Die explodierende Stadt

Transcrição

Die explodierende Stadt
Die
explodierende
Stadt
1809 – 1914
360 GRAZ
Die Stadt von
allen Zeiten
derlande
Europa 1908
Russland
Im Vordergrund beherrscht noch die Beschaulichkeit des Biedermeier
das Bild. Man erkennt sie am Mühlgang, der die Hauptenergiequelle
der damaligen Zeit antrieb: die Wasserräder der Mühlen. Die Grazer
Schwitzermühle befindet sich rechts, die Rottalmühle mit den beiden
hohen Giebeln weiter nördlich.
Deutsches Reich
emburg
Prag
Pribram
Lemberg
Krakau
Olmütz
Frühindustrialisierung – ein Grazer Idyll
Brünn
Eperies
Österreich - Ungarn
Salzburg
Preßburg
Bern
Ungarisch-Altenburg
Leoben
Innsbruck
Schweiz
Graz
Links im Bild liegt ein Floß auf der Mur, die noch immer Verkehrsweg
für Waren und Personen ist.
Kaschau
Wien
Sarospatak
Budapest
Czernowitz
Erlau
Debrezin
Pápa
Doch im Zentrum steht das neue Maschinenzeitalter. 1833 wurde die
erste steirische und damals größte österreichische Kettenbrücke, die
Ferdinand-Kettenbrücke, errichtet. Um die Fahrbahn zu halten, brauchte
es zwei mächtige gemauerte Kettenhäuser beiderseits der Mur.
Großwardein
Ketschkemet
Klausenburg
Nagy-Enyed
Fünfkirchen
Agram
Hermannstadt
Rumänien
Republik
San Marino
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Technischen Meisterleistungen wie dieser ist auch der Ausbau der
Eisenbahnstrecken zu verdanken. Nach Graz wird die Eisenbahn
schließlich 1844 führen.
Bukarest
Belgrad
Sarajewo
Italien
Serbien
Korsika
Bulgarien
Montenegro
Grenze der Österreichisch-Ungarischen Monarchie
Rom
Sprachzugehörigkeit
Sofia
Cetinje
Sprachgebiete der Österreichisch-Ungarischen Monarchie
Deutsch
Tschechisch
Polnisch
dinien
Magyarisch (Ungarisch)
Slowakisch
Ruthenisch (Ukrainisch)
Graz und die labile Großmacht
Slowenisch
Serbisch
Osmanisches Reich
Rumänisch
Kroatisch
Friulanisch
Ladinisch
Italianisch
Auch die moderne städtische Verwaltung beförderte die Industrialisierung.
Die erste Papierfabrik, die Papier aus Holz in Massenproduktion herstellte,
sollte aber erst Mitte des Jahrhunderts entstehen. Im Bild sieht man noch
Konstantinopel
ihre Vorgängerin, die „Pruggmeiersche Hadernstampfe“: eine Papiermühle,
in der Papier aus Pflanzenfasern bzw. Lumpen hergestellt und in großen
Räumen unter dem Dach und im Garten zum Trocknen aufgelegt wurde.
Griechenland
Chios
Samos
Athen
In den Revolutionen von 1848 ging es um Demokratie und Liberalisierung.
Diese Forderung war bei vielen österreichischen Völkern mit dem Wunsch
nach nationaler Selbstständigkeit verbunden. Das habsburgische System
geriet unter Druck. Malta
Chania
Die Verantwortlichen standen dem Nationalitätenproblem zunächstKreta
ratlos
gegenüber und versuchten, sich durch Volkszählungen Überblick über
die ethnischen Zugehörigkeiten zu verschaffen. Dies gestaltete sich schwierig,
da die Befragten oft selbst nicht wussten, zu welcher Volksgruppe, welcher
Sprache sie sich bekennen sollten. Viele Grazer Sloweninnen und Slowenen
etwa glaubten, sich als deutschsprachig erklären zu müssen.
Das deutschsprachige Bürgertum fürchtete um seinen Einfluss. Mit der
Eroberung Bosniens im Jahr 1878 gewannen die slawischen Bevölkerungsteile weiter an Gewicht. Das stärkte die deutschnationalen Bewegungen.
In Randzonen und Mischgebieten wie dem Sudetenland und der Steiermark
hatten sie besonders viel Zulauf. In Graz etwa bekämpfte der Verein Südmark
seit 1889 die „Slowenisierung“ und fühlte sich für die deutschen Sprachinseln bis zur Adria verantwortlich. 1914 hatte er immerhin 90.000 Mitglieder.
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Zypern
(britisch)
Conrad Kreuzer: Die neuerbaute Kettenbrücke der Hauptstadt Graz – Ansicht vom Schloßberg
gegen Westen, 1836
Tempera auf Papier
GrazMuseum, Inv.-Nr. MAL05 / 00592
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Ein „Windischer“ macht Österreich mobil
Was wäre die österreichische Fahrradindustrie ohne Puch-Fahrräder?
Gegründet wurden die Puchwerke von dem aus der Untersteiermark
stammenden Janez Puh. Johann Puch, wie er sich bald nannte, begann
seine Karriere in der Graziosa-Fahrradfabrik in der Annenstraße. 1889
eröffnete er seinen eigenen Betrieb. 1900, als der Rennfahrer Josef Fischer
auf der Strecke Bordeaux-Paris mit einem Puch-Fahrrad den ersten Platz
errang, wurden seine Erzeugnisse auf einen Schlag berühmt. 1908 lief
das 100.000. Puch-Fahrrad vom Band und die Puchwerke produzierten
bereits Motorräder und Automobile.
Zu der Zeit, als Janez Puh vom kleinen Handwerker zum Fabrikbesitzer
aufstieg, wandelte sich Graz von einem verschlafenen Provinzstädtchen
zu einer pulsierenden Metropole des Kaiserreichs. Die Anbindung an
das Eisenbahnnetz mit der Trasse Graz-Mürzzuschlag im Jahr 1844 hatte
die Stadt ins Industriezeitalter befördert. Neben den Puchwerken lockten
weitere Großbetriebe wie die Brauereien Reininghaus und Puntigam,
die Andritzer Maschinenfabrik, die Weitzer Waggonfabrik oder oder die
Schuhfabrik Pollak (heute: Humanic) zigtausend Menschen vom Umland
in die Stadt.
