Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz
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Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz
BERLINISCHE GALERIE LANDESMUSEUM FÜR MODERNE KUNST, FOTOGRAFIE UND ARCHITEKTUR STIFTUNG ÖFFENTLICHEN RECHTS ALTE JAKOBSTRASSE 124-128 10969 BERLIN POSTFACH 610355 – 10926 BERLIN FON +49 (0) 30 –789 02–600 FAX +49 (0) 30 –789 02–700 [email protected] Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz Evaluation der barrierefreien Angebote für blinde und sehbehinderte Besucher Stand Juli 2014 A. Einleitung B. Medienresonanz C. Maßnahmen laut Checkliste „Sehen“ 1. Orientierung & Wege 2. Ausstellungselemente a. Tastmodelle b. Audioguide 3. Führungen & Schulungen 4. Kommunikation & PR D. Ausblick A. Einleitung Besucherkommentare zur Ausstellung „Wien Berlin“ „Besonders begeistert hat mich der äußerst gelungene Zugang für sehbehinderte und blinde Besucher, da ich als Angehörige eines blinden Vaters selbst davon profitieren konnte, mit meinem Vater die Freude an dieser wunderbaren Ausstellung zu teilen.“ „Exponate speziell für uns: Das war natürlich sensationell!“ „Die bereitgestellten Tastvorlagen sowie der Audioguide und schließlich auch die Bereitschaft, Führungen für Blinde und Sehbehinderte anzubieten, erfüllen meines Erachtens durchaus das Kriterium „barrierefrei“.“ Die Ausstellung „Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz“, die vom 24. Oktober 2013 bis zum 27. Januar 2014 in der Berlinischen Galerie gezeigt wurde, war eine Kooperation mit der Österreichischen Galerie Belvedere und ein herausragendes Projekt für beide Museen. Mit Fokus auf der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts bestand die Gelegenheit, Meisterwerke beider Sammlungen im Dialog miteinander zu zeigen: Darunter Arbeiten von Künstlern wie Max Beckmann, Otto Dix oder Lotte Laserstein als Berliner Positionen und Erika Giovanna Klien, Gustav Klimt oder Egon Schiele für die Wiener Seite. Über 130.000 Besucher nutzten die Gelegenheit zum Besuch der Schau in Berlin. Mit der Ausstellung widmete sich das Landesmuseum erstmals in diesem Umfang dem Feld der Barrierefreiheit, insbesondere für blinde und sehbehinderte Besucher.1 1 Darüber hinaus war die Ausstellung auch für mobilitätseingeschränkte Personen barrierefrei, was in dieser Evaluation jedoch nicht im Vordergrund steht. 1 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Das Museum für neue Besuchergruppen zu öffnen und Zugänge zu schaffen, gehört im Sinne eines aktiv verstandenen Bildungsauftrags zum Selbstverständnis der Berlinischen Galerie. Ziel ist die gleichberechtigte kulturelle Teilhabe auch für Menschen mit Behinderungen. In Übereinstimmung mit dem Behindertengleichstellungsgesetz 2002, § 4 sollte die Ausstellung „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sein.“ Grundlage für die realisierten Maßnahmen bildeten die „Checklisten zur Konzeption und Gestaltung von barrierefreien Ausstellungen“, die der Landesverband der Museen zu Berlin 2011 veröffentlichte. Vom taktilen Bodenleitsystem über tastbare Kunstwerke bis hin zu einem speziellen Audioguide wurden zahlreiche Angebote für blinde und sehbehinderte Besucher entwickelt. Im Überblick: 170 Meter Bodenleitstreifen, 5 Tastmodelle von Kunstwerken, 2 tastbare Orientierungspläne, 120 Min. Audio-Texte für blinde Besucher Mindestens 120 blinde und sehbehinderte Individualbesucher2 30 blinde und sehbehinderte Teilnehmer Tastführung 5.176 Besucher mit Schwerbehindertenausweis insgesamt 40.000 Euro Budget für sämtliche Maßnahmen zzgl. personelle Ressourcen Da Barrierefreiheit von Anfang an als integraler Bestandteil der Ausstellung begriffen wurde, fanden bereits zwei Jahre vor Ausstellungsbeginn erste Gespräche mit Verbandsvertretern und einzelnen Betroffenen statt. Die Kernzeit der Vorbereitung begann etwa sechs Monate vor Ausstellungsbeginn, wobei ein längerer Vorlauf hier notwendig gewesen wäre. Da die Berlinische Galerie auf dem Gebiet des für Blinde barrierefreien Museums Neuland eroberte, wurde eine externe Beratung im gesamten Prozess hinzuzugezogen. Fachlich beraten und unterstützt wurde das Museumsteam von Hilke Groenewold (Architektin und Sachverständige für Barrierefreiheit). In einer Evaluation während der Ausstellung wurden insgesamt 17 blinde oder sehbehinderte Besucher befragt oder haben aktiv Rückmeldung zu den barrierefreien Angeboten gegeben.3 Evaluationsgrundlage bildeten Fragebögen, Feedback per Email und Post, das Besucherbuch des Museum sowie der mündliche Austausch mit einzelnen Personen (Fragebögen siehe Anhang). Wenngleich rein quantitative Angaben zu einer Gesamtbewertung nicht ausreichen, lässt sich festhalten, dass die Ausstellung von blinden und sehbehinderten 2 Statistisch erfasst wurden nur jene blinden und sehbehinderten Besucher, die auch den Audioguide nutzten, laut Datenauswertung 120 Personen. Es darf jedoch vermutet werden, dass mehr Personen die Ausstellung ohne Audioguide besucht haben. 