumordnung und Städtebau als auch die Architektur- und Bautechnik-Fachbereiche in einem Informationszentrum zusammen- 833 fasste. Unter Beibehaltung der dezentralen fachlichen Zuständigkeit und Kompetenz der in diesen Fachbereichen tätigen Einrichtungen und Institutionen – zum Teil mit eigenen Informationsstellen – wurde das Informations- und Wissensmanagement zentralisiert, um die Vollständigkeit und Wirtschaftlichkeit der Wissensspeicherung zu erhöhen und den Wissenstransfer zu verbessern. Durch diesen Schritt konnte insbesondere die horizontale Diffusion des Fachwissens zwischen den Planer- und Bautechnik-Fachbereichen verbessert werden. Nicht zuletzt ging es auch darum, den Facheinrichtungen und allen anderen am Planungs- und Bauprozess Beteiligten eine verlässliche Informationsinfrastruktur bereitzustellen – unabhängig von den sich ändernden politischen und/oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, denen die Fachinstitute und -institutionen unterworfen waren und auch heute immer noch sind. Wie wichtig gerade der Punkt der Verlässlichkeit im Bereich RSWB-Fachinformation ist, soll das Beispiel der Forschungsdokumentation Raumordnung Städtebau Wohnungswesen „FORS“ illustrieren: Im Zusammenhang mit der Planung des FIZ 8 schlossen die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) und das Fraunhofer IRB einen Kooperationsvertrag, in dem unter anderem die Lieferung von Forschungsprojektinformationen durch die BfLR vereinbart wurde.5 Das Fraunhofer IRB speicherte die Daten in der Datenbank FORS ab, machte sie der Fachöffentlichkeit zugänglich und kümmerte sich um die Entwicklung und den Vertrieb von Informationsprodukten. 1998 zog sich die BfLR im Umfeld einer Neuausrichtung aus dem Bereich der Forschungsdokumentation zurück und stellte diese zur Disposition. Nach Abstimmung zwischen BfLR, Fraunhofer IRB und dem Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS), das vorher schon die Erhebung der Projektinformationen für NRW übernommen hatte, wurden die Tätigkeiten zwischen Fraunhofer IRB und ILS aufgeteilt.6 Inzwischen hat sich auch das ILS im Kontext seiner wiederholten Umstrukturierung aus der Datenerhebung vollständig zurückgezogen. Das Fraunhofer IRB betreibt jetzt die Datenbank FORS von der kontinuierlichen Bundesministerium für Forschung und Technologie: Planungsbericht zum Fachinformationssystem Raumordnung, Bauwesen, Städtebau (FIS 8). – Bonn 1977. = Bericht der Planungsgruppe (FPG 8), S. 379. Die Planungsgruppe hatte insgesamt fünf IuD-Stellen selektiert, die geeignet erschienen, das Fachinformationszentrum zu bilden: 1. Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR), Bonn-Bad-Godesberg; 2. Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), Berlin; 3. Dokumentationsstelle für Bautechnik (DBt), Stuttgart; 4. Institut für Wohnungs- und Planungswesen (IfWP), Köln, welches zum Deutschen Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V. gehörte; 5. Städtebauliches Institut der Universität Stuttgart (SI). (4) Der Begriff Informationsinfrastruktur ist im Kontext dieses Aufsatzes sehr weit gefasst. Er umfasst, wie dieses auch im Fachinformationsprogramm formuliert ist, sowohl die Inhalte als auch die technische und organisatorische Infrastruktur zur Speicherung, Verwaltung und zum Angebot der Fachinformation. (5) Die BfLR erhob mittels Fragebögen laufende Forschungsarbeiten bei Städten, Ministerien, Stiftungen, Hochschulinstituten, Behörden und forschenden Instituten und wertete zusätzlich die Erhebungen anderer Institutionen aus, wie z. B.: Informationszentrum der Sozialwissenschaften, Bonn; Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Dortmund; Umweltbundesamt, Berlin; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg. (6) Das ILS übernahm die Erhebung der Forschungsinformationen bundesweit, das IRB die inhaltliche Erschließung, Abspeicherung, Produktion und den Vertrieb der inzwischen entwickelten CD-ROM-Version der Datenbank FORS. 834 Aus der Werkstatt Datenerhebung bis zur Bereitstellung im Internet allein. Möglich wurde dies durch die wirtschaftliche Nutzung der vorhandenen Ressourcen im IuK-Bereich 7 und durch die Nutzung der bereits für andere Zwecke vom Fraunhofer IRB entwickelten InternetAngebotsformen. Verlässlichkeit ist selbstverständlich nur ein Aspekt, der für eine zentrale RSWB-Informationsinfrastruktur spricht. Weitere wichtige Argumente sind fachliche und instrumentelle Qualität bzw. Qualitätssicherung, Aktualität, Vollständigkeit, (technische) Sicherheit etc. Nach allgemeiner Verbreitung des Internets für die Öffentlichkeit wurden diese Argumente Anfang der 2000er Jahre insbesondere auf der Nutzerseite relativiert. Grund dafür war vor allem die freie und scheinbar unbegrenzte Zugänglichkeit aller Informationen durch die Internet-Suchmaschinen. Sowohl Wissenschaftler als auch Bau- und Planungspraktiker vertraten immer wieder die Meinung, dass sie ihren Informationsbedarf in vielen Fällen durch die Nutzung einer zentralen Internet-Suchmaschine, z. B. Google, decken könnten. Auch auf der Anbieterseite der Contentlieferanten wurde immer wieder geäußert, dass es ausreiche, wenn die jeweilige Facheinrichtung bzw. -institution ihre fachlichen Erkenntnisse auf einer eigenen Webseite publiziere. (7) Die Institutionen, Institute und Einrichtungen melden über Internet. Dadurch kann zwar nicht die Qualität der Erhebung durch BfLR und ILS erreicht werden, es konnte aber ein vernünftiger Kompromiss zwischen Qualität und Aufwand hergestellt werden. (8) Besonders erfolgreich ist der Einsatz des zentralen Internetportals www.baufachinformation.de mit einem „MetaSuchfeld“, das das gesamte IRB-Informationsangebot tief bis auf die Artikelebene durchsucht und den Nutzer bis zur OnlineBestellung führt. Suchanfragen in Suchmaschinen wie Google führen ebenfalls unmittelbar auf diese tiefgehende Artikelebene. (9) Informationszentrum RAUM und BAU (IRB): Aufbau und Einführung des InformationsService ARCONIS für kleine und mittlere Unternehmen und Handwerksbetriebe der Bauwirtschaft – Abschlussbericht. Gefördert vom Bundesminister für Forschung und Technologie (BMFT) – Stuttgart 1992 Diese Einschätzungen haben sich inzwischen wieder geändert. Aktuell kann festgestellt werden, dass sich das Konzept einer zentralen RSWB-Informationsinfrastruktur auch oder gerade im Umfeld des Internets sowohl aus der Sicht der Nutzer als auch aus der Sicht der „Wissensproduzenten“ bewährt und zweifelsfrei als zukunftsfähig herausgestellt hat. Einerseits wurden für alle Beteiligten die Grenzen und Schwächen der zentralen Suchmaschinen deutlich. Auf der anderen Seite nutzt das Fraunhofer IRB erfolgreich die Stärken dieser Suchmaschinen, d. h. sie werden genutzt, um die Fraunhofer IRB-Inhalte leichter such- und vor allem auffindbar zu machen. Darüber hinaus wurden weitere Internet-Instrumente wie das zentrale Portal www.baufachinformation.de 8 entwickelt, um den Zugang zu dem umfassenden Informationsangebot zu optimieren. Gleichzeitig wurde und wird das Fraunhofer IRB-Netzwerk mit „Wissensproduzenten“ und Multiplikatoren intensiv ausgebaut, um sowohl auf der Seite des qualitativ hochwertigen Inputs als auch auf der Seite der gezielten Nutzeransprache das Alleinstellungsmerkmal als zentrale RSWBInformationsinfrastruktur zu festigen. „Wissensvermittlung über Köpfe“ durch individuellen Informationstransfer Nach Einführung der Datenbanken bzw. der Möglichkeit, diese auf CD-ROM oder über Datenleitung online abzufragen, stand die Entwicklung von elektronischen Informationsprodukten ab Ende der 1980er Jahre im Vordergrund. Ziel war es, die dezentrale Nutzung zentraler Informationsspeicher zu erleichtern. Diese Datenbanken und Informationsdienste konnten bei wichtigen Nutzergruppen des Fraunhofer IRB erfolgreich eingeführt werden, wurden aber von anderen Nutzern nur sporadisch abgefragt. Insbesondere die Planer und Baufachleute in kleineren Büros und Einrichtungen, aber auch in kleinen Abteilungen und Arbeitsgruppen großer Unternehmen und Institutionen taten sich offensichtlich schwer, die Informationen aus Datenbanken im täglichen Arbeitsprozess lösungsorientiert einzubinden. Ein Grund hierfür bestand darin, dass das Ergebnis einer Datenbankrecherche allein meist nicht ausreichte, um die Entwicklung von Lösungen komplexer Themenstellungen zu unterstützen, wie sie beim Planen, Bauen und Forschen häufig vorkommen. Meist waren nach der Recherche weitere Folgeschritte notwendig, um aus anderen Quellen vertiefende oder weiterführende Fachinformationen zu erhalten. Vor diesem Hintergrund entwickelte das Fraunhofer IRB mit Förderung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie den Informations-Service „ARCONIS“.9 Dieser bot seinen Nutzern die Möglichkeit der individuellen und gestuften Unterstützung bei der Lösung von Informationsproblemen durch Planer und Baufachleute, die entweder im Fraunhofer IRB beschäftigt waren oder als externe Experten hinzugezogen wurden. Als Alternative zur alleinigen Datenbanknutzung stand die Arbeit des Informations-Service unter dem Motto „Wissensvermittlung über Köpfe“ und „Alle Informationen aus einer Hand“. Entsprechend der jeweiligen Problemstellung des Kunden führten Planer und Baufachleute des „ARCONIS Information-Consulting“ Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Datenbankrecherchen durch, erhoben zusätzliche Informationen aus anderen nationalen und internationalen Quellen und schalteten bei Bedarf externe Fachingenieure ein. Um dabei schnell auf externe Fachleute zugreifen zu können, wurde ein Expertennetz „ARCONET“ aufgebaut.10 Das Leistungsspektrum von ARCONIS umfasste sowohl die Planer-Fachbereiche Raumordnung, Städtebau, Wohnungswesen (RSW) als auch die Architektur- und BautechnikFachbereiche. Es wurde eine breite Palette von Informationskategorien angeboten, die von der einfachen Statistik- und Literaturrecherche bis zur kompletten Marktstudie reichten.11 Während der Aufbau- und Entwicklungsarbeiten von ARCONIS kam es zur Wiedervereinigung Deutschlands. Zur