Stellungnahme im Rahmen der Öffentlichen Anhörung im

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Stellungnahme im Rahmen der Öffentlichen Anhörung im
Stellungnahme im Rahmen der
Öffentlichen Anhörung
im Auswärtigen Ausschuss
am 28. September 2011
Praxis der Visumerteilung
durch die Vertretungen
der Bundesrepublik Deutschland
Geschäftsstelle
Alt-Moabit 90
10559 Berlin
Peter Wittschorek
Geschäftsführer
Telefon
Telefax
+49 (0)30 31 51 74 -81
+49 (0)30 31 51 74 -71
[email protected]
www.mitost.org
Vorbemerkungen
Der Verein MitOst ist Mittler und Förderer des Sprach- und Kulturaustausches besonders für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Seit seiner Gründung 1996 ist er
in Berlin ansässig. Er hat 1.200 Mitglieder aus rund 40 europäischen Ländern, ist international aktiv und an vielen Orten über zahlreiche Grenzen hinweg tätig.
Ausgehend von den Erfahrungen, die deutsche Stipendiaten der Robert Bosch Stiftung
im Ausland sowie später eine wachsende Zahl von ausländischen Stipendiaten in
Deutschland gesammelt haben, engagiert sich MitOst seit nunmehr 15 Jahren in den
Bereichen Kulturaustausch und aktive Bürgerschaft. Auf der Basis eines breiten und
engagierten Netzwerkes aus Mitgliedern, Mitarbeitern, Partnern und Förderern führt
der Verein an wechselnden Orten in der gesamten Region internationale Bildungs- und
Austauschprojekte durch.
Hierzu zählen in Trägerschaft durchgeführte Stiftungsprogramme wie das TheodorHeuss-Kolleg der Robert Bosch Stiftung und des MitOst e.V. (seit 2001), das Programm Kulturmanager aus Mittel- und Osteuropa der Robert Bosch Stiftung (seit 2004)
und das Programm Europeans for Peace der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ (2006 bis 2010). Hinzu kommen zahlreiche Projekte, bei denen MitOst mit europäischen, regionalen und deutschen Institutionen und Stiftungen zusammen arbeitet
– darunter das EU-Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger, das Programm zivik
zur zivilen Konfliktbearbeitung (mit Mitteln des Auswärtigen Amtes) sowie das EURussia Civil Society Forum, zu dessen Gründungsmitgliedern MitOst zählt.
Der Verein MitOst verfügt über umfangreiche praktische Erfahrungen bezüglich der Visumerteilung durch konsularische Vertretungen Deutschlands sowie anderer europäischer Staaten. Hierzu zählt u.a. die Unterstützung von Personen
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zur Teilnahme an Bildungs- und Begegnungsveranstaltungen (Einzelveranstaltungen oder Veranstaltungsreihen) in Deutschland bzw. in anderen EU / SchengenStaaten,
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zur Erlangung von Aufenthaltstiteln für eine längerfristige Tätigkeit in Deutschland
bzw. in anderen EU / Schengen-Staaten im Rahmen eines Stipendiums oder als
Mitarbeiter in der Berliner Geschäftsstelle,
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zur Teilnahme an Bildungs- und Begegnungsveranstaltungen in den Staaten der
Östlichen Partnerschaft (ÖP) und in Russland oder
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zur längerfristigen Tätigkeit zum Beispiel als europäische Freiwillige in den Staaten
der ÖP und in Russland.
MitOst thematisiert regelmäßig die Notwendigkeit der Überwindung bestehender Grenzen auf dem Kontinent sowie insbesondere der uneingeschränkten Mobilität aller europäischen Bürger. Im Mai 2011 präsentierte der Verein in Berlin die Ausstellung Eastern
Neighbours and Visas – Friendly Neighbourhood Relations? des polnischen Fotografen
Jan Brykczyński, die eindrücklich die Atmosphäre in den Konsulaten der EU-Staaten in
Kiew, Minsk, Chisinau und Moskau vermittelt.
Der Verein ist Mitglied in der Coalition for the European Continent Undivided by Visa
Barriers, die Ende 2010 von der Stefan Batory Stiftung initiiert wurde.1 Über 30 europäische Nichtregierungsorganisationen (NRO) setzen sich in diesem Netzwerk für effektive Maßnahmen zur Einführung und Umsetzung von Reformen mit einer klaren Perspektive auf Abschaffung der Visumpflicht ein. Ihr Antrieb ist die Überzeugung, auf diese Weise die demokratische Transformation und Modernisierung in Osteuropa und
somit die wachsende Sicherheit auf dem europäischen Kontinent zu fördern.
1. Wie schätzen Sie den Vorschlag einer vollständigen Visafreiheit für Russland
und die osteuropäische Länder ein?
Die Grundsatzfrage nach der vollständigen Visafreiheit für Bürger der Mitgliedsländer
der ÖP und Russlands wurde bereits auf europäischer Ebene unmissverständlich beantwortet. Mehrfach und ausdrücklich haben die politischen Organe der Europäischen
Union (EU) und ihrer Mitgliedsstaaten die generelle Absicht der Abschaffung der
Visumpflicht bekräftigt – unter anderem in der Gemeinsamen Erklärung des EU-ÖPGipfels in Prag von 2009 und in den Abkommen über die Erleichterung der Visaerteilung (Visa-Abkommen) mit Russland, der Ukraine und Moldau (2007) sowie mit Georgien (2011). MitOst begrüßt diese eindeutige Festlegung und setzt sich für eine zügige
und kompromisslose Umsetzung dieses Vorhabens ein.
Bei dem Vorschlag einer vollständigen Visafreiheit für die Länder der ÖP und für Russland geht es somit alleine um die Frage, wann diese Realität wird und sich die Bürger
der EU und ihrer östlichen Nachbarstaaten ohne besondere Einschränkungen hin- und
herbewegen können. MitOst vertritt gemeinsam mit vielen anderen europäischen NRO
die Auffassung, dass Einschränkungen wie die Formulierung im Abschlussdokument
des Prager EU-ÖP-Gipfels, wonach „schrittweise auf die vollständige Abschaffung der
Visumpflicht als langfristiges Ziel für einzelne Partnerländer“ hingearbeitet werden soll,
„sofern die Voraussetzungen für eine gut gesteuerte und gesicherte Mobilität gegeben
sind“ hinter den tatsächlichen Herausforderungen und den aktuellen Entwicklungen
zurück bleiben. Der anstehende Gipfel in Warschau am 29./30. September 2011 sowie
1
http://visa-free-europe.eu.
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die Verabschiedung beziehungsweise Aktualisierung von Visa-Abkommen und von Aktionsplänen zur Visa-Liberalisierung mit einzelnen Staaten der ÖP und mit Russland
bieten nächste Möglichkeiten zur Präzisierung. Entsprechende Texte sollten hinsichtlich des konkreten Ziels der baldigen Umsetzung eines visafreien Raumes in Gesamteuropa zugespitzt werden, um damit anschließend konsequent zu beginnen.
Insbesondere auf der Grundlage der zwischen der EU und einzelnen Nachbarstaaten
ausgehandelten Aktionspläne – verabschiedet bisher für die Ukraine und Moldau 2010,
für weitere Staaten in Ausarbeitung – können schon heute die erforderlichen technischen Voraussetzungen vorbereitet und eingerichtet werden. Weitere Verzögerungen
bei der Aufhebung der Visumpflicht für kurzzeitige Aufenthalte (Schengen-Visa)
mit diesen Ländern sind somit nicht zu rechtfertigen. Es ist insbesondere darauf zu
achten, dass nicht immer wieder neue Bedingungen gestellt werden, die die freie Mobilität zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarstaaten behindern. Und dass die gefundenen Lösungen pragmatisch auch auf längerfristige Aufenthalte (wofür bisher Nationale Visa notwendig sind) angewandt werden. In letzter Konsequenz müssten sich
alle beteiligten Seiten – unter Berücksichtigung der in Details sicherlich angebrachten
Differenzierungen sowie erforderlicher Absicherungen in einzelnen Etappen – einem
permanenten und zielgerichteten Gesamtprozess verpflichtet fühlen.