3 In einem mündlichen Interview wurden einige Teilnehmer der Tastführungen befragt (Fragebogen Teilnehmer Tastführung). Um einen größeren Kreis an Evaluationsteilnehmern zu erreichen und um Feedback zu den Angeboten für Individualbesucher zu erhalten (z.B. zum Audioguide), wurden außerdem Fragebögen für Individualbesucher entwickelt. Diese wurden über verschiedene ABSV-Verteiler gestreut und das Feedback von der Berlinischen Galerie gesammelt. Teilweise wurde der Fragebogen für Individualbesucher den Antworten zugrunde gelegt und die entsprechenden Ausschnitte mit Antworten zurückgeschickt. Andere Umfrageteilnehmer schickten einen Fließtext und gingen auf die Themen des Fragebogens teilweise sehr ausführlich, teilweise auch gar nicht ein. Für die in dieser Evaluation genannten Prozentzahlen wurden jeweils nur die Teilnehmer gewertet, die sich auch zu dem jeweiligen Aspekt geäußert haben. Daher variiert das „n“, also die jeweilige Gesamtzahl der Befragten, je nach Frage. 2 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Besuchern insgesamt gut angenommen wurde. Mindestens 150 blinde oder sehbehinderte Besucher haben die Ausstellung besucht. Zu unseren Besuchern zählten u.a. späterblindete Kunsthistoriker, blinde Künstler, aber auch zahlreiche ältere Menschen mit Sehbehinderung, die ein großes Interesse an der Bildenden Kunst haben und das sinnliche Erlebnis im Museum gerne wahrnehmen. Wie hat es Ihnen gefallen? Die Befragten bewerteten die Ausstellung mit der Note 1,4 (Skala 1-5). 100% der Tastführungsteilnehmer hatten schon einmal eine Ausstellung mit speziellen Angeboten für Blinde besucht. 100% der Befragten würden sich wünschen, dass es mehr solcher Angebote in Kunstmuseen gibt. B. Medienresonanz Das Interesse der Medien an den Aktivitäten für ein barrierefreies Museum war deutlich zu spüren (Abbildung 1a-c). Bereits im Vorfeld der Ausstellung, ausgelöst durch spezielle Angebote in Gebärdensprache zur Ausstellung „Tobias Zielony. Jenny Jenny“ im Sommer 2013, rückte die überregional agierende kunstzeitung das Thema museumsübergreifend in den Fokus. Ein umfangreicher Bericht im Tagesspiegel konzentrierte sich auf die Maßnahmen zu „Wien Berlin“ in der Berlinischen Galerie. Auch der Berliner Sender Radio Paradiso berichtete mit einem Interview zum Thema Barrierefreiheit aus der Ausstellung. Das Stadtmagazin Tip nahm schließlich den Faden beim nächsten Projekt der Berlinischen Galerie auf und kündigte die Ausstellung „Dorothy Iannone“ mit dem Tastführungsangebot an. Abbildung 1a-b: Medienberichte in der kunstzeitung und im Tagesspiegel 3 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE C. Maßnahmen laut Checkliste „Sehen“ 1. Orientierung und Wege Ziel war es – in Korrespondenz mit der Checkliste Sehen –, blinden und sehbehinderten Individualbesuchern einen möglichst eigenständigen Rundgang zu ermöglichen. Neben der inhaltlichen Informationsvermittlung bedarf es hierfür eines klaren Leit- und Orientierungssystems. Dies stellte eine besondere Herausforderung dar, erstreckte sich doch die Ausstellung über rund 2200 qm, die sich auf zehn Räume verteilten. Für den Weg von der nächstgelegen U-Bahn-Station wurde von „Berlin für Blinde“ eine detaillierte Wegbeschreibung erstellt, die als mp3 abrufbar auf www.berlinfuerblinde.de zur Verfügung stand. Auf der Museumswebsite befanden sich ebenfalls ausführliche Informationen zu den Angeboten sowie ein Link zur genannten Wegbeschreibung. Die Wegbeschreibung auf berlinfuerblinde.de wurde jedoch von keinem der Befragten genutzt und war offensichtlich nur wenigen blinden Besuchern bekannt.4 Die Evaluation ergab, dass keiner der Befragten die Ausstellung ohne Begleitung besuchte, 55% kamen in Begleitung eines Sehenden. 75% der Befragten gaben an, den Weg zum Museum gut gefunden zu haben. Taktiles Bodenleitsystem mit Aufmerksamkeitsfeldern "Das Leitsystem war für uns mit Schwierigkeiten nutzbar, häufig stehen Besucher auf dem Leitstreifen, und der Informationsgehalt der Aufmerksamkeitsfelder ließ sich nicht immer eindeutig zuordnen.“ „Der Inhalt „Taststation" oder "Richtungsänderung" war für mich nicht unterscheidbar.“ „Die Leitlinie finde ich tastbar und mit Langstock verfolgbar.“ Da es sich bei der Ausstellung „Wien Berlin“ um eine temporäre Präsentation handelte, konnte kein festes Leitsystem installiert werden. Das letztendlich ausgewählte, reversible Leitsystem bestand aus transparenten, rauen Hauptlinien und schwarzen Aufmerksamkeitsfeldern, die jeweils die Tast- oder Hörstationen anzeigten (Abbildung 2). Mit dem Blindenstock konnten diese Linien ertastet werden. Dennoch benötigte der Besucher, besonders an den Abzweigungen und Kreuzungen der Leitlinien, zusätzliche Orientierungshinweise des Audioguides. 4 Laut Angaben von Förderband e.V. waren 23 Personen auf der Website, auf welcher der Link abgerufen werden konnte. 4 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Abbildung 2: Bodenleitsystem bestehend aus rauem Hauptleitstreifen und schwarzen Aufmerksamkeitsfeldern © Foto: Amin Akhtar 70% der befragten Besucher nutzten das Bodenleitsystem. 42% davon fanden das Leitsystem nützlich für die Orientierung in der Ausstellung, 29% fanden es mit Einschränkung nützlich. Schwierigkeiten ergaben sich vor allem an den Abzweigungen der Linienführung. Vereinzelt wurde der Wunsch geäußert, die Abbiegerichtung nach rechts oder links deutlich im Audioguide zu nennen. Viele Besucher fühlten sich durch die schwarzen Aufmerksamkeitsfelder nicht genügend auf die Hör- und Taststationen hingewiesen (75%). 