Von der Diagnostik zur Dammnaht

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Von der Diagnostik zur Dammnaht
den damm schützen
Ein „Kunsthandwerk“ lernen:
Von der Diagnostik
zur Dammnaht
Peggy Seehafer | Den Damm zu nähen ist ein chirurgischer Eingriff. Dafür brauchen Hebammen und
MedizinerInnen ein Wissen, das dem aktuellen Stand der Evidenz entspricht. Außerdem müssen sie das Nähen
üben. In Dänemark wurde dafür ein E-Learning-Programm entwickelt, das in dreidimensionalen Bildern an
die Techniken des Nähens heranführt – am besten in Kombination mit einem praktischen Workshop
M
Abbildung: © GynZone
ehr als die Hälfte aller Gebärenden erleidet durch die
vaginale Geburt eine Dammverletzung, die versorgt werden muss.
Die Fähigkeiten der Betreuenden in der
Diagnostik und Behandlung haben ei-
Abbildung: © GynZone
Intakter Damm sichtbar ohne Haut
Dammriss III b. Grades, rektale Untersuchung
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nen großen Einfluss auf das körperliche
des 20. Jahrhunderts hat sich dann die
und seelische Wohlbefinden der Frauen
regelhafte Versorgung von Geburtsvernach der Geburt.
letzungen durchgesetzt (Martius 1946).
Die Zahlen über die Geburtsverlet- Oberflächliche Risse, die weniger als
zungen – seien sie spontan entstanden
eineinhalb Zentimeter lang sind, und
oder iatrogen – schwanken von Land
nicht blutende Risse ohne Beteiligung
zu Land. Chris Kettle und Susan To- von Muskulatur können ohne Naht aushill sprechen 2011 für England von
heilen, wenn die Wundränder symme85 Prozent. In Dänemark müssen 80
trisch aufeinander zu liegen kommen.
Prozent der Erstgebärenden und 50
Verletzungen, die die Muskulatur beProzent der Mehrgebärenden mit einer
treffen, müssen immer genäht werden
Naht versorgt werden (Kindberg 2010). (Kindberg 2010).
In Deutschland liegen die Zahlen für
Immer wieder tauchen Überlegundie klinischen Geburten bei knapp 90
gen auf, Dammrisse besser von selbst
Prozent (Aqua-Institut 2009).
ausheilen zu lassen. Dem wird inzwiDas individuelle Risiko für eine
schen durch die neuesten Ergebnisse
Dammverletzung hängt vom Verlauf
von Metaanalysen als „wahrscheinlich
der Geburt, der Größe des Kindes, wirkungslos oder sogar schädlich“ wivorangegangenen Verletzungen und
dersprochen (Kettle & Tohill 2011).
anderen Faktoren ab. Unbestritten ist
aber auch der Einfluss des betreuenden
Diagnostik
Teams und dessen Kenntnis um den
physiologischen Verlauf der Austrei„Nach der Geburt des Kindes besichtigt
bungsperiode.
die Hebamme den Damm“ (HebamDie Diskussionen darüber, ob und
menlehrbuch von 1920).
wie Geburtsverletzungen zu versorgen
Es liegt in der Verantwortung der
sind, sind so alt wie die Möglichkeit zu
Hebamme beziehungsweise des Arznähen. Thomas M. Madden schreibt
1872 zur Heilung einer Episiotomie: „… tes, die Geburtsverletzungen genau
zu diagnostizieren und die richtigen
and generally healed within a few days
therapeutischen Maßnahmen daraus
without any special treatment.“ (… und
abzuleiten.
heilt normalerweise innerhalb weniger
Das setzt allerdings das genaue ErTage ohne besondere Behandlung aus.
kennen der anatomischen Strukturen
[Übersetzung durch die Redaktion])
voraus. Und jeder, der bereits damit zu
Max Runge postuliert 1903, dass nur
tun hatte, weiß, wie schwierig die Diagrößere Episiotomien genäht werden
gnose ist. Denn nach einer Verletzung
sollten: Man „... incidiert letztere auf
einer Strecke von 1–1,5 cm in der Rich- läuft weiter Blut aus dem Uterus nach,
Muskeln und umgebendes Gewebe
tung nach dem Sitzbeinhöcker durch
liegen farblich sehr nahe beieinander.
einen kräftigen Schnitt. Je ein Einschnitt
Erstgebärende haben ein höheres
rechts und links genügt. ... Nach der
Risiko für die Verletzung des MuscuGeburt klaffen die Schnitte meist wenig
und heilen dann unter Jodoformbe- lus sphincter ani durch die Geburt als
handlung vorzüglich. Im anderen Falle, Mehrgebärende. Um eine Sphincterruptur auszuschließen, ist eine rektale
besonders wenn sie weiter gerissen
Untersuchung nötig, bei welcher die
sind, müssen die seitlichen Incisionen
Frau gebeten wird, den Muskel anunbedingt durch die Naht geschlossen
zuspannen. Dabei wird sowohl der
werden“ (Runge 1903). Bis zur Mitte
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externe als auch der interne Sphincter
auf Läsionen untersucht.