Unterstützung der gewaltigen Planungs- und Bauaufgaben in den neuen Bundesländern und des Neugründungsprozesses des Mittelstands im Planungs- und Baubereich wurde das ARCONIS-Konzept kurzfristig ausgeweitet. Im Interesse einer größeren Problemnähe wurden insgesamt fünf ARCONIS-Agenturen mit Fachleuten aus der jeweiligen Region in dort ansässigen Firmen und Einrichtungen12 gegründet. Das Konzept der „Wissensvermittlung über Köpfe“ wurde in der Aufbau- und Einführungsphase in durchaus akzeptablem Umfang in Anspruch genommen, konnte später aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr aktiv angeboten werden; die Preise, die für die Informationsdienstleistungen gefordert werden mussten, um einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen, konnten nicht realisiert werden. So schlossen nach einigen Jahren zuerst die Agenturen in den neuen Bundesländern und wurde später auch das ARCONIS-Angebot des Fraunhofer IRB zurückgenommen. Die Ursache dafür, dass sich diese eigentlich sinnvolle Idee letztendlich nicht durchsetzen konnte, lag vermutlich in der Fehleinschätzung der Akzeptanz solch eines kostenpflichtigen Informationsangebots in den neuen Ländern, insbesondere vor dem Hintergrund nicht vorhersehbarer wirtschaftlicher und sozialer Turbulenzen nach der Wiedervereinigung. Es herrschte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch die Ansicht vor, dass Fachinformation nichts bzw. nicht viel kosten darf – eine Tendenz, die sich in der scheinbar unbegrenzten, 835 freien Zugänglichkeit des Internetangebots zunächst überall fortsetzte. Inzwischen hat auch hier ein Umdenken dahingehend eingesetzt, dass qualitativ hochwertige und valide Information durchaus nicht immer „umsonst“ zu haben ist. Die Informationsangebote des Fraunhofer IRB werden heute inhaltlich gruppiert auch auf Fachportalen angeboten, mit dem Ziel, es dem kundigen Nutzer zu ermöglichen, von diesem Portal aus möglichst jede für ihn relevante Fachinformation beziehen zu können. Die Nutzer können dabei bereits auf Pushdienste, d. h. auf Elemente des Web 2.0 wie RSS-Feed zurückgreifen, so dass sie benötigte Informationen maßgeschneidert und aktuell per E-Mail geliefert bekommen. Integration von Informationszentrum und Fachverlag Mit dem Ziel der Erwirtschaftung eines größeren Deckungsbeitrags zu den Gesamtkosten des Fraunhofer IRB bei gleichzeitig verbesserter Informationsversorgung der breit gefächerten Nutzergruppen aus dem Planen und Bauen wurde 1982 der IRB Verlag gegründet. Auf diesem Weg sollten die Informationsdienste zu gängigen Marktpreisen angeboten und Angebots- und Vertriebswege genutzt werden, die den Nutzern vertraut waren (Verlagsprogramm, Buchhandel, Verzeichnis lieferbarer Bücher etc.). Der Verlag startete mit einem eher bescheidenen Programm bzw. Anspruch: „Die gedruckten Dienste des IRB sollen aus der Grauzone der Institutsveröffentlichungen herausgeführt werden. Deshalb wurde der IRB Verlag als unselbstständige Abteilung des Instituts gegründet. Die Verlagsveröffentlichungen sollen in zunehmendem Maße über den Fachbuchhandel vertrieben werden. Der IRB Verlag ist ein Fachdokumentationsverlag und arbeitet subsidiär zu den Fachverlagen. Er veröffentlicht Dokumentationen, wie Bibliographien, Referateorgane oder die ‚Kurzberichte aus der Bauforschung‘ und vertreibt Forschungsberichte, die in Kleinstauflagen erstellt werden, in kopierter Form.“13 Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte sich der IRB Verlag von einem Dokumentationsverlag zu einem vollwertigen Baufachverlag. Mit einer Vielzahl von Publikationen (10) Anfangs wurden Fachleute aus Firmen, Institutionen und Forschungseinrichtungen, die schon seit langem mit dem IRB kooperierten, in ARCONET aufgenommen. Später kamen weitere Spezialisten hinzu, die aufgabenbezogen von den Externen als kompetente und zuverlässige Partner genannt wurden. (11) Neben den üblichen Kategorien, wie Berichte zum Stand der Technik, Ermittlung von Firmen, Experten, Bauprodukten, wurden auch neue Angebote kreiert. Am erfolgreichsten waren die sog. Fachkommentare. Hierbei handelte es sich um die zusammenfassende Beschreibung des aktuellen Stands eines technischen oder wirtschaftlichen Problembereichs auf der Grundlage einer Literaturrecherche mit anschließender Auswertung der Fachliteratur und Absicherung dieser Auswertung durch die Begutachtung eines externen Experten. (12) ARCONIS Berlin Brandenburg c/o Tetra Technology Trading GmbH, Berlin; ARCONIS Mecklenburg-Vorpommern c/o Architekten- und Ingenieurunion Stralsund GmbH (AIU); ARCONIS Sachsen c/o Architektur- und Ingenieurbüro Bauinvest GmbH, Dresden; ARCONIS Thüringen c/o Materialforschungs- und Prüfanstalt, Hochschule für Architektur und Bauwesen, Weimar. (13) Informationszentrum Raum und Bau der Fraunhofer-Gesellschaft: Tätigkeitsbericht 1982. – Stuttgart 1983, S. 11 836 Aus der Werkstatt gehört der Fraunhofer IRB Verlag, wie er inzwischen heißt, heute zu den angesehenen Baufachverlagen im deutschsprachigen Raum. Das Verlagsprogramm spiegelt thematisch-fachlich die Geschäftsfelder des Fraunhofer IRB wider. Es erscheinen Veröffentlichungen aus allen Bereichen des Planens und Bauens, insbesondere zu den Themen Bauen im Bestand, Bausanierung, Bauschäden, Bauerhaltung und Denkmalpflege, Bautechnik und Bauphysik, Bauforschung sowie zu Themen aus der Stadtund Raumplanung. Daneben erfüllt er aber noch immer seine Aufgaben als Dokumentationsverlag mit Kleinstauflagen – er ist inzwischen eine der wichtigsten Quellen für den Bezug von Bauforschungsberichten im deutschsprachigen Raum. Zum Einsatz kommen längst moderne Print-onDemand-Verfahren oder aber auch die elektronische Lieferung von Dokumentationen. (14) SCHADIS ist das „Schadensinformationssystem“, das im Auftrag der Bundesregierung vom IRB aufgebaut wurde. (15) Eine herausragende Rolle spielt hierbei das Portal www.baufachinformation.de. Dietmar Scholich Die Programmarbeit des Verlags ist eingebunden in die IRB-Strategieplanung, die seit 2005 wirksam ist. Strategisch besonders bedeutsam mit vielen innovativen Entwicklungschancen ist die Kopplung der Aufgaben, Produkte und Vertriebswege eines Informationszentrums mit denen eines Fachverlags. Bereits Ende der 1980er Jahre wurden mit SCHADIS 14 Informationsprodukte entwickelt, die sowohl als Volltextdatenbank mit nach Stichwörtern re- cherchierbaren Volltextkapiteln als auch als konventionelle Fachbücher angeboten wurden. Dieser cross-mediale Publikationsweg ist noch heute zukunftsweisend. Es werden viele inhaltsgleiche Informationsdienste und Verlagspublikationen über unterschiedliche Medien angeboten und über das Internet vertrieben.15 Als besonders zukunftsträchtig erweisen sich inzwischen auch die Verlagskompetenzen des elektronischen Publizierens im Zusammenhang mit den Diskussionen über den freien Zugang und zur freien Verfügung von Fachinformation und Fachwissen (open access, open content). Diese Themen dürften in der Zukunft gerade für die „papierlastigen“ Planerdisziplinen interessant werden. Die drei vorgestellten Themenbereiche aus der Geschichte des Fraunhofer IRB skizzieren für das Gebiet der Fachinformation im Planungs- und Bauwesen exemplarisch den Wandel innerhalb der letzten 25 Jahre. Geprägt wurde diese Entwicklung sowohl von den sich häufig ändernden politischen Rahmenbedingungen als auch (noch mehr) von der technischen Entwicklung, hier vor allem der „Revolution“ des Internets, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Insbesondere vor diesem Hintergrund beschreiben die vergangenen 25 Jahre treffend „die Vergangenheit der Zukunft“. Raumwissenschaftliche Politikberatung – ein schwieriges, aber wichtiges Geschäft Jeder Krämer lobt seine Ware – Aber: Gehe nur zum Fürst, wenn Du gerufen wirst! Quelle: Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Bern 2007 Raumwissenschaftliche Forschung fühlt sich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Städte und Regionen, der sozialen Solidarität und dem ökologischen Gleichgewicht verpflichtet. Sie hat in Generationen zu denken. Deshalb ist raumwissenschaftliche Forschung in besonderer Weise mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit verbunden. Und sie versteht sich als inter- und transdisziplinäre Wissenschaft. Schon deshalb muss sie sich um Theorien der räumlichen Entwicklung und deren Steuerung, um Methoden der Problemanalyse und der Um- Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 setzung von Planungen in Raum und Zeit sowie vis à vis der modernen Gesellschaft mit ihren vielfältigen, sich verändernden Ansprüchen kümmern. Das war vor 25 Jahren nicht anders als heute. Raumwissenschaftliche Politikberatung soll dazu beitragen, politische Entscheidungen sachgerecht vorzubereiten. Deshalb geschieht sie auch in der Raumpolitik regelmäßig. Allerdings gibt es so gut wie kein empirisches Material, keine Erhebungen und Klärungen ihrer materiellen Wirksamkeit. Auch dabei unterscheiden sich raumwissenschaftliche Forschung und Raumpolitik nicht von anderen Bereichen. Vor diesem Hintergrund ist der Umgang mit Politikberatung ambivalent, für die Wissenschaft wie auch für die Politik. Auch daran hat sich im letzten Vierteljahrhundert (leider) nichts Grundlegendes geändert. 1 Vielgestaltige Formen und Wege der Politikberatung Es gibt viele Formen und Wege der Politikberatung, so den einzelnen Experten, ad hoc oder dauerhaft arbeitende Kommissionen, Sachverständigenräte und vieles andere mehr. Raumwissenschaftliche Erkenntnisse werden beispielsweise bei parlamentarischen Anhörungen im Vorfeld von neuen Gesetzen nachgefragt, wie jüngst bei der erneuten Novellierung des Raumordnungsgesetzes (ROG) und der Erarbeitung eines Umweltgesetzbuchs (UGB), oder bei der Entwicklung von politischen Strategien wie den neuen Leitbildern der Raumentwicklung in Deutschland. Oder es werden raumwissenschaftliche Forschungen veranlasst mit dem Ziel, Materialien für die Entscheidungsfindung zu erhalten, beispielsweise zur Anpassung an den Klimawandel, zum demographischen Wandel, zur Verkehrsentwicklung oder zur Regionalpolitik. Beratung kommt zustande, weil die Politik entsprechende Unterstützung erbittet. Mindestens gleichgewichtig sind spontane Beratungsinitiativen aus dem raumwissenschaftlichen Bereich heraus, etwa durch gezielte Publikationen oder Veranstaltungen. In den zurückliegenden 25 Jahren sind der Beratungsbedarf und die Beratungsnotwendigkeiten speziell im Zusammenhang mit europäischen Initiativen (EUREK, Förderpolitiken, EU-Richtlinien etc.) und natürlich besonders im Zuge der 837 Wiedervereinigung Deutschlands erheblich gewachsen. 