75% der Befragten empfanden die Orientierungshinweise im Audioguide als wenig hilfreich. Taktile Grundrisspläne Die tastbaren Grundrisspläne gaben sämtliche Ausstellungsräume wieder, den Verlauf des Bodenleitsystems sowie die einzelnen Tast- und Hörstationen (Abbildung 3). Der Leitstreifen war im Plan durch eine andere Oberflächenbeschaffenheit von den Raumwänden unterscheidbar. Die Pläne waren kontrastreich und in erhabenem Großdruck sowie in Braille-Langschrift gekennzeichnet. Sie waren an zwei Stellen Ausstellungsrundgang positioniert, damit sich der Besucher zwischendurch erneut orientieren konnte. Abbildung 3: Taktiler Grundrissplan in der Ausstellung © Foto: Amin Akhtar 5 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Feedback und Optimierungen • Die taktilen Orientierungspunkte („Ihr Standort“) wurden zur besseren Unterscheidbarkeit von anderen Symbolen mit einem Dreieck gekennzeichnet. Nach einem Test durch Betroffene vor Ausstellungsbeginn wurde das Dreieck überarbeitet und zur besseren Auffindbarkeit nochmals erhöht. • Insgesamt gab es zu wenig Feedback zu den Plänen, um aussagekräftige Bewertungen daraus zu entnehmen. In Einzelrückmeldungen und Gesprächen wurde bemerkt, dass die Orientierung per Plan in einer derart komplexen Ausstellung generell schwierig sei. Strittig war, ob der Plan in dieselbe Richtung wie die Räume hätte ausgerichtet sein müssen. Eine deskriptive Erläuterung des Plans im Audioguide wäre hilfreich gewesen. Exkurs: Kontrastreichtum und Lesbarkeit Insgesamt hat sich die Ausstellung als besser geeignet für Blinde, jedoch weniger gut geeignet für Sehbehinderte erwiesen: Für Besucher mit Sehbehinderung müssten Lösungen gefunden werden, die vor allem den Bedürfnissen nach besserer Lesbarkeit und Kontrastreichtum entgegenkommen. Hier liegt momentan noch ein ästhetischer Interessenkonflikt: Viele Kunstmuseen streben den sogenannten White Cube an, den minimalistisch reduzierten, oft weißen Ausstellungsraum, in dem Kunst – vermeintlich – ohne Ablenkung präsentiert werden kann. Wie lässt sich diese Ästhetik mit kontrastreichen Bodenleitlinien oder Beschilderungen in großer Schrift vereinen, die für sehbehinderte Besucher eine Notwendigkeit darstellen? Wo lassen sich künftig Kompromisslösungen finden, die sowohl den ästhetischen Ansprüchen der sehenden Besucher als auch den Bedürfnissen sehbehinderter Menschen entsprechen? • Für Sehbehinderte wären u.a. folgende Aspekte von Bedeutung gewesen: Kontrastreiches Bodenleitsystem zur Orientierung Informationen (z.B. Labels, Wandtexte, Handouts…) in kontrastreichem Großdruck Gute Ausleuchtung der Exponate / Leuchtdichtekontrast Größenverstellbare Schrift auf dem Touchscreen des Multimediaguides Fotografie-Erlaubnis (zur Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs) Bemerkenswert ist, dass laut zahlreichen Einträgen im Besucherbuch des Museums die Label-Schrift von einem großen Teil aller Besucher als zu klein und schwer lesbar empfunden wurde. Hier liegt ein großes Optimierungspotential für künftige Projekte, wobei – entsprechend der Richtlinien des Corporate Designs der Berlinischen Galerie – eine übergreifende Lösung für sämtliche Ausstellungs- und Sammlungsbereiche gefunden werden muss. 6 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE 2a. Ausstellungselemente: Tastmodelle Von ausgewählten Kunstwerken wurden fünf taktile Reliefs und Tastfolien entwickelt. Für jede „Übersetzung“ eines Kunstwerks in ein Tastmodell wurde eine individuelle Lösung gefunden, je nach Form und Inhalt des Originals. Richtwert für alle Tastmodelle war das Format A3 oder etwas kleiner – eine Größe, die sich gut mit den Händen erfahren lässt. Auswahlkriterien: Repräsentativität des Werks für die Ausstellung und die einzelnen Stilrichtungen / Kapitel Beispiele von sowohl Wiener als auch Berliner Positionen Unterschiedliche Medien: Gemälde, Grafik, Skulptur Lässt sich das Werk gut in tastbare Strukturen übersetzen? In enger Zusammenarbeit mit dem Ausstellungsarchitekten5 wurden die Tastobjekte dezent und zugleich sichtbar in den Ausstellungsparcours integriert: So standen Original und Tastreplik nicht in unmittelbarer visueller Konkurrenz, konnten jedoch in den meisten Fällen gleichzeitig betrachtet bzw. ertastet werden. Diese Integration der Modelle richtete sich an Individualbesucher und kam sowohl den Bedürfnissen sehbehinderter Besucher mit Restsehfähigkeit entgegen als auch dem gemeinsamen Rundgang von blinden und sehenden Besuchern. Bewertung der Tastmodelle im Überblick: • Zur Ausstellung gab es 5 Tastmodelle zu Kunstwerken. In den Tastführungen bestand zudem die Möglichkeit, ein Original (die BronzePlastik „Herwarth Walden“ von William Wauer) zu ertasten. • Im Durchschnitt haben die Tastmodelle den Besuchern gut (Note 1,7) gefallen. • Auf die Frage "Ist Ihnen ein Tastmodell besonders gut oder besonders schlecht aufgefallen?" antworteten 9 Personen mit „ja“.6 • Von allen Tastmodellen sind den Besuchern jene zu Klimt und Kokoschka besonders in Erinnerung geblieben, sei es positiv oder negativ. Besonders gut schnitt das Tastmodell zu Klimt ab, eher schlecht jenes zu Grosz. • Die Tastmodelle von Schlichter und Wacker wurden bei Rundgängen aus Zeitmangel oft ausgelassen, daher gab es kaum Feedback. • Die Anzahl der Tastmodelle in der Ausstellung hielten 62,5% der Befragten für ausreichend, 37,5% hätten sich mehr Tastmodelle gewünscht. • Fast alle Führungsteilnehmer hoben das Tasten am Original als besonders positiv hervor. 5 Ausstellungsarchitektur „Wien Berlin“ inklusive Einbindung der Tastmodelle: david saik, architekt Nicht alle Personen hatten alle Tastmodelle zuvor nutzen können. In der Tastführung wurden die Tastmodelle Kokoschka und Wacker nicht genutzt. 6 7 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Taststation zum Gemälde „Johanna Staude“ von Gustav Klimt Abbildung 4a: Gustav Klimt, Johanna Staude (unvollendet), 1917/18, © Belvedere, Wien Abbildung 4b-d: Taststation zum Gemälde, © Fotos: Carolin Wagner Das Gemälde „Porträt der Johanna Staude“ von Gustav Klimt und die dazugehörige Bluse aus den Wiener Werkstätten wurden in drei Stufen taktil erfahrbar (Abbildung 4a-d): Ertastbare Flockdrucke der Umrisse der Person und des Stoffmusters sowie im dritten Schritt das Fühlen von Seide und Federn vermittelten plastisch einen Eindruck der Originale. Präsentiert wurde das Objekt in einem in der Wand eingelassenen Schubladenelement. 75% der Befragten bewerteten diese Taststation positiv. Mehrfach hervorgehoben wurde dabei die Möglichkeit des sinnlichen Zugangs beim Tasten der Stoffe. Diese Station war zugleich die einzige, an der das Tastobjekt nicht in direkter Nähe zum Original platziert werden konnte. „Johanna Staude nebst sämtlichen Objekten hat mir sehr gut gefallen, allerdings hätte ich es sinnvoller gefunden, wenn man von den Tastmodellen aus noch auf das Bild hätte blicken können.“ „Das auf Holz aufgebrachte textile Material erlaubt keine unterschiedlichen Höhen und nur begrenzt feine Zeichnungen.“ „Anstelle der Anordnung der Schubkästen untereinander wäre die nebeneinander sinnvoller zum gleichzeitigen Tasten durch mehrere Besucher (vor allem bei Tastführungen) gewesen. Für Einzelbesucher war sie durchaus sinnvoll.“ 8 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Taststation zum Plakat “Der Sturm. Neue Nummer” von Oskar Kokoschka Abbildung 5a: Oskar Kokoschka, Der Sturm. Neue Nummer, 1911, Kunstbibliothek SMB, Berlin, (c) VG BILDKUNST, Bonn, 2013, © Foto Amin Akhtar Abbildung 5b: Tastrelief zu Oskar Kokoschka, © Foto Amin Akhtar An der Grafik “Der Sturm. Neue Nummer” von Oskar Kokoschka schien vor allem die klare, grafische Gestaltung für eine Umsetzung als Tastmodell sehr geeignet. Aus der linienhaften Darstellung wurden von der Deutschen Zentralbücherei für Blinde Leipzig Strichvorlagen entwickelt. In dem aus Corian gefrästen Relief wurden so fünf unterschiedliche Höhenebenen taktil erfahrbar (Abbildung 5a-b). Das Modell wurde zu gleichen Teilen positiv wie negativ hervorgehoben. Als schwierig zu tasten stellte sich einerseits die Schrift, andererseits die perspektivische Darstellung der Hand heraus. „…Darstellung einer Hand in Perspektive: Die Mischung aus Umrisszeichnung und flächiger Darstellung macht es sehr schwer nachzuvollziehen, wie die Haltung und Ausrichtung der Hand ist.“ „…zu kompliziert zu tasten.“ Taststation zur Plastik „Der wildgewordene Spießer“ von Georges Grosz und John Heartfield Abbildung 6a: George Grosz und John Heartfield, Der wildgewordene Spießer, Elektro-mechanische Tatlin-Plastik. Rekonstruktion Michael Sellmann 1988, 1920, Berlinische Galerie, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 9 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Abbildung 6b: Tastation zu Grosz und Heartfield, © Fotos Amin Akhtar Die Grundidee bei der Umsetzung der Plastik „Der wildgewordene Spießer“ von Georges Grosz und John Heartfield als Tastmodell bestand darin, eine als Flockdruck tastbare Darstellung der Gesamtplastik mit einzelnen Gegenständen zu kombinieren, wie sie auch am Original angebracht sind – z.B. Hausklingel, Revolver, militärische Orden. So entstand eine Art „Legende“ (Abbildung 6a-b). 80% der Befragten bewerteten das Modell negativ. Als Begründungen wurden zumeist die ungünstige Positionierung im Raum sowie die Abstraktion der Umsetzung genannt: Nur schwer entstand im Kopf ein Bild des Originals. Positiv hervorgehoben wurde die Möglichkeit, die einzelnen Gegenstände ertasten zu können. Die extra eingefügten Fäden, die eine Verbindung zwischen den Gegenständen und der Position auf der Figur darstellten, wurden oft als missverständlich empfunden. Taststation zum Gemälde „Sitzende Jenny“ von Rudolf Schlichter Abbildung 7a: Rudolf Schlichter, Sitzende Jenny, 1922/23, Berlinische Galerie, © Viola Roehr-von Alvensleben Abbildung 7b: Tastrelief zum Gemälde, © Foto: Amin Akhtar Das Gemälde „Sitzende Jenny“ von Rudolf Schlichter gehört (wie die Plastik „Der wildgewordene Spießer“) in die Sammlung der Berlinischen Galerie. Daher kann das zur Ausstellung „Wien Berlin“ realisierte Tastmodell langfristig in der Dauerausstellung genutzt werden, so dass für die Umsetzung ein besonders aufwändiges Verfahren und hochwertige Materialien verwendet wurden. Die Digitalisierung wurde vom Institut VRVis in Wien vorgenommen: Mit einer speziellen Software wurde das zweidimensionale Bild in mehrere Ebenen aufgeteilt und schließlich als Tastmodell im Material Corian gefräst. So entstand eine sehr plastisch-körperliche Darstellung des Bildinhalts (Abbildung 7 a-b). Das Tastmodell von Schlichter war im letzten großen Ausstellungsraum präsentiert und wurde daher bei Führungen und von Einzelbesuchern oft ausgelassen. Laut mündlichem Feedback einzelner Besucher wurde die Taststation sehr positiv bewertet. Besonders die im Zentrum stehende Frauenfigur war – auch mit Hilfe der Audio-Beschreibung – gut erkennbar, während manche Gegenstände (Regale, Ecken) im Hintergrund zum Teil Schwierigkeiten bereiteten. 10 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE „Die Möglichkeit, sitzend zu tasten, war ebenfalls sehr angenehm, die sitzende Jenny sowohl in der Materialwahl als auch in der Darstellungsart sehr gut.“ Taststation zum Gemälde „Stillleben mit Kistendeckel“ von Rudolf Wacker Abbildung 8a: Rudolf Wacker, Stillleben mit Kistendeckel, 1930 © Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke Abbildung 8b: Tastrelief zum Gemälde, © Foto: Hilke Groenewold Das Tastrelief zum Gemälde „Stillleben mit Kistendeckel“ von Rudolf Wacker wurde im selben Verfahren und Material hergestellt wie jenes zur „Sitzenden Jenny“ (Abbildung 8a-b). Da es ebenfalls im letzten Ausstellungsraum zu erleben war, liegt nur wenig Besucherfeedback dazu vor. Aus Kostengründen konnte nur ein etwas kleineres Relief gefräst werden als ursprünglich geplant. Es stellte sich heraus, dass dadurch – trotz sorgfältigster Ausmodellierung – manche Bildelemente (z.B. Knoblauch) zu klein und nicht eindeutig identifizierbar waren. Auch stellte die perspektivische Verzerrung des Originalgemäldes eine Herausforderung dar. Vereinzelt wurde der Wunsch geäußert, dass die audiodeskriptive Lenkung der Hände hier noch dezidierter hätte erfolgen können. Exkurs: Tastmodelle als inklusives Angebot für alle Besucher Die Tastmodelle bieten eine besondere Möglichkeit der Annäherung an ein Kunstwerk und damit einen Mehrwert für blinde wie für sehende Besucher. Im Sinne der Inklusion wurden die Tastmodelle auch in Schulklassenprogrammen und in den Museumskoffer für Familien integriert: Ein erstmals zur Ausstellung „Wien Berlin“ realisiertes Vermittlungsformat, das der Verein Jugend im Museum, in enger Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie entwickelt hat7 (Abbildung 9). 7 Konzept: Beate Gorges und Barbara Antal, Jugend im Museum e.V. 11 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Abbildung 9: Museumskoffer für Familien, © Foto: Carolin Wagner Der kleine Reisekoffer enthielt neben einem Zeichenblock, Stiften und einer Stoppuhr rund 40 Aufgaben- und Wissenskarten, die das selbständige Entdecken der Ausstellung ermöglichten. Eine der Aktionen bezog sich auf das Tastrelief der Grafik von Oskar Kokoschka: Hier konnten die Kinder anfassen, Druck ausüben, die Temperatur bestimmen und schließlich testen, welches Bild sich beim „Sehen mit den Händen“ im Kopf einstellt. In den Schulprogrammen beschrieb jeweils eines der Kinder mit verbundenen Augen seinen Eindruck vom Tasten, während die anderen nach der Beschreibung zu zeichnen versuchten – ein Experiment, das die Wahrnehmung herausfordert und das Gespräch über Kunst anregen kann. Grundsätzlich ist künftig auch eine Kennzeichnung der Tastmodelle zu empfehlen. In der Ausstellung „Wien Berlin“ wurden sehende Besucher lediglich über ein allgemeines Hinweisschild am Eingang über die barrierefreien Maßnahmen informiert. Sowohl für blinde (in taktiler Schrift) als auch für sehende Besucher könnte ein Schild direkt am Objekt („Please touch“ o.ä.) sinnvoll sein, das den aktiven Gebrauch der Modelle anregt. So wäre auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und dem Tastmodell als Vermittlungsmedium gegeben. 2b. Ausstellungselemente: Audioguide Neben einem Multimediaguide für alle Besucher gab es einen speziellen Audioguide. Entwickelt in Zusammenarbeit mit Acoustiguide GmbH und dem Projekt „Berlin für Blinde“ von Förderband e.V., war dieser auf die Bedürfnisse blinder und seheingeschränkter Besucher ausgerichtet. Neben audiodeskriptiven Texten zu den Kunstwerken gab der Guide auch Orientierungshinweise, mit deren Hilfe das taktile Bodenleitsystem nutzbar wurde (Abbildung 10). 12 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Abbildung 10: Das Bodenleitsystem und die taktilen Bilder erschließen sich mit Hilfe der audiodeskriptiven Hinweise auf dem Audioguide. © Foto: Amin Akhtar Im Überblick: • Ca. 120 min. Spieldauer mit Informationen zu 14 Kunstwerken • Bildbeschreibungen, Tastbeschreibungen sowie Orientierungshinweise • zusätzlich sämtliche Wandtexte zu den einzelnen Ausstellungsräumen als Hörtexte verfügbar • Hardware: Gerät Opus Click der Firma Acoustiguide GmbH (mit Tastatur, Ziffer 5 mit erhabener Kennzeichnung) • 120 blinde oder sehbehinderte Besucher liehen sich den Audioguide aus. • 90% der befragten Individualbesucher haben den Audioguide genutzt. • Die inhaltlichen Informationen zu den Kunstwerken wurden von 71% als positiv bewertet, die Orientierungshinweise hingegen von 75% als negativ. Technik und Orientierung: Unmittelbar vor Ausstellungsbeginn – zu dem Zeitpunkt, da alle Kunstwerke ihre Position gefunden hatten und das Bodenleitsystem verlegt worden war – fand ein Test-Rundgang mit drei blinden und sehbehinderten Personen statt (Abbildung 11). Abbildung 11a-b: Testrundgang durch die Ausstellung mit blinden und sehbehinderten Besuchern 13 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Hier wurde mit Demo-Versionen bzw. eingesprochenen Texten der Audioführung erprobt, ob die Audiotexte in Verbindung mit dem Bodenleitsystem eine eigenständige Orientierung ermöglichen. Im Anschluss an den Termin wurden die Texte entsprechend optimiert und der Audioguide endgültig fertiggestellt. Dieser Praxistest schien zwingend notwendig und brachte wertvolle Erkenntnisse, führte jedoch dazu, dass die Audioguides erst zwei Wochen nach Ausstellungsbeginn zur Verfügung standen. „Für Ungeübte ist die Tastatur nicht immer einfach zu unterscheiden.