Die Debatte der Frage einer vollständigen Visafreiheit in Europa bewegt sich – vereinfacht dargestellt – zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite dominieren Vorbehalte,
aufgrund derer an zentralen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit festgehalten wird
oder sogar noch Verschärfungen in Betracht gezogen werden. Auf der anderen Seite
überwiegt das Interesse an Verbesserungen, die nach Möglichkeit allen beteiligten Parteien zugute kommen sollen. Diesen Haltungen liegen unterschiedliche Analysen der
Experten in Deutschland und der EU zugrunde, ob der Verzicht auf eine umfassende
Visumpflicht für die Bürger aus der östlichen Nachbarschaft die Sicherheit im westlichen Teil des Kontinents gefährdet oder den Menschen und für ihre Sicherheit neue
Chance eröffnet.
Tätigkeiten und Erfahrungen des Vereins MitOst bestätigen die Überzeugung, dass in
Bezug auf die Staaten der ÖP und auf Russland konkrete Chancen die möglichen
Risiken bei weitem überlagern. Die Chancen liegen vor allem in dem gesellschaftlichen Wandel hin zu Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft, was der Sicherheit auf dem europäischen Kontinent insgesamt zugute kommt (dazu ausführlich
unter Frage 2.a). Letztlich liegt es in erster Linie an der Überzeugung und am Willen
der Akteure, sich statt der Beschäftigung mit komplexen Einzelfall-Regularien an den
großen Wurf eines visafreien Europas zu machen. Der junge polnische Politikwissenschaftler Piotr Kaźmierkiewicz fasste Anfang 2011 zusammen, dass Schengen „nicht in
technischer, sondern in politischer Hinsicht eine Herausforderung für [das mittlerweile
den Vorsitz im Europäischen Rat führende] Polen ist“.2
MitOst unterstützt diejenigen Vorschläge, die nicht die Steuerung von Mobilität durch
Restriktionen zum Ziel haben, sondern die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit einschließlich der baldigen Abschaffung der Visumpflicht für Menschen aus den Staaten
der ÖP, aus Russland sowie auch aus dem Kosovo.
2
Piotr Kaźmierkiewicz: Das Schengen-Abkommen als Herausforderung für die polnische Außenpolitik,
in: Polen-Analysen (www.laender-analysten.de/polen) Nr. 83, 1.02.2011, S. 2.
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2) Welche Vorschläge würden Sie im Hinblick auf die Ziele deutscher Visapolitik,
a) zivilgesellschaftlichen Austausch fördern,
b) Fachkräftebedarf decken und
c) Investoren und Geschäftspartner anziehen,
machen? Sehen Sie insbesondere Auslegungsspielräume bei der Anwendung
des Visakodexes, die im Hinblick auf diese Ziele genutzt werden können? Welche besten Beispiele anderer Länder sehen Sie im Hinblick auf diese Ziele?
Der Zivilgesellschaftliche Austausch – das bei MitOst über viele Jahre praktizierte Zusammenwirken von Menschen und Organisationen beiderseits der östlichen Schengen-Grenzen – kann vor allem dadurch unterstützt werden, dass die Aufhebung der
Visumpflicht konsequent verfolgt und umgesetzt wird. Die Entwicklungen in den letzten
beiden Jahren verdeutlichen die Gefahr, dass sich die deutsche und die europäische
Visapolitik in großen Teilen mit komplexen Regelungen zur Erleichterung einzelner Visumbestimmungen aufhält, dem umfassenderen Ziel aber nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommen lässt. Erforderlich ist ein gemeinsames Vorgehen aller zum
Schengenraum gehörenden EU-Staaten (im Folgenden: EU / Schengen-Staaten). Die
deutsche Visapolitik sollte in der Frage der Visa-Liberalisierung eine Vorreiterrolle übernehmen und tatkräftig mithelfen, dass entscheidende Schritte auf den
Weg gebracht werden. Dies sollte in enger Abstimmung mit EU-Staaten wie Litauen,
Polen und Schweden geschehen, die zuletzt – hervorzuheben ist die aktuelle polnische
EU-Präsidentschaft – mit gutem Beispiel voran gegangen sind. Und neben den Schengen-Visa auch Nationale Visa mit einbeziehen.
Als nachrangiger Punkt nur sollten auf der To-do-Liste der deutschen Visapolitik die
zahlreichen Möglichkeiten stehen, die im Rahmen des Visakodex zu einer spürbaren
Reduzierung der Auflagen für die Erlangung eines Schengen-Visums beziehungsweise
die zu Erleichterungen in den Verfahren für die Erlangung eines Nationalen Visums
führen können. Insbesondere im Fall, dass auf Ebene der EU / Schengen-Staaten das
gemeinsame Vorgehen in Richtung Aufhebung der Visumpflicht für die Bürger der
Staaten der ÖP und Russlands nicht entschieden genug verfolgt wird, sollte der vorhandene Spielraum so weit wie möglich genutzt werden. Dabei ist jede vermeintlich zu
Verbesserungen führende Regelung aber hinsichtlich des Aufwands und der Kosten für ihre Umsetzung kritisch zu hinterfragen. Auf bestimmte Auflagen sollte alternativ ganz verzichtet werden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf einzelne Regelungen und Verbesserungsvorschläge detaillierter in der ausführlichen Antwort auf Frage 3) zu den Prozeduren
der Konsularabteilungen der deutschen Auslandsvertretungen eingegangen.
Als hilfreiche Beispiele aus der neueren Praxis anderer Länder sind unter anderem
anzuführen:
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der Verzicht auf Gebühren für die Ausstellung einiger Nationaler Visa für Bürger
von Belarus durch die konsularischen Vertretungen Estlands, Lettlands, Litauens
und Polens (sowie ebenso Deutschlands);
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der Verzicht auf Gebühren für die Ausstellung einiger Nationaler Visa für Bürger der
Ukraine durch die konsularischen Vertretungen der Slowakei;
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die Reduzierung der Gebühren auf 15 Euro für die Ausstellung einiger Nationaler
Visa für Bürger der Ukraine durch die konsularische Vertretungen Polens;
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der Verzicht auf die Vorlage einer Reihe von Dokumenten über die finanziellen
Verhältnisse und die Arbeitsbiografie des Antragsstellers für polnische SchengenVisa für Bürger der Ukraine
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die bereits mehrere Jahre zurückliegende Einrichtung einer gemeinsamen Visumantragsstelle in Chisinau, der Hauptstadt Moldaus, bei der dortigen konsularischen
Vertretung Ungarns für inzwischen 13 EU / Schengen-Staaten sowie die Schweiz
und Kroatien; eine besonderer Vorteil des Zentrums liegt auch darin, dass der ungarische Konsul für alle teilnehmenden Staaten (außer Kroatien) Schengen-Visa
ausstellen kann;3
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die gemeinsame Beauftragung eines externen Dienstleistungserbringers für die
Einreichung von Visumanträgen durch die konsularischen Vertretungen Lettlands
und Estlands in sechs Orten in der Ukraine außerhalb der Hauptstadt Kiew sowie
durch Belgien, Dänemark, Spanien und die Niederlande im ukrainischen Odessa.
Die Mehrzahl dieser Erleichterungen, besonders die Gebührenregelungen, bleibt auf
Nationale Visa beschränkt, die nicht in den gemeinsamen Zuständigkeitsbereich der
EU / Schengen-Staaten i.S.d. Visakodex fallen. Andere Beispiele wie Einschränkungen
der vorzulegenden Dokumente oder zwischen mehreren Staaten koordinierte Verfahren zeigen hingegen Spielräume auf, die mit entsprechendem Willen auch von den
deutschen konsularischen Vertretungen genutzt werden könnten, solange der
Prozess der Aufhebung der Visumpflicht auf europäischer Ebene nicht voran kommt.