2 Politikberatung als problematisches Terrain Das hohe Abstraktionsniveau räumlicher Prozesse sowie die in der Regel mittel- bis langfristige Orientierung der raumwissenschaftlichen Forschung und der raumplanerischen Maßnahmen erschweren den Zugang in die Politik. Auch wird der Raum in seiner Bedeutung als Struktur- und Zielgröße bislang noch zu wenig wahrgenommen, obwohl vielfältigste menschliche Handlungen in ihm und mit ihm stattfinden. Neben dieser grundsätzlichen Dauerproblematik ist man mit weiteren Schwierigkeiten und Missverständnissen konfrontiert, aus welchem Blickwinkel man raumwissenschaftliche Politikberatung auch immer betrachtet. So wird der Politik regelmäßig vorgeworfen, sie fordere Beratung vorrangig zur Verstärkung ihres Einflusses ein, nutze sie lediglich als Alibi und bestelle Experten, Kommissionen oder Stellungnahmen nicht um der Sache willen, sondern um Tatkraft vorzutäuschen. Politikberatung würde viel zu oft routinemäßig eingefordert, bekäme deshalb inflationäre Züge und lasse auch deshalb die notwendige Qualität vermissen. Kaum erstaunen kann, dass Expertenempfehlungen ungern oder gar nicht zitiert werden, wenn dadurch der Politik nicht der Rücken gestärkt wird. Diese und andere Argumente werden – offen oder dezent verpackt – auch herangezogen, wenn offenbar bestimmte Erwartungen nicht erfüllt worden sind. Meist wird dann umgehend eine neue Beratung in Gang gesetzt. Berater sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden sich viel zu oft zu belanglosen Themen zu Wort melden und missbrauchten ihre Aktivitäten, um politische Einflussnahmen geschickt zu kaschieren. Von anderer Seite kommen abfällige Kommentare, die Experten seien die heimlichen Regierer. Ebenso regelmäßig wird die fehlende Unabhängigkeit oder mangelnde Kompetenz von Beratern und Beratungsgruppen beklagt. Die Probleme und Missverständnisse ändern nichts daran, dass die Qualität der Politikberatung ganz wesentlich von der Qualität sowohl der Berater und deren Emp- 838 Aus der Werkstatt fehlungen als auch der Beratenen abhängt. Darüber hinaus wird spätestens beim Umgang mit den Beratungsergebnissen klar, ob der Beratene selbst den hohen Ansprüchen an die Politikberatung genügt. 3 Abnehmender Stellenwert raumwissenschaftlicher Politikberatung In einer Welt wachsender Komplexität, der Globalisierung und der Internationalisierung müsste Politikberatung eigentlich an Bedeutung zunehmen. Allerdings ist in jüngerer Zeit eine gewisse Beratungszurückhaltung auf Seiten der Politik zu erkennen. Es hat augenscheinlich noch nie so viele zeitgleich tätige Expertengruppen, Gutachterkommissionen o. ä. gegeben wie zurzeit – zahlenmäßig steigen die Politikberatungen also, ob bestellt oder unbestellt. Trotzdem oder vielleicht deswegen hat deren politischer Stellenwert in jüngerer Zeit offenkundig abgenommen. Das liegt vermutlich auch am Ausbau der Ressortforschungskapazitäten in den letzten Jahren, die der Politik intern zuarbeiten. Nahezu alle Ministerien verfügen darüber hinaus über wissenschaftliche Beiräte oder Sachver- ständigenräte. Daneben holt sich die Politik mehr und mehr Rat bei Privatunternehmen ein. Das verursacht nicht nur in der Regel deutlich höhere Kosten im Vergleich zu Forschungseinrichtungen aus dem Hochschuloder außeruniversitären Bereich, sondern führt zudem zu einer sinkenden Resonanz und teilweisen Beratungsresistenz gegenüber wissenschaftlichen Empfehlungen. Ein grundsätzliches Problem ist, dass sich die Wirkungen von Politikberatung in der Regel erst mit großer Zeitverzögerung nachweisen lassen. Die Hauptursache liegt hier darin, dass sich die Wirkungen von Berater und Beratenem vermischen und der Nachweis nur selten gelingt, was der konkrete Politikberatungsbeitrag war und was dem jeweiligen Entscheider zugerechnet werden muss. Auch hier konnte in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten kaum Boden gutgemacht werden. Aber auch ohne Politikberatung wächst die Informationsflut ständig an, was die Resonanz auf Politikberatungen schmälert. Vor dieser gewaltigen Flutwelle muss selbst mancher Berater kapitulieren. Dabei wäre es aber gerade die Aufgabe der Politikberatung, diese Welle zu durchdringen und die Spreu vom Weizen zu trennen. Der geringere Stellenwert und die manchmal sogar festzustellende Beratungsresistenz sind für die raumwissenschaftliche Forschung doppelt problematisch. Greift die Raumpolitik nicht auf raumwissenschaftliche Erkenntnisse zurück, wirkt sich das negativ auf das politische Gewicht der Disziplin aus. Gleichzeitig wird der Erkenntnistransfer in andere Politikbereiche behindert, die für die raumwissenschaftliche Forschung von großer Bedeutung sind, wie beispielsweise die Umwelt-, Verkehrs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. 4 Erwartungen an und für die raumwissenschaftliche Politikberatung Sie können zueinander nicht finden – Kein einfacher Zugang zur Politik! Quelle: Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Bern 2007 Politikberatung durch raumwissenschaftliche Forschung wird wieder an Fahrt gewinnen. Denn schon heute ist die Raumpolitik großen Herausforderungen ausgesetzt, wenn auch offenbar noch nicht massiv genug. Die Raumnutzungskonflikte und Flächeninanspruchnahmen zu Lasten der Freiräume werden in bestimmten Teilräumen noch an Brisanz gewinnen und Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 raumpolitische Entscheidungen erforderlich machen. Das gilt in gleicher Weise für die Probleme wachsender Zersiedlung, Zerschneidung, Verlärmung und Verschmutzung von Landschaften sowie für die räumlichen Konsequenzen einerseits des demographischen Wandels mit Bevölkerungsrückgang, Alterung und Wanderungen und andererseits der Anpassung an den Klimawandel. Auch werden die regionalen Disparitäten zunehmen und wird sich der Wettbewerb der Standorte und Regionen verschärfen. Hinsichtlich der Umsetzung nachhaltiger Raumentwicklung stehen wichtige raumpolitische Entscheidungen nach wie vor aus. 839 Schritt für Schritt kommt man sich näher Quelle: Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), Bern, Infoheft RP 1-2/92 Raumwissenschaftliche Forschung im Vorteil Gerade die Zukunftsberatung ist eine besondere Herausforderung und Qualität der raumwissenschaftlichen Politikberatung. Dieses Alleinstellungsmerkmal haben Fachpolitiken im letzten Vierteljahrhundert immer wieder auszuhebeln versucht, allerdings erfolglos. Natürlich ist die raumwissenschaftliche Forschung kein Hellseher und kann nicht in eine gesicherte Zukunft schauen. Doch sie hat langjährige Erfahrung, Fehlentwicklungen zu erkennen, auf diese hinzuweisen und Empfehlungen für politische Dispositionen zu geben. Raumwissenschaftliche Forschung ist durch ihre Zukunftsorientierung in besonderer Weise geeignet, die Grundlagen für eine zukunftsfähige, nachhaltige Raumentwicklung zu schaffen. Sie kann heute Probleme auf die Tagesordnung setzen, die erst morgen auf die Gesellschaft zukommen. Diese Frühwarnfunktion war vor 25 Jahren schon wichtig, wurde aber von der Politik nicht wahrgenommen und geschätzt. Angesichts der teilweise massiven Herausforderungen wird sie aber immer wichtiger. Raumwissenschaftler können keine Lösungen für eine ungewisse Zukunft entwickeln, aber aus einem wesentlich größeren Fundus an Optionen schöpfen. Langfristig ist manches noch flexibel, was kurzfristig nur überhastetes Krisenmanagement zulässt. Spontanes Anpassen an Einflüsse aber vernichtet nicht selten wertvolle Ressourcen und führt zu fehlerhaften Steuerungen. Raumwissenschaftliche Forschung hat mit natürlichen Ressourcen zu tun, die endlich und teilweise nicht reproduzierbar sind. Sie hat insofern sehr ähnliche Aufgaben wie die Finanzwissenschaft in Bezug auf die knappe Ressource Geld und Kapital – nur dass diese (offenbar beliebig) reproduzierbar ist. Auch wenn es den Anschein hat, dass bezüglich der Nachhaltigkeit (momentan) raumpolitisch der Dampf raus ist, auch weil zurzeit andere Schuhe drücken und kaum noch jemand den Begriff hören mag, wird deshalb das Thema der Nachhaltigkeit modernen Gesellschaften dauerhaft erhalten bleiben. Die begrenzten natürlichen Ressourcen werden über kurz oder lang dazu zwingen, die Wirtschafts- und Raumstruktur nach den damit verbundenen Grundsätzen des Wirtschaftens umzugestalten. Das Nachhaltigkeitsthema lässt sich aber hervorragend von der raumwissenschaftlichen Forschung mit Inhalt füllen. Denn nachhaltige Raumentwicklung ist ein komplexer Vorgang, der nur durch Integration der Fachdisziplinen, also durch eine disziplinübergreifende, gemeinsame Sicht geleistet werden kann. Insofern hat raumwissenschaftliche Forschung hier entscheidende Beratungstrümpfe in der Hand, die sie ausspielen sollte. Und die Raumpolitik wäre gut beraten, sich dieser Zuarbeit zu bedienen. Ergebnistransfer fokussieren Darüber hinaus hat raumwissenschaftliche Forschung mit Raum und Zeit zwei entscheidende Faktoren im Blickfeld, die für alle politischen Aufgaben, die Gesellschaft insgesamt und die Wirtschaft besonders relevant sind. Das ist eine ihrer Stärken, die 840 Aus der Werkstatt sie in die Waagschale der Politikberatung werfen kann. Und noch etwas ist für künftiges Beratungshandeln wichtig: Raumwissenschaftliche Forschung sollte in der Zukunft noch genauer überlegen, welche Beratungsthemen sie zu welchem Beratungszeitpunkte aufgreift. Nicht alles wird, wie der kritische Rückblick zeigt, immer nachgefragt. Will raumwissenschaftliche