Mir troumt hînaht ein troum
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Mir troumt hînaht ein troum
Schriften der Wiener Germanistik Band 4 Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. Benjamin van Well Mir troumt hnaht ein troum Untersuchung zur Erzählweise von Träumen in mittelhochdeutscher Epik Mit einer Abbildung V& R unipress Vienna University Press ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0533-6 ISBN 978-3-8470-0533-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0533-3 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2015 Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Die Träume Kaiser Karls, in: Pfaffe Konrad: Rolandslied. Regensburg/Hessen-Thüringen (?). Handschrift, Ende 12. Jh. Cod. Pal. germ. 112. Seite 14v. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg112/0084. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Für Lingshan und Meihan Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III. Forschungsdefizite und Forschungsdiskussion . . . . . . . . . . . 29 IV. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Figurenlogische Orientierung IV.2 Progressionsorientierung . . IV.3 Aussageorientierung . . . . . . . . . 39 39 41 42 V. Aufbau der einzelnen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Analyseteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1 Antikenroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1.1 Der Traum der Olympias im Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Text: Der Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Traum der Olympias . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung und Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . 6. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Drachenauge . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Greifenauge . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 53 . . 53 . . . . . . 53 54 55 . . . . . . 56 58 59 61 65 67 . . . . . . 8 Inhalt VI.1.2 Alexanders Traum im Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Traum Alexanders . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Progressionsorientierung und figurenlogische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Traumvorstellung und Aussageorientierung . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2 Brautwerbungsdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2.1 Der Falkentraum König Konstantins im König Rother 1. Der Text: König Rother . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Traum König Konstantins . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Progressionsorientierung und figurenlogische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Traumvorstellung und Aussageorientierung . . . . 6. Traumbild und Aussageorientierung . . . . . . . . 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2.2 König Sinolds Todestraum im Orendel . . . . . . . . 1. Der Text: Orendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Traum König Sinolds . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . 5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Raumsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Rabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.3 Chanson de geste: Die Träume Karls im Rolandslied des Pfaffen Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Text: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad . . . 2. Die Träume Karls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung . . . . . . . . . . . . 5. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Raumsemantik und atmosphärische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Karls erster Traum . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Karls zweiter Traum . . . . . . . . . . . . . . 68 68 69 70 71 75 76 76 76 77 77 80 81 85 91 92 92 93 94 94 95 96 96 99 102 104 104 104 108 111 112 116 116 119 122 9 Inhalt 6.4 Karls dritter Traum . . . . . . . . . . . . 6.5 Karls vierter Traum . . . . . . . . . . . . 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4 Heldendichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4.1 Die Träume Kriemhilds und Uotes im Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Text: Das Nibelungenlied . . . . . . . . . . 2. Die Träume Kriemhilds und Uotes . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung oder Progressionsorientierung? . . . . . . . . . . . 5. Traumvorstellung: Determinierter Untergang . 6. Traumbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4.2 Helches Drachentraum in der Rabenschlacht . . . 