Mir troumt hînaht ein troum

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Mir troumt hînaht ein troum
Schriften der Wiener Germanistik
Band 4
Herausgegeben von
Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer,
Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Benjamin van Well
Mir troumt h„naht ein troum
Untersuchung zur Erzählweise von Träumen in
mittelhochdeutscher Epik
Mit einer Abbildung
V& R unipress
Vienna University Press
®
MIX
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ISBN 978-3-8471-0533-6
ISBN 978-3-8470-0533-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0533-3 (V& R eLibrary)
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Veröffentlichungen der Vienna University Press
erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.
Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2015
Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de
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Titelbild: Die Träume Kaiser Karls, in: Pfaffe Konrad: Rolandslied. Regensburg/Hessen-Thüringen
(?). Handschrift, Ende 12. Jh. Cod. Pal. germ. 112. Seite 14v. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/
cpg112/0084.
Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Lingshan und Meihan
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Forschungsdefizite und Forschungsdiskussion . . . . . . . . . . .
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IV.
Methodik . . . . . . . . . . . . . . .
IV.1 Figurenlogische Orientierung
IV.2 Progressionsorientierung . .
IV.3 Aussageorientierung . . . . .
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V.
Aufbau der einzelnen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Analyseteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.1 Antikenroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.1.1 Der Traum der Olympias im Alexanderroman des
Pfaffen Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Text: Der Alexanderroman des Pfaffen
Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Traum der Olympias . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung und
Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . .
6. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Drachenauge . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Greifenauge . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
VI.1.2 Alexanders Traum im Alexanderroman des Pfaffen
Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Traum Alexanders . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Progressionsorientierung und figurenlogische
Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Traumvorstellung und Aussageorientierung . . . .
5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.2 Brautwerbungsdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.2.1 Der Falkentraum König Konstantins im König Rother
1. Der Text: König Rother . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Traum König Konstantins . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Progressionsorientierung und figurenlogische
Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Traumvorstellung und Aussageorientierung . . . .
6. Traumbild und Aussageorientierung . . . . . . . .
7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.2.2 König Sinolds Todestraum im Orendel . . . . . . . .
1. Der Text: Orendel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Traum König Sinolds . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung und
Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . .
5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Raumsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Rabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.3 Chanson de geste: Die Träume Karls im Rolandslied des
Pfaffen Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Text: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad . . .
2. Die Träume Karls . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung . . . . . . . . . . . .
5. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Raumsemantik und atmosphärische
Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Karls erster Traum . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 Karls zweiter Traum . . . . . . . . . . . . . .
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9
Inhalt
6.4 Karls dritter Traum . . . . . . . . . . . .
6.5 Karls vierter Traum . . . . . . . . . . . .
7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.4 Heldendichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.4.1 Die Träume Kriemhilds und Uotes im
Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Text: Das Nibelungenlied . . . . . . . . . .
2. Die Träume Kriemhilds und Uotes . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung oder
Progressionsorientierung? . . . . . . . . . . .
5. Traumvorstellung: Determinierter Untergang .
6. Traumbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . .
8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.4.2 Helches Drachentraum in der Rabenschlacht . . .
1. Der Text: Die Rabenschlacht . . . . . . . . . .
2. Helches Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung und
Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . .
5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . .
6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.4.3 Herbrants Adler-Traum im Wolfdietrich D . . . .
1. Der Text: Wolfdietrich D . . . . . . . . . . . . .
2. Herbrants Traum . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung und
Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . .
5. Traumvorstellung und Aussageorientierung . .
6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.4.4 Sidrats Löwentraumerzählung im Wolfdietrich D .
1. Einbettung des Traums in den Wolfdietrich D .
2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Figurenlogische Orientierung und
Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . .
4. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . .
6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
VI.5 Artusepik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.5.1 Der Traum der Herzeloyde im Parzival Wolframs
von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Text: Wolframs von Eschenbach Parzival . . .
2. Herzeloydes Traum . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figurenlogische Orientierung und
Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . .
5. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Aussageorientierung und Traumbilder . . . . . . .
7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.5.2 Iweins Traummonolog in Hartmanns von Aue Iwein .
1. Der Text: Hartmanns von Aue Iwein . . . . . . . .
2. Iweins Traummonolog . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Figurenlogische Orientierung,
Progressionsorientierung und
Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Zusammenfassung und Reflexion . . . . . . . . . .
VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Typen des literarischen Traums . . . . . . . . . . .
1.1 Typen des mantischen Traums . . . . . . . .
1.1.1 Unheils- und Untergangsträume . . . . . . .
1.1.2 Politische Träume und Traumbefehle . . . . .
1.1.3 Strategisch erfundene Träume . . . . . . . .
1.2 Protopsychologische Träume und Träume
avant la lettre . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Traum und Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Traum und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Raumsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Anwesenheit und Abwesenheit des
Traumempfängers im Raum . . . . . . . . . . . . .