Forschung in die Politikberatung einbezogen sein, muss sie Politikberatung nach Wesen und Funktion verstehen. Und weil sie bei sinkender Bedeutung und Effizienz der Politikberatung Kompetenzeinbußen erleidet und ihrer disziplinübergreifenden Aufgabe nicht ordentlich nachgehen kann, muss raumwissenschaftliche Forschung am ständigen und kritischen Hinterfragen von Notwendigkeit und Gewicht, von Wirksamkeit und Fragwürdigkeit der Politikberatung interessiert sein. Literatur Jens, U. (Hrsg.): Glanz und Elend der Politikberatung. – Marburg 2005 Lendi, M.: Politikberatung. Nachfrage, Resonanz, Alibi. – Zürich 2005 Joerk, C.; Mahnken, G.: Grundlagenforschung und Politikberatung in Zeiten des europäischen Umbruchs. In: European Space, Baltic Space, Polish Space. Part II. – Warsaw 1997, S. 465 – 476 Petermann, T. (Hrsg.): Das wohlberatene Parlament: Orte und Prozesse der Politikberatung beim Deutschen Bundestag. – Bonn 1990 Konze, H.: Planen und Politik beraten – Lust oder Frust? In: Novellierung des Landesplanungsrechts in Nordrhein-Westfalen. Hrsg.: Birkmann, J.; Finke, L. – Hannover 2006. = Arbeitsmaterial der ARL, Nr. 327, S. 45 – 49 Uwe-Jens Walther Schödl, D.C.: Wissen in planerischen Entwicklungsprozessen. – Kaiserslautern 2008. = Materialien zur Regionalentwicklung und Raumordnung, Bd. 24 Die Chancen sozialwissenschaftlicher Deutung in der Politikberatung Das Beispiel Schrumpfende Städte Sozialwissenschaftliche Forschung wird von der Politikberatung häufig in Anspruch genommen. Ihre Chancen, auf die Praxis einzuwirken, sind jedoch bekanntlich nicht unbedingt groß. Wenn Forschungsergebnisse neue Deutungen der zukünftigen Entwicklung nahelegen, kann es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis sie in Politik und Planung Wirkungen zeitigen. Die Ergebnisse der Sozialwissenschaften setzen sich erst im Kontext und Konzert interessierter Deutungen durch und verändern sich dabei – wie die Karriere des Themas Schrumpfung zeigt. Das Beispiel Schrumpfung von Städten Die Thematik der schrumpfenden Städte und Regionen ist ein instruktives Beispiel, wie langwierig und mühsam sich neue Orientierungen durchsetzen. Unter dieser Perspektive wurde vor mehr als zwei Jahrzehnten eine radikal veränderte Zukunft von Stadt- und Regionalentwicklung antizipiert. Was heute selbstverständlich ist, scheint mir im Rückblick ein besonders zutreffendes Lehrstück dafür, wie lange eine solche in der Vergangenheit auf sozialwissenschaftlichem Wege richtig angedachte Zukunft benötigt, um Allgemeingut zu werden. Denn kritische Versuche, aus einer Fachdisziplin heraus Politik und Planung anders zu orientieren, gab es bereits vor zwei Jahrzehnten. Sie wollten städtische Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Qualitäten vom zentralen Erklärungszusammenhang des Wachstums abkoppeln und anders deuten. Wahrgenommen wurden sie allerdings erst lange Zeit später. Dazwischen lagen längere Abwehr- und Inkubationsphasen, nach denen das Thema allmählich Beachtung fand und schließlich sich erst in den letzten Jahren wohl wirklich durchsetzen konnte. Ich selbst habe diese Phasen zwar lediglich als Empfänger und Verwerter verfolgt, doch sind sie Begleiter meiner wissenschaftlichen Biografie geworden – insofern habe ich ein sowohl engagiertes wie distanziertes Verhältnis zu ihnen.1 Heute ist es selbstverständlich, in der Schrumpfung von Städten ein für Stadtentwicklung typisches Merkmal des wirtschaftlichen und demographischen Strukturwandels zu sehen. Seit mehr als einer Dekade entzünden sich öffentliche Diskurse am Rückgang von Bevölkerung und Arbeitsplätzen und an deren Folgen für Bürger, Politik und Planung.2 So formt sich allmählich die Gewissheit, dass schrumpfende Städte keine vorübergehende Erscheinung sind, sondern ihre Konsequenzen für Politik und Gesellschaft offenkundig weit in die Zukunft reichen. Doch die Breite und Fülle der inzwischen vorliegenden Arbeiten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten dazu publiziert wurde, ohne dass nennenswerte Wirkungen davon ausgegangen wären. Die Anfänge der Debatte Bereits in den 1960er Jahren seit dem Ausdünnen von peripheren Regionen („Zonenrandgebiet“; „Passivsanierung“) erschienen im Rahmen der raumordnungspolitischen und regionalplanerischen Debatten Artikel zum Thema Schrumpfung. In den 1970er Jahren wurde der Begriff dann auf die Folgen der Suburbanisierung für die Kernstädte bezogen.3 Schärfe erhielt das Thema allerdings erst durch den säkularen Strukturwandel in den historisch ersten Schwerpunkten des verarbeitenden Gewerbes, allen voran in England. Frühe Analysen von altindustrialisierten Städten und Regionen und deren Anstrengungen, ihren Strukturwandel aktiv zu gestalten, kamen vor allem aus Großbritannien.4 Die Geschichte der Thematisierung von Schrumpfung und 841 Stadt in Deutschland ist zwar kürzer, umfasst dennoch bereits zwei Jahrzehnte. Die ersten radikalen Umdeutungen in Deutschland zu diesem Thema stammen von Hartmut Häußermann und Walter Siebel. Sie stellten die Agenda für eine Debatte, die zunächst nicht stattfinden sollte – ein Plädoyer ohne Echo. Sie waren als analytischer und programmatischer Paukenschlag für die liberale bundesdeutsche Öffentlichkeit inszeniert: Stadtpolitik müsse ihre Prämissen grundsätzlich überdenken und den Rückgang von Bevölkerung und Arbeitsplätzen nicht allein als Verlust, sondern als Gestaltungschance begreifen; die Lebensqualität in den Städten solle von der Wachstumsfrage abgekoppelt werden. Diese Kernbotschaft, das Denken und Planen von Wachstumsimperativen zu emanzipieren, erschien in ihrer Streitschrift „Die Chance des Schrumpfens“ im Wochenblatt „Die Zeit“ als ZEIT-Extra 5. Die beiden Autoren legten die Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels auf städtische Strukturen dar, nahmen Bezug auf nordenglische (Liverpool, Manchester) und US-amerikanische Erfahrungen und stellten dem bisherigen Typus der wachsenden den der schrumpfenden Städte gegenüber. Die Deindustrialisierung werde nicht von tertiären Arbeitsplätzen kompensiert, ein Nord-Süd Gegensatz manifestiere sich in weiter wachsenden und wirtschaftlich rückläufigen Ballungsräumen. Auf der Verliererseite fänden sich Ballungsräume mit „weniger Menschen und weniger Geld“. Die Chancen schrumpfender Städte sahen die Verfasser im Wegfall von Wachstumsfolgen, die bislang die Städte kennzeichneten. Sie erwarteten „entlastete Wohnungsmärkte“ mit „niedrigeren Mieten“; die Wohnnutzungen in den Randgebieten der Innenstädte müssten nicht mehr dem Umnutzungsdruck weichen; der Landschaftsverbrauch könne aufgehalten werden, da der wachsende Wohnflächenbedarf im Bestand und nicht mehr im Umland realisierbar sei. Die Prozesse der Entleerung müssten allerdings gesteuert und gestaltet werden. Dazu müsse Eigeninitiative gestärkt, die Bildung informeller Netze gefördert und materielle Unterstützung gewährt werden – „Das Alte geht nicht mehr, etwas Neues ist noch nicht in Sicht oder gesellschaftsfähig. Und dennoch muss darauf hin geplant werden.“ 842 Aus der Werkstatt Häußermann und Siebel wandten sich mit diesen grundsätzlichen Fragen kurz danach auch an die eigene Disziplin.6 Ihre Artikel blieben jedoch außerhalb des akademischen (stadt)soziologischen Diskurses, in den ihre weiteren Veröffentlichungen einwirkten, wenig beachtet. Erst zehn Jahre später beginnt das Thema Schrumpfung über Fachöffentlichkeiten hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu finden, nachdem an die Stelle des Nord-Süd-Gefälles der deutlich schärfere Ost-West-Kontrast des neuen, wiedervereinigten Deutschland getreten ist. Mitte der 1989er Jahre – erste eigene Erfahrungen Als ich Mitte der 1980er Jahre frisch von der universitären Forschung an eine Institution der Politikberatung des Bundes kam, war ich bereits geprägt von dem Gedanken, dass sich die Vorzeichen der Stadtentwicklung grundsätzlich änderten. Ich war überzeugt, dass Wachstum und Schrumpfen zugleich die veränderten Bedingungen von Stadtentwicklung kennzeichnen würden – und bereits damals zu kennzeichnen begannen. Als junger Stadtforscher brachte ich diese Überzeugung in meine neue Beschäftigung bei der damaligen Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) ein, dem heutigen BBR. Es müsse, so meinte ich, nur noch ein breiteres fachliches Bewusstsein dafür geschaffen werden. Ich hielt es für ein Problem besserer Information und Aufklärung und wollte deswegen diese Einsichten empirisch überprüfen, fachpolitisch einschlägig veröffentlichen und so zu einem Teil der Politikberatung machen. Diese Möglichkeit bot sich mir bei der damaligen BfLR, denn sie baute im Bereich der Forschung zur Entwicklung von Stadtregionen neue Kapazitäten auf. Darin sah ich die seltene Chance, durch veränderte Aggregation der Datenbestände auf stadtregionaler Ebene diese Parallelität von Wachstum und Schrumpfung von Bevölkerung und Arbeitsplätzen in Stadtregionen Westdeutschlands zu demonstrieren. Eine bessere Datengrundlage als die der laufenden Raumbeobachtung konnte ich mir dafür nicht vorstellen. Die Ergebnisse veröffentlichte ich in einem Vier-QuadrantenSchema, von dem ich glaubte, das es für sich sprach.7 Die Entwicklung von Beschäftigten* und Wohnbevölkerung in 16 ausgewählten Stadtregionen 1977 bis 1986 *) sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Quelle: Laufende Raumbeobachtung der BfLR Aus: Walther, U.