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Baden-Württemberg | Abitur
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Dein Lernverzeichnis
◮ Abitur 2013 | GESAMTE PRÜFUNG
Aufgabenblatt
Aufgabe 1
Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre
Thema:
Franz Kafka (1883 - 1924): Der Proceß
Heinrich von Kleist (1777-1811): Michael Kohlhaas
Friedrich Dürrenmatt (1921 - 1990): Der Besuch der alten Dame
In Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der
Mann hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es,
um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen
5
gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf
den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders für die Galeriebesucher musste er störend
sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich näher zu unterrichten. Die Antworten
10
15
wurden im Schutz der vorgehaltenen Hände ebenso leise gegeben.
Ich bin gleich zu Ende“, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war mit der Faust auf den
”
Tisch; im Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie können,
”
vorausgesetzt, dass Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuhören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie
für späterhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald weggehen.“
Sofort war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man schien schon überzeugt oder auf
dem nächsten Wege dazu.
20
Es ist kein Zweifel “, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen Ver”
sammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der verzückteste Beifall, es
”
ist kein Zweifel, dass hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die
nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles
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bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten
Grades unterhält, mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen
und andern Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort nicht zurück. Und der Sinn
dieser großen Organisation, meine Herren?
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Er besteht darin, dass unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens,
wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des
Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das ist unmöglich, das brächte auch
der höchste Richter nicht einmal für sich selbst zustande. Darum suchen die Wächter den Verhafteten
die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen
Unschuldige, statt verhört, lieber vor ganzen Versammlungen entwürdigt werden. Die Wächter haben
35
nur von Depots erzählt, in die man das Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotplätze sehen, in denen das mühsam erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault, soweit es nicht von
diebischen Depotbeamten gestohlen ist.“
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(Franz Kafka: Der Proceß, Frankfurt a. M., Fischer 1994, S. 55-57)
Aufgabenstellung:
- Legen Sie kurz dar, weshalb Josef K. das Gericht aufsucht.
- Interpretieren Sie die Textstelle; beziehen Sie die sprachliche und szenische Gestaltung ein.
- Kafkas Der Proceß“, Kleists Michael Kohlhaas“, Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame“:
”
”
”
Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrachtung die Bedeutung des Gerichts für Josef K.,
Michael Kohlhaas und Alfred Ill.
Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung.
Dabei werden die zweite und dritte Teilaufgabe etwa gleichwertig gewichtet.
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Aufgabe 2
Gestaltende Interpretation
Thema:
Friedrich Dürrenmatt (1921-1990): Der Besuch der alten Dame
Glockenton.
Sie sehen ja, wie beliebt Sie sind.
DER B ÜRGERMEISTER Das ganze Städtchen begleitet Sie.
DER LEHRER
DER DRITTE
5
DER VIERTE
Das ganze Städtchen!
Das ganze Städtchen!
Ich habe euch nicht hergebeten.
DER ZWEITE Wir werden doch noch von dir Abschied nehmen dürfen.
ILL
Als alte Freunde.
Als alte Freunde! Als alte Freunde!
DER B ÜRGERMEISTER
ALLE
10
Zugsgeräusch. Der Bahnhofsvorstand nimmt die Kelle. Links erscheint der Kondukteur, als wäre er eben vom Zuge gesprungen.
mit langgezogenem Schrei Güllen!
DER B ÜRGERMEISTER Das ist Ihr Zug.
DER KONDUKTEUR
Ihr Zug! Ihr Zug!
DER B ÜRGERMEISTER Nun, Ill, ich wünsche eine gute Reise.
ALLE
15
Eine gute Reise, eine gute Reise!
DER ARZT Ein schönes weiteres Leben!
ALLE
ALLE
Ein schönes weiteres Leben!
Die Güllener scharen sich um Ill.
20
DER B ÜRGERMEISTER
Es ist soweit. Besteigen Sie nun in Gottes Namen den Personenzug nach Kalber-
stadt.
Und viel Glück in Australien!
Viel Glück, viel Glück!
DER POLIZIST
ALLE
Ill steht bewegungslos, starrt seine Mitbürger an.
25
ILL
leise Warum seid ihr alle hier?
Was wollen Sie denn noch?