“ „Akustische Informationen waren für uns hilfreich.“ „Mir fehlten Tasten zur Veränderung der Sprechgeschwindigkeit.“ „Wenn Kunstfreunde mit und ohne Seheinschränkung die Ausstellung gemeinsam mit den beiden verschiedenen Audioguides besuchen, haben sie nicht die gleichen Informationen. Hinzu kommt noch das Problem, dass die Nummerierung auf beiden Audioguides unterschiedlich ist.“ Die Tatsache, dass die Auswahl der Kunstwerke sowie die laufende Nummerierung von Multimediaguide und Audioguide für Blinde nicht identisch waren, erschwerte einen gemeinsamen Rundgang von blinden und sehenden Besuchern und wurde vielfach kritisiert. Hier zeigte die Evaluation deutlich, dass eine stärkere Übereinstimmung beider Rundgänge gewünscht wird, die eine selbstbestimmte Auswahl ermöglicht. Eine Möglichkeit wäre künftig, ein Gerät mit verschiedenen Spuren und Vertiefungsebenen für alle Besucher anzubieten. Die Kritik an den Orientierungshinweisen resultierte aus dem Zusammenspiel von Audioguide und Bodenleitsystem, das nicht immer eindeutig funktionierte. Zudem waren die einzelnen Hör- oder Taststationen in der Ausstellung nicht mit Nummern versehen, da der Rundgang als ein durchgehender angelegt war. Das Gerät ermöglichte jederzeit ein Stoppen, Neustarten und Zurückspulen. Viele blinde Nutzer hätten sich jedoch eine taktile oder zumindest für die sehende Begleitung deutlich sichtbare Nummerierung an den einzelnen Stationen gewünscht, um den Wiedereinstieg zu erleichtern. Inhalte: „Zusammen mit dem Text des Audioguides lässt sich das betreffende Bild im „inneren Auge“ entwerfen. Die Texte im Audioguide sind sprachlich gut ausgearbeitet… Meine Begleitperson fand in meinem Audioguide Hinweise, die sie auf Dinge hinwiesen, die sie durch den Audioguide für Sehende kaum bemerkt hätte.“ „Die Beschreibungen sind nicht so, dass ich mir als blinder Besucher wirklich vorstellen kann, wie die Bilder aussehen. Wie z.B. kann ich mir „Verkürzungen und Verzerrungen der Perspektive“ vorstellen?“ 14 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE „Bild- bzw. Exponatbeschreibungen: Die waren toll. Auch dass bei den Bildern, die zusätzlich für uns dargestellt waren, zuerst das Original und dann das Tastangebot beschrieben wurde, war eine sehr gute Lösung.“ In Bezug auf die inhaltlichen Informationen wurde der Audioguide insgesamt positiv bewertet. Die Hörtexte waren mehrstufig aufgebaut: allgemeine informative Einführung analog zum Multimediaguide – Beschreibung von Bildaufbau, Bildgehalt und der erzeugten Bildwirkung – bei Tastobjekten ggf. Tastnavigation – Interpretation und vertiefende Information. Diese Struktur eignete sich in den meisten Fällen gut, um ein Bild vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Eine deutlichere Trennung der audiodeskriptiven Bildbeschreibung von den kunsthistorischen Daten wäre in manchen Fällen angebracht gewesen. Hilfreich ist auch, vor dem eigentlichen Tasten mit einer orientierenden Beschreibung des Tastobjekts zu beginnen. Gerade bei abstrakten Gemälden wäre eine detailliertere Beschreibung notwendig gewesen. Uneinigkeit herrschte in der Frage, ob bzw. an welcher Stelle im Audiotext interpretative Informationen geliefert werden dürfen (z.B. zu persönlichen Eindrücken, Atmosphäre des Bildes) oder ob die Audiodeskription eine möglichst „neutrale“ Beschreibung des Kunstwerks geben solle. 3. Führungen und Schulungen Da wir Barrierefreiheit als ganzheitliches, die gesamte Institution betreffendes Thema begreifen, wurden auch Schulungen für interne und externe Mitarbeiter durchgeführt: In Sensibilisierungstrainings und praktischen Übungen lernten unsere Besucherbetreuer und Referenten den Umgang mit blinden und sehbehinderten Besuchern sowie spezielle Vermittlungstechniken, so dass auch Tastführungen ins Programm aufgenommen werden konnten. Besucherservice: Schulungen für Besucherbetreuer In einer 90-minütigen Workshop-Einheit sind die Besucherbetreuer des Museums durch blinde und sehende Experten geschult worden. Alle Teilnehmer erhielten zur Nachbereitung die Handreichung „Tipps für den respektvollen Umgang mit behinderten Menschen“ des Deutschen Knigge-Rats. Vereinzelte Rückmeldungen der Besucher zum Personal fielen sehr positiv wie negativ aus. Kritisch bemerkt wurde, dass das Personal manchmal zu wenig informiert war über die Angebote wie die Tastmodelle oder den AudioguideRundgang. Eine intensivere Schulung aller Service-Mitarbeiter – mit vertiefenden Erläuterungen speziell zu den Tastmodellen und dem Audioguide – wären künftig empfehlenswert. „Extrem freundlich und hilfsbereit. Wir mussten uns manchmal der Hilfe erwehren. … Bei Nachfragen unsererseits wäre es hilfreich gewesen, wenn das Personal die Nummern [des Audioguides] gehabt hätte…“ 15 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE „Mir ist keine Information über den Audioguide für Sehbehinderte aufgefallen, und es gab auch keinen Hinweis durchs Personal trotz Vorlage meines Behindertenausweises (allerdings ohne Bl).