Susanne Tatje - Best Age Conference

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Susanne Tatje - Best Age Conference
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Susanne Tatje
Wie wollen wir leben?
Mit welchen Mitteln wir die Zukunft generationengerechter gestalten können
Im Folgenden geht es unter demographiepolitischen Gesichtspunkten darum, wie ein
positives zukünftiges Zusammenleben in Städten und Gemeinden zu gestalten ist, deren
Durchschnittsalter steigt und deren Nachwuchsgeneration immer mehr abnimmt. Denn die
Folgen des demographischen Wandels für den Alltag der Menschen sind weitreichend.
Der demographische Wandel und auch die Veränderungsprozesse der Familienstrukturen
erfordern neue Wege im Miteinander der Generationen  wenn die wechselseitige
Verantwortung der Generationen füreinander als zentraler Wert erhalten bleiben soll. Es
wäre also für alle von Vorteil, wenn Kinder, die ohne Großeltern oder mit einem allein
erziehenden Elternteil aufwachsen, dennoch zur älteren Generation in Kontakt treten
können. Umgekehrt ist es dienlich, wenn ältere Menschen ohne eigene Kinder und
Enkelkinder die Entwicklung des Nachwuchses miterleben und mitgestalten.
So gewinnen in Zukunft Wohnformen an Bedeutung, die eine Alternative zu Singlehaushalt,
Kleinstfamilie oder Alleinerziehend bieten. Dabei können die Städte unterstützend eingreifen.
Sie
können
Planungsprozesse
miteinander
vernetzen,
Konzepte
aus
generationenübergreifender Perspektive entwickeln und Eigentümern ermöglichen oder
erleichtern, Wohnraum barrierefrei umzubauen und damit kinderfreundlich und altersgerecht,
also generationengerecht zu gestalten. Richtlinien für städtisches Wohnen können dafür
sorgen, dass städtische Mittel nur noch vergeben werden, wenn barrierefrei gebaut wird. Das
ist nicht nur wichtig für alte, kranke und behinderte Menschen mit Gehhilfe oder Rollator,
sondern auch für Familien mit Kindern und Kinderwagen – und erleichtert im übrigen auch
die Handhabung von Fahrrädern und Pedelecs.
Auch das Ehrenamt ist ein zentraler Faktor: Gesunde ältere Menschen können Kinder und
Jugendliche durch gezielte Bildungsprogramme unterstützen, etwa in Sprachkursen für den
Nachwuchs mit Migrationshintergrund oder durch Hilfe bei der Berufsfindung in sogenannten
Patenschaften. Umgekehrt können Jugendliche die Älteren mit neuen Technologien vertraut
machen. Ein Beispiel für das Miteinander der Generationen war in Bielefeld das
generationenübergreifende Demographie-Projekt „Bücher schlagen Brücken" der Stiftung
Lesen, bei dem Bielefeld Modellstadt war. Ziel des Projektes war es, Junge und Ältere über
Bücher ins Gespräch zu bringen und den Austausch zwischen den Generationen zu fördern.
70 Jugendliche aus verschiedenen Bielefelder Schulen haben sich daran beteiligt. Sie
bekamen zunächst eine Intensivschulung mit konkreten Vorlese-Tipps, lasen dann in drei
Senioreneinrichtungen Geschichten vor und tauschten sich mit den älteren Menschen
darüber aus. Bis heute überdauern einige der entstandenen Kontakte.
Meine Aufgabe als Demographiebeauftragte bezüglich der Zukunftsgestaltung Bielefelds
sehe ich vordringlich darin, für die Chancen des Demographischen Wandels zu werben und
alle Gruppen im Blick zu behalten. Bürgerinnen und Bürger sollen sich an der
Zukunftsgestaltung beteiligen und bei Workshops, Stadtteilkonferenzen oder BürgerschaftsForen in die Diskussion einmischen können.