1. Der Text: Die Rabenschlacht . . . . . . . . . . 2. Helches Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . 5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4.3 Herbrants Adler-Traum im Wolfdietrich D . . . . 1. Der Text: Wolfdietrich D . . . . . . . . . . . . . 2. Herbrants Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . 5. Traumvorstellung und Aussageorientierung . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4.4 Sidrats Löwentraumerzählung im Wolfdietrich D . 1. Einbettung des Traums in den Wolfdietrich D . 2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Figurenlogische Orientierung und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . 4. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 126 129 130 . . . . . . . . 130 130 131 132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 140 143 147 150 151 151 151 152 . . . . . . . . . . . . . . 154 158 161 163 163 164 165 . . . . . . . . . . . . 166 166 173 174 174 175 . . . . . . . . 176 176 177 182 10 Inhalt VI.5 Artusepik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.5.1 Der Traum der Herzeloyde im Parzival Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Text: Wolframs von Eschenbach Parzival . . . 2. Herzeloydes Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figurenlogische Orientierung und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . 5. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aussageorientierung und Traumbilder . . . . . . . 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.5.2 Iweins Traummonolog in Hartmanns von Aue Iwein . 1. Der Text: Hartmanns von Aue Iwein . . . . . . . . 2. Iweins Traummonolog . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Traumvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Figurenlogische Orientierung, Progressionsorientierung und Aussageorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung und Reflexion . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typen des literarischen Traums . . . . . . . . . . . 1.1 Typen des mantischen Traums . . . . . . . . 1.1.1 Unheils- und Untergangsträume . . . . . . . 1.1.2 Politische Träume und Traumbefehle . . . . . 1.1.3 Strategisch erfundene Träume . . . . . . . . 1.2 Protopsychologische Träume und Träume avant la lettre . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Traum und Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Traum und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Raumsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anwesenheit und Abwesenheit des Traumempfängers im Raum . . . . . . . . . . . . . 6. Zur Plausibilität von Traum und Figurenverhalten am Beispiel von Unheilsträumen . . . . . . . . . . 7. Traum und Handlungsprogression . . . . . . . . . 8. Traumempfänger : Wer träumt? . . . . . . . . . . . 184 184 184 185 187 190 193 196 207 209 209 210 213 216 222 229 233 234 234 234 235 236 236 237 238 241 242 242 243 244 11 Inhalt VIII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . VIII.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . VIII.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . VIII.3 Lexika mit Abkürzungsverzeichnis VIII.4 Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 247 249 260 261 Danksagung Das vorliegende Buch wurde im Juni 2015 vom Fachbereich für Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Es stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Studie zur Erzählweise von Träumen in mittelhochdeutscher Dichtung dar. Die Idee für diese Arbeit geht auf ein Seminar zum Rolandslied des Pfaffen Konrad zurück, das der leider früh verstorbene Prof. Dr. Christoph März im Wintersemester 2003/2004 leitete. In einer Sitzung ging es um die Träume Kaiser Karls. Seither haben mich literarische Träume fasziniert und ich beschloss, mich mit diesem Motiv eingehender zu beschäftigen. Von der Anmeldung der Dissertation im Jahr 2009 bis zur Verteidigung vergingen fast sechs Jahre. Insbesondere mein zweijähriges Referendariat zwang mich mehrfach dazu, meine Arbeit an der Dissertation abzubrechen. Mein anschließender Umzug nach Peking schränkte die Literatursuche zunächst ein. Dennoch liegt die Arbeit nun vor, und das ist vielen Menschen zu verdanken. Bedanken möchte ich mich zuallererst bei Frau Prof. Dr. Elke Koch, die mich in langen Gesprächen in ihrem FU-Büro, am Telefon, über Skype und E-Mail unermüdlich beraten und hervorragend betreut hat. Ebenso gilt mein