Zu a) Wie würden Sie die Bedeutung der Visapolitik für den zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Austausch beschreiben (empirische Belege) und
inwieweit sind die Verbesserungsvorschläge des Ostausschusses der deutschen
Wirtschaft auf den Bereich der Erteilung von Visa zu anderen Besuchszwecken
(zivilgesellschaftlich, wissenschaftlich, familiär) übertragbar?
Der Schwerpunkt der Tätigkeit von MitOst liegt auf dem zivilgesellschaftlichen Austausch. Zu der im Alltagsgeschäft regelmäßig präsenten Visafrage wurde aufgrund
zahlreicher Einzelfälle keine ausführliche und für diesen Bereich aussagekräftige Statistik geführt. Auch unter Rückgriff auf die Erfahrungen vieler anderer NRO und sonstiger Quellen sind empirisch belegbare Aussagen ohne einen enormen Mehraufwand
kaum möglich. Auch die Europäische Union führt und veröffentlicht erst seit Kurzem die
weiter unten angeführten offiziellen Statistiken, deren Daten zur Beantwortung der hier
gestellten Frage jedoch ebenso wenig beitragen können.
MitOst lädt jährlich gut 100 meist junge Menschen aus den Staaten der ÖP, aus Russland, aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Zentralasien ein und begleitet sie mit
den erforderlichen Dokumenten und weiterer Unterstützung im Visumverfahren für die
einmalige Einreise in den Schengen-Raum, um an einzelnen Begegnungs- und Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Hinzu kommen 15 bis 20 Personen, die auf Einladung des Vereins längerfristige Mehfach-Visa zur Teilnahme an Veranstaltungsreihen oder Nationale Visa zur Annahme von Stipendien oder auch zur Arbeitsaufnahme
in Deutschland beantragen. Dem gegenüber steht eine etwas geringere Zahl von Visumverfahren für Veranstaltungen sowie vereinzelt auch für längere Aufenthalte zum
3
Weitere Informationen über das Common Application Centre: http://www.cac.md.
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Beispiel im Rahmen eines Freiwilligendienstes an konsularischen Vertretungen von
Ländern der ÖP, Russlands und auch anderer Staaten der Region.
Gemessen am überschaubaren Umfang der Tätigkeit des Vereins und an seinem daraus resultierenden bescheidenen Beitrag zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Austausches nehmen Visafragen und damit die Vorgaben der europäischen und der nationalen Visapolitik einen hohen Stellenwert ein. Wie im Fall vieler betroffener Organisationen handelt es sich hierbei freilich nicht um eine bewusste Entscheidung für das
Thema sondern um eine Reaktion auf eine – eher als lästig empfundene – Situation. Dies geht soweit, dass sich MitOst bei der Durchführung von Veranstaltungen immer wieder für Orte wie Kiew oder Istanbul entscheidet, die beispielsweise von Nowosibirsk, Tiflis, Taschkent, Belgrad, Danzig und von Leipzig aus mit möglichst wenig
konsularischem Aufwand erreicht werden können. Vor diesem Hintergrund ist auch das
Engagement von MitOst in der Visathematik einzuordnen, der sich der Verein weniger
mit dem Ziel einer grundsätzlichen Positionierung als aufgrund der unmittelbaren, zumeist negativen Betroffenheit seiner Mitglieder und Teilnehmer stellt. Bezüglich des
zivilgesellschaftlichen Austausches in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gibt es weit interessantere und grundsätzlich bedeutsamere Fragestellungen, denen sich der Verein
entsprechend seiner Möglichkeiten widmet.
Aus der engen Verbindung mit der Robert Bosch Stiftung, die schon in den 1970er
Jahren deutsch-polnische Programme zur „Völkerverständigung“ auflegte, war sich
MitOst bereits bei der Aufnahme erster eigener Aktivitäten der besonderen Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Austausches mit Menschen aus Ländern mit
schwach oder nicht ausreichend demokratisch legitimierten Regierungen bewusst. Die Erinnerungen von zwei bekannten polnischen Persönlichkeiten machen diesen wichtigen Zusammenhang eindrucksvoll erfahrbar. Ihnen öffneten sich zu Zeiten
des im Kalten Krieg geteilten Kontinentes neue Perspektiven, als mittels eines Ausreisevisums der polnischen Behörden und eines Einreisevisums eines westlichen Gastlands die strengen Reisebeschränkungen überwinden konnten: Jana Komorovska, eine der bekanntesten polnischen Theater-Schauspielerinnen und -Dozentinnen, schilderte das für ihre Entwicklung prägende Erlebnis, dass das Reisen in den Westen „die
Möglichkeit gab die Welt zu sehen, die sich von der Welt unterschied, in der man selbst
lebte“ und man dadurch „in Kontakt kam mit anderen politischen Systemen – mit Demokratie“. Und der Doyen der polnischen Soziologie Jerzy Szacki nannte seinen ersten
längeren Aufenthalt in den USA in den 1950er Jahren eine Erfahrung, die ihm die Augen öffnete – „Das war für mich die Entdeckung der Demokratie.“4
Die Reihe ließe sich bis in die 1990er Jahre fortsetzen, als die Menschen aus Polen
und anderen Staaten der Region inzwischen ganz ohne Visa-Restriktionen in Richtung
Westen reisen konnten. Die wachsenden Erfahrungen aus dieser Zeit bis hin zu der
Selbstverständlichkeit des ungehinderten politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Austausches zwischen Polen und den Nachbarn in der damaligen
EU war eine Voraussetzung dafür, dass die polnische Gesellschaft nach dem Beitritt
des Landes zur EU nicht europaskeptisch, sondern sogar noch europafreundlicher
wurde. Und mitnichten eine Bedrohung für die europäische Sicherheit dargestellt hat.
4
Beide zitiert aus ihren Interviews in der Rubrik „People’s Voices“ auf der Internet-Seite der Coalition for
the European Continent Undivided by Visa Barriers, http://visa-free-europe.eu/perspectives/peoplesvoices/ (Zugriff 19.09.2011).
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Seit Mitte der 1990er Jahre ist MitOst als Verein und als ein Netzwerk engagierter Mitglieder selbst aktiv am zivilgesellschaftlichen Austausch beteiligt, der sich anfangs
hauptsächlich auf die mitteleuropäische Region konzentrierte. Als diese wenige Jahre
später schon zur EU gehörte und sich die Vereinsinteressen und -aktivitäten zunehmend nach Südosteuropa, in die östlichen Nachbarstaaten, nach Russland und zuletzt
in die zentralasiatischen Republiken verlagerten, waren es gerade die im Austausch
mit Polen, Tschechien, Ungarn, den baltischen Staaten etc. engagierten Menschen, die
sich um die Weitergabe ihrer Erfahrungen an zivilgesellschaftlich relevante Akteure aus
Serbien, der Ukraine, Armenien, Usbekistan etc. und um die Intensivierung des gegenseitigen Austausches bemühten. Die viele Jahre und vielfältige Aspekte einschließenden Erfahrungen bei der Unterstützung und Mitgestaltung des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wandels im östlichen Teil des europäischen Kontinents sind ein
großer Schatz und eine dauerhafte Aufgabe für die Zukunft zugleich.
Eine Erhebung unter 1.800 Menschen aus Georgien im August 2009 ergab, dass die
Reduzierung von Visa- und Reiseregelungen einer ihrer größten Wünsche hinsichtlich
einer internationalen Unterstützung für Georgien ist.5 Dieses Beispiel spiegelt um mehrere Jahre versetzt das gleiche große Verlangen der Menschen nach freiem Austausch und der Öffnung neuer Perspektiven wider und damit sind die gleichen positiven Erwartungen und Herausforderungen verbunden, die vor nicht allzu langer
Zeit für Polen, Tschechen, Ungarn, Balten und andere prägend waren. Der Abbau und
die Aufgabe von Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit der Menschen jenseits
der östlichen EU-Außengrenze sind ein wichtiger Schritt, ihnen ebenfalls die Möglichkeit zu geben, die Offenheit und Transparenz demokratischer Gesellschaftssysteme
kennen zu lernen und diese Eindrücke in der Folge auf ihre Heimatländer zu übertragen. Die Schaffung und Konsolidierung demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnungen in diesem Teil des Kontinentes trägt in der Folge zu mehr Sicherheit und
Wohlstand in ganz Europa bei.