Auch bei scheinbar oberflächlichen
Verletzungen kann es in der Tiefe zu
einer Verletzung des inneren oder äußeren Schließmuskels gekommen sein.
35 bis 44 Prozent der sogenannten
okkulten Sphincterverletzungen werden nicht erkannt und bleiben damit
unversorgt. Dies führt zu den späteren
Erscheinungsbildern von Beckenbodenschwäche und Stuhlinkontinenz (Sultan
et al. 1993).
Mediolaterale Episiotomien gehen
aufgrund der Schnittrichtung mit stärkeren Blutungen und stärkeren Schmerzen bei der Wundheilung einher, auch
wenn dieselben Muskeln durchtrennt
wurden wie bei einem median verlaufenden Riss. Nerven und Blutgefäße versorgen den Beckenboden von seitlich in
Richtung Centrum tendenium perinei
mit abnehmend kleineren Gefäßen und
Nerven. Deshalb sind median verlaufende Verletzungen weniger schmerzhaft
und blutungsärmer.
Anästhesie
Vor der Naht einer Geburtsverletzung
muss die Frau ausreichend analgesiert
werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Gel, Spray und Infiltration sind
die geläufigsten, aber auch Akupunktur sind wirksame Methoden. Der in
Vergessenheit geratene Pudendusblock
wird heute wieder verstärkt angewendet.
Der Geschlechtsverkehr kann für die
Frauen schmerzhaft oder unangenehm
sein. (Coad & Dunstall 2007).
Die Nahttechniken haben sich im
Verlauf der Jahrzehnte geändert, nicht
zuletzt durch die Weiterentwicklung
des Nahtmaterials. In zahlreichen Studien wurden verschiedene Nahttechniken verglichen in Bezug auf Funktionserhaltung, Heilung und Komfortgefühl
der Frauen.
So heißt es bei Walter Stoeckel 1940:
„Der kosmetische Effekt tritt hinter dem
funktionellen zurück. Wie ein geflickter Damm aussieht, ist nebensächlich,
wenn er nur wieder gut das Genitale
stützt. Es kommt also darauf an, dass
die Dammwunde in der Tiefe gut und
lückenlos heilt.“
Sieht man bei Heinrich Martius noch
Einzelknopfnähte, werden heute für
ein schmerzärmeres, aber auch für ein
kosmetisch ansprechendes Ergebnis
subkutane Nähte bis an den Rand des
Hymenalsaums gesetzt. Dennoch ist
es wichtig, dass nicht nur die Oberfläche schön aussieht. Die Wundflächen
müssen auch in der Tiefe so adaptiert
werden, dass sich die zusammengehörenden funktionellen Strukturen wieder
aufbauen können.
Unterschiedliche Lehrmeinungen
In der klinischen Geburtshilfe in
Deutschland wird die Naht von Geburtsverletzungen zumeist von ÄrztInnen ausgeführt. Bei Hausgeburten
nähen die Hebammen. Allerdings ist
bei schwerwiegenden Verletzungen
(ab Dammrissen III. Grades) immer ein
Facharzt hinzuzuziehen.
In der Studie „Perineal Assessment
and Repair Longitudinal Study (PEARLS)“
wurde in England untersucht, wie sich
die Ausbildung der „nähenden GeburtshelferInnen“ auf das Ergebnis auswirkt.
„Die Naht des Dammrisses muss gemacht werden, solange die Wunde
noch frisch und nicht verunreinigt ist.“
(Stoeckel 1940)
Eines der zwei übergeordneten Ziele
der Naht ist die Blutstillung und damit
die Vermeidung großer Hämatome,
die sehr schmerzhaft sind und sich nur
langsam abbauen. Das zweite Ziel ist
der schichtweise Wundverschluss und
die Rekonstruktion der Beckenbodenanatomie. Die bestmögliche Wiederherstellung unterstützt den Heilungsprozess am besten.
Adaptieren sich die Wundflächen
nicht gut aneinander, kann die Wunde
nicht gut ausheilen. Schließlich kann
sich hier hypertrophes Narbengewebe
bilden. Die damit einhergehende Verformung des Perineums kann zu physischen und psychischen Beeinträchtigungen (Dyspareunie) führen, die die
partnerschaftliche Beziehung belasten.