großer Dank meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Matthias Meyer von der Universität Wien, der mich von Anfang an mitberaten, mir viele wichtige Hinweise gegeben und mir Prof. Dr. Elke Koch als Betreuerin vermittelt hat. Mein Dank gilt insbesondere auch Maribel Zarco und Marc Helbach, die den gewaltigen Aufwand auf sich genommen haben, mir die wichtigen Aufsätze und Monographien einzuscannen und zuzuschicken, mir die Bibliothek sozusagen nach Hause gebracht haben, sodass ich ohne Einschränkungen an meiner Dissertation im Ausland schreiben konnte. Ich bedanke mich zudem bei Dr. Ulrich Eschborn, Selma Saǧman und Ursula Moureau-Martini, die meine Arbeit Korrektur gelesen haben. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung meiner Arbeit danke ich meiner Mutter Sibylle van Well und meiner Großmutter Sabine van Well. Meiner Frau Liu Lingshan und meinen Schwiegereltern Song Minyi und Liu Jiansheng danke ich für ihre geduldige und liebevolle Unterstützung in allen Lebenssituationen in China und dafür, dass sie mir stets den Rücken 14 Danksagung freigehalten haben, sodass ich auch neben dem Beruf genug Zeit hatte zu schreiben. Gewidmet ist die Arbeit meiner Frau Lingshan und meiner Tochter Meihan. Benjamin van Well Peking im August 2015 I. Einleitung Der Traum stellte als menschlich universelles Phänomen schon immer ein Faszinosum dar, und so beschäftigte man sich kulturübergreifend mit diesem Phänomen über die Jahrtausende hinweg. Schon immer gab der Traum den Menschen Rätsel auf, sein Zustandekommen wurde unterschiedlich erklärt. Man deutete ihn etwa mantisch. Er eröffne, so glaubte man, den Zugang zu einer anderen Welt, zum Jenseits. Man sprach ihm prophetische Bedeutung zu, sah in ihm überirdische Botschaften, Nachrichten höherer Wesen, numinoser Mächte, der Götter bzw. des christlichen Gottes, von Engeln, vom Teufel, von Dämonen, von Verstorbenen, von Heiligen, die mit der vom Körper losgelösten Seele des Schlafenden in Kontakt treten. Auch Planetenkonstellationen hätten Einfluss auf Träume, glaubte man. Ebenso führte man den Traum aber auch seit der Antike auf natürliche Vorgänge zurück, auf Körperliches wie Seelisches, er entstehe im Zusammenhang mit Tageserlebnissen, Verdauungsprozessen, dem Mischungsverhältnis der Körpersäfte oder auch Weinkonsum. Die Auseinandersetzung mit Träumen dokumentiert sich in Traumbüchern, traumtheoretischen Schriften und in der Dichtung. Älteste Traumbücher lassen sich schon für die altägyptische Zeit (2. Jt. v. Chr.) belegen. Über die Jahrtausende hinweg setzte man sich im Rahmen solcher Schriften intensiv mit der Deutung von Träumen und Traumsymbolen auseinander. Artemidors (2. Jh. n. Chr.) Oneirocritica stellten hier einen Höhepunkt dar. In den Jahrhunderten danach entstanden dann die byzantinischen Traumbücher. Besonders populär war das Somniale Danielis, das auch im Abendland rezipiert wurde.1 Vor allem in der griechischen Antike begannen zahlreiche Philosophen aber auch Ärzte, Traumtheorien und Traumquellenmodelle zu entwickeln. Breite Wirkung hatte dabei vor allem das Klassifikationsschema des Poseidonis von Apameia (135–51/50 v. Chr.). Später wurden solche Modelle von römischen 1 Vgl. zur Traumbuchtradition etwa Grub, Jutta: Die Sprache(n) der Träume. Traumbücher und Traumdeutungspraxis im Mittelalter. In: L’immaginario nelle letterature germaniche del medioevo. Hrsg. von Adele Cipolla. Milano 1995, S. 135–174. 16 Einleitung Philosophen übernommen, weiter ausdifferenziert, auch in christlicher Zeit weitergeführt und immer wieder neu durchdacht und modifiziert, so etwa von Tertullianus, Augustinus oder Macrobius. Traditionslinien lassen sich bis ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit verfolgen.2 Träume bilden ein weltliterarisches Motiv. In den ältesten Dichtungen der Menschheitsgeschichte, etwa im Gilgamesch-Epos (ca. 15. Jh. v. Chr.) oder in Homers Ilias und Odyssee (Ende des 8. Jhs. v. Chr.), finden sich Traumerzählungen, ebenso in der Bibel. Der Traum wurde in Dichtungen verschiedener Jahrhunderte immer wieder als literarisches Motiv aufgegriffen. Besonders populär und gattungsübergreifend weit verbreitet ist er in der mittelhochdeutschen Dichtung. In dieser Arbeit geht es um die Auseinandersetzung mit Träumen in der erzählenden Dichtung des Mittelalters. Betrachtet werden Traumerzählungen aus verschiedenen epischen Gattungen3 des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters. Solche Träume stellen eine