Wenn als Gegenargument hierzu von der Bedrohung der Sicherheit im Hinblick insbesondere auf illegale Migration und auf organisierte Kriminalität osteuropäischer Provenienz die Rede ist, werden die attraktiven Auswirkungen engerer ökonomischer, kultureller und gesellschaftlicher Beziehungen sowie eines gegenseitigen Austausches unterbewertet oder übersehen. MitOst kann die gängigen Befürchtungen zu Wirtschaftsmigration, Terrorismus und innerer Sicherheit nicht bewerten. Aus der engen Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Aktereuen aus den Staaten der ÖP und Russland
ergibt sich jedoch die Einschätzung, dass jede Investition in die Menschen durch deren
große Bereitschaft, ihre Erfahrungen in ihre Gesellschaften zurück zu tragen, der Allgemeinheit zugute kommt. Die daraus resultierende gesellschaftliche Entwicklung zahlt
sich für alle aus, wenn dadurch insgesamt Lebensstandard und Lebensqualität
steigen und die entsprechenden Unterschiede zu Deutschland und anderen Ländern abnehmen.
In Deutschland wiederum ist die bei MitOst schon lange aktiv praktizierte Zusammenarbeit von Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften eine wichtige Bereiche-
5
Eurasia Partnership Foundation: Georgian Public Opinion. Attitudes towards European Integration,
Tbilsi 2009; q23.
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rung, die nicht nur vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung interessant ist
und große Potentiale bietet. Die verzögerte Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für
die seit 2004 zur EU gehörenden europäischen Staaten wie Polen war für viele zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Aktivitäten eher hinderlich, brachte in bestimmten Fällen einen erheblichen Mehraufwand mit sich und vereinzelt auch Nachteile im
Vergleich zu Arbeitgebern aus anderen EU-Staaten, die von solchen Einschränkungen
nicht betroffen waren. Bemerkenswerte Nachteile für die heimischen Arbeitnehmer in
diesen Ländern sind hingegen nicht bekannt geworden. Dies spricht dafür, dass auch
die Arbeitsmärkte in Deutschland und der EU mit Blick auf die östliche Nachbarschaft
noch mehr Bewegung vertragen können.
Ein weiteres öfter gegen die ungehinderte Mobilität in ganz Europa angeführtes Argument sind die Missbrauchsmöglichkeiten, die mit der Lockerung von Visarestriktionen
verbunden sind. Dabei liegt es auf der Hand, dass kriminelle Potentiale in Form von
Betrügern und Schleusern oder in Form von Korruption vor allem dann an den Tag treten, wenn durch Einschränkungen etwa der Bewegungsfreiheit ein Anreiz geschaffen
wird, diese auf illegalem Weg zu umgehen. Gerade hinsichtlich der Furcht vor kriminellen Machenschaften im Auslandsreiseverkehr kann die Antwort nur heißen, dass weitgehende Freiheiten ohne jegliche Visumpflicht die beste Sicherheit vor solchen Machenschaften bieten.
Zu b) Von welchem Bedarf an Fachkräften, insbesondere aus der Region, gehen
Sie bis zum Jahr 2050 aus? Welches Potenzial für die Zuwanderung qualifizierter
Fachkräfte sehen sie und wie müssten die Visapolitik und Praxis verändert werden, um dieses Potenzial zu realisieren?
Zu dieser Frage sind aus dem Tätigkeitsbereich von MitOst keine Aussagen möglich.
Zu c) Für welche – für die deutsche Wirtschaft wichtigen – Länder, z.B. unsere
derzeit wichtigsten Handelspartner, sehen Sie Wettbewerbsnachteile durch die
Visapolitik und Praxis der Visavergabe an potenzielle Investoren und Geschäftspartner? Welche Länder liefern dort beste Beispiele für eine Vergabepraxis?
Zu dieser Frage sind aus dem Tätigkeitsbereich von MitOst keine Aussagen möglich.
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3. Entsprechen die personelle Ausstattung und die Prozeduren der Konsularabteilungen der deutschen Auslandsvertretungen den Vorgaben des Visakodex?
Wo liegen Verbesserungsmöglichkeiten?
Über die letzten Jahre war eine insgesamt erfreuliche Entwicklung bei der Annahme und Bearbeitung von Visumanträgen an den Konsularabteilungen der deutschen
Auslandsvertretungen in den Ländern der ÖP und in Russland festzustellen. In einer
repräsentativen Umfrage der Initiative „Europe without Barriers“ im Sommer 2010 in
der Ukraine lag die dortige Visastelle der Deutschen Botschaft im Vergleich mit den
konsularischen Diensten von 19 anderen EU-Staaten in Hinblick auf die formalen Prozesse an fünfter und in der subjektiven Einschätzung der Antragssteller sogar an dritter
Stelle.6
Dieser positive Eindruck deckt sich mit der Mehrzahl der Erfahrungen von MitOst in der
Ukraine und auch in den anderen Staaten der Region. Aufgrund von vereinzelt aufgetretenen Fällen kann jedoch auf den Hinweis nicht verzichtet werden, dass die im Visakodex niedergelegten Selbstverständlichkeiten, dass die Antragssteller „unter gebührender Berücksichtigung der Menschenwürde“ sowie generell „zuvorkommend“ zu
behandeln sind und die Bearbeitung ihrer Anträge „auf professionelle und respektvolle
Weise erfolgen“ soll (Art. 6 der Präambel sowie Art. 39, Abs. 1), keineswegs immer uneingeschränkt zur Anwendung kommen.
In wieweit solche Defizite auf eine grundsätzliche Problematik bei der personellen Ausstattung der Konsularabteilungen hinweisen, kann MitOst nicht bewerten. Auf der anderen Seite ist von einer Vielzahl von Fällen zu berichten, in denen konsularische Mitarbeiter freundlich, zuvorkommend und kompetent die jeweiligen Anliegen des Vereins
unterstützt haben und auch in schwierigeren Konstellationen – Terminfragen, Anforderungen an Dokumente u.a. – dank ihres persönlichen Engagements den von MitOst
eingeladenen Antragsstellern weiter geholfen haben. Ihr Aufwand und Einsatz hierfür
stand allerdings in der Regel – ebenso wenig wie der der Antragssteller und der Mitarbeiter bei MitOst – in keinem Verhältnis zu der geringen Relevanz der konkreten Sachfragen. Die menschlichen und finanziellen Ressourcen auf beiden Seiten waren bisher in den allermeisten Fällen, wenn ein direkter Kontakt zwischen MitOst und einer
Konsularabteilung erforderlich wurde, nicht wirklich zu rechtfertigen und fehlten sicherlich an wichtigeren Stellen.
Besonders positiv hervorzuheben ist die Tatsache, dass die deutschen Auslandsvertretungen in vielen über rein touristische Unternehmungen hinausgehenden Fällen, wie
sie bei MitOst die Regel sind, den Spielraum des Visakodex und der bilateralen Abkommen nutzen und auf die Entrichtung von Visagebühren verzichten. Nicht verständlich ist jedoch, wonach sich solche Entscheidungen richten und weshalb in rund 5 Prozent der von MitOst begleiteten Fälle Gebühren erhoben wurden. Bisher sind Befreiungen allenfalls auf der Grundlage von Einzelregelungen wie dem deutsch-russischen
6
Individuelle Interviews im Juli und August 2010 mit 1.860 Personen, die an den Auslandsvertretungen
derjenigen EU-Staaten, die zum Schengen-Raum gehören, Anträge gestellt haben. Public Initiative
„Europe without Barriers“: Schengen Consulates in Assessments and Ratings. Visa Practices of the
EU member States in Ukraine 2010, Kyiv 2010, http://novisa.com.ua/en/publics/?publics_id=14.
Die Ergebnisse einer neuen Erhebung im Sommer 2011 sollen bis Ende September 2011 veröffentlicht
werden.