-J.: Entwicklungsprobleme und Perspektiven, a. a. O., S. 676 Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Das Schema (s. Abbildung) verortete die Entwicklung an zwei der gängigsten Indikatoren von Urbanisierung und Suburbanisierung, den beiden Merkmalen Wohnbevölkerung und Arbeitsplätze in ausgewählten Stadtregionen Westdeutschlands 1976–1986. Alle Felder waren gefüllt. Es gab alle Kombinationen von Gewinnen und Verlusten von Bevölkerung und Arbeitsplätzen: Zunahme und Abnahme, Zunahme und Zunahme wie Abnahme und Zunahme. Wachstum und Schrumpfung, so das Ergebnis, gab es schon damals in westdeutschen Stadtregionen gleichzeitig – ob in den Kernstädten oder in den Randbereichen. Stadtentwicklung, so wollte ich zeigen, war komplizierter geworden: Es gab nicht einen einzigen typischen Verlauf, sondern mehrere Muster von Stadtentwicklungen („Stadtentwicklung in der Mehrzahl“). So einfach, wie ich es mir noch Mitte der 1980er Jahre vorstellte, war es jedoch bald nicht mehr – auch wegen der verstärkten Zuwanderung und der Wiedervereinigung Deutschlands. Über diese Phasenschwankungen ging auch die Einsicht in säkulare Schrumpfungstendenzen verloren. Die 1990er Jahre: verschlungene Wege der Thematisierung Die fachliche wie öffentliche Wahrnehmung war auch in den 1989er Jahren noch weit davon entfernt, die neue Realität von parallelen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen anzuerkennen. Andere Faktoren überlagerten sie. Zunächst war es der stark anschwellende Zufluss von Migranten insbesondere in die Kernstädte – also der positive Wanderungssaldo –, dann die Dynamik der gesamtdeutschen Binnenwanderung, die andere Akzente setzte. Bei der Deutung dieser neuen Akzente kann der Einfluss der Medien wohl nur unterschätzt, die Rolle der wissenschaftlichen Faktenvermittlung und -deutung dagegen nur überschätzt werden. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Themas Schrumpfung in den deutschen Printmedien seit 1990 illustriert, wie drastisch andere Diskurse zunächst die Thematik der schrumpfenden Städte überlagerten: In der Nachwendezeit (1990–1994) war es für Ostdeutschland zunächst die Perspektive eines völlig fiktiven Wohnungsbaubedarfs („im 843 Osten fehlen eine halbe Million Wohnungen“, titelte „Der „Spiegel“ in seiner Ausgabe 29 von 1991) – gefolgt von der Perspektive des demographischen Wandels als Folge der Ost-West-Wanderungen („Massenflucht“, „Ausbluten ganzer Regionen“). Ab Mitte der 1990er Jahre (1995–1999) traten die ostdeutschen Bevölkerungsrückgänge in den Vordergrund und eine nüchterne Korrektur der Wohnungsbauprognosen wurde angemahnt („in der Einheitseuphorie am Markt vorbeigebaut“, so die „Süddeutsche Zeitung“ am 11. November 1995). Eine Studie der Deutschen Siedlungs- und Rentenbank empfahl bereits den Abriss von Plattenbauten – nun fehlten im Osten keine Wohnungen mehr, sondern das Gegenteil wurde beklagt: Auf dem Wohnungsmarkt stünde „fast eine halbe Million Wohnungen leer“ 8. Es war die Stunde der Wohnungspolitik. Ab 2000 schnitt der Bericht der sog. Wohnungsleerstandskommission des Bundesbauministeriums das Thema breiter, als Gesamtphänomen städtischen Wandels zu und fokussierte es auf das ökonomische Problem der massenhaften Wohnungsleerstände. Die sozialliberale Koalition machte sich die drängenden Bewirtschaftungsprobleme der großen Wohnungsgesellschaften zu eigen, die sich aus den hohen Leerstandsquoten ergaben – wohl nicht zuletzt wegen der traditionellen Nähe zu den Trägern des sozialen Wohnungsbaus. Die von den Unternehmen angestrebte Marktbereinigung durch Abriss von Wohnungen in Großsiedlungen, speziell in Plattensiedlungen wurde als Fördertatbestand anerkannt. Das neu aufgelegte Programm „Stadtumbau Ost“ (später auch das komplementäre Programm „Stadtumbau West“) forderten von den Gemeinden integrierte Gesamtkonzepte als Voraussetzung für die Finanzierung. Seit 2000 wurde der Strom der Berichterstattung breiter. Darin überlagerten sich sehr verschiedene Konnotationen von Schrumpfung: als Phänomen des Wohnungsmarkts, als wirtschaftliche Folge einer kaum abgefederten massiven Deindustrialisierung und politischen Transformation, als demographische Folge von regional selektiven Wanderungen, Geburtenrückgang und Bevölkerungsalterung. In der Breite der Beschreibungen begann die Thematisierung als Gesamtphänomen städtischen Wandels. Bald hatte sie so auch die Regionalplanung und Raumordnung erreicht. Zeitgleich be- 844 Aus der Werkstatt kamen die aktuellen stadtsoziologischen Forschungen in dieser Thematisierungskonjunktur eine größere Öffentlichkeit. Die Breite der Publikationen seit 2000 Viele Disziplinen, von der Architektur über die Geographie, Ökonomie und Soziologie bis zur Stadt- und Regionalplanung, wenden sich inzwischen nicht nur an das eigene Fachpublikum, sondern häufig an eine breite Öffentlichkeit. Grundlagentheoretisch orientierte Abhandlungen stehen neben bilderreichen Katalogen und Büchern aus Architektur und Stadtplanung, die hier nur exemplarisch gestreift werden können.9 Bei den Veröffentlichungen aus dem Bereich der Architektur und Stadtplanung dominieren eindrückliche Bilder, Anekdoten und Zahlen zu schrumpfenden Städten und Regionen. Weniger begriffliche Durchdringungen als vielmehr die Beschreibungen des immer noch Ungewohnten und Fremden, Bizarren kennzeichnen viele solcher zum Teil außerordentlich anschaulichen Darstellungen, die auch sozialwissenschaftliche Erklärungen einbeziehen.10 Exemplarisch für diesen Gesamtzugriff ist die auf breite öffentliche Wirkung angelegte Ausstellung „Shrinking Cities“. Hier wird Schrumpfung zu einem kulturellen „Phänomen“, das es allerdings nun politisch und planerisch zu gestalten gälte. 11 Zu einem differenzierten Verständnis der realen Prozesse und der politischen Strategien hat vor allem die Stadt- und Regionalsoziologie beigetragen.12 Sie zeigt zum Beispiel, dass es wenig hilfreich ist, von „den“ ostdeutschen Städten zu sprechen: Schrumpfende Klein- und Mittelstädte Ostdeutschlands sowie die Städte, die ihr Wachstum politischen Standortentscheidungen und einseitiger Industrieentwicklung verdanken, werden hier tendenziell durchgreifender transformiert als die großen Städte und Städte mit einem starken vorindustriellen Stadtkern.13 Schließlich gibt es Beiträge zur politischen Dimension von Schrumpfungsprozessen. Sie aktualisieren die Frage Häußermann und Siebels, in welchem Verhältnis eine solche Stadtpolitik des aktiven Umgangs mit Schrumpfung (nicht nur normativ, sondern empirisch) zu den bisherigen Wachstumspolitiken steht. Stadtpolitik: Wachstum oder Schrumpfung ? Stadtentwicklungspolitik richtet sich bis heute auf Wachstum aus. Sie war immer auf Angebote für Investoren, zur Betriebsansiedlung und auf Leuchtturmprojekte für die Wachstumsmaschine Stadt eingeschworen. Die Betrachtung von schrumpfenden Städten kann daher nur ein Aspekt einer Stadtentwicklungspolitik sein, die weithin von ihrem Gegenteil, den Triebkräften des Wachstums und der ungehinderten Kapitalverwertung dominiert ist. Untersuchungen darüber, ob es überhaupt eine Stadtpolitik der Schrumpfung gibt und unter welchen Bedingungen es Städten, die schrumpfen, gelingt, ihre Stadtpolitik darauf auszurichten, gibt es wenig und noch nicht lange.14 Was kennzeichnet diese Politik? Eine empirische Studie 15, aus der im Folgenden einige Ergebnisse zusammengefasst werden, soll hier zur Illustration dienen. Die Studie vergleicht Duisburg und Leipzig – und damit die Stadtpolitik von zwei Städten in Ost und West, die beide Bevölkerungsrückgang in der Größenordnung von 100 000 Einwohnern und seit den 1970er bzw. 1990er Jahren massive Arbeitsplatzverluste hinnehmen mussten. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass nur in Leipzig die Ursachen in mehreren Dimensionen und strukturell als Dauerproblem wahrgenommen werden, während Duisburger Akteure in Politik, Verwaltung und Wirtschaft auf zyklischen Wechsel setzen und daran festhalten, dass erst durch Wirtschaftswachstum die „Talsohle“ überwunden werden müsse. Zwar setzte auch Leipzig auf (teilweise durchaus erfolgreiche) Standortprofilierung durch Großprojekte (BMW-Ansiedlung BioCity, Zentralstadion, Messeausbau, Olympiabewerbung), leitete aber parallel dazu eine Fülle neuer und unkonventioneller Strategien zur Stabilisierung von sich entleerenden Wohnquartieren ein, die Abriss ebenso wie Konzepte temporärer Nutzungen mit einschlossen. Erkennbar habe Leipzig einen deutlich kreativeren Umgang mit der Tatsache der Schrumpfung als Duisburg ausgebildet. Gleichwohl habe keine der beiden Städte, so die Verfasserin, letztlich den Schritt zu einem paradigmatischen Wechsel in der Stadtpolitik vollzogen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 Was lässt sich aus den (wenigen) Studien zur Politik in schrumpfenden Städten lernen? Zusammengefasst demonstrieren sie vor allem die vielfältigen Schwierigkeiten, aus rückläufigen Entwicklungen positive, politisch wirksame Handlungsprämissen abzuleiten und sie nicht als bloße Defizitposten einer Wachstumspolitik zu begreifen. So gilt Leipzig als Pionierstadt bei der Entwicklung neuer Konzepte und Verfahren des Stadtumbaus, die sich mehr als nur graduell vom traditionellen Typus der Wachstumspolitik unterscheiden.16 Eine häufig betonte Option besteht bei diesen neuen Politiken darin, vor allem private Akteure wie kleine Haus- und Grundeigentümer oder auch Wohnungsgesellschaften dafür zu gewinnen, als Stakeholder mitzuwirken. Diese Option steht in deutlichem Kontrast zu einer Wachstumsstrategie, die auf große Shareholder-Investitionen setzt. Des Weiteren zeigt sich in diesen neuen Politiken die Bedeutung strategischer Allianzen, die alle relevanten Akteure einbinden und sich auf gemeinsame Werte und Ziele verständigen, statt allein durch die gemeinsame Absicht, Verschlechterungen abzuwehren, zusammengehalten zu werden. Schließlich zeigen die Studien, dass die Leitfrage nach einer eigenständigen Schrumpfungspolitik einer zu starken Idealisierung aufsitzen könnte. Womöglich ist eine Politik der Schrumpfung weniger eine radikale Alternative als vielmehr ergänzender Teil einer aufgeklärten Wachstumspolitik, die Schrumpfung akzeptiert, ohne die Hoffnungen auf Wachstumspotenziale aufzugeben. Der erreichte Stand – und die verbleibenden Desiderata Den anfänglichen Versuchen der Politisierung des Themas, wie sie in den 1980er Jahren von Häußermann und Siebel unternommen wurden, folgten mehrere Wellen der Demographisierung, Ökonomisierung (Wohnungswirtschaft), Kulturalisierung und planungstechnischen Instrumentalisierung des Themas. Erst jüngst gibt es Untersuchungen zum Thema als Gegenstand der Stadtpolitik – so wie es in den 1980er Jahren einmal angedacht war. Diese Wellen der Interpretation, die das Thema in den letzten beiden Jahrzehnten erfahren hat, lassen erahnen, wie langwierig 845 und zum Teil erratisch solche Prozesse der Umorientierung der bisherigen Perspektiven auf Stadt und Region verlaufen können. Dennoch erzeugten sie kumulativ Wissen, indem über einen größeren Zeitraum bereichsspezifische Einsichten allmählich zueinander fanden. Erst die interessierten Thematisierungen z. B. aus Politik, Wohnungswirtschaft, Medien und aus anderen Fachdisziplinen nahmen Ende der 1990er Jahren die Interpretationsangebote aus der Stadtsoziologie selektiv auf und machten sie damit anschluss- und gesellschaftsfähiger. Indem sie sich kulturalistische Deutungen zu eigen machten, färbten sie diese allerdings dabei auch anders ein. Prägend wirkten vor allem die bau- und planungsbezogenen, ingenieurwissenschaftlichen Arbeiten aus der angewandten Forschung von städtebaulich orientierten Architekten, die ihrerseits die sozialwissenschaftliche Stadtforschung assimilierten und praktisch zu wenden suchten. Indem ingenieurwissenschaftliche Studien das Thema zur Frage der Gestalt der Städte machten, blendeten sie aber auch wichtige Fragen der Stadtpolitik aus, die eben nicht allein eine Politik und Planung der Stadtgestalt und Raumbewirtschaftung ist. Getragen von breiten, interessierten Thematisierungen in Politik und Medien griff auch die Stadt- und Regionalsoziologie die Themen der Schrumpfung wieder verstärkt empirisch auf. Allerdings vollzieht auch sie – als auftrags- und verwendungsbezogene Forschung – vielfach die Engführungen einer auf praktische Umsetzung gerichteten Aufgabe nach und beantwortet damit nicht die grundsätzlichen, weil kategorialen Fragen. Auch für schrumpfende Stadtentwicklung gilt: „Stadtentwicklung war immer schon Stadterweiterung, Stadterneuerung und Stadtumbau zugleich, jedoch in unterschiedlichen Epochen jeweils zu unterschiedlichen Anteilen“ 17. Solche Mischlagen zu bilanzieren und zu verstehen, setzt eine angemessene Distanz zum Untersuchungsgegenstand voraus, den letztlich nur veränderte, theoretisch bewehrte Begriffe schaffen können. Unser konzeptionelles Verständnis von Schrumpfungsprozessen kennzeichnet indessen noch ein schmerzlicher Mangel.18 Denn wenn nicht Wachstum, sondern gegenläufige Prozesse des Rückgangs von Be- 846 Aus der Werkstatt wohnern und wirtschaftlicher Potenz die Zukunft von Städten bestimmen, erschüttert das auch die Kernannahmen unseres bisherigen Denkens über Stadtentwicklung: Die sozialräumliche Ausdifferenzierung durch Segregation, das kontinuierliche Ausdehnen der bebauten Flächen, die Verdichtung und funktionale Entmischung von Nutzungen usw. sind alle Ausfluss von Wachstumsprozessen. Stadtentwicklung schien immer geprägt durch Flächenexpansion, soziale Differenzierung, Funktionstrennung und Nutzungsintensivierung. Gilt dies weiterhin uneingeschränkt? Louis Wirth argumentierte einst im Anschluss an die soziologischen Klassiker Simmel und Park, urbane Verhältnisse, also „urbanism as a way of life“, kennzeichneten Größe, Dichte und Heterogenität.19 Gilt diese goldene Formel der Urbanität auch dort, wo die urbane Realität heute in der Verkleinerung, Entdichtung und Entmischung liegt? So bleibt es einstweilen bei den früh formulierten Desiderata einer Diskussion um das Schrumpfen von Städten, die erst nach einer langen Latenzperiode breit geführt wurde und heute Gefahr läuft, sich technokratisch auf das planungspraktisch Erforderliche zu verengen. Häußermann und Siebel forderten vor zwei Jahrzehnten von der Stadtpolitik, sich vom alleinigen Umgriff des Wirtschaftswachstums zu emanzipieren und kühn andere Visionen der Gestaltung zu wagen. Für die Stadt- und Regionalsoziologie regten sie an, sie solle ihre zentralen Kategorien der Analyse prüfen und reformulieren. Beide Forderungen stehen noch heute. Fazit: Wege wissenschaftlicher Politikberatung Die lange Inkubationszeit, die das Thema Schrumpfung in der politischen wie fachlichen Diskussion benötigte, bis es breiter akzeptiert wurde, könnte man als Ergebnis mangelnder Bereitschaft begreifen, sich unpopulären, weil wachstumskritischen Deutungen zu öffnen. Doch es liegt nicht nur daran, dass die Adressaten wissenschaftlicher Ergebnisse die Botschaft nicht vernehmen wollten. Die Schwierigkeiten, denen sich die sozialwissenschaftliche Politikberatung beim Thema Schrumpfung gegenübersieht, liegen auch in den Besonderheiten der Disziplin selbst begründet. Bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Preises der Schader Stiftung 2007 nannte Franz Xaver Kaufmann mögliche Gründe, die erklären könnten, warum sozialwissenschaftliche Ergebnisse häufig wirkungsarm bleiben.20 Die gesellschaftliche Potenz der sozialwissenschaftlichen Forschung, so Kaufmann, läge weniger in der Anwendung ihres Wissens, als vielmehr in der Verwendung und orientierenden Kraft ihrer Begriffe und Deutungen. In dieser Rede unterscheidet Franz-Xaver Kaufmann also die Bereitstellung von faktischem Wissen und Orientierungsleistungen. Die sozialwissenschaftliche Forschung müsse erstens über einen sich wandelnden Gegenstand veränderte, angemessene Deutungsangebote plausibel machen – und das insbesondere gegenüber hoch interessierten gegenläufigen Deutungen. Zweitens müsse sie übergreifende Perspektiven aus jeweils disziplinärer Sicht entwerfen. Denn die Erfahrung von Gesellschaft, so Kaufmann, bedeute immer auch eine „alltägliche Erfahrungsbereiche übergreifende … zum mindesten bereichsspezifische Einsichten relativierende Perspektive“. Letzteres, also die Synthese unterschiedlicher, spezialisierter Erfahrungsfacetten, hat wohlmöglich einen größeren Einfluss auf die Fähigkeit zu orientieren und umzuorientieren, als bisher gedacht. So sehr man diese Forderung Kaufmanns begrüßen mag, so wenig klar ist, was sie praktisch bedeutet. Sozialwissenschaftliche Forschung, so mein Fazit, kann ihre Ergebnisse nur sehr begrenzt aus eigener Kraft relativieren und erfahrungsübergreifend organisieren. Dies kann besser gelingen, wenn sie sich dialogisch, inter- und transdisziplinär organisiert – kurz: sich somit früh auch den Sichten und Interessen anderer Disziplinen, Professionen und Institutionen aussetzt, an die sich ihre Ergebnisse richten. Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 847 Anmerkungen (1) Die Idee und das (literarische) Material zu diesem Aufsatz entstammen einer Bereichsrezension zum Thema „Schrumpfende Städte“ in: Soziologische Revue 30 (2007) 4, S. 383 –392, die ich gemeinsam mit Johann Jessen verfasst habe. Verena Pfeiffer danke ich für die gründlichen inhaltsanalytischen Recherchen zur Situation der 1990er Jahre, die sie im Rahmen einer Seminararbeit an der TU Berlin im Sommersemester 2007 anfertigte. Birgit Glock, Martin Gornig, Hartmut Häußermann, Martin Kronauer und Jens Wurtzbacher verdanke ich anregende Kritik und Ergänzungen zu einer frühen Version; für das Ergebnis bleibe ich allein verantwortlich. (2) Stellvertretend vgl. hier die bisher immer noch reichhaltigste Darstellung der verfügbaren statistischen Indikatoren in Gatzweiler, H.-P.; Meyer, K.; Milbert, A.: Schrumpfende Städte in Deutschland. Fakten und Trends. Informationen z. Raumentwicklung (2003) 10/11, S. 557–574 (3) Vgl. z. B. Göb, Rüdiger: Die schrumpfende Stadt. Archiv f. Kommunalwissenschaften 16 (1977) II, S. 149 –177. Zu einer Genealogie der Schrumpfungsdebatte mit ausführlichem Literaturnachweis vgl. Hannemann, Christine: Marginalisierte Städte. Probleme, Differenzierungen und Chancen ostdeutscher Kleinstädte im Schrumpfungsprozess. – Berlin 2004, S. 72–75 (4) Wichtige Impulse lieferten in den 1980er Jahren die „Locality Studies“ des britischen ESRCForschungsprogramm „Changing Urban and Regional System in the UK“, die sich an Doreen Masseys (1984) Restrukturierungsthese von der proaktiven Rolle orientierten, die lokale Körperschaften bei der Transformation zu postindustriellen Strukturen spielten; vgl. Massey, Doreen: Spatial Divisions of Labour. – London 1984 (5) „Die Zeit“ Nr. 13/1985 (Extra) vom 22. März 1985 (6) Vgl. Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter: Die schrumpfende Stadt und die Stadtsoziologie. In: Soziologische Stadtforschung. Hrsg.: Friedrichs, Jürgen. – Opladen 1988. = Sonderheft der Kölner Zeitschrift f. Soziologie und Sozialpsychologie, S. 78–94 (7) Vgl. Walther, Uwe-Jens: Entwicklungsprobleme und Perspektiven von Stadtregionen – Aspekte der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion. Informationen z. Raumentwicklung (1987) 11/12, S. 675–688 (8) Süddeutsche Zeitung am 13. Sept.1997 und Die Zeit, Ausgabe 43/1997 (9) Vgl. ausführlicher Jessen, Johann; Walther, UweJens: Schrumpfende Städte. Soziologische Revue (2007) 4, S. 383–392 (10) In seinem Buch „Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt“ (Wuppertal 2004) über die schrumpfenden Städte Ostdeutschlands übernimmt Wolfgang Kil bereits im Titel die frühe Aufforderung von Häußermann und Siebel, die rezessiven Entwicklungen in den Städten nicht nur defizitär, sondern als Gestaltungspotenziale zu deuten. Er verknüpft Fallschilderungen mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsangeboten (Deökonomisierung, Marginalisierung, Ausgrenzung, Transformation, Governance …). (11) Vgl. die beiden Bände zur Ausstellung: Oswalt, Philipp (Hrsg.): Schrumpfende Städte, Bd. 1: Internationale Entwicklungen. Bd. 2: Handlungskonzepte. – Ostfildern-Ruit 2004 u. 2005 (12) Vgl. die Beiträge in: Gestring, Norbert; Glasauer, Herbert; Hannemann, Christine; Pohlan, Jörg; Petrowski, Werner (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2004/2005. Schwerpunktthema: Schrumpfende Städte. – Wiesbaden 2005. Sie bemühen sich zum Beispiel gegenüber den populären kulturalistischen Gesamtdeutungen der ShrinkingCities-Publikationen einerseits und Verkürzungen auf die besondere Situation der ostdeutschen Städte andererseits deutlich um Differenzierung und eine erweiterte Perspektive. (13) Auf die