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Es hat sich gezeigt, dass die fortlaufende Nahttechnik im Vergleich zu den
traditionellen Einzelknopfnähten mit
geringeren Schmerzen und einer besseren Wundheilung einhergehen. Die
Einführung eines standardisierten Ausbildungsprogramms mit Workshop und
Filmen auf DVD hat für eine beträchtliche Anzahl von Frauen die Schmerzen
im Wundbereich und weitere damit
zusammenhängende Erkrankungen verringert (Brick et al. 2010). Gemäß der
deutschen Ausbildungsrichtlinien sollen
Hebammen theoretisch und praktisch
in die Naht von Dammverletzungen
eingeführt werden. Diese Ausbildung
gehört auch in die Facharztausbildung
zum Geburtshelfer. Allerdings gibt es
dafür bisher weder bei den Hebammen
noch bei den ÄrztInnen Standards oder
Leitlinien.
Die bisher übliche Anleitung post
partum direkt an der Frau bedingt eine
große individuelle Bandbreite in der
Lehrmeinung. Jeder näht, wie er kann.
Und jeder lehrt, wie er selbst näht. Die
Ergebnisse sind manchmal unbefriedigend für die Frauen, sowohl unter funktionellen als auch unter kosmetischen
Gesichtspunkten.
Mediolaterale Episiotomie rechts
Nerven und Gefäßversorgung des Beckenbodens
Abbildung: © GynZone
Nähen der Wunde
Abbildung: © GynZone
den damm schützen
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Einzelknopfnähte nach Martius
E-Learning-Programm
Ein kleines Team der führenden Universitätskliniken in Dänemark hat sich des Lernens von
Dammnähten angenommen. Es sind Hebammen, ÄrztInnen und PhysiotherapeutInnen,
die in Klinik und Forschung Erfahrungen
gesammelt haben. Diese Gruppe um Sara Kindberg bietet eine neue Lehrmethode an, die auf
einem audio-visuellen E-Learning-Programm
basiert (GynZone™). Sie richtet sich gezielt
an Hebammen und Geburtshelferinnen. Das
E-Learning-Programm zeigt, wie Geburtsverletzungen diagnostiziert, analgesiert und
gemäß der aktuellen internationalen Leitlinien
versorgt werden. Schritt für Schritt werden
alle notwendigen Handgriffe und Maßnahmen erklärt. Dabei werden die anatomischen
Gegebenheiten mit Hilfe von Animationen,
Videos am Phantom und Videos an einer Frau
wiederholt.
Das Ziel des E-Learning-Programms von GynZone ist:
n die Vermittlung evidenzbasierten Wissens
über die Versorgung von Verletzungen nach
einer vaginalen Geburt mit Hilfe von Animationen, Videos und gesprochenem Text
n das Angebot von Nahtworkshops für Schülerinnen, StudentInnen und KollegInnen zur
Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und
der Sicherheit der Gebärenden.
Die umfangreichen E-Learning-Module bieten
eine neue Art des Lernens in der Geburtshilfe.
Das Programm kann sowohl der Vorbereitung
auf einen Nahtworkshop dienen als auch der
Link
Die Internetseite zum E-Learning-Programm für die Dammnaht findet sich unter
www.gynzone.de/naht-module/links-undreferenzen/faq-zur-naht.
Verfestigung des bereits Gelernten innerhalb
einer Gruppe oder in der Einzelkonsultation.
Die Filme ermöglichen beliebig häufige Wiederholungen einzelner Passagen oder ganzer
Abschnitte, und zwar zu jeder Tages- und
Nachtzeit. Die neuen technischen Möglichkeiten der Darstellung anatomischer Strukturen durch bewegliche, dreidimensionale,
transparente Bilder erleichtern das Lernen
und ermöglichen Aha-Effekte, die auf herkömmlichen didaktischen Wegen nicht erreicht
werden können.
So wie man Nähen nicht aus dem Buch
lernt, erwirbt man die Fertigkeit dazu auch
nicht ausschließlich mit Hilfe bewegter Bilder.
Sowohl die Diagnostik verschiedener Risse,
als auch Nähen und Knoten müssen praktisch
trainiert werden. Daher ist die Kombination des
E-Learning-Programms mit einem Workshop
zu empfehlen.
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dänischen Universitätsklinik Aarhus entwickelt
und getestet. In den Kliniken und Hochschulen
der skandinavischen Länder, in Kanada und
in Australien wird bereits erfolgreich mit dem
Programm gearbeitet. Seit diesem Frühjahr
steht es auch auf Deutsch zur Verfügung unter
www.gynzone.de. Kliniken und Hochschulen
können ein ganzes Paket an Zugangsberechtigungen erwerben. Bei Einzellizenzen aus dem
Web-Shop variiert der Preis je nach Inhaltsumfang und benötigter Zeit.