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„Abkommen über die Erleichterung des Reiseverkehrs von Staatsangehörigen der
Bundesrepublik Deutschland und Staatsangehörigen der Russischen Föderation“
(2003) nachvollziehbar. Sie decken jedoch nicht jedes Land und jeden Fall ab, der relevant sein kann. Es fehlt somit an einer über bilaterale und / oder thematisch begrenzte Abkommen hinausgehenden grundsätzlichen Regelung der deutschen Seite, die
den Willen voraussetzt, bestimmte Gruppen mit dem Ziel der Förderung des zivilgesellschaftlichen Austausches und anderen Zielen von der Erhebung von Visagebühren
auszunehmen.
Eine Verbesserung könnte dadurch erreicht werden, dass eine für alle deutschen Auslandsvertretungen zugängliche Datei von Einrichtungen und Organisationen geschaffen wird, die Reisende für bestimmte Zwecke einladen können, welche dann keine Visagebühren zu entrichten haben. Der Eintrag in diese Datei müsste ohne kompliziertes
Registrierungsverfahren und größere Auflagen möglich sein, damit sie auch Organisationen wie MitOst, die nicht auf der Grundlage konkreter Rechtsakte tätig sind, erfasst.
Ebenfalls problematisch ist die Frage der mit einem Visumantrag vorzulegenden Dokumente, aus denen der Zweck der Reise hervorgeht. Grundsätzlich ist der breite
Spielraum zu begrüßen, den der Visakodex insbesondere im Anhang II „Nicht erschöpfende Liste von Belegen“ einräumt. In der Umkehrung ergeben sich daraus jedoch fast
unerschöpfliche Möglichkeiten von Auflagen, auf die Antragssteller und die sie einladenden beziehungsweise die gastgebenden Personen oder Organisationen wie MitOst
sich einzustellen haben. Hierzu gehören insbesondere die Fragen:
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Welche Anforderungen muss ein Einladungsschreiben erfüllen? In welcher Form –
Original, Fax, Email – muss es vorliegen?
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Wie hat eine einladende, nicht-staatliche Organisation ihre Legitimität nachzuweisen? Wie die unterzeichnende Person?
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Welche Alternativen gibt es zu der von den deutschen Auslandsvertretungen in der
Regel geforderten Vorlage von Originalen der Einladungsschreiben oder ähnlicher
Bestätigungen, wenn diese dem Antragssteller auf dem Postweg nicht zuverlässig
zugestellt werden können?
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Welche Anforderungen muss eine Bestätigung der beabsichtigten Teilnahme an
theoretischen oder praktischen Aus- und Fortbildungsveranstaltungen erfüllen,
wenn die ausstellende Organisation nicht den gängigen Vorstellungen entspricht,
d.h. zum Beispiel wie MitOst nicht staatlich ist und Angebote der non-formalen Bildung durchführt, die nicht zertifiziert werden?
Aus diesen und anderen Fragen resultiert nicht nur eine latente Unsicherheit jedes Antragsstellers, die für die Ausstellung eines Visums erforderlichen Angaben in der richtigen Form vorlegen zu können. Hinzu kommen ein teilweise erheblicher Mehraufwand
für den Antragssteller und die einladende Organisation sowie möglicherweise
hohe Kosten für die Sicherstellung einer zuverlässigen Zustellung von Originalen. In
der Praxis bei MitOst bedeutet dies, dass für eine Veranstaltung mit rund 20 visumpflichtigen Teilnehmern ein Budget von mehreren hundert Euro vorgesehen werden
muss, aus dem die Versandkosten finanziert werden sowie eine Hilfskraft, die für die
Beschaffung der notwendigen Angaben zur Ausstellung von Einladungen, für deren
Erstellung und für die Zusammenstellung und den Versand der begleitenden Dokumente sorgt. Bei kurzfristigeren Planungen, die einen Kurierversand an mehrere Orte
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erforderlich machen, können die Kosten unter Umständen einen Betrag von 1.000 Euro
übersteigen – Ausgaben, die die einschlägigen Bewilligungsbestimmungen im Fall einer Finanzierung aus öffentlichen Mitteln oder auch durch die Mehrheit privater Förderer in der Regel nicht abdecken würden.
Grundsätzlich zu hinterfragen ist, dass die deutschen konsularischen Vertretungen in
den Staaten der ÖP und in Russland und auch darüber hinaus oft sehr unterschiedliche Bestimmungen und Verfahren anwenden. Da MitOst häufig zu Veranstaltungen mit
Teilnehmern aus einer ganzen Reihe von visumpflichtigen Staaten einlädt, kann – soweit die persönlichen Spezifika der Antragssteller den Vergleich zulassen – oft eine
Reihe voneinander abweichender Praktiken beobacht werden. Gleiches gilt, wenn die
Arbeit einer einzigen Visastelle über einen längeren Zeitraum beobachtet werden kann.
In der Sache begründete, nachvollziehbare Grundlagen für solche Differenzen gibt es
nicht. Dagegen ist aber festzustellen, dass dem menschlichen Faktor etwa im Fall einer
Neubesetzung in einer Visastelle eine besondere Rolle zukommen kann.
Verbesserungsmöglichkeiten würde vor allem die Einführung elektronischer Verfahren zur Antragsstellung und Visumausstellung bringen können, im Besonderen
auch für die Erbringung der erforderlichen Nachweise zum Zweck der Reise aus
Deutschland, so dass auf die aufwändige und fehlerintensive Postversendung von Originaldokumenten verzichtet werden könnte. Ergänzend könnten gerade bei einem
elektronisch gestützten Verfahren die Kriterien für einzelne Vorgänge konkretisiert werden. Für die Antragssteller könnte es erleichternd sein, wenn bestimmte persönliche
Angaben insbesondere zu den finanziellen und familiären Hintergründen, die auf eine
höhere Rückkehrbereitschaft schließen lassen, nicht immer wieder neu beigebracht
werden müssten. Die Praxis der Konsularabteilungen anderer Länder lässt vermuten,
dass hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Bedenken zur Speicherung von personenbezogenen Daten noch Spielraum besteht.
Auch die vermehrte Ausstellung von Visa zur wiederholten Einreise innerhalb eines
längeren Zeitraums wäre eine Möglichkeit, die aktuelle Situation zumindest zu entspannen. Allerdings orientieren sich die Konsularabteilungen der deutschen Auslandsvertretungen hierbei nach Erkenntnissen von MitOst leider am unteren statt am oberen
Rand des im Visakodex eingeräumten Spielraums von 6 Monaten bis zu 5 Jahren,
auch wenn die Voraussetzungen in der Regel erfüllt sind „Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen“ zu sein, „die wegen der Teilnahme von Berufsausbildungsmaßnahmen, Seminaren und Konferenzen reisen“ (Art. 24 Abs. 2).
In der o.g. Untersuchung zur Situation in der Ukraine durch die Initiative „Europe
without Barriers“ wird als einzig deutlich negativer Punkt der zwanzigste und somit letzten Platz der deutschen Vertretung bei den von der EU veröffentlichten Zahlen zu den
im Jahr 2009 abgelehnten Visumanträgen angeführt. Dies trübt das Gesamtbild der
Erhebung 2010, so dass Deutschland unter den Vertretungen von 20 EU / SchengenStaaten nur auf dem achten Platz abschloss. Von der hohen Ablehnungsrate der Kiewer Vertretung (10,9 Prozent 2009 und immerhin noch 6,3 Prozent und damit Platz 14
von 20 2010)7 war MitOst nicht betroffen. Es lässt sich daher allenfalls vermuten, dass
sie mit der großen Attraktivität der deutschen Vertretung unter Antragsstellern mit mög7
Für die Statistik 2010 siehe http://ec.europa.eu/home-affairs/policies/borders/borders_visa_en.htm,
Zugriff 15.09.2011.