Aus diesem Grund habe ich in meinem Arbeitsbereich auch Projekte entwickelt, bei denen
Menschen ihre Ideen einbringen können. Ein Beispiel sind die Zukunftswerkstätten zur Frage
„Wie wollen wir leben in Bielefeld im Jahr 2050?“. Hier entwickelten zahlreiche Bürgerinnen
und Bürger, Jung und Alt, gemeinsam mit Akteuren der Stadtgesellschaft ihre Vorstellungen
für unsere Stadt. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Räume der Zukunft  Sichtwechsel im
Liegestuhl“, das ein Bewusstsein für den demographischen Wandel schaffen und den
Bürgerinnen und Bürgern das Thema näher bringen sollte. Zunächst setzten sich rund 130
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Schülerinnen und Schüler mit den demographischen Folgen „Weniger, Älter und Bunter“
auseinander und hielten dann ihre Gedanken auf Leinwänden fest. Diese Leinwände wurden
der Öffentlichkeit in einer Ausstellung präsentiert und anschließend auf Liegestühle montiert,
die ebenfalls die Jugendlichen gebaut hatten. Die Liegestühle dienten bei
Kulturveranstaltungen an drei ausgewählten Orten Bielefelds als Besucherstühle. Bielefelder
Bürgerinnen und Bürger waren eingeladen, darin Platz zu nehmen, ein kulturell vielfältiges
Angebot an Musik, Pantomime und Lesung auf sich wirken zu lassen und so aus
sprichwörtlich neuer Perspektive über den demographischen Wandel im eigenen Stadtteil
nachzudenken1. Bei der abschließenden Versteigerung der 85 Liegestühle kam eine stolze
Summe zusammen, die nicht in den städtischen Haushalt zurückfloss, sondern auf Wunsch
der Jugendlichen dem Kinderhospiz Bethel gespendet wurde.
Projekte dieser Art tragen dazu bei, neben einer politisch verabschiedeten Gesamtstrategie2
die Folgen der demographischen Entwicklung aufzufangen. Denn Städte brauchen eine
demographieorientierte Kommunalpolitik. Politik sollte dabei die notwendigen
Rahmenbedingungen schaffen, damit Menschen ihre Vorstellungen über ihr eigenes Leben
möglichst weitgehend realisieren können. Für die Zukunftsgestaltung brauchen wir aber auch
eine Verwaltung, die flexible Lösungen entwickelt und weitsichtige Politiker und
Politikerinnen, die sich auch auf unbequeme Diskurse einlassen und nicht nur bis zum
nächsten Wahltermin planen. Ebenso wichtig sind engagierte Bürgerinnen und Bürger, die
sich zusammen mit Akteuren der Stadtgesellschaft mit vielen Aspekten des Stadtlebens
vertraut machen und die Fragen der Zukunft gemeinsam diskutieren und in die Hand
nehmen. Die Mühe lohnt sich: Für eine lebendige und lebenswerte Stadt, in der sich alle
Bewohner und Bewohnerinnen heimisch fühlen dürfen.
Die Autorin ist Diplom-Soziologin und Leiterin des Amtes für Demographie und
Statistik der Stadt Bielefeld.
Für das Bielefelder Demographiekonzept "Demographischer Wandel als Chance?" erhielt sie
den Innovationspreis des Landes NRW. Sie war Mitglied der AG „Integration vor Ort!“ im
Rahmen des Nationalen Integrationsplans der Bundesregierung und Mitglied der
Steuerungsgruppe „Demographischer Wandel“ bei der Kommunalen Gemeinschaftsstelle
(KGSt). Weiterhin ist sie Herausgeberin der Reihe „Zukunft Stadt, der „Info-Briefe:
Demographie“ und des Demographie-Sachbuches für Kinder und Jugendliche "Unsere
Zukunft - Meine Stadt" (KunstSInn-Verlag Bielefeld).
Weitere Informationen auf www.bielefeld.de
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„Räume der Zukunft  Sichtwechsel im Liegestuhl“; in: Zukunft Stadt Heft 8. Hrsg.: Stadt
Bielefeld, Bielefeld 2011.
„Demographischer Wandel als Chance?“  Das Bielefelder Demographiekontept; in: Zukunft Stadt
Heft 3. Hrsg. Susanne Tatje, Stadt Bielefeld, Bielefeld 2006.