6. Zur Plausibilität von Traum und Figurenverhalten
am Beispiel von Unheilsträumen . . . . . . . . . .
7. Traum und Handlungsprogression . . . . . . . . .
8. Traumempfänger : Wer träumt? . . . . . . . . . . .
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Inhalt
VIII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . .
VIII.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . .
VIII.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . .
VIII.3 Lexika mit Abkürzungsverzeichnis
VIII.4 Wörterbücher . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Das vorliegende Buch wurde im Juni 2015 vom Fachbereich für Philosophie und
Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Es stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Studie zur
Erzählweise von Träumen in mittelhochdeutscher Dichtung dar. Die Idee für
diese Arbeit geht auf ein Seminar zum Rolandslied des Pfaffen Konrad zurück,
das der leider früh verstorbene Prof. Dr. Christoph März im Wintersemester
2003/2004 leitete. In einer Sitzung ging es um die Träume Kaiser Karls. Seither
haben mich literarische Träume fasziniert und ich beschloss, mich mit diesem
Motiv eingehender zu beschäftigen. Von der Anmeldung der Dissertation im
Jahr 2009 bis zur Verteidigung vergingen fast sechs Jahre. Insbesondere mein
zweijähriges Referendariat zwang mich mehrfach dazu, meine Arbeit an der
Dissertation abzubrechen. Mein anschließender Umzug nach Peking schränkte
die Literatursuche zunächst ein. Dennoch liegt die Arbeit nun vor, und das ist
vielen Menschen zu verdanken. Bedanken möchte ich mich zuallererst bei Frau
Prof. Dr. Elke Koch, die mich in langen Gesprächen in ihrem FU-Büro, am
Telefon, über Skype und E-Mail unermüdlich beraten und hervorragend betreut
hat. Ebenso gilt mein großer Dank meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Matthias
Meyer von der Universität Wien, der mich von Anfang an mitberaten, mir viele
wichtige Hinweise gegeben und mir Prof. Dr. Elke Koch als Betreuerin vermittelt
hat. Mein Dank gilt insbesondere auch Maribel Zarco und Marc Helbach, die den
gewaltigen Aufwand auf sich genommen haben, mir die wichtigen Aufsätze und
Monographien einzuscannen und zuzuschicken, mir die Bibliothek sozusagen
nach Hause gebracht haben, sodass ich ohne Einschränkungen an meiner Dissertation im Ausland schreiben konnte. Ich bedanke mich zudem bei Dr. Ulrich
Eschborn, Selma Saǧman und Ursula Moureau-Martini, die meine Arbeit Korrektur gelesen haben. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung meiner
Arbeit danke ich meiner Mutter Sibylle van Well und meiner Großmutter Sabine
van Well. Meiner Frau Liu Lingshan und meinen Schwiegereltern Song Minyi
und Liu Jiansheng danke ich für ihre geduldige und liebevolle Unterstützung in
allen Lebenssituationen in China und dafür, dass sie mir stets den Rücken
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Danksagung
freigehalten haben, sodass ich auch neben dem Beruf genug Zeit hatte zu
schreiben. Gewidmet ist die Arbeit meiner Frau Lingshan und meiner Tochter
Meihan.
Benjamin van Well
Peking im August 2015
I.
Einleitung
Der Traum stellte als menschlich universelles Phänomen schon immer ein
Faszinosum dar, und so beschäftigte man sich kulturübergreifend mit diesem
Phänomen über die Jahrtausende hinweg. Schon immer gab der Traum den
Menschen Rätsel auf, sein Zustandekommen wurde unterschiedlich erklärt. Man
deutete ihn etwa mantisch. Er eröffne, so glaubte man, den Zugang zu einer
anderen Welt, zum Jenseits. Man sprach ihm prophetische Bedeutung zu, sah in
ihm überirdische Botschaften, Nachrichten höherer Wesen, numinoser Mächte,
der Götter bzw. des christlichen Gottes, von Engeln, vom Teufel, von Dämonen,
von Verstorbenen, von Heiligen, die mit der vom Körper losgelösten Seele des
Schlafenden in Kontakt treten. Auch Planetenkonstellationen hätten Einfluss auf
Träume, glaubte man. Ebenso führte man den Traum aber auch seit der Antike
auf natürliche Vorgänge zurück, auf Körperliches wie Seelisches, er entstehe im
Zusammenhang mit Tageserlebnissen, Verdauungsprozessen, dem Mischungsverhältnis der Körpersäfte oder auch Weinkonsum.