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licherweise weniger konkreten Anliegen zusammen hängt. Auffällig ist der Unterschied
im Vergleich mit den unmittelbaren angrenzenden Ländern Slowakei, Ungarn und Polen aber auch mit Österreich, deren Vertretungen ebenfalls viele und sicherlich auch
unterschiedlich motivierte Anträge zu bearbeiten haben. Dort lag die Ablehnungsrate
lag teilweise deutlich unter den als realistisch geltenden 3 Prozent. Aufgrund der signifikant hohen Ablehnungsrate der deutschen Visastelle in Kiew kann angenommen
werden, dass dort bei der Antragsprüfung nicht nur besonders hohe Bewertungsmaßstäbe herangezogen werden, sondern dass die Entscheidungen bis heute durch eine
übermäßige Vorsicht angesichts der als „Visaskandal“ bekannt gewordenen Missstände an der konsularischen Vertretung in Kiew und einigen anderen Orten in der Region
vor rund zehn Jahren geprägt sind.
Kaum erklärbar ist die Tatsache, dass die Ablehnungsraten der deutschen konsularischen Vertretungen in der Region im Jahr 2010 bei Schengen-Visa zwischen unter 2
Prozent (Jekaterinburg, Nowosibirsk und Minsk) und über 9 Prozent (Jerewan und Tiflis) schwankten. Daa besondere Merkmale der Antragssteller oder des Standortes für
diese Unterschiede nicht alleine verantwortlich sein können, ist von unterschiedlichen
Bewertungsmaßstäben an einzelnen Orten beziehungsweise einer unterschiedlich
strengen Anwendung dieser auszugehen. Da es in den einschlägigen Bestimmungen
auf europäischer Ebene wie dem Visakodex und der VIS-Verordnung an Kriterien für
transparente, auf gleichen Bedingungen basierende und nachprüfbare Entscheidungen mangelt, müssen die deutschen Stellen selbst die zweifelhafte Prominenz einiger konsularischer Vertretungen hinsichtlich der Ablehnungsraten hinterfragen. Zumindest im Rahmen nationalstaatlicher Regelungen erscheinen entsprechende Vorkehrungen für Verfahren mit neutralen Ausgangsbedingungen und offenen, vergleichbaren Ergebnissen für jeden Einzelfall getroffen und ihre Einhaltung angebracht.
Die Praxis des zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und auch des touristischen
Austausches wurde in den letzten Jahren am stärksten durch Engpässe der Konsularabteilungen der deutschen Auslandsvertretungen bei der Annahme und der
Bearbeitung von Visumanträgen behindert. Alle bisher eingesetzten Verfahren zur
Terminvergabe für die Vorsprache zur Einreichung von Visumanträgen haben sich bisher nicht oder nur unzureichend bewährt. Antragssteller werden auch außerhalb des
Zeitraums vor den Sommerferien immer wieder mit längeren Wartezeiten konfrontiert.
Die entsprechenden Hinweise frühzeitig Termine zu vereinbaren kollidieren mit der
Praxis eines immer enger zusammen wachsenden Europas, in dem die Möglichkeit
bestehen muss, auch ohne längeren Vorlauf eine Reise zu beginnen und beispielsweise an einer Veranstaltung teilzunehmen. Solange dieser Missstand im Vorfeld der Antragsstellung fortbesteht, hat die 15-Kalendertage-Regelung des Visakodex und anderer Abkommen bezüglich der Entscheidung über einen Antrag aus Sicht der Antragssteller nur wenig Bedeutung. Für sie bleibt die Terminvergabe die entscheidende Hürde, die sie mit allen damit verbundenen finanziellen Risiken im Prinzip schon dann angehen müssen, wenn sie ihre genauen Reisedaten noch nicht kennen und noch keine
Karten für die An- und Abreise verbindlich kaufen können sowie wenn wegen der langen Postwege oftmals das Original der Einladung noch nicht vorliegt.
Vor diesem Hintergrund begrüßt MitOst die in letzter Zeit an einigen Orten eingeführten
Verfahrenserleichterungen, insbesondere das Vielreisenden-Verfahren, das die Antragsstellung für eine wenn auch beschränkte, so doch sehr wichtige Personengruppe
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deutlich erleichtert, indem Anträge unter Verzicht auf bestimmte Unterlagen sowie an
mehreren Orten über externe Serviceleister eingereicht werden können. Im Interesse
aller Antragssteller für Schengen- wie für Nationale Visa könnte die im Visakodex vorgesehene und von anderen EU / Schengen-Staaten teilweise schon vermehrt genutzte
Möglichkeit, bei der Annahme von Visumanträgen auf externe Dienstleistungserbringer
zurückzugreifen, von den deutschen Visastellen viel stärker genutzt werden. Die aktuellen Überlegungen in diese Richtung sind erfreulich, wenn durch eine dezentrale Anwendung dieses Instrumentariums Wege der Antragssteller reduziert werden und eine
kurzfristige, d.h. im Idealfall nicht über zwei Arbeitstage hinausgehende Terminsetzung
möglich wird.
Auf Seiten der externen Dienstleistungserbringer, die für die erforderliche Anzahl geeigneter Mitarbeiter, für deren soziale Absicherung sowie für sichere Verfahren zu sorgen haben, ergeben sich Konsequenzen, die MitOst nicht bewerten kann. Angesichts
teilweise niedriger Standards der Sozialsysteme und fragwürdiger Praktiken gegenüber
Arbeitnehmern in der Region ist es jedoch angebracht darauf hinzuweisen, dass sich
die deutschen Stellen durch Einschaltung Dritter nicht ganz der Verantwortung für diejenigen Personen entziehen können, die in zentralen Verwaltungsprozessen wichtige
Aufgaben erfüllen. Bedenklich ist, dass der Visakodex, insbesondere in Art. 43 und im
betreffenden Anhang X, keine entsprechenden Mindeststandards vorsieht.
Sehr konkret sind die Befürchtungen, dass die im Visakodex als Option vorgesehene
Erhebung zusätzlicher Bearbeitungsgebühren durch die externen Dienstleistungserbringer die Mobilität der Bürger aus den östlichen Teilen Europas zusätzlich
einschränkt und behindert. Die bisher aus der Praxis der Vertretungen anderer EU /
Schengen-Staaten bekannt gewordenen Gebühren bewegen sich zwischen 25 und 30
Euro. Anstelle der Erhebung solcher Gebühren beispielsweise durch die im Auftrag der
Kiewer Visastelle seit Kurzem tätigen drei dezentralen Antragszentren für Vielreisende8
sollten die deutschen Konsularabteilungen mit gutem Beispiel voran gehen und sicherstellen, dass Einsparungen bei eigenem Personal und Objekten an die Antragssteller
weitergegeben werden.
Die Frage der Ansiedlung von Konsularabteilungen der deutschen Auslandsvertretungen steht ebenfalls im Zusammenhang mit den bestehenden Engpässen bei der Annahme und Bearbeitung von Visumanträgen. Negatives Beispiel ist hier die Ukraine,
einem der flächenmäßig größten Länder Europas, wo nach den Ereignissen um den so
genannten Visaskandal bis vor wenigen Monaten nur eine einzige Stelle in der – immerhin zentral gelegenen – Hauptstadt Kiew für die Annahme von Visumanträgen, ihre
Bearbeitung und die Herausgabe der Visa zuständig war. Viel zu lange haben die Bürger der Ukraine auf eine dezentrale Strukturen warten müssen, bis seit wenigen Monaten in den neu geschaffenen Antragszentren für Vielreisende in Donezk, Lemberg
und Odessa wenigstens für einige Antragssteller ausgewählte Dienstleistungen angeboten werden. Dies können nur erste Schritte sein, denen weitere folgen müssen, sei
es in Form weiterer Vertretungen, der Inanspruchnahme externer und auch an mehre-
8
Wortlaut auf der Internet-Seite des deutschen Generalkonsulats in Donezk
(http://www.donezk.diplo.de/Vertretung/donezk/de/02/VAC__eroeffnung.html, Zugriff 15.09.2011):
„Vielreisende sparen damit nicht nur Zeit und Reisekosten, sondern können den persönlichen Zeitaufwand für das Visumverfahren noch besser planen. Die Inanspruchnahme der Visa-Antragszentren ist
freiwillig, die hierfür entstehenden Kosten werden direkt an die Firma VFS gezahlt.“
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ren Orten operierender Dienstleistungserbringer oder durch die Einführung elektronischer Verfahren.