DER BAHNHOFSVORSTAND Einsteigen!
DER POLIZIST
ILL
Was schart ihr euch um mich?
DER B ÜRGERMEISTER
30
ILL
Wir scharen uns doch gar nicht um Sie.
Macht Platz!
Aber wir haben doch Platz gemacht.
Wir haben Platz gemacht, wir haben Platz gemacht!
DER LEHRER
ALLE
Einer wird mich zurückhalten.
DER POLIZIST Unsinn. Sie brauchen nur in den Zug zu steigen, um zu sehen, dass dies Unsinn
ILL
35
ist.
ILL
Geht weg!
Niemand rührt sich. Einige stehen da, die Hände in den Hosentaschen.
DER B ÜRGERMEISTER
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Ich weiß nicht, was Sie wollen. Es ist an Ihnen, fortzugehen. Steigen
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Sie nun in den Zug.
40
ILL
Geht weg!
Ihre Furcht ist einfach lächerlich.
DER LEHRER
Ill fällt auf die Knie.
ILL
Warum seid ihr so nah bei mir!
Der Mann ist verrückt geworden.
Ihr wollt mich zurückhalten.
DER ARZT
45
ILL
Steigen Sie doch ein!
Steigen Sie doch ein! Steigen Sie doch ein!
DER B ÜRGERMEISTER
ALLE
Schweigen.
ILL leise Einer wird mich zurückhalten, wenn ich den Zug besteige.
50
beteuernd Niemand! Niemand!
Ich weiß es.
ALLE
ILL
DER POLIZIST
DER LEHRER
Es ist höchste Zeit.
Besteigen Sie endlich den Zug, guter Mann.
Ich weiß es! Einer wird mich zurückhalten! Einer wird mich zurückhalten!
DER BAHNHOFSVORSTAND Abfahrt!
ILL
55
Er hebt die Kelle, der Kondukteur markiert Aufspringen, und Ill bedeckt, zusammengebrochen, von den Güllenern
umgeben, sein Gesicht mit den Händen.
DER POLIZIST
Sehen Sie! Da ist er Ihnen davongerumpelt!
Alle verlassen den zusammengebrochenen Ill, gehen nach hinten, langsam, verschwinden.
60
ILL
Ich bin verloren!
(Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, Neufassung von 1980, Zürich, Diogenes 1998 (Erstausgabe 1956), S. 82-85)
Aufgabenstellung:
- Erläutern Sie kurz, wie es zu dieser Szene am Bahnhof kommt.
- Gehen Sie von folgender Annahme aus:
Nach Ills gescheiterter Abreise gehen die Beteiligten ihrer Wege; sie sprechen über das Vorgefallene
und die möglichen Konsequenzen. Gestalten Sie das Gespräch zwischen dem Lehrer, dem Pfarrer
und dem Polizisten.
Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung.
Der Schwerpunkt liegt auf der gestaltenden Interpretationsaufgabe.
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Aufgabe 3
Literarische Erörterung
Thema:
Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern
”
wie sie sein solle, so antworte ich, dass ich es nicht besser machen will als der liebe Gott, der die Welt
gewiss gemacht hat, wie sie sein soll.“
(Georg Büchner am 28. Juli 1835 aus Straßburg an seine Familie. Zit. nach G.B.: Werke und Briefe, München,
dtv 1965, S. 182)
Aufgabenstellung:
Erörtern Sie anhand Ihrer Leseerfahrung, inwieweit Sie diesem Verständnis von Literatur zustimmen
können.
Aufgabe 4
Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich
Thema:
Bertolt Brecht (1898-1956): Sonett Nr. 19
Sarah Kirsch (1935-2013): Dreistufige Drohung
Bertolt Brecht: Sonett Nr. 19 (1939)
Nur eines möcht ich nicht: dass du mich fliehst.
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst.
Denn wenn du taub wärst, braucht ich, was du sagst
Und wenn du stumm wärst, braucht ich, was du siehst
5
Und wenn du blind wärst, möcht ich dich doch sehn.
Du bist mir beigesellt, als meine Wacht:
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn!
10
So gilt kein Lass mich, denn ich bin verwundet!“
”
So gilt kein Irgendwo“ und nur ein Hier“
”
”
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.
Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei.
Ich aber brauche dich, wie’s immer sei
Ich sage ich und könnt auch sagen wir
(Aus: Bertolt Brecht: Werke, Bd. 14, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1993, S. 437)
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Sarah Kirsch: Dreistufige Drohung (1963)
Du willst jetzt gehn?
Das sag ich dem Mond!
Da hat sich der Mond
im Großen Wagen verladen,
5
der fühlt mit mir, weißzahnig
rollt er hinter dir her!
Die Klinke drückst du?
Ich sag es dem Wind!
Er schminkt dich
10
mit Ruß und Regen,
peitscht dich mit Hagelkörnern,
glasmurmelgroß.
Du musst jetzt fort?
Gut, ich sag es keinem.
15
Ich werde ohne Tränen
und Träume schlafen;
nichts hindert dich.
(Aus: Sarah und Rainer Kirsch: Gespräch mit dem Saurier, Berlin, Neues Leben 1965, S. 7)
Worterklärungen:
Z. 4:
Großer Wagen: ein Sternbild
Aufgabenstellung:
Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.
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Aufgabe 5
Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte
Thema:
Burkhard Müller: In Zeichen wie diesen, Stuttgarter Zeitung vom 15./16.10.2011.
Dass es noch einmal so weit kommen würde, hätten wir damals nicht geglaubt. Unser Abitur erlebten
wir als den endlich fälligen Aufbruch und Ausbruch, wo die bisher geltenden Zwänge von uns abfielen, samt den Formen, die dazugehörten. Wir rollten ironisch die Augen, wenn der für uns zuständige
Oberstudiendirektor (sagte der Titel nicht schon alles?) uns eine Abschiedsrede hielt, in der er das Zitat
5
Die große Fracht des Sommers ist verladen“ bedeutungsvoll variierte. Okay, ein letztes Mal wollten
”
wir uns das noch antun. Er und noch ein paar Lehrer waren die Einzigen im Saal, die Anzug trugen.
Wir, der scheidende Jahrgang, dachten nicht im Traum daran, uns in Schale zu werfen. Die Mächte der
Tradition hatten uns letztmalig beim Abschlussball der Tanzstunde erwischt, als wir unserer Partnerin
ein Bouquet mitzubringen hatten, uns in zwickende Lackschuhe zwängten und nichts an der grauen-
10
haften Peinlichkeit vorbeiführte, mit der Mutter der Glücklichen ein Tänzchen zu wagen. Das war zwei
Jahre her und sollte uns nicht noch mal passieren. [...]
Und nun das! Gibt man Abi 2011“ in die Suchmaschine ein, fallen einem Bilderserien zu, die eine
”
beklemmende Ähnlichkeit mit der überwunden geglaubten Tanzstunde aufweisen. Abi-Ball! Die Ab-
15
solventen richtig fein mit Anzug und Schlips, und die jungen Damen, wie man sie wohl nennen muss,
im schulterfreien Abendkleid. Und sie singen und tanzen auf Podien vor einem Publikum von – Eltern!
War denn dies nicht der Augenblick, sich von ihnen zu verabschieden? Fragt man aber eines dieser
Abi-Victims aus dem persönlichen Bekanntenkreis, jemanden, den man sonst für vernünftig und einigermaßen cool gehalten hat, erntet man ein Schulterzucken; auch nicht der Ansatz von Kritik oder
ironischem Vorbehalt lässt sich da erkennen. Das ist heute so, das machen alle, und, ja bitte, entspricht
20
es nicht auch der Bedeutung des Anlasses? Wo steckt das Problem?
Man muss schon an sich halten, um da nicht das Lamento über die Jugend von heute anzustimmen.
Wollt ihr wirklich werden wie eure Großeltern? Ja, das wollen sie, ganz augenscheinlich. Es kehrt etwas wieder, das offenbar lang auf seine Stunde gewartet hat: ein Bedürfnis, die markanten Stellen und
Schwellen des Lebens, große wie kleine, einmalige wie zyklisch wiederkehrende, mit einem gewissen
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Grad von Feierlichkeit zu versehen. Das Ritual, sofern es je fort gewesen sein sollte, ist wieder da, größer,
teurer, konservativer denn je. [...]