Abbildung: © GynZone
Nach bestem Wissen
Fortlaufende Subkutannaht
Hebammen und GeburthelferInnen können
von jedem internetfähigen Gerät aus – auch im
klinischen Alltag – auf die neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnisse und Leitlinien zugreifen. Dammverletzungen müssen nicht innerhalb
der ersten Stunde versorgt werden, wenn sie
nicht zu stark nachbluten. Gerade für Eingriffe,
die selten nötig sind, ist es möglich, sich kurz
vorher noch einmal über die derzeitigen Empfehlungen der nationalen und internationalen
Fachgesellschaften zu informieren. Ein weiterer
großer Vorteil eines E-Learning-Programms
ist, dass die neuesten Erkenntnisse jederzeit
eingearbeitet werden.
Im Kapitel „Links & Referenzen“ sind innerhalb des E-Learning-Programms alle aktuellen
und relevanten Studien zu Nahttechniken,
Nahtmaterial, Schmerzlinderung und so weiter
aufgeführt. Somit kann man schnell in die Originalarbeiten Einsicht nehmen. Das GynZoneProgramm wurde in Zusammenarbeit mit der
Literatur
Aqua-Institut: Bundesweite Auswertung aller klinischen
Geburten 2009 (2010)
Brick, D. et al. (2010) PEARL-Study, BMC Pregnancy and
Childbirth, 10:10 (2010)
Coad, J., Dunstall, M.: Anatomie und Physiologie für
Geburtshilfe. Elsevier Verlag (2007)
Graham, I.: Episiotomy – challenging obstetric interventions. Verlag Blackwell Sciences (1997)
Hebammen-Lehrbuch, im Auftrag des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, Springer Verlag (1920)
Kettle, Ch.; Tohill, S.: Clinical Evidence Perineal Care. BMJ
Publishing Group (2011)
Kindberg, S.: Risiko für eine Geburtsverletzung. www.
gynzone.de/naht-module/links-und-referenzen/faq-zurnaht (2010)
Martius, H.: Geburtshilfliche Operationen. Thieme Verlag.
Wiesbaden (1946)
Runge, M.: Lehrbuch der Geburtshülfe, Springer Verlag.
Berlin. S. 142 (1903)
Sultan, A. H. et al.: Anal-sphincter disruption during vaginal delivery. N Engl J Med. 329: 1905–11(1993)
Stoeckel, W.: Lehrbuch der Geburtshilfe, Fischer. Berlin
(1940)
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Die Trennung von „Verursachung“ und „Reparatur“ einer Geburtsverletzung durch die
in Deutschland üblichen Arbeitsaufteilungen
zwischen Hebamme und geburtshilflichen
MedizinerInnen führt nicht selten zu Missverständnissen im Umgang miteinander. Der
laut geäußerte Missmut des Operateurs über
eine große Verletzung (Dammriss III. und IV.
Grades) führt bei den Hebammen außerdem
nicht selten zur Bagatellisierung größerer Risse, um der Auseinandersetzung zu entgehen.
Dieses Verhalten ist genauso wenig legitim
wie die implizite Unterstellung von ÄrztInnen,
dass die Hebamme es hätte besser machen
müssen. Die ungünstigste Kombination für die
Frau ist bei Geburtsverletzungen die erfahrene
Hebamme und der unerfahrene Assistenzarzt,
wenn die Hebamme die Verletzung herunterspielt und der Arzt eine schwierige Naht allein
versorgt. Leidtragende dieser unsinnigen
Machtspiele sind die Frauen, deren Verletzungen dann nicht adäquat versorgt werden
und entsprechend schlecht ausheilen. Die
Frauen laufen für den Rest ihres Lebens mit
einer möglicherweise ungenügend versorgten
Geburtsverletzung herum und leiden unter
den funktionellen und psychischen Beeinträchtigungen. Bei einer nächsten Geburt
ergeben Untersuchungen dann vielleicht, dass
eine Sectio caesarea die beste Lösung für die
werdende Mütter sei. Das ist hausgemachte
Pathologie!
Geburtsverletzungen können entstehen. Der
entscheidende Behandlungsfehler wäre, diese
nicht mit dem besten Wissen und Gewissen zu
versorgen. Hebammen haben dafür zu sorgen,
dass sie über dieses Wissen verfügen und den
betreuten Frauen die bestmögliche Behandlung
zukommen lassen.
Angaben zur Autorin finden sich auf
Seite 12.
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