Literarisierung zeitgenössischer Traumvorstellungen dar,4 die sich über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte entwickelt haben. Sie sind in diesem Sinne etwas Gemachtes, etwas Literarisches. Daher sollen sie hier auch von ihrer Erzählweise her betrachtet werden. Studien zum Traummotiv in der mittelhochdeutschen Dichtung haben sich bisher vor allem auf die Untersuchung von Einzelaspekten der Erzählweise beschränkt, auf Teilbereiche, die für das Verständnis dieses Motivs relevant sind. Etwa auf Zusammenhänge zwischen Traumtheorie und Traumerzählung.5 Oder 2 Eine ausführliche chronologische Übersicht über Traumtheorien und verschiedene Einflusslinien seit der Antike bietet Wittmer-Busch, Maria Elisabeth: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990. 3 Das Mittelalter kennt natürlich keine Gattungspeotik. Schulz folgend kann man aber Gattungen als »Modelle bzw. Konzepte literarischen Bedeutungsaufbaus« verstehen, die »aus den gegebenen Objekten rekonstruiert werden können, und zwar gewöhnlich aus mehreren Texten, denen so etwas wie eine sich verfestigende oder bereits vorausgesetzte gemeinsame Grundordnung abgelesen werden kann.« Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 120. 4 Ich spreche hier allgemein von Traumvorstellungen, weil Traumerzählungen ganz verschiedenes Vorstellungsmaterial zugrunde liegen kann, etwa traumtheoretische Aspekte, aber nicht unbedingt eine komplett ausgeformte Theorie, zudem volkstümlicher Aberglauben und Traumdeutung. Letztere kann sich aus verschiedenen Quellen speisen. Anders als Speckenbach würde ich diese »Traditionsstränge« nicht streng voneinander trennen. Speckenbach, Klaus: Kontexte mittelalterlicher Träume: Traumtheorie – fiktionale Träume – Traumbücher. In: Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Eva Schmitsdorf/Nina Hartl/Barbara Meurer. Münster/New York/München/Berlin 1998, S. 298–316, hier : S. 298. Ich werde in Kapitel III noch nähern erläutern, warum ich diese Trennung in ihrem Absolutheitsanspruch nicht für überzeugend halte. 5 Vgl. dazu Fischer, Steven R.: The Dream in the Middle High German Epic. Introduction to the Dream as a Literary Device to the Younger Contemporaries of Gottfried and Wolfram. Australien and New Zeland Studies in German Language and Literature. Bern/Frankfurt a. M./Las 17 Einleitung auf das Verhältnis zwischen Traum und literarischer Figur.6 Diese Studie möchte dagegen größere Zusammenhänge der Erzählweise erfassen, verschiedene Möglichkeiten des methodischen Zugriffs zusammenführen und damit einen Beitrag leisten zum besseren Verständnis mittelalterlichen Erzählens mit besonderem Blick auf das Traummotiv. In dieser Studie geht es um die Frage nach der Konstruktionsweise, der Komposition von Traumerzählungen, um ihre Gemachtheit, ihre Funktionsweise innerhalb einer Erzählung. Es werden, auf der Grundlage eines Gerüsts basaler Kriterien, Erzählmuster erfasst und untersucht und ermittelt, woraus diese hervorgehen, wovon sie abhängen und wie sie für die Erzählung gestaltet sind. Im Rahmen der Untersuchung der Erzählweise sollen dann neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich der literarische Traum gegenüber Traumvorstellungen verhält und in welcher Relation er zur jeweiligen literarischen Gattung steht, in der er auftaucht, wie zu dem spezifischen Text, in den er als Motiv eingefügt ist. * Gegenstand der Untersuchung ist der Traum als literarisches Motiv in der erzählenden Dichtung des Mittelalters. Betrachtet wird also der fiktive Traum, der, wie schon Speckenbach betont, »nicht wirklich geträumt, sondern mit einer bestimmten literarischen Absicht erfunden ist.«7 Allerdings muss er, auch darauf macht Speckenbach aufmerksam, »bis zu einem gewissen Grad den persönlich gemachten Traumerfahrungen [der Hörer oder Leser] entsprechen«, damit er »akzeptiert« werden kann.8 Der reale wie der fiktive Traum kann im Sinne solcher Parallelen im Anschluss an Strauch/Meier definiert werden als »Erleben während des Schlafes […].«9 Der fiktive Traum als fiktionsinternes Phänomen ist, im 6 7 8 9 Vegas 1978. Haag, Guntram: Traum und Traumdeutung in der mittelhochdeutschen Literatur. Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Stuttgart/Tübingen 2003. Vgl. Fuchs-Jolie, Stephan: Bedeutungssuggestion und Phantastik der Träume im ›ProsaLancelot‹. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2003, S. 313–340. Philipowski, Katharina: Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? ›Trren, zorn, haz, scham‹ und ›nt‹ zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Berlin 2006, S. 251–274. Speckenbach, Klaus: Der Traum als bildhafte Rede. In: Uf der mze pfat. FS für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag (=GAG 555). Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rößler/Liselotte Homering. Göppingen 1991, S. 421–442, hier: S. 421. Speckenbach, Bildhafte Rede, S. 421. Strauch, Inge / Meier, Barbara: Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung. Bern 1992. 2. vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage 2004. 18 Einleitung Unterschied zum realen, das fiktive »Erlebnis« einer literarischen Figur in einer erzählten Welt. Diese Definition bietet den Vorteil, dass sie so allgemein gehalten ist, dass mit ihr sowohl mantische als auch nicht mantische Träume berücksichtigt werden können, und dass sich der mantische Traum somit, wie schon Walde feststellt, von der »Wachvision«10 abgrenzen lässt. Der mantische Traum und die Vision dagegen lassen sich im Mittelalter nicht so klar voneinander unterscheiden. Bagliani/Stabile etwa stellen fest, dass die »gleiche Quelle ihren Bericht Traum oder Vision nennen kann.«11 So beschreibt die Mediävistik den mantischen Traum auch als eine »Unterart der Vision«12. Die komplizierte Begriffsdiskussion soll hier nicht neu geführt werden. Für die Auswahl der Texte dieser Studie sei aber auf das Schlaferlebnis als zentrales Kriterium verwiesen. Wie schon bei Haag ist auch hier relevant, dass »in Form von Wahrnehmungen im Schlaf unzweideutig auf einen Traum« hingewiesen wird bzw. dass das »Wortfeld[…] Traum«13 oder slf in der jeweiligen Erzählung enthalten ist. Zur Beziehung zwischen Schlaf und Traum haben antike Philosophen und später christliche Theologen über die Jahrhunderte verschiedene Theorien aufgestellt. Die Forschung hat sich mit diesen Theorien eingehen beschäftigt.14 Was 10 Walde, Christine: Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike oder vom Zwang, Träume zu deuten. In: Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Diskussionen, Perspektiven. Hrsg. von Annette Gerok-Reiter/Christine Walde. Berlin 2012, S. 21–44, hier : 22. Bagliani/Stabile verweisen in diesem Zusammenhang auf Beispiele aus der bildenden Kunst des Mittelalters: Beim »Traum hat der Träumende die Augen geschlossen; er liegt auf der Seite und stützt mit der Hand sein Haupt. In einer Vision dagegen liegt der Schauende – die Augen weit geöffnet – ausgestreckt auf dem Rücken.« Bagliani, Agostino Paravicini/Stabile, Giorgio: Einleitung, in: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. v. Bagliani, Agostino Paravicini/Stabile, Giorgio. Stuttgart 1989, S. 7. 11 Bagliani/Stabile, Einleitung, S. 7. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Dinzelbacher, der hier auf Beispiele aus der mittellateinischen Literatur verweist, in denen die Terminologien visio und somnium vermischt werden: in visione somnii oder sompni visione. Dinzelbacher, Peter : Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Monographien zur Geschichte des Mittelalters. In Verbindung mit Friedrich Prinz hrsg. von Karl Bosl. Band 23. Stuttgart 1981, S. 50. 12 Vgl. dazu Bagliani/Stabile, Einleitung, S. 7. Schmitz, Wilhelm: Traum und Vision in der erzählenden Dichtung des Mittelalters. Forschungen zur Deutschen Sprache und Dichtung. 5. Münster, Aschendorff 1934, S. 1. Haubrichs, Wolfgang: Offenbarung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in frühen Legenden. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hrsg. von Walter Haug. Symposium Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979, S. 243–264, hier : S. 243. Dinzelbacher, Vision, S. 29ff. 13 Haag, Traumdeutung, S. 25–26. 14 Vgl. zur Bedeutung des Schlafs in Antike und Mittelalter v. a. Ricklin, Thomas: Der Traum in der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorien zwischen Constaninus Africanus und Aristoteles. Leiden/Boston/Köln 1998, S. 27–28, 42. Wittmer-Busch, Schlaf und Traum, S. 96–98, 115–118, 144–148. Alt, Peter-Andr¦: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2002, S. 33, 36. Slenczka, Notger : Träume zwischen Gott und Teufel, in: Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Einleitung 19 ein mittelalterlicher Dichter, der wohl eher jenseits der Studierstuben der Theoretiker agierte,15 unter slf verstanden hat, lässt sich nur implizit aus den fiktiven Traumerzählungen selbst erschließen. Schlafen ist in jedem Falle die Voraussetzung für das Empfangen des mantischen oder nicht mantischen Traums. Der Blick des Schlafenden wendet sich entweder nach außen. Er (seine Seele?)16 tritt in eine metaphysische Parallelwelt ein, die mit ihren Botschaften von außen auf ihn einwirkt.17 Oder aber der Blick wendet sich nach innen und Bilder der Tagewelt tauchen im Traum wieder auf. Grammatisch wird der Übergang vom Wachen zum slfen und troimen häufig mit einer Konjunktivkonstruktion markiert.18 Angedeutet wird damit wohl eine künftige oder auch nur mögliche Realität bzw. eine andere Art Realität.19 15 16 17 18 19 Diskussionen, Perspektiven. Hrsg. von Annette Gerok-Reiter/Christine Walde. Berlin 2012, S. 133–160, hier : S. 141ff. Vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 298. Schulz, Erzähltheorie, S. 24, weist allgemein darauf hin, dass »der Grad der Vernetzung zwischen gelehrtem Wissen und volkssprachlicher Literatur äußerst schwierig und nur im Einzefall zu bestimmen [ist].« Dennoch meine ich, dass die Möglichkeit einer Beeinflussung nicht vollkommen ausgeschlossen werden sollte. Die Vorstellung, dass die Seele den Körper während des Schlafes verlässt, findet sich schon in der ägyptischen Antike und wurde später von griechischen Traumtheoretikern übernommen. Vgl. Engelhardt, Dietrich von: Traum im Wandel – Geschichte und Kultur. In: Schlaf und Traum. Neurobiologie, Psychologie und Therapie. Hrsg. von Michael H. Wiegand/Flora von Spreti/Hans Förstl. Stuttgart 2006, S. 7ff. Auch in der römischen Antike und im Mittelalter blieb diese Vorstellung präsent, dass sich die Seele vom Körper, der wie leblos zurückbleibt, lösen und mit dem Transzendenten in Kontakt treten kann. Vgl. Ricklin, Traum in der Philosophie, S. 42. Wittmer-Busch, Schlaf und Traum, S. 96. Das wird bei Traumerzählungen auch grammatisch markiert. In heutigem Sprachgebrauch heißt es: »Ich/Er träumte«. Das Subjekt steht also im Vordergrund. Das weist darauf hin, dass der Traum allein aus dem Träumenden selbst kommt. In mittelalterlichen Texten heißt es hingegen mir ist gidroumet (Orendel, E, XXIII / Vv. 9–10) oder dú troumte im (Rolandslied, 3030) oder Ir troumte (Rabenschlacht, 123). Der Träumende erscheint im Rahmen dieser Dativkonstruktion als Empfänger des Traums. Darin kommt offenkundig die Vorstellung zum Ausdruck, dass der Träumende den Traum nicht selbst produziert, sondern dass der Traum von außen kommt, von einem Sender an ihn herangetragen wird. Vgl. dazu auch Brackertz, Kommentar zu Achmets Traumbuch, S. 235, Kommentar 41. Vgl. etwa nu troumte im aber alsú, / wie er wære in porta Cesaris (Rolandslied, V. 3031f.); in [Karl] dchte, wie er ze Ache wære / unt ain bere vor im læge (3068f.). [N]u troumte im aber alsú, / wie er ze Prs wære (Karl, 3676f.). In disen húhen Þren troumte Kriemhilde wie si züge einen valken (Nibelungenlied, Str. 13, 1). [M]ir ist getroumet hnte von angestlher nút, / wie allez das gefügele in diesem lande wære tút (Str. 1509, 3–4). Ir [Helche] troumte, wie ein wilder trach wære / gevlogen also balde / durch ir chemenaten dach (Rabenschlacht, Str. 123ff.). [M]ir troumt hnaht ein troum, […] wie daz ein adelar kæme, underz gevider er uns nam (Wolfdietrich D, IX, Str. 57, 1ff.). Mir getroumet wie er ein lewen bræht an den burcgraben. (VIII, Str. 256f.). Karl etwa wird ja nie wirklich von einem Bären (Rolandslied, V. 3068ff.) angegriffen und es wird auch kein Drache in die Kemenate Helches eindringen (Rabenschlacht, Str. 123–126). 20 Einleitung * Ziel der Studie ist es, zur Erzählweise von Träumen gattungsübergreifende wie gattungs- oder textspezifische Befunde zu liefern. Daher wurden für diese Studie vierzehn Traumerzählungen aus verschiedenen epischen Gattungen ausgewählt: der Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht (Antikenroman), Orendel und der König Rother (Brautwerbungsdichtung), das Rolandslied des Pfaffen Konrad (Chanson de geste), das Nibelungenlied, die Rabenschlacht und der Wolfdietrich D (Heldendichtung), Wolframs von Eschenbach Parzival und Hartmanns von Aue Iwein (Artusdichtung). Dass es innerhalb dieser Ordnung auch Gattungsmischungen gibt, wird im Rahmen der Einzelanalysen berücksichtigt. Mein methodischer Ansatz lässt sich nur auf eine Auswahl an epischen Texten anwenden, eine erschöpfende Analyse aller mittelhochdeutschen Traumerzählungen erscheint mir nicht möglich, da deren Zahl zu groß ist. So hat bereits Fischer im Rahmen seiner Studie 63 Traumerzählungen ausfindig gemacht.20 Und er berücksichtigt dabei nicht einmal alle. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank21 etwa findet für troum, unter Berücksichtigung der verschiedenen grammatischen Formen und Schreibweisen des Wortes, 611 Belege in 108 Werken, wobei der Begriff in ganz unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen verwendet wird. Eine Gesamtanalyse würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zudem schließe ich für diese Studie auch Texte aus, deren Erzählweise bereits genügend erforscht wurde.22 Dass die hier getroffene Auswahl repräsentativ ist, soll nicht a priori behauptet werden. Es geht darum, am Beispiel der vierzehn Traumerzählungen verschiedene Möglichkeiten der Erzählweise aufzuzeigen, die sich in den unterschiedlichen erzählenden Gattungen ausprägen. Ob sich Prinzipien der Erzählweise gattungsübergreifend, gattungs- oder auch textspezifisch wiederho20 Fischer, The Dream, S. 151. 21 http://mhdbdb.sbg.ac.at/. 22 Das gilt etwa für den Prosa-Lancelot. Klinger hat hier bereits wesentliche Aspekte der Erzählweise herausgearbeitet. Sicherlich ließe sich ihr methodischer Ansatz im Rahmen einer weiteren Studie zum Prosa-Lancelot noch stärker ausdifferenzieren und systematisieren, aber das würde m. E. keine wesentlich neuen Erkenntnisse zeitigen. Klinger, Judith: Die Poetik der Träume. Zum Erzählen von und mit Traum-Bildern im Prosa-Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Hrsg. von Christoph Huber/Klaus Ridder. Tübingen 2007, S. 211–234, hier : S. 211. Auch Fuchs-Jolie, Bedeutungssuggestion, liefert zum Prosa-Lancelot bereits wesentliche Befunde. Ich gehe aber dennoch auf einige Träume aus dem Prosa-Lancelot am Rande dieser Studie ein, v. a. weil sich der Vergleich der Galahot-Träume mit dem Traum der Herzeloyde in atmosphärischer Hinsicht loht. Zudem erscheint mir ein Vergleich des Lancelot-Traums mit dem Traummonolog im Iwein aufschlussreich. Einleitung 21 len, überprüfe ich, wenn ich im Fazit die Befunde meiner Studie abschließend zusammenfasse, Traumerzählungen, die in dieser Studie behandelt werden, miteinander vergleiche. Dies kann aber auch schon vorher im Rahmen der Zusammenfassung einzelner Kapitel geschehen. II. Forschungsstand Zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung literarischer Träume in der mittelhochdeutschen Literatur wurden vier Dissertationen geschrieben.23 Die erste stammt von Emil Benez¦24, der untersucht, wie das Traummotiv in der mittelhochdeutschen Literatur bis 1250 verwertet wurde. Er stellt eine große Anzahl an Textbeispielen aus Epik und Lyrik zusammen, die er in seiner Studie jeweils kurz kommentiert.25 Dabei weist er u. a. auf allgemeine Funktionen von Traumerzählungen hin, etwa dass sie Neugierde wecken oder Stimmung schaffen sollen.26 Wilhelm Schmitz fragt nach formaler Gestaltung und kompositorischer Bedeutung von Traum und Vision in verschiedenen Jahrhunderten und versucht dabei Entwicklungslinien aufzuzeigen.27 Für das 9./10. Jahrhundert spricht er von »mythisch-magische[r]« Traumauffassung beeinflusst von »germanische[n] und antike[n] Anschauungen«28, wobei der Traum als »Warnungsmittel«29 diene. Mit der Hinwendung zur »biblischen und frühchristlichen Auffassung«30 in der Legendendichtung des 11./12. Jahrhunderts bekomme er eine »heilsgeschichtliche Erlebnisdimension« (z. B. Annolied)31, sei göttliche Wil- 23 Daneben gibt es noch eine Habilitationsschrift von Dinzelbacher, Vision, die diese Thematik auch berücksichtigt. Dinzelbacher aber setzt sich vor allem mit dem Phänomen der Vision auseinander, wobei Träume, wie oben erwähnt, als Unterart der Vision verstanden werden. Dinzelbacher berücksichtigt, anders als das in dieser Studie gemacht wird, Traum und Vision »ohne Differenz« (S. 59). Auf Träume aus der mittelhochdeutschen Dichtung wird eher am Rande eingegangen, in erster Linie geht es um Visionsliteratur mit Wahrheitsanspruch. Dinzelbachers Erkenntnisse werden im Rahmen dieser Studie auch berücksichtigt, an dieser Stelle aber nicht genauer dargestellt, weil sein Schwerpunkt ein anderer ist. 24 Benez¦, Emil: Das Traummotiv in der altdeutschen Dichtung bis 1250. Jena 1896, S. 2. 25 Ebd., S. 11. 26 Ebd., S. 54. 27 Schmitz, Traum und Vision, S. 1–2. 28 Ebd., S. 5. 29 Ebd., S. 6. 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 19. 