Die Aufteilung des Territoriums der Russischen Föderation in die fünf Amtsbezirke der
deutschen Auslandsvertretungen Kaliningrad, Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und Nowosibirsk macht – bei aller angebrachten Kritik an den Entfernungen innerhalb dieser Amtsbezirke – deutlich, dass mit entsprechendem Aufwand Verbesserungen erreicht werden können. Allerdings ist aufgrund negativer Erfahrungen in der
Praxis anzuführen, dass solche Untergliederungen im Interesse der Antragssteller mit
individuellen Bedürfnissen möglichst flexibel gehandhabt werden sollten. So sollte es
beispielsweise möglich sein, dass ein Bürger aus nordöstlichen Landesteilen bei einem
ohnehin anstehenden Aufenthalt in Moskau dort auch aktuelle Visumangelegenheiten
klären kann oder ein Bürger aus dem weiten Westsibirien aufgrund eigener Erwägungen zwischen Jekaterinburg und Nowosibirsk wählen kann. Verbunden mit einem entsprechenden Aufwand musste MitOst als einladende Organisation sich in solchen Fällen schon mehrfach direkt an die Konsularabteilungen wenden, um Ausnahmen zu erwirken.
Damit verbunden ist die im Visakodex als Grundsatz festgelegte Erfordernis der persönlichen Vorsprache von Antragsstellern. Nicht nur in Ländern von großer territorialer Ausdehnung sondern auch in flächenmäßig kleinen Ländern wie Moldau oder
den Republiken im Südlichen Kaukasus mit einer nicht mit Deutschland zu vergleichenden Verkehrsinfrastruktur stellt dies für reisewillige Personen eine hohe Hürde
dar. So dauert aus vielen Orten in den Staaten der ÖP und in Russland die Anreise an
einem Ort, an dem bei einer deutschen konsularischen Vertretung ein Visumantrag gestellt werden kann, schnell länger als 12 Stunden, mit Rückreise länger als ein Tag.
Wer keine Möglichkeit hat, das Visum später von einer bevollmächtigten Person abholen zu lassen, weil er zum Beispiel mangels Versandmöglichkeiten nicht rechtzeitig vor
Reiseantritt an seine Reisedokumente kommt, muss sogar eine weitere Reise zur konsularischen Vertretung oder eine Wartezeit von mehreren Tagen vor Ort einplanen.
Solche Zeiträume und die damit verbundenen Kosten für Reise, Aufenthalt und Lohnausfall benachteiligen Personen aus weiter abgelegenen Gebieten, die beispielsweise
in der Wirtschaft oder in NRO einem Arbeitsverhältnis nachgehen, die an wissenschaftlichen Einrichtungen studieren oder tätig sind, die noch zur Schule gehen oder auf
sonstige Weise eingebunden sind. Der Grundsatz des persönlichen Erscheinens geht
an ihrer Lebensrealität vielfach weit vorbei.
Verbesserungsmöglichkeiten bieten das bereits in einigen Fällen praktizierte Gruppenund Vielreisenden-Verfahren mit dezentralen Standorten, von denen die Mehrzahl der
Antragssteller bisher noch ausgeschlossen ist. Weitere Optionen böte vor allem die
Einführung elektronischer Verfahren. Solange jedoch grundsätzlich weiter von der
Notwendigkeit einer individuellen Prüfung jedes Einreisebegehrens – also der Beibehaltung der Visumpflicht – ausgegangen wird, ist davon auszugehen, dass die Erfordernis der persönlichen Vorsprache für den Regelfall beibehalten wird. Alle Zwischenlösungen bleiben hinsichtlich der Kosten und Nutzen unvollkommen.
Ausdrücklich zu bedauern ist die Tatsache, dass die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten nach Art. 13 der Präambel und
Art. 41 Visakodex nach Kenntnis von MitOst bisher von deutscher Seite in den Ländern
der ÖP und in Russland nicht genutzt werden und es auch keine diesbezüglichen Vor| 14
haben gibt. Verwiesen sei auf das besonders positive Beispiel der schon vor einigen
Jahren eingerichteten und sehr gut angenommenen gemeinsamen Visumantragsstelle
mehrerer EU / Schengen-Staaten in Chisinau. Parallel dazu setzen Deutschland und
einige andere Länder aus unterschiedlichen Erwägungen auf eigene konsularische
Vertretungen und verzichten auf die Nutzung von Synergien für sie sowie besonders
für die Antragssteller. Andere, auf die Möglichkeit der Beauftragung externer Dienstleistungserbringer zurückgreifende Beispiele sind die Zusammenarbeit von zwei baltischen Staaten in sechs Orten außerhalb der ukrainischen Hauptstadt sowie die Zusammenarbeit von vier EU / Schengen-Staaten in Odessa.
Mit Blick auf mögliche umfassendere Lösungen durch mehrere EU / Schengen-Staaten
ist die zunehmende Beauftragung externer Dienstleistungserbringer durch einzelne
Staaten durchaus kritisch zu sehen. Das deutsche Beispiel in der Ukraine zeigt ganz
anschaulich, wie trotz bereits vorhandener Ansätze anderer Staaten neue, isolierte Lösungen für einen Staat geschaffen werden. Wenn diese erst einmal eingeführt sind,
stehen sie einer verstärkten europäischen Kooperation zusätzlich im Weg. Es sollte
daher im Interesse der deutschen und aller anderen Seiten sein, auch bei der Beauftragung Dritter auf ein gemeinsames Vorgehen mit den anderen EU / SchengenStaaten zu achten.
Abschließend ist festzustellen, dass einzelne im Visakodex seit 2009 / 2010 als Optionen zur Verfahrenserleichterung vorgesehene, begrüßenswerte Instrumentarien von
deutschen Konsularabteilungen mit zeitlicher Verzögerung eingeführt werden beziehungsweise wie im Fall der europäischen Zusammenarbeit in Form gemeinsamer Antragszentren bisher überhaupt nicht zur Anwendung kommen. Dies unterstreicht die
Bedeutung der grundsätzlichen Haltung sich den Herausforderungen zu stellen und sie
im Interesse aller Seiten einschließlich der Antragssteller und der für ihre Einladung die
Verantwortung übernehmenden Organisationen konstruktiv zu lösen. Und es zeigt
auch, wie aufwändig, wie kompliziert und wie kostenintensiv der Komplex der Visumerteilung ist, wo jeder Schritt hin zu einer möglichen und tatsächlichen Verbesserung für
eine der beteiligten Parteien in der Regel noch mehr Aufwand und Kosten mit sich
bringt.
Die meisten der – oben ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ausgeführten Verbesserungsvorschläge zeichnen sich durch eine hohe Komplexität aus. Ihre Umsetzung wäre
vor allem aus Sicht der Verwaltung mit noch mehr Aufwand, der Entwicklung und Einführung neuer technischer Möglichkeiten und erheblichen Kosten verbunden. Es sind
vereinzelt auch Zweifel angebracht, wieweit sie für die Antragssteller oder die einladenden und gastgebenden Organisationen beziehungsweise Personen zu spürbaren
Erleichterungen führen. Nicht zuletzt vor dem großen Ziel der Visa-Liberalisierung ist
die Effizienz der meisten solchen Maßnahmen besonders fragwürdig und muss das
Verhältnis von Aufwand, Kosten und Nutzen sehr vorsichtig abgewogen werden. Als
Alternative liegt es nahe, sich ohne Vorbedingungen der Herausforderung zu
stellen, ganz auf die Erhebung von Visagebühren, auf die Erbringung bestimmter
Informationen und Dokumente oder – im Idealfall – auf die Erfordernis der Beantragung und Ausstellung von Visa zu verzichten.