Unterschiede weisen viele Versuche der Typologisierung hin; vgl. z. B. Goeschel, Albrecht: Stadtumbau – Zur Zukunft schrumpfender Städte vor allem in den neuen Bundesländern. Informationen z. Raumentwicklung (2003) 10/11, S. 605– 615. Christine Hannemann (Marginalisierte Städte. Probleme, Differenzierungen und Chancen ostdeutscher Kleinstädte im Schrumpfungsprozess. – Berlin 2004) gebührt das Verdienst, den Typus der schrumpfenden Stadt an Kleinstädten in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern in seinen Differenzierungen untersucht zu haben. Ihre These eines kumulativen Charakters der Marginalisierung, der erst als Überlagerung von historischen Schichten verständlich wird, illustriert sie an den vier Städten Angermünde, Bad Wilsnack, Goldberg und Teterow. Das Novum der stagnierenden oder rückläufigen Bevölkerung wird hier zum „neuen Normalfall“ (S. 79 ff.). An den vier systematisch ausgewählten Kleinstadtgemeinden stellt die Autorin eine empirisch gehärtete, komplexe „Typologie der Schrumpfstadt“ vor, die nach Entwicklungsdynamik und nach Reaktionsfähigkeit unterscheidet: konsolidierte, stabilisierte, stagnierende, erodierende Städte. (14) Einige Veröffentlichungen thematisieren den Umgang mit Schrumpfungsprozessen in der Planung: Weiske, Christine; Kabisch, Sigrun; Hannemann, Christine: Kommunikative Steuerung des Stadtumbaus? Interessengegensätze, Koalitionen und Entscheidungsstrukturen in schrumpfenden Städten. – Wiesbaden 2004. Während Birgit Glock (Stadtpolitik in schrumpfenden Städten. Duisburg und Leipzig im Vergleich. – Wiesbaden 2006. = Stadt, Raum und Gesellschaft) in ihren Ergebnissen auf die zentrale Bedeutung von Handlungsorientierungen (und Wahrnehmungsbarrieren), Kooperationsformen und Akteurskonstellationen für den offensiveren politischen Umgang mit Schrumpfungsphänomenen verweist, haben Weiske, Kabisch und Hannemann dies unter dem Stichwort „kommunikative Steuerung“ (s. Anm. 13) vorher direkt zum Gegenstand einer Veröffentlichung gemacht. Kabisch, Berndt und Peter untersuchen an einem Fallbeispiel, wie das aktuelle Bund-LänderFachprogramm Stadtumbau Ost umgesetzt wird. Anhand von Wohnquartieren der ostdeutschen Mittelstadt Weißwasser zeichnen sie die lebensweltlichen Folgen eines Programms nach, das planerisch geordneten Rückbau und Aufwertung anstrebt, faktisch jedoch unter großem Zeitdruck vor allem den Abriss leerstehender Wohnungen finanziell fördert – ohne überall die Bewohner rechtzeitig und angemessen zu informieren und in die Abriss- und Umbaupläne und -strategien einzubeziehen; vgl. Kabisch, Sigrun; Bernt, Matthias; Peter, Andreas: Stadtumbau unter Schrumpfungsbedingungen: Eine sozialwissenschaftliche Fallstudie. – Wiesbaden 2004 (15) Glock, Birgit: Stadtpolitik in schrumpfenden Städten, a. a. O. (16) Vgl. Jessen, Johann; Walther, Uwe-Jens: Leipzig. In: stadtmachen.eu. Urbanität und Planungskultur in Europa. Hrsg.: Johann Jessen, Ute Meyer, Jochem Schneider. – Stuttgart 2008, S. 136– 157 (17) Jessen, Johann: Stadtverdünnung? Wie verändert sich die funktionalräumliche und morphologische Struktur von Städten unter den Bedingungen des Schrumpfens? In: Stadtlichtungen. Irritationen, Perspektiven, Strategien. Hrsg.: Undine Giseke, Erika Spiegel. – Gütersloh 2007. = Bauwelt Fundamente, S. 52 (18) Vgl. dazu ausführlich ebda., S. 52–60 (19) Vgl. Wirth, Louis: Urbanism as a Way of Life. – Chicago 1964, S. 60–83 (20) Kaufmann, Franz-Xaver: Was heißt „Anwendung“ in den Gesellschaftswissenschaften? Rede zur Verleihung des Schader-Preises in Darmstadt am 10. Mai 2007 (www.schader-stiftung.de/docs/ kaufmann_10-05-07.pdf; 28.06.2008) 848 Claus-C. Wiegandt Aus der Werkstatt Über die Unsicherheit, mit der Zukunft umzugehen Einleitung „Vergangenheit der Zukunft“ – berühmte Autoren wie der polnische Philosoph und Essayist Stanislaw Lem nutzen solche Wortspiele als Titel einer Aufsatzsammlung zu eigenen Zukunftsansichten von einst und heute.1 Anspruchsvolle Tageszeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung titeln mit solchen Worten in ihrem Feuilleton zu einer Literaturkritik des Romans „Falsche Filme“ von Bruno Steiger (NZZ vom 7.9.2006), und Einrichtungen wie der Hauptstadtkulturfonds fördern ein Projekt zur Jugendbewegung unter einem solchen Motto. Und jetzt ein Themenheft in den „Informationen zur Raumentwicklung“ zu diesem scheinbar paradoxen Wortspiel, für das ich eingeladen bin, einige persönliche Gedanken zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft während meiner eigenen Arbeit der letzten Jahre zu entfalten. Dies ist sicherlich keine leichte Aufgabe, aber ich will versuchen, sie einzulösen, indem ich mich zu drei Zeitschnitten – Anfang der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre und Anfang des neuen Jahrtausends – an einzelne eigene Schlüsselereignisse erinnere, die in einem Zusammenhang zur früheren Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) bzw. zum heutigen Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) stehen. Anfang der 1980er Jahre – regionale Disparitäten und die Aufgaben der Raumordnung (1) Lem, Stanislaw: Die Vergangenheit der Zukunft. Essays. – Frankfurt/Main, Leipzig 1992 (2) Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bau- und Wohnungswesen: Raumordnungsbericht 1978. – Bonn 1978, S. 5 (Vorwort) Ende der 1970er Jahre begann ich mein Studium der Geographie in Münster. Wir waren begeistert von einem Fach, das sich in einem Wandel von der reinen Länderkunde hin zu einer ernst zu nehmenden Raumwissenschaft befand. Vor allem über die Nebenfächer waren wir im Studium gefordert, uns mit der Zukunft der räumlichen Entwicklung in Deutschland zu beschäftigen. Dabei spielten die Arbeiten aus der damaligen BfLR eine ganz zentrale Rolle. Hier wurden in Bonn Bad Godesberg mit der damals noch jungen „Laufenden Raumbeobach- tung“ die großräumigen Unterschiede in den Lebensbedingungen der Bundesrepublik Deutschland akribisch herausgearbeitet. Die Wanderungsverluste der strukturschwachen ländlichen Räume waren wichtige Indikatoren in diesem Zusammenhang und gaben Anlass zu großer Sorge, was die Zukunft dieser peripheren Räume betraf. Diese Probleme waren damit auch eine zentrale Legitimation des Bundes für seine eigene Raumordnungspolitik. So trat beispielsweise der Raumordnungsbericht 1978 deutlich für den Ausgleich regionaler Disparitäten ein und stellte damals fest, dass die strukturschwachen ländlichen Gebiete trotz raumordnerischer Einflussnahme und Fortschritten in der Infrastrukturversorgung wegen der ungünstigen Arbeitsmarktsituation auch weiterhin als Problemgebiete anzusehen seien.2 Das Emsland galt in dieser Zeit als ein Musterbeispiel für eine solche Problemregion, für die sich die Raumordnung einsetzen wollte. Allerdings stellten sich bei mir, der ich in dieser Region aufgewachsen war, leichte Zweifel bei dieser Zustandsbeschreibung mit Hilfe der Indikatoren der laufenden Raumbeobachtung ein. Sicherlich waren zahlreiche sozioökonomische Kennziffern unter dem Bundesdurchschnitt und gab es auch bei den Jugendlichen Abwanderungsbewegungen nach dem Abitur – ich gehörte ja selbst dazu –, doch konnte ich eine generelle Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit den regionalen Lebensbedingungen aus eigener Erfahrung nicht so eindeutig bestätigen. Im Gegenteil: Nicht nur großzügige Einfamilienhäuser und eine reizvolle Landschaft, sondern auch überschaubare Alltagswelten und ein dynamisches Unternehmertum prägten nach meiner eigenen Vorstellung schon damals das Emsland und ließen einen großen Teil der Bevölkerung mit den regionalen Lebensbedingungen durchaus zufrieden sein. So entstand im Laufe des Studiums gemeinsam mit Rainer Danielzyk die Idee, mit wissenschaftlichem Anspruch und entsprechenden quantitativen Methoden genauer in die Region zu schauen. Wir wollten uns auf die Lebensverhältnisse der Bewohner im Alltag Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 des Emslandes einlassen. Daraus entstand dann eine gemeinsame Diplomarbeit 3, die wir Anfang der 1980er Jahre in Münster abschließen konnten und dann sogar auf dem Geographentag in Berlin vorstellen durften. Herr Strubelt als Leiter der BfLR und Herr Blotevogel als junger Geographieprofessor an der Hochschule hatten damals als Leiter einer Fachsitzung das Vertrauen in uns, dass wir einen solchen Vortrag über unsere Arbeit auch als Studenten in einem solchen Kreis halten könnten. Inzwischen haben sich nicht nur die Perspektiven für das Emsland, sondern hat sich auch die Darstellung einer solchen Region in der bundesdeutschen Raumbeobachtung deutlich gewandelt. Der westliche Teil Niedersachsens gilt heute für einige Raumwissenschaftler sogar als eine Vorzeigeregion, die als ein „Best Practice“ Eingang in einen späteren Raumordnungsbericht gefunden hat.4 Dabei wird an diesem Beispiel deutlich, dass spezifische regionale Faktoren über den Erfolg oder auch Misserfolg einer regionalen Entwicklung entscheiden. So haben sich die ländlichen Räume ausdifferenziert und folgen durchaus jeweils eigenen Entwicklungslogiken, die nur schwer vorhersehbar sind. Dies soll nun aber keineswegs als ein Statement verstanden werden, zukünftig den originären Auftrag der Raumordnungspolitik zu vernachlässigen, einen Ausgleich der regionalen Disparitäten anzustreben. Nach jüngeren Diskussionen im raumordnungspolitischen Diskurs und den neuen Leitbildern der Bundesraumordnung könnte dieser Eindruck entstehen. Doch der oft unzureichende Anschluss an das schnelle Internet in dünn besiedelten Regionen oder der Rückzug der Deutschen Bahn aus der Fläche sind zwei aktuelle Beispiele, in denen die Argumente der Raumordnung auch heute noch gefragt sind. Raumordnungspolitik beraubt sich ihrer eigenen Aufgabe, wenn sie sich nicht auch der schwächeren Regionen annimmt, die heute eben nicht im Emsland, sondern in anderen Teilen Deutschlands sowohl im Osten als auch immer noch im Westen zu finden sind. Dabei handelt es sich heute keineswegs nur um ländlich periphere Regionen. Vielmehr besteht inzwischen auch in verdichteten altindustriellen Regionen ein Bedarf für eine ausgleichsorientierte Raumordungsperspektive. 849 Anfang der 1990er Jahre – die Unplanbarkeit der Wiedervereinigung Vor fast 20 Jahren wurde Deutschland von dem Ereignis der Wiedervereinigung überrascht. Viele der damaligen Gedanken zur räumlichen Entwicklung Deutschlands stellten sich innerhalb weniger Monate unter einem völlig neuen Blickwinkel dar. So ergaben sich durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland plötzlich neue spannende Aufgaben für die Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik, die die damalige BfLR wissenschaftlich begleiten konnte. Dies betraf nicht nur den Perspektivenwechsel der bundesdeutschen Raumordnung von einem Nord-Süd-Gefälle zu einem radikalen Ost-West-Gefälle, das noch heute die Debatten über die bundesdeutsche Raumordnungspolitik bestimmt. Veränderungen ergaben sich auch in der Stadtentwicklungspolitik, in der nun die langjährigen Erfahrungen der westdeutschen Städtebauförderung auf die maroden Innenstädte und die zahlreichen Großwohnsiedlungen der DDR-Zeit übertragen werden konnten. Für mich ging Ende der 1980er Jahre die Studienzeit und die Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut in Münster zu Ende, und ich hatte das Glück, zwei Monate vor der Wiedervereinigung in der damaligen BfLR als Projektleiter eine neue Aufgabe im Umweltreferat übernehmen zu können. Auch wenn ich im Vorstellungsgespräch Ende Februar 1990 noch ein kurzes Statement zum europäischen Binnenmarkt abzugeben hatte, lag in der darauffolgenden Zeit zu Beginn der 1990er Jahre ein wesentliches Augenmerk der BfLR-Tätigkeiten auf den Folgen der Wiedervereinigung. So erschien der Ende der 1980er Jahre mühsam zusammengestellte Raumordnungsbericht 1990 zwar noch, doch war sein Inhalt bereits mit dem Druck überholt, weil er sich ausschließlich auf Westdeutschland bezog. Die Ideen zur Zukunft waren sehr schnell Vergangenheit geworden. Schon 1991 gab es deshalb einen nächsten außerplanmäßigen Raumordnungsbericht, der sich mit der Situation in den neuen Ländern auseinandersetzte. Dazu wurden zahlreiche Daten aus den alten DDR-Behörden zusammengetragen und eine räumliche Situation (3) Danielzyk, R.; Wiegandt, C.-C.: Lingen im Emsland. Dynamisches Entwicklungszentrum oder „Provinz“? Ansätze zu einer qualitativen Methodik in der Regionalforschung. – Paderborn 1985. = Münstersche Geographische Arbeiten, H. 22 (4) Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Raumordnungsbericht 2005. – Bonn 2005. = Berichte, Bd. 21, S. 86 850 Aus der Werkstatt dokumentiert, die mit dem tiefgreifenden Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft und seinen umfassenden gesellschaftlichen Folgen aber ebenfalls bald wieder überholt war. In einem ersten gesamtdeutschen Raumordnungsbericht wurden dann 1993 die neuen Disparitäten herausgearbeitet, aber auch die enormen Aufbauleistungen des Bundes dokumentiert. Die oft einschneidenden und weitreichenden Veränderungen im Alltagsleben der Ostdeutschen werden in diesen Veröffentlichungen allerdings nur ansatzweise deutlich. Vieles von dem, was sich seit Anfang der 1990er Jahre in Ostdeutschland ereignet hat, war nur schwer vorherzusagen. So waren anfangs die Mieten in den ersten Neubauten oder auch sanierten Altbauten exorbitant hoch, weil der Wohnungsmarkt nur langsam ein entsprechendes Angebot bereitstellte. Und diese hohen Preise galten für Wohnungen, die aus heutiger Sicht vielfach Qualitätsmängel aufweisen und sich 15 Jahre nach ihrem Bau bereits als schwer vermittelbare Objekte herausstellen. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung war der Abriss von Plattenbauten oder auch von maroder gründerzeitlicher Bausubstanz zumeist ein Tabuthema, weil Erinnerungen an die Flächensanierungen der 1960er Jahre über eine längere Zeit eine Diskussion zum Rückbau verhinderten. So wie einige Intellektuelle nach dem Fall der Mauer zunächst nicht die Möglichkeit der Wiedervereinigung sahen, so taten sich manche Stadtplaner mit dem Gedanken schwer, Wohnungen abzureißen und damit das Marktgeschehen zu beeinflussen. Anfang des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert – neue Anforderungen an die Qualität der gebauten Umwelt (5) Nassehi, Armin: Die Sehnsucht nach Geschichte. Der Architekt (2008) H. 4, S. 68 – 71 Mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend ergaben sich für mich persönlich im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung – wie die Anstalt inzwischen hieß – neue, weitere spannende Perspektiven in der frisch eingerichteten Geschäftsstelle „Architektur und Baukultur“. Hier ging es weniger um die Zukunft der Raumentwicklung in Deutschland im Sinne einer übergreifenden Raumordnung oder einer Stadtentwicklungsplanung, die sich in dieser Zeit den Ideen der Nachhaltigkeit verschrieben hatte, sondern hier stehen auch heute noch konkret die Perspektiven für eine bessere Gestaltung der gebauten Umwelt im Vordergrund der Tätigkeit – eine für das BBR damals ganz neue Herausforderung. Das physisch-materielle Ergebnis einer Architektur- oder auch einer Ingenieurleistung erhielt auch für mich als Stadtforscher und Geograph eine neue Bedeutung. Denn das Ziel der Bundesinitiative ist es, ein breiteres Bewusstsein für die Qualitäten des zukünftig Gebauten in der Gesellschaft zu schaffen – sei es für die Qualität eines Wohnhauses, in dem man sich zu Hause fühlt und das man vielleicht sogar sein Eigen nennt, oder eines Bürogebäudes, in dem man täglich ein und aus geht und seine Arbeit verrichtet, sei es aber auch für die baulichen Qualitäten einer Brücke, die man überquert, oder eines Trafohäuschens, das man nur sehr indirekt nutzt und wahrnimmt und über dessen Gestaltung man sich vielleicht auch deshalb nur sehr selten Gedanken macht. Interessant erscheint mir hier in einer Abhandlung über die Vergangenheit der Zukunft ein Gedanke zum zeitlichen Stellenwert von Architektur, den der Soziologe Armin Nassehi jüngst zum 4. BDA(Bund Deutscher Architekten)-Tag in München geäußert hat.5 So weist er auf die „zeitliche Paradoxie des Architektonischen“ hin, dass alles Gebaute mit seiner Fertigstellung und dem Beginn seiner Nutzung bereits wieder Vergangenes darstellt, was die Planung und den Bau eines Vorhabens immer betrifft. In der Phase der Planung und Errichtung bestehen verschiedenste Möglichkeiten, ein Vorhaben auszugestalten, es der baulichen Umgebung anzupassen oder aber auch als ein Solitär in einer Stadtlandschaft wirken zu lassen. Mit der Fertigstellung erhält das Gebäude aber „die Paradoxie in sich, gebaut worden zu sein“. Es wird einerseits zu einem „Garant von Kontrolle, Stabilität und Permanenz in einer Welt, in der es exakt dies nicht mehr gibt“, andererseits kann es sich dem Wandel der Nutzer und ihrer Vorstellungen aber nur bedingt anpassen. Das Gebäude selbst wird sich nicht so schnell ändern. Es wird über eine lange Zeit den Vorstellungen der Vergangenheit entsprechen, auch wenn diese Vorstellungen sich bei vielen Architekten sicherlich auch in die Zukunft richten. Die Ansprüche der Nutzer sind hingegen schnell meist andere als zum Zeitpunkt des Planens und Bauens. Sie wer- Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2008 den anders gesehen und gelesen, so dass sich die Räume selbst mit der Praxis ihrer Nutzer verändern. Politikberatung braucht Zukunftsbetrachtung Zukunft lässt sich nicht eindeutig voraussehen und vollständig planen. Dies zeigt die Vergangenheit und gilt für die zukünftige gesamtgesellschaftliche Entwicklung ebenso wie für den eigenen beruflichen Werdegang – wenn auch in ganz unterschiedlicher Form. Die letzten 30 Jahre haben deutlich werden lassen, dass wenige bedeutende, unvorhergesehene Einzelereignisse sehr plötzlich die Koordinaten für die gesellschaftliche Entwicklung, aber auch für die räumliche Planung verändern und damit einmal getroffene Zukunftsaussagen erheblich beeinflussen und relativieren können. Für die 1980er Jahre gehört der Reaktorunfall in Tschernobyl zweifelsohne zu solchen Ereignissen, die bis in das letzte europäische Dorf wirksam gewesen sind und gesellschaftliche Debatten über die Risiken von Technologien seit dieser Zeit entscheidend verändert haben. Für den Anfang des neuen Jahrhunderts war es der Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York, der eine ähnliche Wirkung entfaltet hat und für das gesellschaftliche Zusammenleben in allen Teilen der Welt wirksam geworden ist. Neben solchen spektakulären Einzelereignissen waren für Zukunftsaussagen in 851 den letzten Jahren auch eher schleichende Entwicklungen bedeutsam, die nicht immer klar prognostiziert wurden und die zugleich aber erheblichen Einfluss auf räumliche Entwicklungen ausgeübt haben. Dazu zählen die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis seit Ende der 1980er Jahre ebenso wie die Entwicklungen des Internets, die noch Mitte der 1990er Jahre von keinem in dieser Form vorhergesagt wurden und bis heute in ihren räumlichen Auswirkungen noch immer nicht umfassend erfasst sind. Solche Ereignisse, die gar nicht oder nur sehr schwer für die Zukunft vorhersehbar sind, sollten nun aber nicht dazu verleiten, eine räumliche Forschung aufzugeben, die sich mit den zukünftigen Entwicklungen beschäftigt, oder gar eine raumwirksame Politik zu vernachlässigen, die versucht, zielgerichtet Einfluss auf räumliche Entwicklungen zu nehmen. Vielmehr bedürfen alle Aufgaben, die mich in den letzten 30 Jahren meines Berufslebens beschäftigt haben – seien es die regionalen Disparitäten, die städtebaulichen Konzepte oder die Fragen der Gestaltung der gebauten Umwelt – auch weiterhin ebenso einer intensiven Forschung wie eines politischen Handelns. Ohne ein staatliches Korrektiv ist eine nachhaltige räumliche Entwicklung nicht garantiert. Damit hat eine wissenschaftlich fundierte, raumbezogene Politikberatung – trotz aller Unwägbarkeiten bei Aussagen über die Zukunft – auch künftig eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe.