Toter Buchstabe auf dem Papier

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Toter Buchstabe auf dem Papier
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Toter Buchstabe auf dem Papier
Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien
Autorin: Daniela Mehler, M.A.
Abstract
2013 muss in Serbien ein neues Gesetz zur Lustration 1 verabschiedet werden, da das 2003 erlassene
Gesetz über die „Verantwortung für die Verletzung von Menschenrechten“ ausläuft. Dadurch stellt sich
sowohl die Frage der Öffnung von Geheimdienstakten als auch des Umgangs mit früheren und
heutigen Amtsträgern, die Menschenrechte grob verletzt haben, neu. Nachdem 2012 eine neue
Regierung ins Amt gekommen ist, die aus denselben Parteien und zum Teil auch demselben Personal
wie während des semi-autoritäre Regimes von Slobodan Milošević besteht, wäre zu erwarten gewesen,
dass die politische Opposition die Gelegenheit für eine Debatte über den juristischen Umgang mit
Geheimdienstakten und Amtsträgern der sozialistisch-jugoslawischen Zeit nutzt. Stattdessen zeigt eine
Analyse des gegenwärtigen öffentlichen Diskurses in Serbien, dass dieses Thema immer noch
weitestgehend eine Leerstelle bleibt.
1
Im engeren Sinne meint Lustration die Überprüfung und Entlassung von Mitarbeitern aus dem öffentlichen Dienst
postsozialisitischer Länder, wenn sie als politisch belastet gelten oder sich der Verletzung von Menschenrechten schuldig gemacht
haben. In Serbien wird dieser Begriff breiter verwendet und steht im öffentlichen und politischen Diskurs allgemein auch für eine Art
“Aufräumen” personeller Kontinuitäten des nationalistischen, semi-autoritären Regimes von Slobodan Milošević.
Citation: Mehler, Daniela: Toter Buchstabe auf dem Papier. Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien, in: Forum
Geschichtskulturen, Serbia, Version: 1.0, 17.04.2013, URL: http://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/index.php?id=400&l=0
Copyright: Imre Kertész Kolleg Jena and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non‐commercial, educational
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2
Aufsatz
Geht man vom gegenwärtigen serbischen Zeitungsdiskurs 2 aus, scheint Lustration in Serbien
kein Thema politischer Debatten zu sein. In den ersten neun Monaten des Jahres 2012 erschienen in
sämtlichen Printmedien des Landes lediglich 62 Artikel, die das Thema Lustration aufgriffen. Eine
Debatte ist das nicht, obwohl man diese erwarten könnte, denn spätestens 2013 muss das nie
implementierte, aber immer noch geltende Lustrationsgesetz von 2003 verlängert oder ein neues
erlassen werden. Im Zeitungsdiskurs finden sich lediglich Kommentare über die nicht vollzogene
Lustration 3, einige Expertenpositionen 4 zum Thema und Stellungnahmen zu dem von außen
angemerkten Reformbedarf 5 oder über den Lustrationsprozess in Mazedonien. Hingegen fehlt es an
Politikern, die sich für ein neues Gesetz und eine Diskussion darüber einsetzen würden.
Statt eines Eintretens für Lustration sind eher gegenteilige Äußerungen zu vernehmen. Im
Januar 2012 bemerkte die serbische Justizministerin Snežana Malović von der Demokratska stranka
(Demokratische Partei, DS) im Interview mit der Tageszeitung Danas, dass die Lustration direkt in der
Folge der „Revolution“ im Jahr 2000 hätte eingeleitet werden müssen, und formulierte etwas
unglücklich, dass die ehemalige Partei von Slobodan Milošević einen „außergewöhnlichen Grad an
Verantwortung und Mut gezeigt hat, sich selbst zu lustrieren.“ 6 Demnach sei es einerseits zu spät für
eine Überprüfung von staatlichen Funktions- und Würdenträgern, andererseits habe die ehemalige
Regierungspartei zumindest die offensichtlichsten Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen
2
Der Mediendiskurs wurde über das serbische Medienarchiv arhiv.rs erhoben. Das Zeitungsarchiv umfasst seit 2003 Texte aus 27
Tages- und Wochenzeitungen, die auf dem ganzen Gebiet Serbiens erscheinen, außerdem 16 Zeitungsbeilagen und ausgewählte
Texte aus 17 Lokalzeitungen. Als relevanteste überregionale Medien können die Tageszeitungen Politika, Večernje novosti, Dnevnik,
Danas, Glas Javnosti, Press, Blic, Kurir, Pravda sowie die Wochenzeitungen NIN und Vreme bezeichnet werden, die alle politischen
Spektren abdecken.
3
Vergl.: http://www.politika.rs/rubrike/Politika/Dacica-izvinjenje-nista-ne-kosta-a-mnogo-znaci.lt.html;
http://www.pravda.rs/2012/03/08/vuk-draskovic-ucesnici-9-marta-su-najvece-zrtve/?lng=lat;
http://www.danas.rs/danasrs/dijalog/lustracija_kao_uslov.46.html?news_id=236789
4
Vergl.: http://www.novosti.rs/vesti/naslovna/aktuelno.290.html:393386-Milan-Skulic-Puno-pravnika-a-malo-pravde;
http://www.politika.rs/rubrike/ostali-komentari/Slucaj-proslost-i-teskoce-tranzicione-pravde.lt.html
5
Vergl.: http://www.politika.rs/rubrike/Hronika/Medel-u-srpskom-pravosudju-sve-pobrkano.lt.html;
http://www.politika.rs/rubrike/Hronika/Pravosudje-da-se-potpuno-revidira.lt.html
6
Aleksandar Roknić, Dolazi vreme za pregovore sa Hrvatskom, Danas, 9.1.12.
Citation: Mehler, Daniela: Toter Buchstabe auf dem Papier. Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien, in: Forum
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3
von entsprechenden Posten in der Partei abgesetzt. Die Frage, ob diese fragwürdige Praxis der
sicherlich
nicht
unvoreingenommenen
„Selbstlustration“
ohne
Berücksichtigung
aller
Geheimdienstakten eine transparente, offizielle Überprüfung nicht mehr notwendig mache, blieb
weiterhin im Raum.
In anderen gesellschaftlichen Bereichen gab es eine Vielzahl von Personen, Angehörige der
Sicherheitsapparate, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und einige Intellektuelle, die die
Notwendigkeit einer Lustration betonten. In einer Expertenrunde der Tageszeitung „Blic“ 7 forderte
Rodlub Šabić als Vertreter des nationalen Sicherheitsrates, dass Lustration schon bei der Polizei
beginnen müsse. General Ninoslav Krstić verlangte eine Entpolitisierung des Sicherheitsapparates von
der Polizei angefangen über die Armee bis hin zu den Geheimdiensten sowie eine stärke
parlamentarische Kontrolle. Reformen wie die Anpassung z.B. an NATO-Standards oder eine
parlamentarische Erklärung über deren Neutralität würden zwar die Institutionen modernisieren, aber
eine Lustration nicht ersetzen. Borka Pavićević vom Centar za kulturnu dekontaminaciju (Zentrum für
kulturelle Dekontamination) setzte auf einen Austausch des Personals in den Geheimdiensten. Und
der Historiker Predrag Marković sah selbst die parlamentarische Kontrolle als problematisch an, da die
Parlamentarier nicht das entsprechende Wissen hätten, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Es
dürfe keine Geheimnisse mehr geben, die Archive müssten unbedingt geöffnet werden. Auch das
Rehabilitationsgesetz sei bisher weitestgehend ein „toter Buchstabe“ geblieben, so der Juraprofessor
Jovica Trkulja. Die Anerkennung unschuldig Verurteilter – hier handelt es sich in erster Linie um Opfer
des sozialistischen Regimes, das Gesetz gilt für die Zeit nach dem 6. April 1941 – und deren volle
Rehabilitation sei bisher schwierig gewesen. Lediglich ca. 2000 Personen seien bisher rehabilitiert
worden und auch Entschädigungen würden meist nur sehr schleppend ausgezahlt. Die Ursache sieht
Trkulja darin, dass das Gesetz von 2006 und seine Vereinfachung und Erweiterung 2011 nicht von
weiteren wirkungsvollen Erlassen begleitet worden sei. 8 So könne der Vierschritt einer umfassenden
7
8
Für hier und die folgenden Ausführungen vgl. Vuk Z. Cvijić, U čišćenju službi bezbednosti trebalo bi početi od policije, Blic, 27.1.12.
Mit dem Gesetz von 2011 wurde die Rehabilitation zusätzlich auf den Kreis von Personen, die nicht auf dem Territorium der Republik
Serbien wohnten, aber die serbische Staatsbürgerschaft hatten bzw. haben. Außerdem ist inzwischen nur noch ein, statt bislang drei
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Aufarbeitung der Vergangenheit von 1.) Öffnung der Akten und Strafverfolgung, 2.) Lustration von
Amtsträgern, die Menschenrechte grob verletzt haben, 3.) voller juristische Rehabilitation
unschuldiger Opfer und 4.) Restitution in Serbien nicht gemacht werden. Dies gehöre aber zu einer
angemessenen Aufarbeitung der Vergangenheit dazu. 9
Säulen der Demokratie? Lustration als einer von vier Schritten nach der Transition
Bis heute hat keine umfassende Aufarbeitung der Verbrechen der jugoslawischen autoritären
Regime stattgefunden. Weder die Verbrechen der jugoslawischen, noch der serbischen Geheimdienste
wurden bisher systematisch aufgeklärt, noch die dazugehörigen Geheimdienstakten für die
Öffentlichkeit zugänglich gemacht oder Anwärter für staatliche Ämter auf deren Vergangenheit und
eventuelle kriminelle Verwicklungen hin überprüft. Zwar gab es nach der Transition 2000 eine kurze
Periode in der versucht wurde, einen Weg für eine institutionalisierte Aufarbeitung der autoritären
Vergangenheit zu finden. Konkrete Instrumente und Institutionen allerdings wurden nicht geschaffen.
Schon vor den Parlamentswahlen im Dezember 2000 kündigten das Wahlbündnis Demokratska
opozicija Srbije
(Demokratische
Opposition Serbiens,
DOS) an, mit
vier
Gesetzen zur
Denationalisierung - d.h. zur Aufhebung von Enteignungen, Privatisierung, Lustration und
Rehabilitation - Säulen für die Demokratie schaffen zu wollen. Doch die in den ersten Jahren nach der
Transition regierende DOS war selbst gespalten. Gegenüber standen sich dabei auf der einen Seite
Zoran Đindić, Vorsitzender der Demokratska stranka (Demokratische Partei, DS) und Regierungschef
Serbiens, der sich für Reformen und eine Politik der Aufarbeitung einsetzte und auf der anderen Seite
Vojislav Koštunica von der Demokratska stranka Srbije (Demokratische Partei Serbiens, DSS) als
Präsident Jugoslawiens, der einen legalistischen Kurs zur Stabilisierung des Landes vertrat.
9
Richter für ein Rehabilitationsverfahren notwendig. Auch sind mit einer Rehabilitation nunmehr Rentenansprüche und
Entschädigungszahlung verbunden. Der Zeitraum der Antragsstellungen wurde auf weitere fünf Jahre, bis 2016 verlängert. Eine
Synopse des Gesetzes von 2006 und seiner Erweiterung von 2011, siehe: http://www.bg.vi.sud.rs/lt/articles/o-visemsudu/rehabilitacija.html, letzter Zugriff 5.2.13.
M.D. Milikić, Dosad rehabilitiovano 2.000 nevino osuđenih, Danas, 27.8.12.
Citation: Mehler, Daniela: Toter Buchstabe auf dem Papier. Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien, in: Forum
Geschichtskulturen, Serbia, Version: 1.0, 17.04.2013, URL: http://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/index.php?id=400&l=0
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Zwar wurde 2001, nur wenige Monate nach dem Regimewechsel, ein Dekret erlassen, welches
die Vertraulichkeitsregelung änderte und Betroffenen und ihren Angehörigen Zugang zu ihren
Geheimdienstakten einräumen sollte. Allerdings hatte das Dokument keine Rechtsbasis und wurde
nach kurzer Zeit vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben. Nur einige wenige Personen erlangten in
den wenigen Tagen, in denen die Regelung in Kraft war, Einsicht in ihre Geheimdienstakten. Die
Nichtregierungsorganisation Centar za antiratnu akciju (Zentrum für Antikriegsaktion, später in
Zentrum für Frieden und Demokratieentwicklung unbenannt), schlug daraufhin ein Modell zur
Öffnung der Akten der Bezbednosno-informativna agencija (Sicherheitsinformationsdienst, BIA) und
der Državne bezbednosti (Staatssicherheit, DB) vor. Im Frühling 2002 forderte schließlich ein breites
Bündnis von NGOs und Bürgern, angeführt von der liberalen Partei Građanski Savez Srbije (GSS,
Bürgerliche
Allianz
Serbiens)
ein
Gesetz
zur
Lustration
und
die
Ahndung
von
Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Amtsträger. Eine Gruppe von Parlamentsabgeordneten
der GSS 10 brachte schließlich Anfang 2003 einen Gesetzesvorschlag ins Parlament ein. Gemäß ihren
Vorstellungen sollte das Gesetz auf seit dem 23. März 1976 von serbischen Amtsträgern begangene
Menschenrechtsverletzungen angewandt werden, dem Tag, an dem der Internationale Pakt über
bürgerliche und politische Rechte in Kraft getreten war. Der Pakt, der gemeinsam mit der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte und dem ihm nachfolgenden Sozialpakt zu den grundlegenden
Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen gehört, garantiert die Menschenrechte der „1.