24 Forschungsstand lensverkündung,32 sporne den Helden an,33 fordere ihn zur Handlung auf.34 In der weltlichen Dichtung des 12./13. Jahrhunderts diene er dann verstärkt dem »Ausdruck der psychischen Situation«35 einer Figur (z. B. Didos Traum im Eneas) sowie der »psychologischen Handlungsmotivierung«36. In der Heldenepik dagegen behalte er »magische Gültigkeit«37 bei. Die spät- und nachhöfische Dichtung des 13. Jahrhunderts verarbeite nur noch die vorangegangenen Motive.38 Steven R. Fischer versucht den breiten Einfluss der Traumtheorie des Macrobius auf mittelhochdeutsche Traumerzählungen nachzuweisen.39 Seine Methode ist die Typologisierung: Er ordnet in das fünfteilige Traumklassifikationsschema des Macrobius40 alle mittelhochdeutschen Traumerzählungen ein, die er in seiner Studie behandelt.41 Zudem verweist er auf die unterschiedlichen epischen Funktionen des Traums, etwa darauf, dass dieser die Erzählung interessanter mache, Spannung erhöhe, Handlung erzeuge, epische Figuren charakterisiere, eine bestimmte Weltsicht bestätige, verborgene Emotionen zum Ausdruck bringe usw.42 Guntram Haags Arbeit baut auf einer Abgrenzung zu Fischer auf, dessen Typologisierung er als monoperspektivisch zurückweist. Haag nimmt die Literarisierung einer »Vielfalt unterschiedlicher Anschauungen«43 an und bezieht bei seiner Auseinandersetzung mit literarischen Traumerzählungen aus epischen und lyrischen Texten mittelalterliche Traumbücher44 ebenso ein wie Losbücher, Lunare, physiologische Traumbücher, Traumtheorien von Gregor dem Großen,45 Augustinus,46 Johannes von Salisbury,47 Aristoteles48 u. a. Neben diesen vier Dissertationen finden sich zahlreiche Aufsätze zu dieser Thematik. Klaus Speckenbach setzt sich mit der »Traumallegorie«49, der »bild32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 Ebd., S. 30. Ebd., S. 19. Ebd., S. 41–42. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 83. Ebd., S. 86ff. Fischer, The Dream, S. 11f. Sowie S. 19ff. Vgl. zu dem Klassifikationsschema ausführlich ebd., S. 21f. Ebd., S. 37–150. Ebd., S. 156. Haag, Traum und Traumdeutung, S. 42. Ebd., S. 44–45. Fischer, The Dream, S. 49, FN 165 sowie S. 52f. Haag, Traum und Traumdeutung, S. 51f. Ebd., S. 55f. Ebd., S. 61. Speckenbach, Bildhafte Rede, S. 421. Forschungsstand 25 haften Rede«50 mittelhochdeutscher Traumerzählungen auseinander und stellt am Beispiel zahlreicher Traumerzählungen Überlegungen zu Möglichkeiten ihrer Enträtselung an. Albrecht Classen beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der »narrativen Funktion des Traumes in mittelhochdeutscher Literatur«.51 Dabei untersucht er, »was für ein Licht der Traum auf die Träumenden wirft, wie diese auf diese Erscheinung reagieren und welche Dimensionen sich für den Träumenden durch den Traum öffnen.«52 Der Traum verweise auf die Ebene des »Unterbewußtseins«53, er biete Möglichkeiten zur »Selbsterkenntnis«54 und in diesem Zusammenhang Möglichkeiten, das eigene »Schicksal in förderlicher Weise zu beeinflussen«55. Classen versucht, das an einer Reihe populärer mittelhochdeutscher Traumerzählungen zu zeigen. In einem weiteren Aufsatz setzt sich Speckenbach mit drei Traditionssträngen des mittelalterlichen Traumphänomens auseinander56 und stellt dabei die These auf, dass Traum und Traumdeutung im Mittelalter »kein einheitliches Phänomen«57 seien. Mit Traumtheorien, deren Traditionslinien Speckenbach von der Antike bis ins Mittelalter nachzeichnet, setzten sich vor allem die Gelehrten auseinander.58 Die zumeist allegorisch verrätselten literarischen Träume erfüllten, wie Speckenbach an Traumerzählungen aus dem Nibelungenlied, Veldekes Eneas, Wernhers Helmbrecht und Gottfrieds Tristan nachzuweisen versucht,59 zumeist erzähltechnische und dramaturgische Funktionen.60 Die Traumbücher schließlich als dritte Traditionslinie richteten sich an die Laien und »dienen häufiger der lebenspraktischen Beratung […].«61 Barbara Haupt untersucht, was literarische Träume über die »psychische Befindlichkeit«62 vor allem weiblicher Figuren aussagen und versucht in diesem Zusammenhang zu ergründen, inwieweit sie über ein historisches Menschenbild Auskunft geben können.63 Im Rahmen ihrer Analyse der Träume Didos (Hein50 Ebd., S. 442. 51 Classen, Albrecht: Die narrative Funktion des Traumes in mittelhochdeutscher Literatur. In: Mediaevistik 5. 1992, S. 11–37. 52 Ebd., S. 11. 53 Ebd., S. 21. 54 Ebd., S. 11. 55 Ebd. 56 Speckenbach, Kontexte, S. 298. 57 Ebd., S. 316. 58 Ebd., S. 298ff. 59 Ebd., S. 305ff. 60 Ebd., S. 316. 61 Ebd. 62 Haupt, Barbara: Die Träume der Frauen in epischen Texten des Hochmittelalters, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. S. 164. 63 Ebd., S. 165.