Staatliche Hauptbildstelle: Panorama von Graz, 1919
Film, Länge: 3:00 min
Filmarchiv Austria
Im Rhythmus der Großstadt
Der Film zeigt eine frühe Kamerafahrt durch Graz, aufgenommen aus dem
Führerstand einer Straßenbahn und der Schloßbergbahn. Solche Aufnahmen
entstanden in der Frühzeit der Filmgeschichte häufig. Die bewegten Bilder
waren das ideale Medium zur Visualisierung des modernen städtischen Lebens.
Der technische Fortschritt war es, der im 19. Jahrhundert die Entwicklung
der europäischen Großstädte in Gang setzte. Die Entstehung von Fabriken
im Zuge der Industrialisierung und der Ausbau der Infrastruktur bestimmten
immer stärker das Erscheinungsbild der Städte. Sie gaben den Rhythmus
des Alltags vor und ermöglichten es den Menschen, diesem Rhythmus zu
folgen – in immer größeren Massen.
Auch die Grazer Bevölkerung wuchs von 116.770 Einwohnerinnen und
Einwohnern im Jahr 1880 auf 210.845 im Jahr 1923. Der Ausbau der
Bahnverbindungen brachte Pendler/-innen in die Stadt, was den Bedarf
an Verkehrsmitteln noch erhöhte.
Puch-Damenfahrrad, Modell VII, Rahmennummer 3197, Baujahr 1900
Lampls Fahrradmuseum, Werndorf
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Die erste Grazer Pferdetram verband ab 1878 Südbahnhof und Jakominiplatz miteinander. 1894 eröffnete die Schloßbergbahn, zunächst von
einer Dampfmaschine angetrieben. Um 1900 wurden beide elektrifiziert.
Den ersten Film gab es 1896 in Graz zu sehen, ein Jahr nach der weltweit
ersten Filmvorführung der Brüder Lumière im französischen Lyon.
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Urbanisierung und die Planung von Stadt
Graz bis ca. 1860 / ab ca. 1861
Wien
Südbahn 1854
„Öffnung“ ist ein Begriff, der uns in der Grazer Geschichte mehrmals begegnet. Doch er kann unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Eine
Öffnung stand Mitte des 19. Jahrhunderts an: Die alten Befestigungsanlagen wurden rückgebaut bzw. geschleift. Die Altstadt wuchs stärker mit
den Vorstädten zusammen. Doch das geschah nicht überall auf die gleiche
Weise. Im Osten entstanden die Universitäten und Gründerzeit-Wohnviertel –
wie geschaffen für die „gebildeten Stände“.
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Im Westen errichtete man Bahnlinien, die Industrie und Gewerbe anlockten
– hier entstanden Arbeiter/-innenviertel. Die wachsende Stadt mitsamt den
notwendigen Ver- und Entsorgungssystemen wurde umfassend geplant.
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Großteils bürgerliches Wohnen,
Erholungs- und Bildungsfunktion
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Reserviert für Industrie und
Gewerbe, Hauptwohngebiete
für Arbeiter/-innen und von
der Stadtplanung bereits 1892
festgeschrieben
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Glacis
Südbahnhof
(heute: Hauptbahnhof)
Schloss Eggenberg
I. Innere Stadt
Annenstraße 1846
Rechtes Murufer: Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung
von Arbeiter/-innen
II. St. Leonhard
Südliche Stadtgrenze: beiderseits
der Mur Konzentration geruchsintensiver Einrichtungen
(Sturzbrücke und Poudrettefabrik –
die spätere Seifenfabrik)
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1878 erste Pferde-Tramway,
elektrisch ab 1898
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„Sommerfrische”
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Eggenberg
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Bevölkerungsverteilung
1869:
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Triester
Poudrettefabrik
(später: Seifenfabrik)
Bevölkerungsentwicklung:
Sturzbrücke
6
Triest
Südbahn 1857
Budapest
1873 Ungarische Westbahn Fehring
Bevölkerung
Straße
Köflach
Graz-Köflacher Bahn 1860
Linkes Murufer
Rechtes Murufer
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Graz bis ca. 1860
Graz ab ca. 1861
Die Voraussetzungen für
Industrialisierung und Stadterweiterung wurden geschaffen:
Auswirkungen der Gründerzeit
am linken Murufer:
Auswirkungen der Industrialisierung
am rechten Murufer:
Wohnen: Es kommt zur großflächigen Errichtung von Gründerzeitvierteln für Bürgertum und
Aristokratie.
Industrialisierung: Rund um den
Südbahnhof siedeln sich mehrere
Schwerindustriebetriebe mit
Tausenden Arbeiter/-innen an.
Industriebetriebe und Arbeiter/innenviertel entstehen auch in
den angrenzenden Gemeinden
Eggenberg und Gösting.
Neuerungen am linken Murufer:
Öffnung der Innenstadt: Erst durch
Landesbaudirektor Martin Kink
erfolgt die „organische Verbindung“
zwischen der „offenen“ Inneren Stadt
und ihrer Umgebung:
Damit das im Mitbesitz befindliche
Glacis zum Park werden kann,
bekommt das Militär im Tausch
dafür den Feliferhof.
Der ehemals als Barriere dienende
Stadtgraben wird Teil der Ringstraße.
Erste Parzellierungen und einheitliche Verbauungen rund um die
Innere Stadt (z. B. im Bereich Glacis)
Modernisierung: Es erfolgt
ein Ausbau der Infrastruktur
(z. B. Kanalisation, neue Verkehrswege) und man setzt sich eine
„Stadtverschönerung“ zum Ziel,
u. a. durch Zerstörung älterer Baustruktur (Stadttore, Mauern, Gräben).
Neuerungen am rechten Murufer:
Neue Verkehrswege:
Durch die neuen Bahnlinien wird
die Bedeutung der Bezirke Lend
und Gries als Industrie- und
Gewerbebezirke innerhalb der
damaligen Stadtgrenzen endgültig
festgeschrieben.
1844: Eröffnung der Südbahnlinie
1860: Eröffnung der Graz-KöflacherBahn (für Grazer Industriebetriebe
wichtiger Zubringer aus den Braunkohlerevieren)
Bildung: In der Wohnumgebung
des Bildungsbürgertums werden
neue Universitätsbauten (KFU, TU)
errichtet.