Generation“ wie das Recht auf Leben, das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf
persönliche Freiheit und Sicherheit sowie die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Um die
Verletzung dieser Rechte durch staatliche Behörden zu überprüfen, sollten gemäß dem
Gesetzesvorschlag der GSS Geheimdienstakten für eine Kontrollkommission sowie für die Betroffenen
geöffnet werden. Ziel war es, Inhaber von und Bewerber auf zentrale staatliche Positionen auf ihre
Tätigkeiten in der Vergangenheit hin zu überprüfen und sie, so sie sich der Verletzung von
Menschenrechten schuldig gemacht haben sollten, von verantwortungsvollen Positionen in
10
Nataša Mičić, Dr. Dragor Hiber, Dr. Miloš Lučić, Ljubiša Kesić, Sandor Melank und Sima Radulović.
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staatlichen Institutionen auszuschließen.
Schatten der Vergangenheit: Lustration als Mittel der Kriminalitätsbekämpfung?
Wenige Wochen nachdem der Vorschlag ins Parlament eingebracht worden war, wurde am 21.
März 2003 in Belgrad ein tödliches Attentat auf Premierminister Zoran Đinđić verübt. Nachdem
bekannt wurde, dass Mitglieder der Jedinica za specialne operacije (JSO, Einheit für
Spezialoperationen, auch: die „Roten Barette“), die in den 1990er Jahren für das serbische
Innenministerium tätig gewesen war und mit paramilitärischen Gruppen und der Mafia kooperierte,
für die Ermordung Đinđićs verantwortlich waren, wurde das Attentat als Warnung vor einer weiteren
Auseinandersetzung mit den Verbrechen während der 1990er Jahre gedeutet.
Nach dem Attentat wurde in Serbien der Ausnahmezustand verhängt und im Rahmen der
Operation Sablja (Säbel) über 7000 Menschen festgenommen, die JSO wurde aufgelöst. 29 NGOs
veröffentlichten einen Appell, in dem sie noch einen Schritt weiter gingen als das vorgeschlagene
Lustrationsgesetz. Sie forderten von der Regierung „alle Maßnahmen zu ergreifen, um all diejenigen
von der Legislative und die Regierungsbehörden zu entfernen, die in ihrem Tun oder Nichts Tun
Kriegsverbrecher schützen.“ 11 Besonders beschuldigten sie Vojislav Koštunica, die Führung der
Sicherheitsapparate und der Armee zu schützen und die Serben dazu aufzurufen, mit den für
Kriegsverbrechen in Den Haag Angeklagten zu sympathisieren.
In dieser aufgeheizten und polarisierten Atmosphäre fand Ende Mai 2003 die Debatte zum
Gesetz über die „Verantwortung für die Verletzung von Kriegsverbrechen“ statt, dessen
Verabschiedung unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse vorgezogen wurde. Im Parlament wurde
von der Regierungskoalition argumentiert, dass man mit einem solchen Gesetz die autoritäre
Vergangenheit bewältigen und die neue Demokratie stärken könne. Gerade unter dem Eindruck des
Attentats auf Đinđić wurde darauf verwiesen, dass die Verquickung zwischen staatlichen Institutionen
11
Vgl. das tägliche Bulletin des serbischen Außenministeriums vom 26.3.2012,
http://www.mfa.gov.rs/Bilteni/Engleski/b260303_e.html#N11, letzter Zugriff: 1.2.2013
Citation: Mehler, Daniela: Toter Buchstabe auf dem Papier. Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien, in: Forum
Geschichtskulturen, Serbia, Version: 1.0, 17.04.2013, URL: http://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/index.php?id=400&l=0
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und organisierter Kriminalität so effektiver bekämpft werden könne. Zudem wurde Lustration als eine
Bedingung für eine zukünftige Aufnahme Serbiens in die EU bezeichnet. Die Oppositionsparteien wie
die Sozialistische Partei und die Serbische Radikale Partei, die in den 1990er Jahren an der Regierung
beteiligt waren, positionierten sich gegen das Gesetz und bezeichneten es als ein Instrument, das auf
die Schwächung politischer Gegner abziele. So bestünde die Gefahr, dass „unerwünschte“ Personen
aus den Geheimdiensten, der Polizei, dem Generalstab der Armee und der militärischen Aufklärung
aus politischen Gründen entfernt und durch politische Freunde ersetzt werden könnten. Außerdem sei
das vorgeschlagene Lustrationsgesetz unvereinbar mit der serbischen Gesetzgebung, da es selektiv
und retroaktiv sei und gegen die Unschuldsvermutung verstoße.12 Während der Abstimmung
befanden sich nur 127 von 250 Abgeordneten im Parlament. Die Radikale Partei boykottierte die
Abstimmung gänzlich, auch die Mitglieder der nationalkonservativen DSS verließen aus Loyalität
gegenüber den ehemaligen Machthabern den Saal. Die als reformfreundlicher einzuschätzenden
Parteien DS, GSS, SDU, DHSS und die unabhängigen Abgeordneten stimmten für das Gesetz, die
Sozialistische Partei stimmte hingegen erwartungsgemäß dagegen. Schließlich wurde das „Gesetz über
die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen” 13 mit 111 Stimmen, 1 Gegenstimme und 15
Enthaltungen vom Parlament verabschiedet. Der Weg für eine Öffnung der Geheimdienstakten schien
frei.
Nie implementiert
Nur zehn Monate nach der Verabschiedung diese Gesetzes äußerte sich der Jurist Jovica
Trkulja, Herausgeber der am Centrum Centar za unapređivanje pravnih studija (Zentrum für die
Förderung juristischer Studien) erscheinenden Zeitschrift Hereticus – Časopis za preispitivanje prošlosti
(Zeitschrift für die Überprüfung der Vergangenheit) im Vorwort der Themenausgabe Kontroverze oko
lustracije (Kontroversen um die Lustration), dahingehend, dass das Gesetz nur ein „toter Buchstabe
12
13
Vgl. zur Parlamentsdebatte: Cakić, Milan, Lustracija u Evropi i Srbiji, Motivacija za donošenje zakona o lustraciji i njihove društvene
funkcije, in: Sociologija. Časopis za sociologiju, socijalnu psihologiju i socijalnu antropologiju, 285–306, hier: 300ff.
Vgl. Službenik glasnik 58/2003, Korrektur: 61/2003.
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8
auf dem Papier“ sei.14 Tatsächlich wurde das Lustrationsgesetz nie implementiert. Nachdem nur acht
von neun erforderlichen Mitgliedern einer zukünftigen Lustrationskommission benannt worden waren
und man sich nicht auf ein neuntes einigen konnte, nahm die Kommission bis heute ihre Arbeit nicht
auf. Hier drängen sich Parallelen zu der 2001 von Staatspräsident Vojislav Koštunica per Dekret
eingesetzten Wahrheits- und Versöhnungskommission auf, die ebenfalls scheiterte, da sich einige der
ernannten Mitglieder der Kommission gegen eine Instrumentalisierung wehrten und sich die übrig
gebliebenen nicht auf ein gemeinsames Ziel einigen konnten. 15 In beiden Fällen kann man davon
ausgehen, dass es zur politischen Strategie der serbischen Regierung und besonders des Präsidenten
gehörte, symbolisch dem inneren und äußeren Druck auf die Regierung nachzugeben und vorzugeben,
eine Politik der Aufarbeitung zu forcieren, diese aber durch Obstruktionen im Frühstadium zu lähmen.
Während es durch die Konditionalitätspolitik der EU und von Drittstaaten deutliche Fortschritte bei
der Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gab, wurde
gleichzeitig keinerlei politischer Druck auf das Land hinsichtlich einer Aufarbeitung seiner
Vergangenheit ausgeübt.