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4. Welche Möglichkeiten für eine unter den derzeit gegebenen Umständen einseitige Liberalisierung der Visavergabe für private Antragsteller aus Belarus gibt
es?
Grundsätzlich kann und muss auf die Visavergabe für private Antragssteller aus Belarus ebenso entschlossen verzichtet werden wie im Fall privater Antragssteller aus anderen Ländern der ÖP und aus Russland, um die Schaffung und Konsolidierung demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnungen zu fördern.
Da Belarus auf diesem Weg mehr als die übrigen Länder der Region auf eine weit reichende Unterstützung angewiesen ist, sind in diesem spezifischen Fall ganz offensichtlich Zweifel darüber angebracht, wieweit durch das Festhalten an den Visumpflicht seitens Deutschlands und der europäischen Partner in einem wahrnehmbaren Umfang
illegale Migration und organisierte Kriminalität verhindert werden kann oder ob stattdessen nicht vielmehr engere ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Beziehungen und ein gegenseitiger Austausch behindert werden. Letzteres wäre vor
allem im Interesse des dortigen illegitimen Regimes, während alle inneren und europäischen Bestrebungen für eine tief greifende und nachhaltige Umgestaltung in Belarus
unterlaufen würden. Daran aber müssten die unmittelbaren Anrainer und auch weiter
entfernten EU-Staaten hinsichtlich der bestehenden Menschenrechtsverletzungen sowie der Szenarien einer weitergehenden Destabilisierung der öffentlichen Ordnung bis
hin zu einem Bürgerkrieg orientiert und verpflichtet bleiben.
Die Bevölkerung von Belarus selbst hat mit den Füßen respektive mit Visumanträgen
und ihrem Reiseverhalten bereits ihren Wunsch deutlich gemacht: Mit 595.000 im Jahr
2010 durch konsularische Vertretungen der EU-Staaten ausgestellten Schengen-Visa
liegt das Land innerhalb der Gruppe der Länder der ÖP und Russlands bezogen auf
die Gesamtbevölkerung (rund 9,5 Millionen) mit großem Abstand an der Spitze, ebenso mit der erfreulich niedrigen Ablehnungsrate von 0,96 Prozent.9 Ein signifikanter Niederschlag dieser Zahlen in den Kriminalitäts- und Migrationsstatistiken ist bisher nicht
bekannt geworden. Vor diesem Hintergrund drängen sich einmal mehr die Fragen auf,
welche Ressourcen auf beiden Seiten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit durch die Aufgabe des Visumzwangs für Bürger von Belarus eingespart und welche Energien in andere wichtige Entwicklungen umgeleitet werden könnten.
Den Bürgern Belarus’ sollten daher unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen
Situation in ihrem Land ohne weitere Verzögerungen weit reichende Optionen eingeräumt werden. Darunter fallen
1) die uneingeschränkte Aussetzung der Visumpflicht für möglichst alle Arten von
Schengen-Visa sowie
2) die Vereinfachung der Modalitäten und der Verzicht auf Gebühren für die Beantragung und Erteilung Nationaler Visa für möglichst alle Gruppen bis hin zur Aussetzung auch dieser Visumpflicht.
Für letzteren Punkt ist das bereits benannte Beispiel mehrerer EU / Schengen-Staaten
einschließlich Deutschlands wegweisend, welche einseitig die Gebühren für einige
9
Nach der EU-Statistik 2010 auf http://ec.europa.eu/home-affairs/policies/borders/borders_visa_en.htm,
Zugriff 15.09.2011.
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wichtige Nationale Visa aufgehoben haben. Hervorzuheben ist auch die im Frühjahr
2011 von der deutschen konsularischen Vertretung eingeführte Regelung, auf die persönliche Vorsprache von Bürgern von Belarus bei der Einreichung von Visumanträgen
für einige Nationale Visa zu verzichten. Deutschland geht in diesem Fall also mit
gutem Beispiel voran, und es gibt sicher auch noch die eine oder andere Möglichkeit
für weitere Erleichterungen der Prozeduren. Noch einmal ist jedoch darauf zu verweisen, dass sich solche Änderungen von Verfahrensfragen erschöpfen und die optimale
Lösung die Aussetzung der Visumpflicht bleibt.
Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit eines geschlossenen Auftretens gegenüber
dem herrschenden Regime und einiger bedenklicher, teilweise auch unüberlegter Alleingänge von Nationalstaaten in jüngster Zeit muss ein mit möglichst vielen europäischen Partnern abgestimmtes Vorgehen Ziel der deutschen Visapolitik gegenüber
Belarus’ bleiben. Dabei sollten die Maßnahmen ohne Erwartungen an die Regierung
von Belarus einseitig vorgenommen werden. Für den andauernden Visa-Dialog mit der
EU sind keine größeren Schwierigkeiten zu erwarten und ein Entgegenkommen auf der
Seite Belarus’ wird, wie das Beispiel der Ukraine oder Moldaus zeigt, viel mehr von den
demokratischen Fortschritten im Land als vom Festhalten an Dialogprozessen mit einem autoritären Regime abhängen.
5. Welche Tatsachen begründen aus Ihrer Sicht Gefahren illegaler Migration,
wenn Russland und osteuropäische Länder die Visafreiheit erhalten?
Zu dieser Frage sind aus dem Tätigkeitsbereich von MitOst keine Aussagen möglich.
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Zusammenfassende Bewertung
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Hinsichtlich der Unterstützung der demokratischen Transformation in Osteuropa
haben Deutschland und die Europäische Union eine große Verantwortung. Dies gilt
in besonderem Maße für den direkten Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten
zur Lockerung oder Aufhebung bestehender Visumrestriktionen und einer positiven
Auseinandersetzung und Übernahme der zentralen freiheitlichen und liberalen Werte, die die EU prägen.
|
Ein Festhalten an der Visumpflicht aus Gründen der Sicherheit in den EU / Schengen-Staaten lässt außer Betracht, welche positiven Effekte die ungehinderte Mobilität der Bürger aus den osteuropäischen Nachbarstaaten auf die demokratische
Konsolidierung in dieser Region und somit auf die gesamteuropäische Sicherheit
hat.
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Mobilität und freier Austausch führen mittelfristig nicht zu einer umfangreichen
Migrationswelle sondern zum erhöhten Transfer von Erfahrungen und Werten, was
die Attraktivität der Staaten der ÖP und Russlands und die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Gesellschaften stärkt.
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Aufwand und Kosten für die Aufrechterhaltung und Perfektionierung des Visumsystems stehen in keinem Verhältnis zu den damit beabsichtigten Zielen. Zusätzlich zu
berücksichtigen sind die Kosten, die durch die Verzögerung demokratischer und
marktwirtschaftlicher Entwicklungen entstehen.
|
Die Praxis der Visumerteilung durch die deutschen konsularischen Vertretungen
hat sich in den letzten Jahren spürbar verbessert. In vielen Details besteht jedoch
weiterhin ein großer Verbesserungsbedarf. Hierfür liegen im Einzelnen Optimierungsvorschläge vor beziehungsweise können solche bei Bedarf präzisiert werden.
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Die Ausarbeitung und Implementierung von Verbesserungsvorschlägen führt zu
einem immer komplexeren und teureren Visumsystem der EU / Schengen-Staaten
gegenüber ihren östlichen Nachbarländern, was die grundsätzliche Frage aufwirft,
bis zu welchem Grad die Visumpflicht für Bürger aus den Staaten der ÖP und aus
Russland perfektioniert werden soll und kann.
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Insbesondere untergräbt diese Entwicklung das grundsätzlich vereinbarte Ziel die
Visumpflicht für die Bürger dieser Staaten abzuschaffen.
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Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die grundsätzlichen Bekenntnisse zu
visafreien Beziehungen mit den Ländern der ÖP und mit Russland dahingehend zu
präzisieren sind, dass dieser Zustand als ein Nahziel formuliert und durch konkrete,
auch einseitige Schritte konsequent verfolgt wird. Der EU-ÖP-Gipfel in Warschau
am 29./30. September könnte eine wichtige Etappe auf diesem Weg werden.
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