Herz-Jesu-Kirche: Im neuen
bürgerlichen Wohnviertel wird
1891 der größte katholische
Kirchenbau der Stadt eingeweiht.
Erholung: Für die Bewohner/-innen
werden bürgerliche Erholungsorte
erschlossen (Leechwald, Rosenhain,
Hilmteich).
Institutionen werden aus dem
Zentrum („Innere Stadt“) ausgelagert, etwa das Landeskrankenhaus
(vormals AKH in der Paulustorgasse).
Militärstützpunkte: Zwischen
Südbahnlinie und Stadtgrenze
(Alte Poststraße) entstehen große
Kasernenbauten.
Im Zuge des Wandels der Gemeinde
Eggenberg zum Arbeiter/-innenbezirk spaltet sich die „Sommerfrische“ Wetzelsdorf ab.
Neben zahlreichen Arbeiter/innenorganisationen öffnet 1895
inmitten der rasch wachsenden
Arbeiter/-innensiedlungen die
Vinzenzkirche ihre Tore.
Bevölkerungswachstum: Erfolgt
auch durch den Zuzug von Beamten,
Aristokratie sowie Pensionistinnen
und Pensionisten („Pensionopolis“).
Das Ende des 19. Jh. geplante
Gürtelstraßensystem wird
hauptsächlich in der Murvorstadt
voll ausgebaut.
Amtshaus: Das rasche
Stadtwachstum führt zu einem
großen Bevölkerungsverlust in
der Inneren Stadt und hat einen
starken Ausbau der städtischen
Verwaltung zur Folge. Die Innere
Stadt wird mehr und mehr zum
Verwaltungszentrum.
Funktionswandel: Durch
Industrialisierung verliert
Wasserkraft und damit auch
das Viertel am linken Mühlgang
an Bedeutung. Die Mehrheit
der Arbeiter/-innen lebt und
arbeitet nun am rechten Murufer.
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„Recht auf Stadt“
Graz heute
Wien
Die 1960er-Jahre brachten wieder Bewegung ins Bürgertum. Vorbei die
Zeit, wo Staat und Stadt „von oben“ verordnet werden konnten. Die
Menschen wollten mitbestimmen, was in ihrem Lebensumfeld geschieht.
In Graz entstanden in mehreren Stadtteilen Initiativen, die ihr „Recht auf
Stadt“ einforderten. Gleichzeitig fand ein Übergang vom Industriezeitalter
zur Wissensgesellschaft statt. In Eggenberg, entlang der Alten Poststraße,
wird die ehemalige Industriezone zunehmend von neuen Kunst-, Kulturund Bildungsinstitutionen genutzt.
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Straßenbahn: 2007 wird die
Verlängerung der Straßenbahnlinie 6
nach langjähriger Diskussion
und einer Anrainer/-innenbefragung
realisiert.
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Eggenberg
Murkraftwerk: Ab 2009 entwickelt
sich eine intensive Auseinandersetzung über den Bau einer MurStaustufe im südlichen Stadtgebiet,
die nicht zuletzt um das Thema
Nachhaltigkeit kreist.
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Beteiligung und Initiativen:
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Ausgewählte Beteiligungsverfahren
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Ausgewählte Initiativen
Übergang Industrie- zur
Wissensgesellschaft:
Seifenfabrik
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Eggenbe
Geplante Stadtautobahn durch
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Ljubljana
Budapest
Autobahn: Die Realisierung der
geplanten Stadtautobahn durch
den Bezirk Eggenberg wird 1973
durch eine Bürger/-inneninitiative
mit mehr als 35.000 Unterschriften
gestoppt.
Gürtelverlängerung: Die innerhalb
der Bevölkerung umstrittene
„Nordspange“ wird als Verlängerung
des Kalvariengürtels im Jahr 2002
eröffnet.
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Urban Graz West: Im Rahmen
des Stadtentwicklungsprojekts
wurden zwischen 2000 und 2008
neue Nutzungen für ehemalige
Industriebetriebe initiiert.
Fachhochschulcampus
FH Joanneum
H elmut-List-Halle
Start-Up Center Graz West
Stillgelegte Fabriken
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Graz vs. Wien
Was wäre, wenn … Graz so dicht verbaut worden wäre wie Wien?
Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte die Eisenbahn Europa. Mit ihr stand
ein schnelles Transportmittel zur Verfügung, das die Entwicklung der
Industrie beflügelte. Die Industrie brauchte Arbeitskräfte, die wiederum
Wohnungen benötigten.
Diese Entwicklung war sowohl in Graz als auch in Wien zu spüren. In beiden
Städten stieg die Bevölkerungszahl von 1850 bis 1910 auf das Dreibis Vierfache. Unablässig wurde parzelliert und gebaut. Die neuen Häuser
waren meist straßenseitig geschlossene Blöcke. Von außen sahen sie den
Stadtpalais des Adels ähnlich, innen enthielten sie oft nur Kleinwohnungen.
Zur Straße hin zu wohnen galt als durchaus prestigeträchtig, solange die
Straße asphaltiert und kanalisiert war.
Der Unterschied in der Bebauung von Graz und Wien liegt in der Bebauungsdichte. In Wien waren die Bauherren häufig Finanziers oder Unternehmen,
sie legten Häuserblocks mit Hinterhöfen und Betriebsgebäuden an. In Graz
wohnten die Eigentümer/-innen meist selbst in ihren Häusern. Sie pflegten
das biedermeierliche Konzept des begrünten Innenhofs. Die Häuserblocks
blieben kleiner und niedriger als in Wien. Oft wurde nicht einmal die
erlaubte Bebauungshöhe ausgenutzt. Auch heute ist Wien dreimal so dicht
besiedelt wie Graz.
Graz: Innenstadt, Murvorstadt und Neustadt
© Stadtvermessungsamt Graz
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Wien: Westliche Vorstädte und Vororte
© MA 41-Stadtvermessung der Stadt Wien
1857 war die Bahnstrecke von Wien über den Semmering
bis Triest fertiggestellt. Dass diese Verbindung über Graz ging,
ist weniger Erzherzog Johann zu verdanken als der Angst des
Hofes vor einer ungarischen Revolution (die dann auch 1849
niederzuschlagen war). Wegen dieser Befürchtung war die
ursprüngliche Trassenführung über Ungarn wieder abgeblasen
worden. Nach der Etablierung der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie freilich war die Verbindung mit Ungarn wieder
erwünscht: Der Ostbahnhof, Endpunkt der 1873 errichteten
ungarischen Westbahn, zeugt davon.