Das hat natürlich zuerst einmal mit dem allgemein gestiegenen Wohlstand zu tun. Dem Krisengerede
zum Trotz stehen heute Summen wie noch nie zur Verfügung, und wie könnte man sie besser verwen-
30
den als im stolzen, kostspieligen Ritual! Man knüpft oder pflegt Beziehungen; man beweist Stil und Lebensart; man ist in der Vorbereitung angenehm beschäftigt, nämlich mit sich selbst im Mittelpunkt; und
man lässt es sich gutgehen, wenn es dann endlich so weit ist. Auch die gewachsene Verfügungsgewalt
über die eigene Zeit spielt hinein. Mögen Rituale und ihr aufwendiges Vorspiel zuweilen auch verteufelt
nach Arbeit aussehen – rein technisch handelt es sich um Freizeit, die man erst mal haben muss.
Doch Wiederkehr und Ausweitung des Rituals sind nicht nur eine Wohlstandsblüte; sie haben es auch
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mit einer Not zu tun. Den Sinn seines Lebens muss heute jeder selbst stiften. Was einer sein will oder
zu sein glaubt, das hat er schon selbst herauszufinden. Und das kostet Kraft. Die lässige randlose Brille
der Ironie taugt nicht mehr, es muss ein schweres Horngestell her, um dem Blick in die Welt Fassung
zu geben. Die neue persönliche, soziale, berufliche, weltanschauliche Lage ist aufgeladen mit so viel
Ungewissheit, dass die Zuflucht beim Alten – oder was man dafür ansieht – verlockend erscheint. [...]
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So geht es den Erwachsenen, denen die Welt zunehmend verwirrend vorkommt, wieder wie den Kindern, die die Welt gerade erst kennenlernen. Kinder sind, wie jeder weiß, ritualsüchtig. Nochmal!“ ist in
”
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einem bestimmten Alter ihr Lieblingswort. Sie verlangen, dass das Zubettgehen jeden Abend nach demselben bedeutungsvoll inszenierten Muster vonstatten geht. Für Erstklässler bedeutet es Stress, wenn die
Lehrerin die Formel, die das Ende der Pause verkündet, auch nur um ein Wörtlein abändert; sie rasten
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dann nicht, bis es genau richtig“ wiederholt worden ist. Die überstarke Struktur des Rituals ist ihnen
”
Einübung und Garant der Strukturiertheit der Welt überhaupt. Denn diese versteht sich ihnen noch
keineswegs von selbst und wird erlebbar erst, wenn der Teddy zur Schlafenszeit unter den linken (!)
Arm geklemmt ist. Das Vorgeformte, das sich exakt Wiederholende schenkt Ruhe. Es stabilisiert den
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Einzelnen und gibt ihm das Gefühl, dass er, gerade wo er sich kleiner macht, über seine Vereinzelung
hinauswächst. Der König ist tot, es lebe der König! Das ist der Kern allen Rituals. [...]
Rituale können trösten und quälen. Rituale binden an Autoritäten, von denen sie ihre Gültigkeit empfangen,
und haben doch etwas höchst Demokratisches, insofern sie sich jeder heutigentags selbst aussuchen
darf. Rituale töten Gefühle im Korsett des Überholten, Rituale aber entspringen immer auch frisch von
selbst, wo Gefühle sich eine Fasson suchen.
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[...]
Rituale sollten die Hand ausstrecken, dass jeder sie ergreifen kann. Der Mensch braucht sie; sie sind,
auch wo er es nicht wahrhaben will, sein unentbehrlicher Luxus.
Aufgabenstellung:
- Arbeiten Sie die Kernaussagen des Textes heraus.
Wählen Sie eine der beiden folgenden Arbeitsanweisungen:
- Setzen Sie sich mit Burkhard Müllers Verständnis von Ritualen auseinander.
oder
- Gehen Sie von folgender Annahme aus:
Ihre Schule veranstaltet eine Podiumsdiskussion unter dem Titel Rituale in unserer Zeit“. Sie
”
halten eine Rede zu diesem Thema. Verfassen Sie diese Rede.
Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Der Schwerpunkt liegt auf
der zweiten Teilaufgabe.
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