Ein Thema der Zivilgesellschaft
Lediglich einige NGOs wie das serbische Helsinki-Komitee oder deutsche politische Stiftungen
wie die Heinrich-Böll-Stiftung oder Konrad-Adenauer-Stiftung versuchen mit Veranstaltungen und
Podiumsdiskussionen immer wieder das Thema der Öffnung von Geheimdienstakten und der
Lustration in die Öffentlichkeit zu tragen. In der politischen Landschaft ist es vor allem Nenad Čanak
von der Liga socijaldemokrata Vojvodine (Liga der Sozialdemokraten der Vojvodina, LSV), der
unermüdlich eine Lustration fordert. Die LSV hat auch 2010 einen neuen Gesetzesentwurf über die
Verlängerung um weitere 10 Jahre und zur Ergänzung des Gesetzes von 2003 eingebracht. Doch bis
14
15
Vgl. Trkulja, Jovica: Uvodne napomene, in: Hereticus 2 (2003), http://www.hereticus.org/arhiva/2003-2/uvodne-napomene.html,
letzter Zugriff: 1.2.2013.
Vgl. hierzu: Ilić, Dejan: The Yugoslav Truth and Reconciliation Commission. Overcoming Cognitive Blocs, Eurozine, 23.3.2004. Online
unter: http://www.eurozine.com/pdf/2004-04-23-ilic-en.pdf, letzter Zugriff: 7.2.2013.
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9
heute schaffte er es nie auf die Tagesordnung des Parlaments. Auch die Initiative der SPO und der
Demohrišćanske stranke (Christdemokratischen Partei Serbiens, DHSS), die nach erfolglosen Versuchen
2004 und 2010 im August 2012 erneut einen Gesetzesvorschlag zur Öffnung von Geheimdienstakten
in das Parlament einbrachten, schaffte es bis dato nicht auf die Tagesordnung, sondern befindet sich
noch immer in Prozedur. Als Unterstützer eines solchen Gesetzes können die kleinen Parteien wie die
liberaldemokratische Partei, die Sozialdemokraten sowie die LSV und natürlich die Antragssteller
gelten, die aber gemeinsam weniger als ein Viertel der Abgeordneten stellen. Eine Zustimmung der
Partei G17, die seit 2011 unter dem Namen Ujedini regioni Srbije (Vereinigte Regionen Serbiens, URS)
firmiert und die bisherigen Schritte der institutionellen Aufarbeitung unterstütze ist ungewiss, seitdem
sie in einer Koalition mit der SPS und der SNS regiert.
Noch immer fehlt in Serbien der politische Wille zur Aufarbeitung, insbesondere der jüngsten
Vergangenheit. Dies betrifft nicht nur die Verbrechen während der Jugoslawienkriegen, sondern auch
die politischen Morde und Verbrechen des Milošević-Regimes. Allerdings gibt es hier, ähnlich wie bei
den Bemühungen nach dem Attentat auf Premierminister Zoran Đinđić, Anzeichen für Fortschritte.
Dazu zählt die Verurteilung von drei ehemaligen Führungspersonen der Staatssicherheit durch den
Obersten Gerichtshof in Belgrad im Sommer 2012 wegen der Beteiligung an einem Attentat auf den
Vorsitzenden des Srpski pokret obnove (serbische Erneuerungsbewegung, SPO) Vuk Drašković in Budva
2000. Dies wurde als ein wichtiges Signal für ein zunehmend unabhängigeres Justizwesen gewertet.16
Die Chance, diese Verurteilung als Möglichkeit zu nutzen eine Debatte über Lustration anzuschieben,
wurde allerdings vertan. Trotz einiger Erfolge bei der Verurteilung hoher Funktionsträger bleibt die
Arbeit für die Strafverfolgungsbehörden weiterhin sehr mühsam.
Bis heute: Ein Problem der Kontinuität?
Bei einer Bewertung der juristischen Aufarbeitung in Serbien müssen grundsätzlich auch deren
strukturelle Begrenzungen berücksichtig werden: Bisher erfolgte keine deutliche Distanzierung der
16
Tanja Nikolić Đaković, Udar na eskadron smrti, NIN, 28.06.2012.
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10
Führungseliten vom vorhergehenden Regime. Die Transition wurde durch Funktionsträger aus den
Armee- und Sicherheitsapparaten Serbiens ausgehandelt. Milošević und seine engste Clique wurden
zwar ausgewechselt, darüber hinaus allerdings wurden aus den alten Funktionseliten oftmals auch die
des neuen, demokratischen Serbiens.