Die Gestalt
der Stadt
Alles dreht sich um die Stadt
Zwei Dinge zeichnen dieses Panorama aus: die unübliche
Perspektive – in der heutigen fotografischen Technik
als „Fischauge“ bezeichnet – und die trotz des kleinen
Formats ungeheure Detailgenauigkeit. Der als Aufnahmepunkt dienende Schloßberg kommt in der eigentlichen
Stadtansicht nicht vor, sondern steht als eigene Darstellung
im Zentrum des Bildes. Der Blick des Künstlers erfasst
die Stadt mit dem Grazer Becken und den begrenzenden
Hügelketten. Abgeschlossen wird die kreisförmige Ansicht
durch ein umlaufendes Schriftband, das die Legende zur
Darstellung liefert.
Carl Reichert: Panorama von Graz, aufgenommen vom Schloßberg, 1865
Farblithografie
GrazMuseum, Inv.-Nr. GRA05 / 00181
Verteidigung gegen innere und äußere Feinde
Die Entwicklung zur Stadt Graz, wie wir sie heute kennen,
begann mit einem Knalleffekt, und zwar 1809. In diesem
Schlüsseljahr der Stadtentwicklung wurde die Festung auf
dem Schloßberg gesprengt. Darauf bestanden die französischen Besatzer, nachdem ihnen Major Hackher unter dem
Befehl Erzherzog Johanns erbittert Widerstand geleistet hatte.
In der Folge wurden auch ein Teil der landesfürstlichen
Burg sowie – sehr früh im europäischen Vergleich – viele
der alten Wehranlagen geschleift. An ihrer Stelle entstanden
die Ringstraße und der Kern der „Gartenstadt“ Graz: die
englischen Gärten auf dem Schloßberg und im Stadtpark.
Daran anschließend entwickeln sich gründerzeitliche
Wohnviertel in Geidorf und St. Leonhard. Auf dem Gelände
des „Hofgartens“ wird der nobelste Platz von Graz errichtet,
der klassizistische Franzensplatz, heute Freiheitsplatz.
Parallel dazu werden Verkehrswege reguliert und begradigt;
moderne, große Brücken verbinden die Altstadt mit den
Bezirken Gries und Lend. Die zum Bahnhof führende Annenstraße wird angelegt. Im Umfeld der Eisenbahn siedeln
sich Industriebetriebe an. Allein zwischen 1885 und 1900
entstehen 1.800 Neubauten. – Damit ist das heutige Graz
in seinen Grundzügen festgelegt und abgeschlossen.
Das zweite und kleinere Schloßbergmodell Anton Sigls
präsentiert den überwiegend kahlen Schloßberg etwa
40 Jahre nach seiner Sprengung. Freiherr von Welden
hatte bereits begonnen, aus der früheren Festung ein
gärtnerisches Gesamtkunstwerk zu machen. Darüber
hinaus sind auf dem Hochplateau die rudimentären
militärischen Befestigungen zu sehen, die die Staatsmacht angesichts der Unruhen von 1848 anlegen ließ.
Noch ein letztes Mal sollte der Schloßberg kriegerischen
Zwecken dienen, als auf seinem Rücken im Zweiten
Weltkrieg Fliegerabwehrkanonen aufgestellt wurden.
Anton Sigl: Kleines Schloßbergmodell, 1850
Holz, Pappmaché, Farbe
GrazMuseum, Inv.-Nr.OBJ05 / 00262
Ein Leben für den Stadthügel
Anton Sigl (1776–1863) stammte aus der Südsteiermark
und war als ständischer Kanonier und Feuerwächter
auf dem Grazer Schloßberg beschäftigt. In seiner Freizeit
schuf er aus Pappmaché und Holz zwei plastische
Modelle des Schloßbergs, die uns bis heute überaus
wertvolle historische Hinweise zur baulichen Geschichte
des Grazer Stadthügels liefern. Das sogenannte „große
Modell“ des GrazMuseums steht zur Zeit im Glockenturm: Es zeigt den Zustand der Befestigungsanlagen vor
der Zerstörung durch die Franzosen 1809.
Porträt Anton Sigl, um 1800
Öl auf Leinwand
Graz, Universalmuseum Joanneum, Alte Galerie, Inv.-Nr. 1238
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Der Blick des Malers findet nach Hause
Dieses Bild ist Teil eines sechsteiligen Panoramas der
Stadt vom Schloßberg aus. Wie beim Temperagemälde
der „Neuerbauten Kettenbrücke“ geht auch hier der
Blick über das Glockengießerhaus Richtung Nordwesten.
Neu hinzugekommen ist die ab 1839 erbaute Militärschwimmschule. Die Kettenbrücke war eine der ersten
ihrer Art auf dem Gebiet der Monarchie, sie galt als
technische Pionierleistung. Wohl auch, weil Conrad
Kreuzer mit seiner Familie lange Jahre im lendseitigen
Ankerhaus wohnte, taucht die Brücke immer wieder
in seinem Werk auf.
Conrad Kreuzer: Blick vom Schloßberg nach Nordwesten mit der Kaiser
Ferdinand-Kettenbrücke und der Militärschwimmschule, 1841
Tempera auf Papier
GrazMuseum, Inv.-Nr. MAL06 / 00806
Momentaufnahmen der Stadtentwicklung
Heute gilt es als nahezu sicher, dass diese Aufnahmen
Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag der Stadt Graz
angefertigt wurden, um die rasanten Veränderungen im
Stadtbild zu dokumentieren. Entgegen der Fokussierung
auf den historischen Baubestand der Inneren Stadt,
machte Leopold Bude (1840–1907) von den über 400
uns heute bekannten Fotografien fast zwei Drittel in
den Außenbezirken. Schon zuvor hatte Bude sich als
Porträt- und Kunstfotograf einen Namen gemacht
und besaß in der heutigen Girardigasse das größte Fotoatelier der Steiermark.