Die Auseinandersetzung mit Träumen dokumentiert sich in Traumbüchern,
traumtheoretischen Schriften und in der Dichtung. Älteste Traumbücher lassen
sich schon für die altägyptische Zeit (2. Jt. v. Chr.) belegen. Über die Jahrtausende hinweg setzte man sich im Rahmen solcher Schriften intensiv mit der
Deutung von Träumen und Traumsymbolen auseinander. Artemidors (2. Jh.
n. Chr.) Oneirocritica stellten hier einen Höhepunkt dar. In den Jahrhunderten
danach entstanden dann die byzantinischen Traumbücher. Besonders populär
war das Somniale Danielis, das auch im Abendland rezipiert wurde.1
Vor allem in der griechischen Antike begannen zahlreiche Philosophen aber
auch Ärzte, Traumtheorien und Traumquellenmodelle zu entwickeln. Breite
Wirkung hatte dabei vor allem das Klassifikationsschema des Poseidonis von
Apameia (135–51/50 v. Chr.). Später wurden solche Modelle von römischen
1 Vgl. zur Traumbuchtradition etwa Grub, Jutta: Die Sprache(n) der Träume. Traumbücher und
Traumdeutungspraxis im Mittelalter. In: L’immaginario nelle letterature germaniche del
medioevo. Hrsg. von Adele Cipolla. Milano 1995, S. 135–174.
16
Einleitung
Philosophen übernommen, weiter ausdifferenziert, auch in christlicher Zeit
weitergeführt und immer wieder neu durchdacht und modifiziert, so etwa von
Tertullianus, Augustinus oder Macrobius. Traditionslinien lassen sich bis ins
Mittelalter und in die frühe Neuzeit verfolgen.2
Träume bilden ein weltliterarisches Motiv. In den ältesten Dichtungen der
Menschheitsgeschichte, etwa im Gilgamesch-Epos (ca. 15. Jh. v. Chr.) oder in
Homers Ilias und Odyssee (Ende des 8. Jhs. v. Chr.), finden sich Traumerzählungen, ebenso in der Bibel. Der Traum wurde in Dichtungen verschiedener
Jahrhunderte immer wieder als literarisches Motiv aufgegriffen. Besonders
populär und gattungsübergreifend weit verbreitet ist er in der mittelhochdeutschen Dichtung.
In dieser Arbeit geht es um die Auseinandersetzung mit Träumen in der
erzählenden Dichtung des Mittelalters. Betrachtet werden Traumerzählungen
aus verschiedenen epischen Gattungen3 des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters.
Solche Träume stellen eine Literarisierung zeitgenössischer Traumvorstellungen
dar,4 die sich über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte entwickelt
haben. Sie sind in diesem Sinne etwas Gemachtes, etwas Literarisches. Daher
sollen sie hier auch von ihrer Erzählweise her betrachtet werden.
Studien zum Traummotiv in der mittelhochdeutschen Dichtung haben sich
bisher vor allem auf die Untersuchung von Einzelaspekten der Erzählweise beschränkt, auf Teilbereiche, die für das Verständnis dieses Motivs relevant sind.
Etwa auf Zusammenhänge zwischen Traumtheorie und Traumerzählung.5 Oder
2 Eine ausführliche chronologische Übersicht über Traumtheorien und verschiedene Einflusslinien seit der Antike bietet Wittmer-Busch, Maria Elisabeth: Zur Bedeutung von Schlaf
und Traum im Mittelalter. Krems 1990.
3 Das Mittelalter kennt natürlich keine Gattungspeotik. Schulz folgend kann man aber Gattungen als »Modelle bzw. Konzepte literarischen Bedeutungsaufbaus« verstehen, die »aus den
gegebenen Objekten rekonstruiert werden können, und zwar gewöhnlich aus mehreren
Texten, denen so etwas wie eine sich verfestigende oder bereits vorausgesetzte gemeinsame
Grundordnung abgelesen werden kann.« Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer
Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 120.
4 Ich spreche hier allgemein von Traumvorstellungen, weil Traumerzählungen ganz verschiedenes Vorstellungsmaterial zugrunde liegen kann, etwa traumtheoretische Aspekte, aber
nicht unbedingt eine komplett ausgeformte Theorie, zudem volkstümlicher Aberglauben und
Traumdeutung. Letztere kann sich aus verschiedenen Quellen speisen. Anders als Speckenbach würde ich diese »Traditionsstränge« nicht streng voneinander trennen. Speckenbach,
Klaus: Kontexte mittelalterlicher Träume: Traumtheorie – fiktionale Träume – Traumbücher.
In: Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag.
Hrsg. von Eva Schmitsdorf/Nina Hartl/Barbara Meurer. Münster/New York/München/Berlin
1998, S. 298–316, hier : S. 298. Ich werde in Kapitel III noch nähern erläutern, warum ich diese
Trennung in ihrem Absolutheitsanspruch nicht für überzeugend halte.