Seit 2008 ist mit der mittlerweile europafreundlichen und reformierten Socijalistička Partija
Srbije (Sozialistischen Partei Serbiens, SPS) nun auch wieder die alte Regierungspartei an der Macht.
Unter Ivica Dačić – ehemaliger Regierungssprecher von Milošević und von 2008-2012 Innenminister in
der von der DS geführten Regierung – konnte nicht davon ausgegangen werden, dass bei der Reform
von Armee, Sicherheitsapparat und des Justizsystems auch die Vergangenheit dieser Institutionen und
Personen aufgearbeitet würde. Und auch die Mitte 2012 neu gewählte Regierung wird mit dem
ehemaligen Radikalenführer Tomislav Nikolić als Präsident und Ivica Dačić als Regierungschef von
Personen geführt, die in den 1990er Jahren einflussreiche und wichtige Posten innehatten.
Im Mai 2012 wurden Stimmen aus den Nachbarländern und von Seiten der EU laut, die die
nationalistischen Aussagen des neuen Präsidenten Tomislav Nikolić kritisierten.17 Für Beobachter
entstand so der Eindruck, dass dadurch und durch den angemahnten Bedarf einer Reform des
Justizsystems im Zuge der Vorbereitungen auf einen zukünftigen Beitritt zur Europäischen Union ein
normativer Druck auf Serbien ausgeübt werde. Allerdings sollte man weder von den durch die EU
gestellten Konditionalitäten an Serbien noch von der aktuellen Regierung allzu viel erwarten. Sowohl
Präsident Tomislav Nikolić als auch Regierungschef Ivica Dačić haben bei ihrem Amtsantritt verlauten
lassen, dass man sich nicht um die Vergangenheit kümmern wolle, sondern sich mit der Zukunft
befassen müsse. In ihren Augen gilt es eher, ein Kapitel zu schließen.
So bleiben in Serbien weiterhin Parallelisierungen mit den politischen und wirtschaftlichen
Zuständen der 1990er Jahre im politischen und medialen Diskurs an der Tagesordnung. Diese
Vergleiche werden einerseits als Mittel zur Diffamierung des politischen Gegners genutzt. Etwa, um
diesen Praktiken wie in den 1990er Jahren oder Kontinuitäten aus dieser Zeit vorzuwerfen. So
17
Vergl. u.a.: http://www.sueddeutsche.de/politik/serbiens-praesident-tomislav-nikolic-milosevics-erben-uebernehmen-die-macht1.1382158
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11
beschuldigte beispielsweise die Vizepräsidentin der SPO Žika Gojković während des Wahlkampfes im
Februar 2012 die DSS, eine Kampagne gegen ihre Partei zu führen, die „der Art und Weise des
Milošević-Regimes würdig“ sei. 18 Auch wurde in den Medien und von politischen Gegnern nach der
Wahl der neuen Regierung von der „Rückkehr“ der 1990er Jahre gesprochen,19 was Premierminister
Ivica Dačić seinerseits selbstverständlich bestritt.20
Ein ernsthafter Beginn einer Lustration wäre ein richtiges Zeichen, um den Befürchtungen einer
Rückkehr zu vergangenen Zuständen des Nationalpopulismus und der wirtschaftlichen Krise Einhalt zu
gebieten und eine klare Zäsur zu den 1990er Jahren zu markieren. Stattdessen scheint es zurzeit so, als
würde das Gesetz von 2003 in die Geschichte eingehen, ohne je zur Anwendung gekommen zu sein.
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20
Vgl. Snežana N. Kovačević, Boris ipak nije Sloba, Dnevnik, 5.2.12.
Milenko Dereta, Buđenje aveti devedeseti, Dnevnik, 15.7.12
Vergl.: http://www.blic.rs/Vesti/Politika/330581/Dacic-Ne-interesuje-me-nebeska-Srbija-nema-povratka-u-devedesete
Citation: Mehler, Daniela: Toter Buchstabe auf dem Papier. Die ausbleibende Debatte um die Verlängerung des Lustrationsgesetzes in Serbien, in: Forum
Geschichtskulturen, Serbia, Version: 1.0, 17.04.2013, URL: http://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/index.php?id=400&l=0
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