Leopold Bude: Grenadiergasse und Lazarettgasse, 1893
Fotografien
GrazMuseum, Inv.-Nr. FOT05 / 01359 und GDF-B105 / G
Die offene Stadt wird grün
Unter Landesbaudirektor Martin Kink wurden baulich
abgrenzende Stadtmauern und Stadttore niedergerissen.
Teile des zugeschütteten Stadtgrabens wurden zur
Ringstraße umgestaltet und für das einst militärisch
genutzte Glacis erstellte man ein Parkkonzept. Damit
sollte Graz sein mittelalterliches Aussehen ablegen,
sich modernisieren und verschönern. Kink zeichnete
auch für die Verbauung rund um das demolierte Neutor
verantwortlich, wo die Errichtung des Erzherzog-JohannDenkmals geplant war.
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Erweiterungsprojekt der Stadt Graz zwischen dem Neutor und der Mur
nach Kink, 1863
Plan (Reproduktion, Original: 41 x 34,2 cm)
Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. Baupläne Graz M6 / 130
Die Industrielle Revolution ging
in Graz, auch wegen der unterentwickelten Verkehrsverhältnisse,
zunächst nur sehr langsam
vonstatten. Die Universitäts- und
Verwaltungsstadt blieb lange
von Klein- und Mittelbetrieben
geprägt. Die um 1850 einsetzende
Industrialisierung war aber dennoch
die Grundlage dafür, dass sich die
Einwohner/-innenzahl bis 1900
fast verdreifachte. Die heute für
Events genutzte Seifenfabrik im
Arbeiterbezirk Liebenau ist ein
industriehistorisches Denkmal.
Aber Graz hatte zu keiner Zeit
den eindeutigen Charakter einer
Industriestadt.
Das Eigene
und das Fremde
Obgleich Staatskanzler Metternich nach Kräften versuchte,
ihn zu unterdrücken, lebte der liberale Geist auch im
biedermeierlichen Vormärz, der Zeit bis zur Märzrevolution
von 1848, weiter. Doch der Liberalismus, für den auch
Erzherzog Johann stand, prägte den Denkstil der Gebildeten
in den Freimaurerlogen, den Akademien, Salons und
Lesezirkeln. Die zweite Zielscheibe des Metternichschen
Polizeistaats war der Nationalismus: unvereinbar mit den
vielen Völkern der habsburgischen Monarchie.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wuchs Graz industriell nach Westen gegen
die Bahn zu. Damit formierte sich die Stadt
endgültig in zwei Hälften: jenseits der Mur
Kleinhandwerker/-innen, Kleinbürger/-innen
und Arme und noch weiter westlich – rund
um die Fabriken – die Quartiere der Arbeiter/innen. Im Osten das Besitz- und Bildungsbürgertum, das sich sein religiöses Zentrum
mit der Herz-Jesu-Kirche schuf. Ihr westliches Gegenstück ist die 1895 geweihte
Vinzenzkirche in Eggenberg, das damals
außerhalb der Stadt lag.
1848 wurde Metternich hinweggefegt, nationale Selbstbestimmung immer lauter gefordert. Die Frankfurter Nationalversammlung wählte Erzherzog Johann, den populären
Metternich-Gegner, zum Reichsverweser. Ein deutscher
Nationalstaat einschließlich der Steiermark sollte entstehen.
Doch Johann musste sein Amt schon nach eineinhalb
Jahren niederlegen.
Nach 1850 konkurrierten zwei Zentren um den Anspruch,
Deutschland politisch neu zu organisieren: die preußische
Union und der österreichisch dominierte Deutsche Bund.
Dies trug später dazu bei, dass viele deutschsprachige Bürger/innen ihre nationalen Hoffnungen in Preußen setzten – nicht
nur in Graz, der später „deutschesten Stadt“ der Monarchie.
Vorsicht, Zigeuner!
Ein Platz wird deutscher
Dieses kriminologische Erkennungsbild tarnt sich
hinter wissenschaftlicher und fotografischer Objektivität, um die menschenverachtende Perspektive des
Herrenmenschen auf die zu überwachenden Zigeuner
zu verschleiern. Neben „Hausiererjuden“ zählten
nicht-sesshafte Roma und Sinti stets zu den Prototypen unerwünschter Landstreicher/-innen. Sie
bildeten die größte europäische Minderheit und wurden
in Teilen Europas bis ins 19. Jahrhundert hinein als
Sklaven und Sklavinnen gehalten. Sie wurden diskriminiert, vertrieben, verfolgt und ermordet – wie am
Grazer Stadtrand 1938 von den Nationalsozialisten.
Der Platz am Ende der südlichen Herrengasse musste sich
schon einige Namensänderungen gefallen lassen.
Ursprünglich nach dem damals noch bestehenden Stadttor schlicht Eisenthorplatz genannt, wurde er zunächst
in Auerspergplatz und 1899 in Bismarckplatz umbenannt.
Schon im Jahr zuvor hatte man gesehen, wie groß der
Einfluss der Deutschnationalen in der Gemeindestube
geworden war, als zum 50-jährigen Regierungsjubiläum
des österreichischen Kaisers am Rathaus nicht die
schwarz-gelben Fahnen Österreichs, sondern die schwarzrot-goldenen Deutschlands vorherrschten.
Profile von Zigeunerinnen, um 1900
Fotografien auf Karton
Hans Gross Kriminalmuseum, Universitätsmuseen der Universität Graz,
Inv.-Nr. 641 Zig.
In der „deutschesten“ Stadt
Als der österreichische Ministerpräsident Badeni 1897
zwei Sprachverordnungen verkündete, durch die in
Böhmen und Mähren die Zweisprachigkeit aller Behörden
eingeführt werden sollte, kam es auch in Graz zu
Ausschreitungen. Sie konnten nur durch den Einsatz
des bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments
Nr. 2 beendet werden, dessen Angehörige vor allem
an ihrer exotischen Kopfbedeckung, dem Fez, zu
erkennen waren. Da sie kein Deutsch sprachen, war die
Gefahr gering, dass sie sich mit den deutschnationalen
Demonstranten verbrüdern würden.
Fez, Ende 19. Jh.