“ Tastführungen (in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin GmbH) Abbildung 12a-b: Tastführung mit Tasten am Original, © Fotos: Fiona Finke Neben dem Sensibilisierungstraining erhielten die Referenten eine spezielle Schulung zur Vermittlung der Tastmodelle an Gruppenbesucher. Techniken der anschaulichen, klar strukturierten Bildbeschreibung wurden hier ebenso geübt wie Fragen nach der Orientierung im Raum erörtert. Für diese Führungen wurden von einigen Tastmodellen zusätzliche Repliken angefertigt, damit mehrere Teilnehmer parallel die Modelle nutzen konnten. Die Führungen richteten sich dezidiert an blinde und sehbehinderte Teilnehmer mit Begleitung und wurden nur in Ausnahmefällen für sehende Besucher geöffnet. So wurde eine besonders exklusive Möglichkeit für diese Besuchergruppe geschaffen – das Tasten am Original ist dem sehenden Besucher nicht gestattet –, während zugleich die Referenten Praxiserfahrung sammeln konnten. Durch die anwesenden sehenden Begleitpersonen entstand oft jedoch automatisch eine inklusive Führungssituation. • • • 3 Termine, insgesamt 30 Teilnehmer Dauer der Führung 90 Minuten, maximal 10-12 Teilnehmer, 3-4 Tastmodelle plus Möglichkeit zum Tasten am Original (Abbildung 12) Die Tastführung hat den Teilnehmern insgesamt gut gefallen (Note 2,0). 4. Kommunikation und PR Um möglichst viele blinde und sehbehinderte Besucher auf die Ausstellung aufmerksam zu machen, wurde ein spezieller Verteiler für diese Zielgruppe aufgebaut, an den eine Einladung zur Ausstellungseröffnung sowie Informationen zu den Tastführungen und barrierefreien Maßnahmen verschickt wurde. Der Verteiler soll auch zu künftigen Projekten bedient und sukzessive ausgebaut werden. Darüber hinaus ließ die Berlinische Galerie ihre Museumswebsite auf Barrierefreiheit prüfen, so dass auch hier Informationen über die Angebote 16 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE abgerufen werden können, etwa mit dem Screenreader. In der BIK/BITVSelbstbewertung lautete das Testergebnis mit insgesamt 93 von 100 möglichen Punkten „gut zugänglich“ und konnte durch technische Überarbeitung auf 96 Punkte erhöht werden. Nachdem – trotz des guten Testergebnisses – in einzelnen Fällen Probleme mit der Nutzung per Screenreader auftraten, wird die Website aktuell weiter optimiert und soll um einen speziellen Menüpunkt „Barrierefreiheit“ erweitert werden. Verteileraufbau • Presseinformation zum Thema Barrierefreiheit sowie zu den Tastführungen • Aufbau eines Verteilers bestehend aus: Multiplikatoren, Vereinen, Verbänden, Betroffenenvertretungen Onlineportalen im Bereich barrierefreier Tourismus Schulen mit Förderschwerpunkt Politischen Gremien Allgemeinen und spezifischen neuen Pressekontakten Print- und Werbemittel, Museumswebsite Optimierung der barrierefreien Website, lesbar mit Screenreader Perspektivisch: Medien für die Zielgruppe in Großdruck/Braille entwickeln; Material zur Vor- und Nachbereitung auf der Website; Menüpunkt „Barrierefreiheit“ D. Ausblick „In der Berlinischen Galerie wird offenkundig daran gearbeitet, durch kompetente Führungen, hervorragend entworfene haptische Vorlagen sowie hoffentlich auch weiterhin durch sachkundige Audioguides barrierefreie Ausstellungen anzubieten.“ Dieser Kommentar, geäußert mit Blick auf das Folgeprojekt zu „Wien Berlin“, die Ausstellung „Dorothy Iannone. This Sweetness Outside of Time“ (20.02.02.06.2014), ist uns Lob und Handlungsaufforderung zugleich: Eine vollständig barrierefreie Ausstellung mag kaum zu erreichen sein, zumal sich die Bedürfnisse einzelner Anspruchsgruppen – auch zwischen blinden und sehbehinderten Besuchern – sehr unterscheiden können. Die Evaluation hat aber deutlich aufgezeigt, was gut funktionierte und wo Optimierungspotential liegt. So wurde Schritt für Schritt ein Lernprozess in Gang gesetzt, dem die Berlinische Galerie weiterhin folgen wird. In einer ausführlichen Evaluationsrunde im Mai 2014 wurden die Erfahrungen der Berlinischen Galerie und die Ergebnisse der Besucherbefragung präsentiert und rückblickend diskutiert. Anwesend waren Sachverständige und Interessenvertreter von Blinden- und Sehbehindertenverbänden, aus den politischen Gremien des 17 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Landes Berlin sowie aus dem Museums- und Vermittlungsbereich.8 Wesentliche, intensiv diskutierte Aspekte waren das Bodenleitsystem, die Tastmodelle und der Audioguide. Kontrovers wurde die von einem Diskussionsteilnehmer postulierte These erörtert, ein Leitsystem in Ausstellungen sei kaum von Nutzen, da vollständig blinde Personen ohnehin in Begleitung kämen. Einige Verbandsvertreter betonten im Gegenzug die Wichtigkeit eines gut funktionierenden Leitsystems, um Menschen mit Sehbehinderung zumindest die Möglichkeit des eigenständigen Besuchs zu verschaffen. Dennoch gäbe es nicht die