5 Vgl. dazu Fischer, Steven R.: The Dream in the Middle High German Epic. Introduction to the
Dream as a Literary Device to the Younger Contemporaries of Gottfried and Wolfram. Australien and New Zeland Studies in German Language and Literature. Bern/Frankfurt a. M./Las
17
Einleitung
auf das Verhältnis zwischen Traum und literarischer Figur.6 Diese Studie möchte
dagegen größere Zusammenhänge der Erzählweise erfassen, verschiedene
Möglichkeiten des methodischen Zugriffs zusammenführen und damit einen
Beitrag leisten zum besseren Verständnis mittelalterlichen Erzählens mit besonderem Blick auf das Traummotiv.
In dieser Studie geht es um die Frage nach der Konstruktionsweise, der
Komposition von Traumerzählungen, um ihre Gemachtheit, ihre Funktionsweise innerhalb einer Erzählung. Es werden, auf der Grundlage eines Gerüsts
basaler Kriterien, Erzählmuster erfasst und untersucht und ermittelt, woraus
diese hervorgehen, wovon sie abhängen und wie sie für die Erzählung gestaltet
sind. Im Rahmen der Untersuchung der Erzählweise sollen dann neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich der literarische Traum gegenüber Traumvorstellungen verhält und in welcher Relation er zur jeweiligen literarischen Gattung steht, in der er auftaucht, wie zu dem spezifischen Text, in
den er als Motiv eingefügt ist.
*
Gegenstand der Untersuchung ist der Traum als literarisches Motiv in der erzählenden Dichtung des Mittelalters. Betrachtet wird also der fiktive Traum, der,
wie schon Speckenbach betont, »nicht wirklich geträumt, sondern mit einer bestimmten literarischen Absicht erfunden ist.«7 Allerdings muss er, auch darauf
macht Speckenbach aufmerksam, »bis zu einem gewissen Grad den persönlich
gemachten Traumerfahrungen [der Hörer oder Leser] entsprechen«, damit er
»akzeptiert« werden kann.8 Der reale wie der fiktive Traum kann im Sinne solcher
Parallelen im Anschluss an Strauch/Meier definiert werden als »Erleben während
des Schlafes […].«9 Der fiktive Traum als fiktionsinternes Phänomen ist, im
6
7
8
9
Vegas 1978. Haag, Guntram: Traum und Traumdeutung in der mittelhochdeutschen Literatur.
Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Stuttgart/Tübingen 2003.
Vgl. Fuchs-Jolie, Stephan: Bedeutungssuggestion und Phantastik der Träume im ›ProsaLancelot‹. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven.
Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2003, S. 313–340. Philipowski, Katharina: Wer hat
Herzeloydes Drachentraum geträumt? ›Tr˜ren, zorn, haz, scham‹ und ›n„t‹ zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und
Literatur. Berlin 2006, S. 251–274.
Speckenbach, Klaus: Der Traum als bildhafte Rede. In: Uf der m–ze pfat. FS für Werner
Hoffmann zum 60. Geburtstag (=GAG 555). Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rößler/Liselotte
Homering. Göppingen 1991, S. 421–442, hier: S. 421.
Speckenbach, Bildhafte Rede, S. 421.
Strauch, Inge / Meier, Barbara: Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen
Traumforschung. Bern 1992. 2. vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage 2004.
18
Einleitung
Unterschied zum realen, das fiktive »Erlebnis« einer literarischen Figur in einer
erzählten Welt.
Diese Definition bietet den Vorteil, dass sie so allgemein gehalten ist, dass mit
ihr sowohl mantische als auch nicht mantische Träume berücksichtigt werden
können, und dass sich der mantische Traum somit, wie schon Walde feststellt, von
der »Wachvision«10 abgrenzen lässt. Der mantische Traum und die Vision dagegen lassen sich im Mittelalter nicht so klar voneinander unterscheiden. Bagliani/Stabile etwa stellen fest, dass die »gleiche Quelle ihren Bericht Traum oder
Vision nennen kann.«11 So beschreibt die Mediävistik den mantischen Traum
auch als eine »Unterart der Vision«12. Die komplizierte Begriffsdiskussion soll
hier nicht neu geführt werden. Für die Auswahl der Texte dieser Studie sei aber auf
das Schlaferlebnis als zentrales Kriterium verwiesen. Wie schon bei Haag ist auch
hier relevant, dass »in Form von Wahrnehmungen im Schlaf unzweideutig auf
einen Traum« hingewiesen wird bzw. dass das »Wortfeld[…] Traum«13 oder sl–f in
der jeweiligen Erzählung enthalten ist.
Zur Beziehung zwischen Schlaf und Traum haben antike Philosophen und
später christliche Theologen über die Jahrhunderte verschiedene Theorien aufgestellt. Die Forschung hat sich mit diesen Theorien eingehen beschäftigt.14 Was
10 Walde, Christine: Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike oder vom
Zwang, Träume zu deuten. In: Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Diskussionen, Perspektiven. Hrsg. von Annette Gerok-Reiter/Christine Walde. Berlin 2012,
S. 21–44, hier : 22. Bagliani/Stabile verweisen in diesem Zusammenhang auf Beispiele aus der
bildenden Kunst des Mittelalters: Beim »Traum hat der Träumende die Augen geschlossen;
er liegt auf der Seite und stützt mit der Hand sein Haupt. In einer Vision dagegen liegt der
Schauende – die Augen weit geöffnet – ausgestreckt auf dem Rücken.« Bagliani, Agostino
Paravicini/Stabile, Giorgio: Einleitung, in: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien.
Hrsg. v. Bagliani, Agostino Paravicini/Stabile, Giorgio. Stuttgart 1989, S. 7.
11 Bagliani/Stabile, Einleitung, S. 7. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Dinzelbacher, der
hier auf Beispiele aus der mittellateinischen Literatur verweist, in denen die Terminologien
visio und somnium vermischt werden: in visione somnii oder sompni visione. Dinzelbacher,
Peter : Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Monographien zur Geschichte des Mittelalters. In Verbindung mit Friedrich Prinz hrsg. von Karl Bosl. Band 23. Stuttgart 1981,
S. 50.
12 Vgl. dazu Bagliani/Stabile, Einleitung, S. 7. Schmitz, Wilhelm: Traum und Vision in der
erzählenden Dichtung des Mittelalters. Forschungen zur Deutschen Sprache und Dichtung. 5. Münster, Aschendorff 1934, S. 1. Haubrichs, Wolfgang: Offenbarung und Allegorese.
Formen und Funktionen von Vision und Traum in frühen Legenden. In: Formen und
Funktionen der Allegorie. Hrsg. von Walter Haug. Symposium Wolfenbüttel 1978. Stuttgart
1979, S. 243–264, hier : S. 243. Dinzelbacher, Vision, S. 29ff.
13 Haag, Traumdeutung, S. 25–26.
14 Vgl. zur Bedeutung des Schlafs in Antike und Mittelalter v. a. Ricklin, Thomas: Der Traum in
der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorien zwischen Constaninus Africanus und
Aristoteles. Leiden/Boston/Köln 1998, S. 27–28, 42. Wittmer-Busch, Schlaf und Traum,
S. 96–98, 115–118, 144–148. Alt, Peter-Andr¦: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum
in der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2002, S. 33, 36. Slenczka, Notger :
Träume zwischen Gott und Teufel, in: Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen,
Einleitung
19
ein mittelalterlicher Dichter, der wohl eher jenseits der Studierstuben der
Theoretiker agierte,15 unter sl–f verstanden hat, lässt sich nur implizit aus den
fiktiven Traumerzählungen selbst erschließen. Schlafen ist in jedem Falle die
Voraussetzung für das Empfangen des mantischen oder nicht mantischen Traums.
Der Blick des Schlafenden wendet sich entweder nach außen. Er (seine Seele?)16
tritt in eine metaphysische Parallelwelt ein, die mit ihren Botschaften von außen
auf ihn einwirkt.17 Oder aber der Blick wendet sich nach innen und Bilder der
Tagewelt tauchen im Traum wieder auf.
Grammatisch wird der Übergang vom Wachen zum sl–fen und troimen häufig
mit einer Konjunktivkonstruktion markiert.18 Angedeutet wird damit wohl eine
künftige oder auch nur mögliche Realität bzw. eine andere Art Realität.19
15
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18
19
Diskussionen, Perspektiven. Hrsg. von Annette Gerok-Reiter/Christine Walde. Berlin 2012,
S. 133–160, hier : S. 141ff.
Vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 298. Schulz, Erzähltheorie, S. 24, weist allgemein darauf hin,
dass »der Grad der Vernetzung zwischen gelehrtem Wissen und volkssprachlicher Literatur
äußerst schwierig und nur im Einzefall zu bestimmen [ist].« Dennoch meine ich, dass die
Möglichkeit einer Beeinflussung nicht vollkommen ausgeschlossen werden sollte.
Die Vorstellung, dass die Seele den Körper während des Schlafes verlässt, findet sich schon in
der ägyptischen Antike und wurde später von griechischen Traumtheoretikern übernommen. Vgl. Engelhardt, Dietrich von: Traum im Wandel – Geschichte und Kultur. In: Schlaf
und Traum. Neurobiologie, Psychologie und Therapie. Hrsg. von Michael H. Wiegand/Flora
von Spreti/Hans Förstl. Stuttgart 2006, S. 7ff. Auch in der römischen Antike und im Mittelalter blieb diese Vorstellung präsent, dass sich die Seele vom Körper, der wie leblos
zurückbleibt, lösen und mit dem Transzendenten in Kontakt treten kann. Vgl. Ricklin,
Traum in der Philosophie, S. 42. Wittmer-Busch, Schlaf und Traum, S. 96.
Das wird bei Traumerzählungen auch grammatisch markiert. In heutigem Sprachgebrauch
heißt es: »Ich/Er träumte«. Das Subjekt steht also im Vordergrund. Das weist darauf hin, dass
der Traum allein aus dem Träumenden selbst kommt. In mittelalterlichen Texten heißt es
hingegen mir ist gidroumet (Orendel, E, XXIII / Vv. 9–10) oder dú troumte im (Rolandslied,
3030) oder Ir troumte (Rabenschlacht, 123). Der Träumende erscheint im Rahmen dieser
Dativkonstruktion als Empfänger des Traums. Darin kommt offenkundig die Vorstellung
zum Ausdruck, dass der Träumende den Traum nicht selbst produziert, sondern dass der
Traum von außen kommt, von einem Sender an ihn herangetragen wird. Vgl. dazu auch
Brackertz, Kommentar zu Achmets Traumbuch, S. 235, Kommentar 41.
Vgl. etwa nu troumte im aber alsú, / wie er wære in porta Cesaris (Rolandslied, V. 3031f.); in
[Karl] d˜chte, wie er ze Ache wære / unt ain bere vor im læge (3068f.). [N]u troumte im aber
alsú, / wie er ze P–r„s wære (Karl, 3676f.). In disen húhen Þren troumte Kriemhilde wie si züge
einen valken (Nibelungenlied, Str. 13, 1). [M]ir ist getroumet h„nte von angestl„her nút, / wie
allez das gefügele in diesem lande wære tút (Str. 1509, 3–4). Ir [Helche] troumte, wie ein
wilder trach wære / gevlogen also balde / durch ir chemenaten dach (Rabenschlacht,
Str. 123ff.). [M]ir troumt h„naht ein troum, […] wie daz ein adelar kæme, underz gevider er
uns nam (Wolfdietrich D, IX, Str. 57, 1ff.). Mir getroumet wie er ein lewen bræht an den
burcgraben. (VIII, Str. 256f.).
Karl etwa wird ja nie wirklich von einem Bären (Rolandslied, V. 3068ff.) angegriffen und es
wird auch kein Drache in die Kemenate Helches eindringen (Rabenschlacht, Str. 123–126).
20
Einleitung
*
Ziel der Studie ist es, zur Erzählweise von Träumen gattungsübergreifende wie
gattungs- oder textspezifische Befunde zu liefern. Daher wurden für diese Studie
vierzehn Traumerzählungen aus verschiedenen epischen Gattungen ausgewählt:
der Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht (Antikenroman), Orendel und der
König Rother (Brautwerbungsdichtung), das Rolandslied des Pfaffen Konrad
(Chanson de geste), das Nibelungenlied, die Rabenschlacht und der Wolfdietrich
D (Heldendichtung), Wolframs von Eschenbach Parzival und Hartmanns von
Aue Iwein (Artusdichtung). Dass es innerhalb dieser Ordnung auch Gattungsmischungen gibt, wird im Rahmen der Einzelanalysen berücksichtigt.
Mein methodischer Ansatz lässt sich nur auf eine Auswahl an epischen Texten
anwenden, eine erschöpfende Analyse aller mittelhochdeutschen Traumerzählungen erscheint mir nicht möglich, da deren Zahl zu groß ist. So hat bereits
Fischer im Rahmen seiner Studie 63 Traumerzählungen ausfindig gemacht.20
Und er berücksichtigt dabei nicht einmal alle. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank21 etwa findet für troum, unter Berücksichtigung der verschiedenen grammatischen Formen und Schreibweisen des Wortes, 611 Belege in 108
Werken, wobei der Begriff in ganz unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen
verwendet wird. Eine Gesamtanalyse würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zudem schließe ich für diese Studie auch Texte aus, deren Erzählweise
bereits genügend erforscht wurde.22
Dass die hier getroffene Auswahl repräsentativ ist, soll nicht a priori behauptet werden. Es geht darum, am Beispiel der vierzehn Traumerzählungen
verschiedene Möglichkeiten der Erzählweise aufzuzeigen, die sich in den unterschiedlichen erzählenden Gattungen ausprägen. Ob sich Prinzipien der Erzählweise gattungsübergreifend, gattungs- oder auch textspezifisch wiederho20 Fischer, The Dream, S. 151.
21 http://mhdbdb.sbg.ac.at/.
22 Das gilt etwa für den Prosa-Lancelot. Klinger hat hier bereits wesentliche Aspekte der Erzählweise herausgearbeitet. Sicherlich ließe sich ihr methodischer Ansatz im Rahmen einer
weiteren Studie zum Prosa-Lancelot noch stärker ausdifferenzieren und systematisieren,
aber das würde m. E. keine wesentlich neuen Erkenntnisse zeitigen. Klinger, Judith: Die
Poetik der Träume. Zum Erzählen von und mit Traum-Bildern im Prosa-Lancelot. Der
mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Hrsg. von Christoph Huber/Klaus
Ridder. Tübingen 2007, S. 211–234, hier : S. 211. Auch Fuchs-Jolie, Bedeutungssuggestion,
liefert zum Prosa-Lancelot bereits wesentliche Befunde. Ich gehe aber dennoch auf einige
Träume aus dem Prosa-Lancelot am Rande dieser Studie ein, v. a. weil sich der Vergleich der
Galahot-Träume mit dem Traum der Herzeloyde in atmosphärischer Hinsicht loht. Zudem
erscheint mir ein Vergleich des Lancelot-Traums mit dem Traummonolog im Iwein aufschlussreich.
Einleitung
21
len, überprüfe ich, wenn ich im Fazit die Befunde meiner Studie abschließend
zusammenfasse, Traumerzählungen, die in dieser Studie behandelt werden,
miteinander vergleiche. Dies kann aber auch schon vorher im Rahmen der
Zusammenfassung einzelner Kapitel geschehen.
II.
Forschungsstand
Zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung literarischer Träume in der mittelhochdeutschen Literatur wurden vier Dissertationen geschrieben.23 Die erste
stammt von Emil Benez¦24, der untersucht, wie das Traummotiv in der mittelhochdeutschen Literatur bis 1250 verwertet wurde. Er stellt eine große Anzahl an
Textbeispielen aus Epik und Lyrik zusammen, die er in seiner Studie jeweils kurz
kommentiert.25 Dabei weist er u. a. auf allgemeine Funktionen von Traumerzählungen hin, etwa dass sie Neugierde wecken oder Stimmung schaffen sollen.26
Wilhelm Schmitz fragt nach formaler Gestaltung und kompositorischer Bedeutung von Traum und Vision in verschiedenen Jahrhunderten und versucht
dabei Entwicklungslinien aufzuzeigen.27 Für das 9./10. Jahrhundert spricht er
von »mythisch-magische[r]« Traumauffassung beeinflusst von »germanische[n] und antike[n] Anschauungen«28, wobei der Traum als »Warnungsmittel«29 diene. Mit der Hinwendung zur »biblischen und frühchristlichen Auffassung«30 in der Legendendichtung des 11./12. Jahrhunderts bekomme er eine
»heilsgeschichtliche Erlebnisdimension« (z. B. Annolied)31, sei göttliche Wil-
23 Daneben gibt es noch eine Habilitationsschrift von Dinzelbacher, Vision, die diese Thematik
auch berücksichtigt. Dinzelbacher aber setzt sich vor allem mit dem Phänomen der Vision
auseinander, wobei Träume, wie oben erwähnt, als Unterart der Vision verstanden werden.
Dinzelbacher berücksichtigt, anders als das in dieser Studie gemacht wird, Traum und Vision
»ohne Differenz« (S. 59). Auf Träume aus der mittelhochdeutschen Dichtung wird eher am
Rande eingegangen, in erster Linie geht es um Visionsliteratur mit Wahrheitsanspruch.
Dinzelbachers Erkenntnisse werden im Rahmen dieser Studie auch berücksichtigt, an dieser
Stelle aber nicht genauer dargestellt, weil sein Schwerpunkt ein anderer ist.
24 Benez¦, Emil: Das Traummotiv in der altdeutschen Dichtung bis 1250. Jena 1896, S. 2.
25 Ebd., S. 11.
26 Ebd., S. 54.
27 Schmitz, Traum und Vision, S. 1–2.
28 Ebd., S. 5.
29 Ebd., S. 6.
30 Ebd., S. 15.
31 Ebd., S. 19.
24
Forschungsstand
lensverkündung,32 sporne den Helden an,33 fordere ihn zur Handlung auf.34 In
der weltlichen Dichtung des 12./13. Jahrhunderts diene er dann verstärkt dem
»Ausdruck der psychischen Situation«35 einer Figur (z. B. Didos Traum im
Eneas) sowie der »psychologischen Handlungsmotivierung«36. In der Heldenepik dagegen behalte er »magische Gültigkeit«37 bei. Die spät- und nachhöfische
Dichtung des 13. Jahrhunderts verarbeite nur noch die vorangegangenen Motive.38
Steven R. Fischer versucht den breiten Einfluss der Traumtheorie des Macrobius auf mittelhochdeutsche Traumerzählungen nachzuweisen.39 Seine Methode ist die Typologisierung: Er ordnet in das fünfteilige Traumklassifikationsschema des Macrobius40 alle mittelhochdeutschen Traumerzählungen ein,
die er in seiner Studie behandelt.41 Zudem verweist er auf die unterschiedlichen
epischen Funktionen des Traums, etwa darauf, dass dieser die Erzählung interessanter mache, Spannung erhöhe, Handlung erzeuge, epische Figuren charakterisiere, eine bestimmte Weltsicht bestätige, verborgene Emotionen zum
Ausdruck bringe usw.42
Guntram Haags Arbeit baut auf einer Abgrenzung zu Fischer auf, dessen
Typologisierung er als monoperspektivisch zurückweist. Haag nimmt die Literarisierung einer »Vielfalt unterschiedlicher Anschauungen«43 an und bezieht
bei seiner Auseinandersetzung mit literarischen Traumerzählungen aus epischen und lyrischen Texten mittelalterliche Traumbücher44 ebenso ein wie
Losbücher, Lunare, physiologische Traumbücher, Traumtheorien von Gregor
dem Großen,45 Augustinus,46 Johannes von Salisbury,47 Aristoteles48 u. a.
Neben diesen vier Dissertationen finden sich zahlreiche Aufsätze zu dieser
Thematik. Klaus Speckenbach setzt sich mit der »Traumallegorie«49, der »bild32
33
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35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
Ebd., S. 30.
Ebd., S. 19.
Ebd., S. 41–42.
Ebd., S. 61.
Ebd., S. 62.
Ebd., S. 83.
Ebd., S. 86ff.
Fischer, The Dream, S. 11f. Sowie S. 19ff.
Vgl. zu dem Klassifikationsschema ausführlich ebd., S. 21f.
Ebd., S. 37–150.
Ebd., S. 156.
Haag, Traum und Traumdeutung, S. 42.
Ebd., S. 44–45.
Fischer, The Dream, S. 49, FN 165 sowie S. 52f.
Haag, Traum und Traumdeutung, S. 51f.
Ebd., S. 55f.
Ebd., S. 61.
Speckenbach, Bildhafte Rede, S. 421.
Forschungsstand
25
haften Rede«50 mittelhochdeutscher Traumerzählungen auseinander und stellt
am Beispiel zahlreicher Traumerzählungen Überlegungen zu Möglichkeiten
ihrer Enträtselung an.
Albrecht Classen beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der »narrativen
Funktion des Traumes in mittelhochdeutscher Literatur«.51 Dabei untersucht er,
»was für ein Licht der Traum auf die Träumenden wirft, wie diese auf diese
Erscheinung reagieren und welche Dimensionen sich für den Träumenden durch
den Traum öffnen.«52 Der Traum verweise auf die Ebene des »Unterbewußtseins«53, er biete Möglichkeiten zur »Selbsterkenntnis«54 und in diesem Zusammenhang Möglichkeiten, das eigene »Schicksal in förderlicher Weise zu
beeinflussen«55. Classen versucht, das an einer Reihe populärer mittelhochdeutscher Traumerzählungen zu zeigen.
In einem weiteren Aufsatz setzt sich Speckenbach mit drei Traditionssträngen
des mittelalterlichen Traumphänomens auseinander56 und stellt dabei die These
auf, dass Traum und Traumdeutung im Mittelalter »kein einheitliches Phänomen«57 seien. Mit Traumtheorien, deren Traditionslinien Speckenbach von der
Antike bis ins Mittelalter nachzeichnet, setzten sich vor allem die Gelehrten
auseinander.58 Die zumeist allegorisch verrätselten literarischen Träume erfüllten, wie Speckenbach an Traumerzählungen aus dem Nibelungenlied, Veldekes
Eneas, Wernhers Helmbrecht und Gottfrieds Tristan nachzuweisen versucht,59
zumeist erzähltechnische und dramaturgische Funktionen.60 Die Traumbücher
schließlich als dritte Traditionslinie richteten sich an die Laien und »dienen
häufiger der lebenspraktischen Beratung […].«61
Barbara Haupt untersucht, was literarische Träume über die »psychische
Befindlichkeit«62 vor allem weiblicher Figuren aussagen und versucht in diesem
Zusammenhang zu ergründen, inwieweit sie über ein historisches Menschenbild
Auskunft geben können.63 Im Rahmen ihrer Analyse der Träume Didos (Hein50 Ebd., S. 442.
51 Classen, Albrecht: Die narrative Funktion des Traumes in mittelhochdeutscher Literatur. In:
Mediaevistik 5. 1992, S. 11–37.
52 Ebd., S. 11.
53 Ebd., S. 21.
54 Ebd., S. 11.
55 Ebd.
56 Speckenbach, Kontexte, S. 298.
57 Ebd., S. 316.
58 Ebd., S. 298ff.
59 Ebd., S. 305ff.
60 Ebd., S. 316.
61 Ebd.
62 Haupt, Barbara: Die Träume der Frauen in epischen Texten des Hochmittelalters, in: Akten
des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. S. 164.
63 Ebd., S. 165.

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