Filz
GrazMuseum, Inv.-Nr. MIL05 / 02550
Grazer Bürger träumen von Baumwollfeldern
Die fantasievolle Darstellung der Baumwollpflanze
an einer tropischen Küste und die Verladung von Baumwollballen weisen auf die Produktpalette der ehemaligen
„Current- und Modewarenhandlung Geymayer“ im Haus
Luegg am Hauptplatz 11 hin. Kleider, Bänder, Stoffe
und modische Accessoires wurden in dem Geschäft
verkauft, das sich diese künstlerisch hochwertige Form
einer Geschäftstafel leistete.
Firmenschild „Zum Wollbaum“, um 1850
Öl auf Eisentafel
GrazMuseum, Inv.-Nr. MAL06 / 00791
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Hinweisschild Bismarckplatz, o. J.
Gusseisen lackiert
GrazMuseum, Inv.-Nr. OBJ05 / 00183
Die Revolution in Ketten
Ein Jurist und Ehrenbürger der Stadt Graz setzte sich
in der heftig diskutierten Sprachenfrage für die Rechte
der slowenischen Bevölkerung ein. Vincenz Emperger,
der Sprecher der Grazer Kleinbürger/-innen, nahm auch
am blutigen Ende der Revolution in Wien teil, was ihm
eine Verurteilung zu 18 Jahren Festungshaft einbrachte,
von denen er zwei Jahre auf dem berüchtigten Spielberg
in Brünn absaß. 1858 wurde er begnadigt und
rehabilitiert. Er starb 1867 als Rechtsanwalt in Graz.
Ignaz Preisegger: „Dr. Vincenz v. Emperger Sprecher der Grazer Bürger
am 15. und 16. März 1848“, 1848
Lithografiert bei Josef Franz Kaiser
GrazMuseum, Inv.-Nr. GRA05 / 08039
Von Dr. Vincenz von Emperger in der Haft getragene Hand- und Fußfessel,
Mitte 19. Jh.
Eisen, geschmiedet
GrazMuseum, Inv.-Nr. OBJ06 / 00730
Fürs deutsche Vaterland
Die riesige Festhalle aus Holz – 50 Meter breit, 21,5
Meter hoch und fast 100 Meter lang – wurde für
das Deutsche Sängerbundfest auf dem Festplatz hinter
der Industriehalle in der Fröhlichgasse errichtet.
Für einige Tage im Sommer 1902 war Graz nach der
Zeit als Kaiserresidenz im Mittelalter wieder Mittelpunkt
der deutschen Lande. Über 15.000 Sänger und 200.000
Zuschauer/-innen nahmen an dem deutschvölkischen
Ereignis teil. Nach Ende der Veranstaltung wurde die Halle
wieder vollständig abgetragen.
Oskar Seitz: 6. Deutsches Sängerbundfest, 1902
Fotografie
GrazMuseum, Inv.-Nr. FOT05 / 00473
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Das
stadtbürgerliche
Projekt
Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bürgertums.
Adel und Klerus verlieren ihre Privilegien, die bürgerlichen
Ideale werden Realität. Die Gleichheit als Gleichheit vor
dem Gesetz wird bald selbstverständlich, die politische
Gleichberechtigung des Bürgertums wächst. Die Freiheit
als Person und die Freiheit des Eigentums schaffen wichtige
Voraussetzungen für die Entwicklung des Kapitalismus.
Und die Brüderlichkeit schließlich verwirklicht sich im
Recht – als Schutz der Schwachen vor den Übergriffen der
Mächtigen. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der
Industrialisierung und die Stadt der Ort, wo sie wesentlich
vonstatten geht. In Graz ist es Erzherzog Johann, der als
Bürger den Startschuss dafür gibt. Das von ihm begonnene
„bürgerliche Projekt“ erfasst bald alle Ebenen des Lebens:
Politik, Kultur, Wirtschaft, Bildung und Infrastruktur.
An der Wende zum 20. Jahrhundert gehörten die Jugendstilbauten des
Grand Hotel Wiesler, des Hotels Erzherzog Johann oder des Großkaufhauses
Kastner & Öhler zu den wenigen Zeichen internationaler Modernität.
Eine weitere Manifestation war das auch überregional sehr beachtete Landeskrankenhaus. Wegen seiner stadtfernen Lage zunächst bekämpft, wurde die
ausgedehnte Anlage im Pavillonsystem mit unterirdischen Verbindungsgängen
wegen ihrer überlegenen Funktionalität und sezessionistischen Ornamentik
rasch angenommen.
Doch schon bald nach der Gründerzeit der 1870er- und
1880er-Jahre ist die große Zeit des liberalen Bürgertums
vorüber. Der Kapitalismus produziert einen doppelten
Boden. Unter der scheinbaren Rationalität der kapitalistischen Wirtschaftsordnung formiert sich ein Kleinbürgertum, das sich von dieser bedroht fühlt. Es reagiert mit
der Entwicklung einer Gegenwelt, die klein, überschaubar
und voller Feindbilder ist.
Graz gibt Gas
Denk mal, ein Brunnen!
1846 wurde von der „Germanischen GazbeleuchtungsGesellschaft“ mit Sitz in Paris das erste Gaswerk in
Graz auf der sogenannten „Kühtratte“ zwischen dem
heutigen Schönaugürtel und der Steyrergasse in Betrieb
genommen. Das Gas wurde aus der Vergasung von Kohle
gewonnen, weshalb man das Werk außerhalb der Stadt
errichtete. Bis 1900 wurde das Gebiet jedoch dicht
verbaut und die Bewohnerinnen und Bewohner beklagten
die Beeinträchtigung durch Rauch und Gestank. Erst
1940 wurde in Rudersdorf ein neues Gaswerk errichtet.
Der Erzherzog-Johann-Brunnen am Hauptplatz wurde
am 8. September 1878 in Anwesenheit des Kaisers
enthüllt. In diesem Denkmal treffen sich zwei ursprünglich völlig getrennte Initiativen: das Legat eines Grazer
Adeligen für einen Monumentalbrunnen am Hauptplatz
und die Idee, Erzherzog Johann am Platz vor dem
Eisernen Tor ein Denkmal zu errichten. Ein Grazer
Gemeinderat vereinte beide Projekte zu einem Kompromiss: Dem Denkmal mussten nur noch Wasserspeier
und Auffangbecken hinzugefügt werden und der
Erzherzog-Johann-Brunnen am Hauptplatz war fertig.
Josef Kuwasseg: Das erste Gaswerk in Graz, 1846
Aquarell
GrazMuseum, Inv.-Nr. GRA05 / 01303
Fast adelig, beinahe heilig
Beer & Mayer: Enthüllungs-Feierlichkeit Erzherzog Johann-Monument,
08.09.1878
Fotografie
GrazMuseum, Inv.-Nr. FOT05 / 00400
Die Familie Rochel zählte zu den alteingesessenen
Kaufmannsfamilien in Graz. Ihre Aufstellung
erinnert an Darstellungen der Heiligen Familie:
Mutter und Kind ähneln Maria und Jesus. Der Mann
steht als Familienoberhaupt hinter ihnen. Das auf
dem Tisch stehende Goldgefäß, der Teppich wie
auch der exotische Papagei spiegeln den Reichtum
der Familie wider und könnten ein Verweis auf ihre
Handelsbeziehungen in ferne Länder sein. Durch
Schmuck, Kleidung und den roten Vorhang wird die
Selbstdarstellung des Adels imitiert.
Die Revolution spricht Deutsch
Paul Künl: Die Kaufmannsfamilie Rochel in Graz, um 1850
Öl auf Leinwand
GrazMuseum, Inv.-Nr. MAL05 / 00583
Aufruf an die Bewohner der Stadt Gratz von Graf Wickenburg, 1848
Druck auf Papier
GrazMuseum, Inv.-Nr. ARC05 / 370
1848 kam es in vielen europäischen Städten zu bürgerlichen Revolutionen. Zwar wurde auch in Graz
demonstriert, aber es blieb zunächst vergleichsweise
ruhig. Die zeitweilige Aufhebung der Pressezensur
sorgte kurzfristig für eine Vielzahl regierungskritischer
Gedichte und Zeitschriften. Eine Folge des Jahres
1848 war die Gründung studentischer Verbindungen.
In Graz erstarkte die deutsch-nationale Bewegung mit
dem Ziel der „deutschen Einheit“.
Arbeitnehmer Nestroy
Johann Nestroy begann seine Karriere am ständischen
Schauspielhaus in Grätz. Er war hier von 1826 bis
1831 fix engagiert und ging vom Bassbariton der Oper
zum musikalischen Sprechtheater über. Theater in
Städten wie Graz waren zu dieser Zeit die Unternehmen
mit den meisten Beschäftigten. Erst später kamen
Zuckersiedereien oder Brauereien hinzu. Kaufleute und
Bankiers machten im Biedermeier noch größere Gewinne
als Fabrikanten. Als Nestroy 1859 in Graz starb, hatten
die Theater als große Arbeitgeber bereits Konkurrenz von
der Industrie bekommen.
Johann Nestroy als Jupiter, um 1860
Holzstatuette, gefasst, Stoffbespannung
GrazMuseum, Inv.-Nr. SKU05 / 00102
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Die feinen
Unterschiede
Die Glanzzeit von Stadt und Bürger/-innen kam mit der
Industrialisierung. Das gebildete und vermögende Bürgertum
wurde zur tonangebenden gesellschaftlichen Größe.
Viele Städte erreichten eine Bevölkerungszahl und eine
Ausdehnung wie nie zuvor.
1885 wandelte sich Graz von einer bürgerlichliberalen zur „deutschesten Stadt der
Monarchie“. Bürgermeister Franz Graf war ein
in allen „deutschen Landen“ gefeierter
Held gewaltsamer Demonstrationen, die als
Rassenkampf der Germanen gegen die Slawen
inszeniert wurden. Bei Repräsentationsbauten,
wie dem Städtischen Amtshaus von 1904,
ist das „Nationale“ direkt oder indirekt Hintergrund einer Baugesinnung, die alle Stile
(alt-)deutsch zu deklinieren wünscht. Liberale
bevorzugten die Renaissance, Deutschnationale
die Gotik.
Menschen zogen in die Stadt, um Arbeit zu finden. Weil
Wohnraum fehlte, wurde neu gebaut – oft nur notdürftige
Unterkünfte. So entstand unter der dünnen Schicht des
wohlhabenden Bürgertums eine große Mehrheit, die
unter ärmlichen Verhältnissen den Wohlstand der Wenigen
sicherte. Der Weg zur sozialen Revolution war vorgezeichnet:
Arbeiterinnen und Arbeiter organisierten sich, um
gerechte Entlohnung, gerechte Arbeitszeiten und eine
Grundversorgung zu fordern.
Weil viele Männer schlecht bezahlt wurden, mussten mehr
Frauen arbeiten – oft für einen noch geringeren Lohn.
Doch die Arbeit in Büro oder Fabrik, die städtische Umgebung
überhaupt, eröffneten ihnen Freiheiten, die etwa für Hausangestellte undenkbar waren. Die neue Aufbruchstimmung
befeuerte eine Vielzahl von Gruppierungen, die sich für mehr
Rechte und Selbstbestimmung für Frauen einsetzten.
Industrialisierung auf Schiene
Die Frau des Mittelstands kocht
Johann Weitzer (1832–1902) eröffnete 1854 eine
Wagenschmiede in Graz, in der er mit drei Gesellen
Kutschen fertigte. 1861 verlegte er seine mittlerweile
groß gewordene Wagenfabrik in die Nähe des Bahnhofs und produzierte fortan Eisenbahnwaggons. Weitzer
war damit einer der Ersten in Graz, die das Potenzial
der Eisenbahn erkannten und ihre Fabriken darauf
ausrichteten. In der Folge ließen sich zahlreiche große
Industriebetriebe entlang der Bahn nieder. Durch
die Ansiedelung und Beschäftigung tausender Arbeiter/innen entwickelte sich hier in den darauffolgenden
Jahrzehnten ein Arbeiterbezirk.
Bis 1957 erschien „Die süddeutsche Küche“ oder
„Die große Prato“ in 80 Auflagen und in 16 Sprachen
übersetzt. Die Autorin des populären Kochbuchs
Katharina Pratobevera sammelte Kochrezepte und gab
neben einer Kochanleitung auch Rat zu Haushaltsführung und Benehmen von Hausfrauen des Mittelstandes.
Dass sie auch heute noch eine der bekanntesten
Grazer Frauen ist, hat zum einen mit ihrer bürgerlichen
Herkunft und zum anderen mit der großen Popularität
von Kochbüchern zu tun.
Wagen- und Maschinenfabrik Joh. Weitzer in Graz, o. J.
Papier (Reproduktion, Original: 47,8 x 59,3 cm)
Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. OBS Graz I G B 6 C 001
Frauen im Kontor
Die angespannte finanzielle Situation vieler bürgerlicher
Familien machte es notwendig, dass junge Frauen
vor ihrer Heirat arbeiten mussten – zum Beispiel als
„Stenotypistin“ bzw. Schreibkraft. Sobald eine größere
Zahl von Frauen in diesem Beruf arbeitete, verlor er
an Ansehen und wurde schlechter bezahlt – ein Umstand,
der typisch für weibliche Büroberufe war. Aber die
arbeitenden Frauen begannen, sich zu organisieren. Parallel zu den Arbeiter/-innenbildungsvereinen entstand
die bürgerliche Frauenbewegung.
Frauenarbeit im Büro der Farbenfabrik Zankl, 1912
Fotografie
GrazMuseum, Inv.-Nr. 659 / 82-64
Sportliche Emanzipation
Radfahren war für Frauen zunächst umstritten, galt
es doch für bürgerliche Frauen – und nur für jene
kam das teure Sportgerät in Frage – als unschicklich,
öffentlich Anstrengung, ein verschwitztes Gesicht,
Knöchel oder gar Waden zu zeigen. Auch die Mode –
bodenlange Kleider mit Korsett – war für das Radfahren eher hinderlich. 1893 wurde unter anderem von
Elise Steiniger und Vicenza Wenderich der DamenBicycle-Club gegründet, in dem sich die Frauen und
Töchter der Herren des Grazer-Bicycle-Clubs trafen.
Erster Grazer-Damen-Bicycle-Club
Wiener Mode, Heft 11, XIV. Jg., 1. März 1901, S. 444–445
GrazMuseum, Inv.-Nr. 710
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Portrait Katharina Pratobevera, 1846
Öl auf Karton
Kulturamt Graz
Die ersten Studentinnen der Steiermark
Ab 1897 waren Frauen an der Philosophischen Fakultät
zum Studium zugelassen. Oktavia Rollett, Tochter
des Rektors der Universität, war im Jahr 1900 genauso
wie Maria Schuhmeister eine der ersten ordentlichen
Studentinnen in Graz. 1905 schloss sie ihr Medizinstudium mit Auszeichnung ab. Als erste praktizierende
Ärztin in der Steiermark war sie sehr beliebt und
behandelte oftmals auch kostenlos. Aigner-Rollett
engagierte sich in zahlreichen Vereinen der bürgerlichen
Frauenbewegung.
Maria Schulmeister und Oktavia Aigner-Rollett bei Institutsarbeiten während
ihrer gemeinsamen Studienzeit in Graz 1900 –1905
Foto auf Metall (Reproduktion, Original: 9 x 7 cm)
Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Inv.-Nr. A-Aigner Reinhold K10 H108
Bildung für Hausfrauen und Mütter
Die Initiative für ein Mädchenlyzeum in Graz ging von
Männern und Frauen des Bürgertums und niederen
Adels aus, die liberal und antiklerikal eingestellt waren.
Ihre Töchter sollten durch einen allgemeinen, eher
geisteswissenschaftlichen Unterricht zu gebildeten Hausfrauen und Müttern erzogen werden. 1885 wurde
das Lyzeum in die städtische Verwaltung übernommen.
Der Besuch des sechsklassigen Lyzeums berechtigte
allerdings nicht zum Studium an der Universität.
Lehrplan des Mädchenlyzeums, 1901
Tinte auf Papier (Reproduktion, Original: 34 x 31,1 cm)
Stadtarchiv Graz, Faszikel Mädchenlyzeum 6 / 1894 / 96457
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Graz ist weiblich und dient
Innerhalb von rund sechzig Jahren verdreifachte sich im
19. Jahrhundert die Grazer Einwohner/-innenzahl vor
allem durch Arbeitsmigration. Die vielen Dienstbotinnen
machten Graz mehrheitlich weiblich. Der zweisprachige
Ausweis verweist zudem auf eine mehrsprachige Steiermark. Dennoch lässt sich die Angst vor Überfremdung
nicht durch Anteil oder Einfluss slowenischsprachiger
Grazer/-innen erklären. Diese machten laut Volkszählung
lediglich wenige Prozent aus und gehörten fast alle
ärmeren Bevölkerungsschichten an.
Dienstbotenausweis slow. / dt., 1898
Papier gebunden
„recycled history“ – Sammlung Joachim Hainzl
Der Feuerwehrmann als Maler
Die insgesamt neun Teile umfassende Serie an Brandbildern wurde vermutlich von einem Feuerwehrmann
angefertigt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lag der
städtische Feuerlöschdienst in der Hand der
landständischen Kanoniere und der Rauchfangkehrer.
Mehrere Großbrände sowie die Einstellung der bisherigen
Brandalarmierung durch Kanonenschüsse vom
Schloßberg aus veranlassten den Grazer Magistrat,
ein eigenes „Pompier-Korps“ aufzustellen.
Schielden: Hauptansicht des Brandes im Feldhof 1891, Brand der Fabrik
Weitzer 1899, Brand der Mälzerei der Bierbrauerei von Reininghaus 1890
Buntstift auf Papier
GrazMuseum, Inv.-Nr. GRA06 / 10071; GRA06 / 10058; GRA06 / 10055
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Das private Wohnhaus, nicht zur Siedlung gruppiert, sondern in positiver
Beziehung direkt an die öffentliche Straße angrenzend, dieses urbane
Muster der Gründerzeit hat laut Immobilienpreisspiegel nach wie vor die
größte Nachfrage. Den Gipfel stellt das Viertel um die Herz-Jesu-Kirche
dar, jenen neofrühgotischen Rohziegelbau von Georg Hauberisser d. J.,
der den gutbürgerlichen, östlichen Teil der Stadt städtebaulich beherrscht. Sein 1887 vollendeter Südwestturm gehört zu den höchsten
des heutigen Österreich.
Aus Gründen des Umweltschutzes stellt das
GrazMuseum diese Broschüre unter
www.grazmuseum.at auch als PDF zur Verfügung.
www.grazmuseum.at