eine richtige Lösung, da – je nach Grad und Art der Sehbehinderung und nach persönlichen Vorlieben – jeder Besucher mit unterschiedlichen Bedürfnissen kommt. Im Gespräch erläutert die Berlinische Galerie den Konflikt zwischen der reduzierten Ausstellungsästhetik im Kunstmuseum und den Ansprüchen der Zielgruppe, woraus in der Ausstellung „Wien Berlin“ eine Kompromisslösung entstanden ist: ein transparenter, erhabener Bodenleitstreifen mit kontrastreichen Aufmerksamkeitsfeldern. Kontrastreichtum des Leitstreifens wurde als ein wichtiger Aspekt diskutiert, der das Leitsystem erst für Sehbehinderte nutzbar macht. Allgemeiner Konsens war, dass die Möglichkeit des Tastens stets eine große Bereicherung und Notwendigkeit darstellt. Die Diskussion über Qualität und Möglichkeiten von Tastmodellen bewegte sich im Spannungsfeld zwischen festgelegten Vorgaben für die taktile Übersetzung, der besonderen Rolle der Kunst, für die zuweilen experimentelle Übersetzungsformen erforderlich sind, und den individuellen Tastfähigkeiten der blinden Besucher. Eine klare Übersetzung und ggf. Reduktion der Hauptkompositionselemente ist als Grundlage zum Verständnis wichtig, eine vertiefende Tastmöglichkeit könnte jedoch eher experimentell-sinnlich angelegt sein, wie es etwa in der Berlinischen Galerie zur nachfolgenden Ausstellung von Dorothy Iannone getestet wurde. Eindringlich betont wurde, dass ein Ertasten von Originalen stets einen größeren Mehrwert hat und der aufwändigen Herstellung von Tastmodellen vorzuziehen wäre, sofern dreidimensionale Objekte in der Ausstellung verfügbar sind. Mit Blick auf den Audioguide bestätigte sich deutlich der Wunsch nach einer stärkeren Übereinstimmung von Guides für blinde und jenen für sehende Besucher und einer Nummerierung der einzelnen Hörstationen innerhalb der 8 Die Teilnehmer waren: Imke Baumann (Förderband e.V. / Berlin für Blinde), Michael Baumeister, Paloma Rändel, Anja Winter (Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverband Berlin e.V.), Christine Braunert-Rümenapf (Büro und Geschäftsstelle des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung), Veronika Brassel, Jana Duda (Kulturprojekte Berlin GmbH), Dr. Ferdinand Damaschun (Museum für Naturkunde, ehem. Leitung der Arbeitsgruppe Barrierefreiheit des Landesverbandes der Museen zu Berlin e.V.), Reiner Delgado (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.), Hilke Groenewold (Sachverständige für Barrierefreies Bauen, Büro Barrierefreiheit + Architektur), Dr. Rüdiger Leidner (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. / Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle), Renate Rolke, Carola Rose (Der Regierende Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei - Kulturelle Angelegenheiten), Prof. Dr. Wolfgang Schoeller (privat), Dr. Christiane Schrübbers (Museum Charlottenburg-Wilmersdorf) 18 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Ausstellung. Künftig wäre zu diskutieren und zu erproben, ob bzw. wie sich ein Guide mit inklusivem Anspruch entwickeln ließe, der auf verschiedenen Tracks Angebote je nach Interessen und Bedürfnissen des Nutzers macht – von der erläuternden, für Blinde geeigneten Bildbeschreibung bis hin zu vertiefenden Hintergrundinformationen. Zu beachten wäre, dass ein solcher Guide trotz der wünschenswerten Vielzahl an kombinierbaren Nutzerangeboten technisch leicht zu handhaben bleibt (keine zu komplizierte Menüführung). Auch die abschließende Diskussion hat gezeigt, dass im Prozess hin zum barrierefreien Museum die Kommunikation wesentlich ist – miteinander zur Realisierung der Maßnahmen, aber auch über die Angebote, damit sie die Zielgruppe erreichen. Darüber hinaus sind Kreativität zur Entwicklung individueller Lösungen und Kompromissbereitschaft bei allen Beteiligten gefordert. Wichtig sind nicht zuletzt personelle und finanzielle Ressourcen zur Realisierung des gemeinsam erarbeiteten Konzepts. Ziel bleibt es, zur Dauerausstellung und zu einzelnen Sonderausstellungen mit wechselnden Anspruchsgruppen zu arbeiten und die Ausstellungsgestaltung und das Vermittlungskonzept möglichst frühzeitig barrierefrei anzulegen. Folgende Aspekte werden die Berlinische Galerie perspektivisch besonders beschäftigen: Wie können die ästhetisch-museologischen Vorstellungen des Kunstmuseums – minimalistisch gestalteter Ausstellungsraum, das Kunstwerk als Unikat – mit den Gestaltungsrichtlinien des Design for All vereinbart werden? Wie können barrierefreie Maßnahmen im Sinne der Besucherorientierung einen Mehrwert für verschiedene Zielgruppen bieten? Wie können wir unsere Vermittlungsangebote – seien es Audioguides oder Führungen – inklusiv gestalten, so dass sie selbstverständlich für Menschen mit und ohne Behinderung geeignet sind? Die zahlreichen und vielfältigen Reaktionen auf die Ausstellung und insbesondere die Angebote für blinde und sehbehinderte Besucher zeigen, dass Interesse und Bedarf groß sind. Als Lern- und Experimentierfeld stellte die Ausstellung „Wien Berlin“ einen wichtigen Schritt auf dem Weg hin zum barrierefreien Museum dar. Kontakt Berlinische Galerie: Diana Brinkmeyer Referentin Marketing und Kommunikation [email protected] Tel. (+49) – (0) 30 789 02 775 19 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE