Leseprobe Linda Bruchholz

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Leseprobe Linda Bruchholz
Wenn ihre Mami sie in den Arm nimmt,
würde sie am liebsten weinen und alles gestehn,
doch sie hat Angst und sie schämt sich.
Sie weiß keinen Rat und versucht wegzusehn.
Wenn der böse Wolf hin und wieder kommt
und jedes Mal danach von ihr verlangt,
dass sie niemals ein Sterbenswörtchen sagt,
weil er sie dafür sonst fürchterlich bestraft.
‚Böser Wolf’, Die Toten Hosen
Januar 1996
”Du nervst! Geh spielen!” Die Kleine turnte auf meinem Schoß herum, unsanft setzte ich
sie ab.
”Was ist denn los mit dir? Sei nicht so ruppig zu Sophie!” Susanne sah mich an, eher
verwundert als wütend. Sie nahm Sophie in den Arm.
Wenn ich ihr darauf bloß eine Antwort geben könnte… Ich wusste es ja selbst nicht
recht. Ich saß mit meiner Frau und meiner fünfjährigen Tochter auf dem Sofa vor dem
Fernseher – und konnte meine Tochter nicht mehr im Arm halten. Doch es stimmt nicht,
dass ich nicht wusste, warum dies nicht mehr ging. Selbst hier und jetzt fällt es mir
schwer, darüber zu schreiben. Ich würde es am liebsten gar nicht aussprechen. Meine
kleine Tochter weckt sexuelle Gefühle in mir.
So, jetzt ist es raus, jetzt kann jeder, der das hier einmal lesen sollte, mich verurteilen.
Dabei sollte er jedoch bedenken, dass keiner mich so sehr verurteilt wie ich selbst es
tue.
Es fing alles vor ein paar Wochen an. Ich tobte mit Sophie in der Wohnung rum, ich trug
sie auf meinem Rücken durch die Gegend, wir kitzelten uns gegenseitig… Und auf
einmal merkte ich, dass mich das anmachte, sexuell anmachte, dass jede ihrer
Berührungen extrem antörnend war. Zuerst redete ich mir noch ein, dass das Zufall war,
Susanne und ich hatten schon länger nicht mehr miteinander geschlafen, wahrscheinlich
hatte ich einfach Lust. Ich nahm diese Begebenheit nicht so wichtig.
Erst später an diesem Tag, als ich mich neben Susanne ins Bett legte, wurde mir
schlagartig etwas klar. Jetzt, hier, mit meiner Frau, fühlte ich mich kein bisschen erregt,
im Grunde war es sogar so, dass Susanne mich seit Wochen sexuell total kalt ließ, dass
unser eingeschlafenes Sexleben eigentlich nur auf meine Unlust zurückzuführen war.
Ich wollte das nicht denken, ich wollte an irgendetwas anderes denken an diesem
Abend im Bett neben meiner Frau, die ich liebte – ganz sicher – und die ich nicht mehr
begehrte.
Ich versuchte, an Dinge zu denken, die ich morgen bei der Arbeit zu erledigen hatte.
Das waren viele, ich bin Leiter eines erfolgreichen Verlages, doch es fiel mir unglaublich
schwer, mich zu konzentrieren. Doch irgendwann muss mich dann aber doch der Schlaf
übermannt haben.
Am nächsten Morgen wachte ich schweißgebadet auf. Ich hatte geträumt, von ihr, von
meinem süßen kleinen Engel, den ich über alles liebte und für den ich jederzeit mein
Leben geben würde. Ich meine jetzt die väterliche Liebe. Ich weiß noch, wie ich sie nach
der Geburt in den Arm nahm und mir selbst versprach, sie zu beschützen, vor allem
Bösen und für immer. Nun war ich selbst das Böse.
Ich hatte von ihr und mir geträumt. Den Inhalt möchte ich jetzt nicht wiedergeben. Es
genügt zu sagen, dass er mich zu Tode erschreckte.
Fast jeder hat schon mal Träume, die so intensiv sind, dass man auch nach dem
Wachwerden noch total in dem Traumgefühl drin ist. Ich kannte das, hatte aber noch nie
so darunter gelitten wie an diesem Tag.
Ich ließ mir viel Zeit im Bad, versuchte dieses Gefühl weg zu duschen, ich duschte heiß
und kalt, immer im Wechsel. Und doch, auf dem Weg in die Küche, wo ich Susanne und
Sophie schon am Frühstückstisch erwartete, durchfuhr es mich wie ein Flash. ‚Es’ – das
waren, ich kann es nicht anders nennen, Schmetterlinge im Bauch. Ich fühlte mich wie
frisch verliebt, voller Vorfreude bei dem Gedanken, wie Sophie mich, ihren geliebten
Papa, gleich anschauen und mit einem Guten-Morgen-Kuss begrüßen würde. Damit
man mich nicht falsch versteht, dieses gute Gefühl war ein ganz kurzes Aufflackern auf
dem ganz kurzen Weg in die Küche. Sofort war der Kloß wieder da, dieses: Ich darf das
nicht fühlen.
Ich weiß nicht, wie das bei andern missbrauchenden oder potentiell missbrauchenden
Vätern ist, aber ich denke, dass es Vielen so ergeht wie mir. Es ist nicht immer so
einfach, wie es von außen aussieht: Böser Vater wird geil auf sein Kind, will Macht oder
sonst was empfinden, und los geht’s.
Ich habe mir Gedanken gemacht, tagelang, nächtelang, wochenlang. Ich bin Verleger,
aber ein bisschen Küchenpsychologie habe ich mir im Laufe meines Lebens auch
angeeignet.
Sicher, meine Frau hat wieder Teilzeit angefangen zu arbeiten, mein Heimkommen ist
nicht mehr der Höhepunkt ihres Tages wie früher. Ihr macht ihr Job als Lehrerin in einer
Grundschule Spaß, sie geht darin auf. Manchmal hat sie abends gar keine Lust mehr,
meine Bürogeschichten anzuhören. So wie es mir mit ihren Arbeitsstorys auch zuweilen
geht.
Sophie hingegen vergöttert mich, sie ist ein absolutes Papakind, ich bin sozusagen der
König ihrer Welt. Schmeichelt mir das? Hebt es meinen Selbstwert? Wahrscheinlich
schon. Ist das etwa eine Erklärung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, alle Überlegungen
zur Ursachenforschung haben überhaupt keinen Einfluss auf meine Gefühle.
An diesem Morgen vor ein paar Wochen fing es an, dass ich Sophie den
Begrüßungskuss, auf den ich mich auf dem Weg zur Küche noch gefreut hatte,
verweigerte und sie auch nicht in den Arm nahm. Diese Gefühle durften nicht sein, ich
musste Abstand nehmen.
Sophie, die nichts mehr liebte, als mit ihrem Vater zu knuddeln, wurde quengelig und
wollte ihr Müsli nicht aufessen. Susanne streichelte ihr über den Kopf: „Der Papa hat
sich wahrscheinlich die Zähne mal wieder nicht geputzt. Ich küss den auch nicht!”
Sophie lächelte, aber es war nur ein halbes Lächeln. Sie fühlte sich abgewiesen.
Mir war das alles egal, ich wollte einfach nur weg, weg aus dieser Situation, so schnell
wie möglich. Mir waren Sophies Gefühle egal, das erste Mal. Ich hatte zu viele eigene.
Ich schützte einen Termin vor und brach so schnell es ging auf ins rettende Büro.
Ich hatte niemals die Männer verstanden, die ihren Arbeitsplatz als Rückzugsort und als
Erholung von der Familie nutzten. Ich war einfach immer am liebsten mit meiner Frau
und meiner Tochter zusammen gewesen. Doch heute war alles anders.
Ich hatte diese Bilder im Kopf, diese Bilder von Sophie und mir, die mich nicht in Ruhe
ließen, den ganzen Tag. Wir hatten zum Glück gerade Internet in meiner Firma
eingerichtet. Irgendwann am Nachmittag begann ich zu recherchieren. Ich zog mir alles
rein, was es über missbrauchte Kinder zu lesen gab. Die volle Dröhnung. Ich wusste
schon vorher, dass Missbrauch in der Kindheit einen Menschen für ein ganzes Leben
schädigen kann. Aber ich wollte es plastisch wissen, ich wollte Beispiele.
Im Nachhinein denke ich, dass meine ganzen Aktivitäten an diesem Nachmittag vor
allem einem Zweck dienten: Ich wollte die Hemmschwelle erhöhen, mir die
Konsequenzen meiner eventuellen Handlungen ganz klar machen.
Vielleicht hielt ich auch nach einem Rettungsanker Ausschau, nach irgendeinem Rat,
was ich tun könnte. Aber je mehr ich las, desto verabscheuenswürdiger wurden die
übergriffigen Männer für mich.
Zwei Dinge wurden mir ganz klar: Niemand durfte jemals von meinen Gefühlen erfahren.
Und ich wollte niemals einer der verachtenswerten übergriffigen Väter werden. Sophie
durfte einfach nichts passieren, das musste ich jetzt einfach entscheiden und nicht mehr
drüber nachdenken. Die Option Sophie wie in meinen Träumen zu berühren, war
gestorben. Und Punkt.
Das habe ich an diesem Nachmittag wirklich gedacht. Ich wollte das einfach straight
durchziehen.
Das ist jetzt alles etwa zwei Monate her. Es waren die schlimmsten zwei Monate meines
Lebens und ich denke manchmal sogar, hätte ich mich doch einfach direkt erhängt.
So wie heute ist es jeden Abend. Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und ich weise
meine Tochter ab, meine Frau versteht mich nicht, versteht mich schon lange nicht
mehr. Was soll ich ihr denn erzählen? Dass ich Tag und Nacht in schrecklichen
Gedanken an meine Tochter schwimme? Dass ich besessen bin, an nichts anderes
mehr denken kann?
…
Juli 1996
… Ich ließ mich erschöpft auf den Rücken fallen. Die Erregung war weg, die Realität
holte mich ein. Und was jetzt? Das, was gerade gelaufen war, hatte ich mir hunderte
Male vorgestellt, aber ich hatte keinen Plan für danach.
Ich tat mechanisch, was zu tun war. Ich zog meiner Tochter das Nachthemd mit den
rosa Elefanten aus, wusch es unterm Wasserhahn und schmiss es in die
Wäschetrommel. Ich trug Sophie in ihr Zimmer, zog ihr ein anderes Nachthemd an und
legte sie ins Bett. Sie ließ alles willenlos geschehen, sie war anscheinend in einer Art
Schockzustand. Ich sprach nett zu ihr, vatermäßig, aber ich glaube, sie verstand kein
Wort. Ich wollte ihr Zimmer schon verlassen, da fiel mir ganz plötzlich Susanne ein. Ich
konnte nicht glauben, dass ich das tat, aber ich tat es. Ich wusste schließlich, wie man
Kinder zum Schweigen bringen konnte. Ich hatte genug Erfahrungsberichte von Opfern
gelesen. „Sophie”, ich sah sie eindringlich an: „Das, was gerade passiert ist, das bleibt
unser kleines Geheimnis. Wenn die Mama das wüsste, wäre sie ganz schön sauer auf
uns beide und würde uns vielleicht verlassen. Ich kenn die Mama, die zieht so was
durch. Kann ich mich auf dich verlassen?” Sophie nickte schwach und ich wusste, dass
sie dicht halten würde.
Ich ließ sie allein und legte mich im Schlafzimmer auf´s Bett. Immerhin hatte ich nicht
gesagt, die Mama bringt sich um, wenn sie es erfährt. Konnte ich mir darauf was
einbilden? Ich war jetzt das Monster, das ich niemals hatte sein wollen.
Ich weiß noch, dass ich in dieser Nacht lange wach im Bett lag. Es war, als wäre die
Welt gestorben. Nie wieder würde etwas wie vorher sein. Ich sah die Dinge auf dem
Nachttisch – einen Wecker, ein Foto von uns dreien, ein paar Stifte, eine Kerze, ein
Buch - ich sah diese Dinge und verstand sie nicht, es war alles so unwirklich.
Doch ich war erleichtert, ich war so unendlich erleichtert, die ganze Anspannung der
letzten Wochen und Monate war von mir gewichen. Ich war erschöpft und auf eine
komische Weise sogar glücklich und dankbar. Ich bereute meine Tat nicht, nein, ich war
viel zu erleichtert. Ich lag im Bett und dachte an alles Mögliche. Mein Leben war so eng
geworden, ich hatte nur noch an Sophie denken können. Es war das erste Mal seit
Monaten, dass ich auf dem Bett lag und einfach nur ganz entspannt an alles Mögliche
dachte. Wer das ständig tut, hat keine Ahnung, wie schön das ist.
Ja, jetzt ist es passiert. Jetzt ist die Situation eine komplett andere als vorher. Ich denke
gerade, dass ich diese Beichte hier niemals veröffentlichen werde, auch nicht unter
einem Pseudonym. Vorher war ich der mit den schlimmen Gedanken, aber der Leser
hatte noch eine Chance, mich zu mögen, da es ja auch hätte sein können, dass ich es
nicht tue. Jetzt bin ich genauso ein Hund wie die andern.
Seit dieser Gewitternacht – sie ist jetzt einen Monat her -, lebe ich irgendwie weiter. Das
Zusammensein mit Susanne und Sophie ist angespannt. Ich kann meiner Frau nicht
mehr in die Augen sehen. Und doch ist alles tausend Mal besser als davor. (Ich werde
jetzt einfach nur noch von ‚davor’ und ‚danach’ sprechen, so ist mein Leben – das Leben
von uns dreien - nun mal aufgeteilt.) Davor war ich besessen, hatte keine ruhige Minute,
danach konnte ich mich wieder konzentrieren, netter und zugewandter zu Susanne sein,
mich wieder mehr als Ehemann und Vater fühlen.
Es mag absurd klingen, aber ich fühle mich Sophie durch unser ‚Geheimnis’ noch näher
als vorher. Dieses Geheimnis steht in gewisser Weise mehr zwischen Sophie und
Susanne als zwischen Sophie und mir. Ich habe einen Keil zwischen Sophie und ihre
Mutter getrieben, so braucht die Kleine mich als einzig übrig bleibende Bezugsperson
umso mehr.
Ich hatte diesen ganzen Monat das Bedürfnis, diesen Vorfall – die Tat - aufzuschreiben.
Ich habe Phantasien über meinen Abgang. Ich stelle mir vor, mich zu erhängen und
diese Seiten vorher neben mich zu legen, damit meine Frau zumindest nach meinem
Tod erfährt, was die ganze Zeit mit mir los war. Und vielleicht auch, damit Sophie das
eines Tages lesen kann, wenn sie eine junge Frau ist und den Missbrauch in ihrer
Kindheit aufarbeiten muss. So was muss man heutzutage ja immer aufarbeiten, früher
vielleicht auch. Ich möchte, dass Sophie sich vielleicht eines Tages nicht mehr schuldig
fühlt, wenn sie das hier liest. Dass sie ganz klar sieht, dass ich das Arschloch bin, und
sie das Opfer. Das ist mir das Allerwichtigste.
Warum sie sich überhaupt schuldig fühlen sollte? Ich weiß, dass sie es tut. Ich sehe sie
an und ich weiß, dass sie es tut. Ich sehe ihre Haltung, ich sehe, wie sie Susanne
anschaut, ich sehe, wie sie lacht und wie sie spielt, wie sie weniger intensiv lacht und
spielt als davor. Und all sowas. Mich vergöttert sie noch immer, niemals würde sie
irgendeine meiner Handlungen ernsthaft in Frage stellen, wie gesagt, sie braucht mich,
und sie braucht mich als guten Menschen. Da sie sich nicht mehr gut mit mir fühlt, muss
mit ihr wohl was nicht stimmen. So fängt das an. Und so geht es weiter.
Und sie hat mitgemacht bei unserm kleinen Geheimnis. Sie wollte nicht, was da
passierte, sicher, aber hat sie sich wirklich genug gewehrt? Schuld und Scham, das sind
meine Waffen, die Waffen, die mich übermächtig machen, viel mehr, als es meine
körperliche Überlegenheit könnte. Sophie ist mindestens genauso sehr wie ich darauf
bedacht, dass Susanne nichts von der Gewitternacht erfährt.
Vielleicht fragen Sie sich, woher ich das mit der Schuld und so alles so genau weiß. Ich
war selbst mal Kind. Keine Sorge, ich werde nicht versuchen, mit Mitleid erregenden
Geschichten aus meiner eigenen Kindheit zu punkten. Mir ist vollkommen klar, dass
mein Verhalten mit nichts zu entschuldigen ist. Und dass ich keine tolle Kindheit hatte,
müsste Ihnen ja sowieso klar sein. Gewalt wird ja immer ‚vererbt’, wenn nicht irgendwer
in der Kette mal aussteigt.
Ich werde also in aller Kürze berichten: Ich wuchs mit fünf Geschwistern in ärmlichen
Verhältnissen auf einem Bauernhof auf. Meine Mutter arbeitete Tag und Nacht, sie war
einfach nur die ganze Zeit erschöpft vom Leben, probierte uns Kinder irgendwie
durchzubringen, aber hatte kein Interesse an uns. Sie hatte einfach keinen Platz für
liebevolle Gefühle. Mein Vater versoff das meiste Geld, das meine Mutter mit dem
Verkauf von unseren Erzeugnissen einnahm. Dann prügelte er uns alle und ließ meine
Geschwister und mich tagelang im stinkenden und kalten Schweinestall schlafen. Wenn
man heulte, wurde man noch viel unbarmherziger verdroschen und bekam nichts zu
essen. Einen meiner kleinen Brüder prügelte mein Vater tatsächlich zu Tode. Wir
wussten das alle, obwohl die offizielle Version lautete, er wäre beim Melken ungünstig
vom Hinterhuf einer Kuh getroffen worden. Solche Unfälle passierten in einem
landwirtschaftlichen Betrieb, keiner fragte da in unserem Dorf genauer nach. Meine
Mutter verteidigte ihre Kinder nie, sie hatte sich mit allem abgefunden und wusste
wahrscheinlich gar nicht, dass man auch anders hätte leben können.
Ich wusste das auch nicht, bis ich mit 17 (nach dem Tod meiner Mutter) den Bauernhof
verließ und begann, mich alleine in der Stadt durchzuschlagen. Ich habe niemanden aus
meiner Familie je wiedergesehen und hatte auch nicht einen einzigen Moment lang das
Bedürfnis danach.
Erst Susanne zeigte mir, dass man auch ganz anders leben konnte. Ich lernte sie in der
Schule kennen. Ich war an diesem ersten Schultag so ungefähr der stolzeste Junge der
Welt. Ich hatte es geschafft, den Schulleiter der Oberstufe eines Gymnasiums davon zu
überzeugen, mir eine Chance zu geben.
In unserem Dorf hatte es nur eine Hauptschule gegeben, die ich mit mittelmäßigen
Noten besucht hatte. Ich wollte unbedingt weiter kommen. In meinem Weltbild war
Abitur ein Synonym für Freiheit.
Dieser Tag war einer der glücklichsten in meinem Leben; ich konnte in die Oberstufe
gehen, hatte einen Job als Kellner gefunden und eine Wohnung. Die Wohnung war ein
feuchtes Sechs-Quadratmeter-Zimmer ohne Fenster in einem Keller, das ich mir mit
Kakerlaken und hin und wieder auch mit Ratten teilen musste. Dieses Zimmer war ein
Paradies. Mein Vater war nicht da.
Ja, und dann lernte ich auch noch Susanne kennen.
Sie war meine Sitznachbarin in der neuen Schule und es funkte sofort zwischen uns. Ich
weiß noch, dass sie eine schreckliche 70er Jahre-Frisur hatte und ich sie wunderschön
fand. Es war plötzlich alles so einfach. Susanne fand mich einfach gut, so wie ich war.
Sie war stolz auf mich, wenn mir irgendetwas gelang. Sie tröstete mich, wenn etwas
nicht klappte. Sie fieberte mit mir, wenn ich wegen einer Klassenarbeit, einem Job oder
sonst etwas nervös war. Sie drückte mir immer die Daumen. Auch wenn wir nicht
zusammen waren, wusste sie immer, was ich tat und wenn wir uns sahen, fragte sie
immer, wie es mir ging und was ich so erlebt hatte.
Ich ging monatelang wie auf rosa Wolken. Wo immer ich war, was immer ich tat, ich
wusste, sie hielt zu mir und dachte an mich. Ihre Liebe und Unterstützung trugen mich,
Tag und Nacht. Ich kannte das ja gar nicht, dass sich jemand für mich interessierte.
Manchmal wachte ich mitten in der Nacht schweißgebadet und in Panik auf und war
überzeugt davon, dass Susanne nur ein schöner Traum sein konnte. Wenn sie dann
neben mir lag, so echt und schläfrig, und mich im Halbschlaf an sich drückte, dann
heulte ich manchmal wie ein Schoßhund. Ich streichelte stundenlang ihr Gesicht und
ihre Haare, wenn sie schlief, konnte nicht genug davon bekommen, sie anzugucken,
musste sie immer wieder anfassen, um zu glauben, dass sie wirklich da war.
Und ich hatte immer wahnsinnige Angst um sie, dass ihr etwas passieren könnte. Es
dauerte Jahre, bis ich nicht mehr in helle Panik ausbrach, wenn sie sich mal verspätete.
Damals gab es ja noch keine Handys, man saß da und wartete – mit nichts im Kopf als
diesen Bildern von Verkehrsunfällen, Krankenhaus und Tod. Ich hatte nie zuvor einen
Menschen so gebraucht wie ich in dieser ersten Zeit Susanne brauchte. Es war einfach
vorher nie jemand da gewesen, der es wirklich ausgehalten hätte, von mir gebraucht zu
werden. Ich hatte nie zuvor jemandem vertraut, Kinder sind anpassungsfähig, ich
erwähnte es schon.
Susanne hielt mich aus, sie hatte keine Angst. Wenn wir uns in meinem Kellerzimmer
liebten, schenkte sie sich mir total. Sie hielt mit nichts zurück, sie sagte mir sogar, dass
sie mir gehören wollte, für immer. Ich nahm sie und konnte mein Glück kaum fassen.
Wenn wir genug von dem muffigen Kellerzimmer und der stinkigen Stadt hatten, stiegen
wir in irgendeinen Zug, versteckten uns auf der Toilette vor dem Schaffner und liefen
von irgendeinem Kaff aus durch den Wald. Wir liebten uns in der Sonne auf einsamen
Lichtungen und an den Ufern von kleinen Flüssen, wir bekamen nie genug voneinander.
Diese Monate erscheinen mir im Nachhinein wie ein einziges rauschendes Fest. Wir
rannten durch die Welt, wir waren zu zweit, alles war möglich.
Trotzdem habe ich Susanne nur wenig von meiner Kindheit erzählt. Ich wollte einfach
nur alles vergessen. Susanne akzeptierte das. Es war, als wäre ich erst an dem Tag
geboren worden, als wir uns kennenlernten. Vorher gab es einfach nicht.
Susanne hingegen erzählte viel von ihrer Kindheit und Jugend. Ihre Eltern hatten sich
voll von der Hippiebewegung ergreifen lassen und Susanne hatte viele lustige Storys zu
erzählen. Aber sie hatte eine tiefe Sehnsucht nach Spießigkeit, oder wie man das
nennen sollte. Ich teilte diese Sehnsucht, ich wollte einfach nur normal leben, Geld
verdienen, eine Familie haben.
Wir heirateten früh, sie studierte Germanistik und Geschichte auf Lehramt, ich studierte
Germanistik und baute daneben meinen Verlag auf. Als wir Ende zwanzig waren, war
sie Grundschullehrerin und ich Leiter eines immer größer werdenden Verlagshauses.
Wir hatten keine finanziellen Sorgen mehr, doch wir sehnten uns beide nach einem
Kind.
Es kam eine schwierige Zeit, da Susanne einfach nicht schwanger wurde und immer
mehr verzweifelte. Ich fand mich schneller mit unserer Kinderlosigkeit ab, was Susanne
mir sehr verübelte. Wir hatten einige Krisen, wie sie andere Paare in solchen Situationen
auch haben. Als Susanne dann mit Mitte dreißig doch noch schwanger wurde, war das
auch eine neue Chance für unsere Ehe.
Ja, und mit der Geburt von Sophie machte sie mich zu einem vollkommen glücklichen
Mann.
In den letzten Jahren haben Susanne und ich uns schon ziemlich entfremdet. Zuerst litt
sie darunter, dass ich mit steigendem Erfolg immer mehr arbeitete, aber nach einer
Weile fand sie sich damit ab und suchte sich ihre eigenen privaten Gebiete:
Kindererziehung, Kontakt mit anderen Müttern, mit Freundinnen, einen Literaturkreis
und solche Dinge eben. Sophie verband uns immer sehr, da wir sie beide abgöttisch
liebten.
Ich glaube, dass wir eine ganz gute Ehe führten, jedenfalls war sie nicht schlechter als
die Ehen von andern Leuten.
Susanne und ich kennen uns jetzt seit über zwanzig Jahren, sie ist der Mensch, dem ich
am meisten vertraue – aber ich habe es ihr trotzdem nicht gesagt.
Was soll denn auch eine Mutter sagen, wenn ihr ein erwachsener Mann – auch noch ihr
eigener Mann – erzählt, dass er davon träumt, Sex mit der gemeinsamen fünfjährigen
Tochter zu haben?
Wenn Sie ein Mann in meiner Situation wären, hätten Sie es ihr gesagt?
So, jetzt ist die Beschreibung unseres bisherigen Lebens doch länger geworden als
beabsichtigt. Aber das macht nichts. Da ich ja jetzt weiß, dass diese Seiten – wenn
überhaupt - erst gelesen werden, wenn ich nicht mehr lebe, habe ich keinen Druck
mehr, interessant und kurzweilig zu schreiben. Ich habe auch keine Angst mehr, zu viel
Persönliches preiszugeben, aus dem man Rückschlüsse auf meine Identität ziehen
könnte. Das ist mir jetzt alles egal, seit dieser Gewitternacht ist eigentlich sowieso alles
egal.
…
November 1999
Ich bin allein zu Hause und sitze mit meinem Laptop im Bett. Susanne ist arbeiten,
Sophie in der Schule. Ich habe mich heute krank gemeldet, mir ist zum Kotzen. Ich sitze
im Bett und zittere vor Kälte. Aber immer, wenn ich mich zudecke, fange ich an heftig zu
schwitzen und ekle mich vor meiner eigenen Nässe. Wie gesagt, es ist alles zum
Kotzen. Ich bin grad ein kleiner Junge, der Angst hat. Deshalb kann ich auch nicht
arbeiten gehen, das können kleine Jungen nicht.
Alles wegen diesem verfickten Scheißtraum. Gerade jetzt, wo ich mit Susanne reden
wollte, tolles Timing, geile Verlustängste, war ja klar, dass ich jetzt so was träume.
Ich möchte raus aus meiner Haut, einfach nur raus und irgendwo anders hin. Weg mit
dieser Scheißperson, weg mit der Erinnerungslast, weg mit meinem elenden
Männerkörper. Ich schiebe die Bettdecke wieder zur Seite, sehe an mir herunter. Ich bin
recht kräftig gebaut, meine Bauernvorfahren, die haben ja immer hart und körperlich
gearbeitet. Inzwischen habe ich auch schon einen leichten Bauchansatz. Das ist mir
allerdings total egal, stört ja niemand. Meine Brust und meine Beine sind recht stark
behaart. Am rechten Bein diese lange Narbe, von der ich nie wusste, woher ich sie
hatte. Ich habe eine graue Boxershorts an, ich fühle mein Ding irgendwo da drin, klein
und unschuldig und zusammen gekrümmt liegt es da. Wie bei dem kleinen Jungen.
Dieses Ding, diese Waffe. Damit kann ich zustoßen wie mit einem Dolch, mitten rein ins
Herz. Dieses Ding unterscheidet mich von dem kleinen Jungen. Ich bin ein großer und
starker Mann, Susanne hat immer gesagt, in meinen Armen kann man Schutz vor der
Welt finden. Sie fühlte sich da immer sicher. Ja, und ich, wo soll ich mich denn jemals
sicher fühlen, wer denkt an mich? Wo sind große Arme für mich? Susanne ist ein
Arschloch, sie will mich nicht schützen. Ich sehne mich nach meiner Mutter, wie dieser
kleine elende Junge. Dazu hab ich einfach keine Lust. Ich schmeiße ein Saftglas gegen
die Wand. Der Orangensaft rinnt langsam die Wand herunter, über dieses teure Bild von
irgend so einem bekannten Maler, das Susanne damals haben wollte. Scheiß doch der
Hund drauf.
Der verfickte Scheißtraum:
Ich bin vier und gehe mit Vater durch den Wald. Wir heizen zu Hause mit einem Ofen
und ich darf ihm beim Brennholz sammeln helfen. Natürlich habe ich Angst vor ihm, aber
ich bin stolz wie Bolle, dass ich allein ihn begleiten darf bei einer so wichtigen Tätigkeit.
Wir Kinder dürfen nie ohne ihn in den Wald gehen, um zu spielen. Dort herrscht der
böse Wolf, der Kinder frisst. Aber Vater ist stärker als der böse Wolf.
Ich springe herum und lege eifrig Holzscheite in die Karre, die Vater zieht. Er hat eine
große Säge dabei, damit durchsägt er die langen Äste direkt an Ort und Stelle, damit sie
auf die Karre passen. Er lächelt über meinen Sammeleifer und kommt kaum nach mit
dem Sägen. Ich fühle Anerkennung in seinem Lächeln und hüpfe noch schneller durchs
Unterholz. Ich glaube, mein Gesicht ist rot vor Stolz. Plötzlich, schnapp, ich spüre einen
wahnsinnigen Schmerz, mir vergeht Hören und Sehen. Dann finde ich mich auf dem
Boden wieder, der Schmerz in meinem Bein wird immer schlimmer, ich sehe an mir
herunter und dort ist ein gewaltiges silbernes Gebiss mit riesigen Zähnen, die sich in
meinen Unterschenkel gefressen haben. Alles ist voller Blut. Dann steht Vater über mir.
Und er lacht, schallend. Ich habe ihn noch nie so laut und ausgelassen lachen hören.
Die Tränen schießen mir in die Augen und ich wimmere: „Papa, was ist das?”
„Der böse Wolf aus dem Wald, der dich jetzt auffressen wird”, grölt er und hält sich den
Bauch vor Lachen. „Zur Strafe für deinen Ungehorsam.” Ich glaube ihm, ich glaube ihm
immer alles, er hat schon oft von dem bösen Wolf erzählt, der Kinder frisst. Er hat auch
gesagt, dass der böse Wolf die Kinder frisst, die nachts aufs Klo gehen. Seitdem
verlässt keiner von uns Geschwistern mehr nachts das Kinderzimmer, auch nicht, wenn
wir vor lauter Harndrang die ganze Nacht wach liegen.
Ich fange an, wie am Spieß zu schreien, bis er mich tritt: „Hey, sei still. Was bist du nur
für eine Memme, das soll mein Sohn sein...!”
Der Schmerz in meinem Bein wird ohrenbetäubend, wenn ein Schmerz das überhaupt
kann. „Bitte Vater, hol mich hier raus!”, flehe ich.
„Na gut, will ich mal nicht so sein.“ Vater hat urplötzlich zu seiner guten Laune
zurückgefunden. Er nimmt seine Säge und hält sie an mein Bein, setzt direkt unter dem
Knie, am Unterschenkel, an. Er zuckt mit den Achseln. „Ja, das Bein muss ab, anders
krieg ich dich da nicht raus. Ich fang dann mal an zu sägen.” Die Säge ist mindestens 80
Zentimeter lang, ungefähr so groß wie ich.
Das ist der schlimmste Moment. Ich will mich wehren, ich will schreien, aber ich kann
nicht. Ich liege wie erstarrt. Ich schreie ja, aber es kommt kein Ton aus meinem Mund.
Ich habe das Gefühl, ich werde gespalten, ich werde durchgeschnitten. Ich sterbe.
Immer wird irgendein Teil von mir in diesem Wald zurückbleiben, ich werde da nie mehr
ran kommen. Wohin ich auch gehe.
Er sägt mein Bein tatsächlich an, durch die Hose durch bis zur Haut. Es gibt keinen
Moment, in dem ich daran zweifle, dass er mein Bein jetzt durchsägen wird.
Irgendwann hört er auf, schaut mich an und lacht wieder schallend: „Du hast wirklich
geglaubt, ich würde dein Bein absägen. Dumm bist du also auch noch. Was soll ich
denn mit ´nem Krüppel? Ne, ne, ich brauch dich noch zum Arbeiten... Jetzt stell dich
nicht so an, du bist in die Falle von ´nem Wilderer getappt!” Wieder lacht er schallend.
Ich habe keine Ahnung, was ein ‚Wilderer‘ ist. Er schiebt einen Stock in die Falle und
hebelt sie auf. Dann zieht er mein Bein unsanft heraus. Ich bin ihm total dankbar, dass
er mich von den stechenden Schmerzen befreit hat. Ich bin wahnsinnig erleichtert.
„Na los Kleiner, genug gescherzt. Wir müssen uns ranhalten. Die Mutter kann sich das
nachher angucken. Sieh zu, dass du nicht zu viel Blut verlierst.” Ich habe keine Ahnung,
wie ich das machen soll, denn meine Hose ist von Blut durchtränkt und ich habe das
Gefühl, es fließt noch weiter. Vater nimmt mich sogar an seine Hand und ich spüre trotz
allem einen kurzen Moment des Glücks. Dann stößt er mich jedoch ärgerlich wieder
weg, weil ich nicht mit seinem Tempo Schritt halten kann.
Ich torkele hinter ihm her und der Abstand zwischen uns vergrößert sich immer mehr.
Ich sehe ihn bald nur noch als kleinen Punkt weit vor mir auf dem Waldweg. Ich bin wie
benommen und versuche, schneller zu gehen, aber es geht nicht, ich komme nicht
vorwärts. Ich denke nur immer wieder, was ist, wenn ich ihn aus den Augen verliere und
mich hier allein im Wald verlaufe und der böse Wolf wieder kommt... Die
Abenddämmerung hat bereits eingesetzt. Der Waldweg verläuft ins Unendliche, ich
schleppe mich weiter.
Und ich schleppe mich immer noch diesen Waldweg entlang. Mein ganzes Leben schon
schleppe ich mich diesen Waldweg entlang. Und ich werde es immer tun, bis ich
irgendwann tot umkippe, ohne jemals mein Ziel erreicht zu haben.
Der verfickte Scheißtraum ist überhaupt kein Traum, deshalb ist er ja auch so verfickt
und Scheiße. Ich habe keine Ahnung, was letzte Nacht passiert ist, ob ich irgendwas
geträumt habe und der Traum die Erinnerung geweckt hat, die ich dann im Halbschlaf
vor meinem inneren Auge gesehen habe. Keine Ahnung, ist mir auch egal, der Traum ist
eine Erinnerung.
Ich weiß, dass das wirklich alles so passiert ist, obwohl ich das erste Mal überhaupt
daran denke und das alles vergessen hatte.
Ich sehe wieder an meinem Bein hinunter, betaste das Weiß der Narbe an meinem
Unterschenkel. War das die Falle? Oder die Säge meines Vaters?
Mir fällt ein, dass ich danach nie wieder einen Wald betreten habe. Ich hatte keine
Erklärung dafür, ich habe das einfach nicht gemacht, egal was war. Ich gehe über
ländliche Wiesen oder komme auch mal mit auf eine städtischen Parkwiese zum Grillen,
das ja. Aber ich gehe nicht in den Wald, da zwischen die Bäume, wo man nichts sieht
und nicht gesehen wird.
Hab ich Hypnose gemacht oder was? Ich wollte diese Erinnerung nicht. Ich habe nicht
darum gebeten.
Ja, Sie, lieber Leser, sitzen da auf ihrem verdammten Sockel und können mich von dort
aus kritisch beäugen. Sie können den Abstand bestimmen, den Sie zu mir haben wollen.
Sie können mein Geschreibsel auch einfach weglegen oder sogar verbrennen. Ich sitze
hier wie hinter einer Einwegscheibe, lege den Mega-Seelenstripp hin und habe keine
Ahnung, was Sie denken. Das ist auch zum Kotzen.
Ich schätze mal, Sie mögen meinen Vater jetzt genauso wenig wie Sie mich mögen.
Alles das gleiche Pack, alles genetisch, ein Gewaltgen im Umlauf. Oder was denken Sie
jetzt? Vielleicht denken Sie auch, ist ja klar, dass der Typ jetzt auch noch seine Leser
angreift, der macht ja sowieso nichts anderes.
Vielleicht gibt es aber auch den ein oder anderen Gutmenschen unter Ihnen, der mir
nicht ganz böse gesonnen ist. Der Jung ist vielleicht nur wegen seinem von Grund auf
schlechten Vater so geworden?! Der Vater ist schuld! - Aber wo fängt das an, wo hört
das auf? Also, wenn Sie über meinen Vater urteilen, Sie kennen meinen Großvater
nicht. Der soll es mit den Schweinen getrieben haben. Noch ein paar Ekelstorys
gefällig? Ich verschone Sie.
Gibt es diese Möglichkeit eigentlich, dieses ‚Ich kann nicht anders‘? Wegen der
Umstände,
meiner
Kindheit,
meinen
Traumatisierungen
und
so
weiter.
Beziehungsweise: Gibt es Verantwortung?
Wo man da ansetzen soll, was die ‚Gesellschaft‘ da machen soll, darüber können Sie
sich ja den Kopf zerbrechen, sofern Sie einer von denen sind, die zur ‚Gesellschaft‘
gehören. Ich bin normalerweise so einer, ein studierter, gepflegter und kultivierter Mann
Mitte 40, Chef eines Buchverlages.
Nur heute bin ich so einer nicht, heute bin ich ein schimpfender und heulender Looser,
der auf seinem Bett sitzt und niemals etwas anderes hinkriegen wird als sich einen
beschissenen endlosen Waldweg entlang zu schleppen.
Ich werde jetzt gleich aufstehen, duschen, was Normales machen. Ich werde versuchen,
irgendwie aus diesem Zustand wieder herauszukommen.
Vielleicht gibt es ja irgendjemanden unter Ihnen, der versteht, dass ich da nicht drin
bleiben kann, dass ich Susanne und Sophie niemals verlieren will.
Ich werde nicht mit Susanne über den Missbrauch reden, aber so was von nicht.
„Und, was wolltest du gestern mit mir besprechen?” fragte Susanne betont leichthin.
„Ach so, nicht so wichtig. Ich wollte nur mit dir überlegen, wer Sophie morgen von der
Schule abholt, da ich eigentlich einen Termin habe. Aber da ich morgen noch zu Hause
bleibe, kann ich sie ja sowieso abholen.”
„Das ist lieb von dir. Geht’s dir denn schon was besser? Du sahst heute Morgen gar
nicht gut aus.” Besorgt legte sie mir die Hand auf die Stirn.
„Geht schon wieder, ich will nur nichts riskieren. Danke.”
So etwa lief das Gespräch gestern Abend. Ich habe sie angelächelt. Sie mich auch. Ich
glaube, wir waren beide erleichtert, dass wir nur über die Tagesplanung redeten.
Es ist später Vormittag, ich sitze wieder auf diesem Bett. Wie gesagt, ich bin heute noch
krank, oder ich mache zumindest krank.
Ich habe gestern irgendwie versucht, mich über Wasser zu halten, aber ich werde die
Erinnerungen nicht wieder los. Es ist, als wäre eine Schleuse aufgegangen und ließe
sich nicht wieder schließen. Ich sitze auf diesem Holzbett, das Susanne und ich vor über
20 Jahren gekauft haben. Es ist ein einfaches Bett, aus hellem freundlichem Holz
geschnitzt. Ich wollte damals alles hell und freundlich und ikeamäßig machen und an
nichts anderes mehr denken. Doch jetzt, jetzt sehe ich dieses ganze Dunkle wieder vor
mir.
Ich bin wieder auf diesem Bauernhof. Hier sind nur uralte deutsche Möbel. Alles dunkles
abgeblättertes Holz, das Sofa hart und ungemütlich und zerschlissen, zwei einfache
Matratzen liegen auf dem nackten Dielenboden im Kinderzimmer. Wir sind sechs
Geschwister, jede Nacht ist es eng und im Winter eisekalt. Die Fenster sind klein,
drinnen herrscht immer Dämmerung oder Dunkelheit. Überall auf dem Anwesen ist es
vermüllt und eklig. Wir stinken alle. Einmal im Monat füllt Mutter den Kübel draußen mit
kaltem Wasser und wir müssen hinein, alle nacheinander. Mutter schrubbt uns mit Seife
ab und sorgt dafür, dass wir einmal ganz untertauchen. Am Ende steigt sie selbst ins
Wasser. Danach sehe ich in den Kübel, es ist alles schwarz. Vater badet nie, für ihn ist
das was für Weicheier. Nach dem Waschen schlüpfen wir alle wieder in unsere
dreckigen und stinkenden und tausendmal geflickten Klamotten.
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, winkle die Beine an und mache mich ganz klein.
Ich liege in diesem großen Bett, das ich mir nur mit Susanne teile, der Frau, die ich
liebe, mit der ich einmal alles teilen wollte. Ich werde diese Bilder nicht los. Doch noch
schlimmer als die Bilder ist diese Stille. Ich halte mir die Ohren zu, doch ich höre sie
noch immer. Ich drehe das Radio auf, aber es nützt nichts.
Mein Bruder Fritzchen war fünf, etwa anderthalb Jahre jünger als ich. Wir saßen abends
am Esstisch, Vater trank schon den ganzen Tag Selbstgebrannten. Er war aufgeräumt
und guter Laune, was selten vorkam. Infolgedessen waren wir alle relativ entspannt. Wir
hatten tags zuvor ein Schwein geschlachtet und für jeden von uns war ein kleines Stück
Fleisch vorgesehen. Morgen würde Mutter den Rest des Schweins auf dem Markt
verkaufen. Die Mahlzeit verlief friedlich, wir kauten alle genüsslich. (Ich lebe jetzt auch
im Wohlstand, ich habe vergessen, wie wunderschön es sein kann zu essen. Als Kind
war Essen für mich über Jahre das Allerwichtigste.) Dann holte Vater die Schokolade
aus der Vitrine hinter dem Geschirr hervor. Mutter kaufte ihm alle paar Wochen eine
Tafel davon im Dorf und er aß sie genüsslich über Tage verteilt, in Riegel und einzelne
Stücke eingeteilt. Er betonte immer wieder, dass so etwas nichts für Kinder wäre.
Schokolade sollte dem Haupt-Familienernährer vorbehalten bleiben. Keiner wagte je
einzuwenden, dass Mutter, seit wir denken konnten, die Haupternährerin der Familie
war.
„Es fehlt ein Stück!” Er haute mit der Faust auf den Tisch und schob mit einer Hand sein
Geschirr und das von Mutter auf den Boden, wo es krachend zerschellte. „Wer war
das?” Seine Stimmung war in Sekundenbruchteilen umgeschlagen. Wir alle waren sofort
in einem Zustand höchster Anspannung, mir blieb der letzte Bissen Fleisch im Halse
stecken. Wir erstarrten wie die Kaninchen. Mein erster Gedanke war: ‚Zum Glück erst
jetzt, und nicht vor dem Essen…’
Vater sprang auf und schritt tobend durchs Zimmer. „Wenn ihr mir nicht sofort sagt, wer
das war, kriegt ihr alle eine solche Tracht Prügel, dass ihr morgen nicht mehr laufen
könnt.”
„Lass doch...”, hörte ich Mutter in Richtung Vater murmeln, doch ihre Stimme war viel zu
leise, als dass er sie durch sein Gepolter hätte hören können.
„Alles Missgeburten hier, beklauen ihren eigenen Vater...” Er nahm noch einen tiefen
Zug aus der Schnapsflasche. Dann holte er den Rohrstock hinter der Dielentür hervor.
„Er war’s”, sagte meine große Schwester Adele leise und zeigte auf meinen kleinen
Bruder Fritzchen. Der fing an zu heulen und nuschelte Unverständliches.
„Sehr gut, wenigstens einer in diesem Rattenpack hält zu mir.” Vor aller Augen geschah
das Unglaubliche. Vater gab Adele ein Stück Schokolade. Zögernd nahm sie es in den
Mund. Ich glaube nicht, dass sie danach je wieder Schokolade gegessen hat. Teile und
herrsche – dieses Prinzip hatte er perfekt drauf. Wir Kinder verpetzten uns dauernd
gegenseitig, lauerten uns auf und hassten uns untereinander weit mehr als wir ihn
hassten. Ihn fürchteten wir viel zu sehr, um ihn zu hassen. Ich wusste, dass Adele
morgen noch laufen können wollte. Sie war 15 und hatte ein heimliches Date mit einem
Stallburschen aus dem Nachbardorf, in den sie seit Monaten verknallt war. Fritzchen
nuschelte immer noch unter Tränen. „Ich war’s nicht”, glaubte ich zu verstehen. Er hatte
noch vor ein paar Tagen Adele und mir verkündet, dass es sein größter Wunsch war zu
wissen, wie Schokolade schmeckte. Das machte ihn zumindest verdächtig.
„Komm her, Junge! Ich werd dir zeigen, was es auf Schokoladendiebstahl gibt! Wir zwei
werden jetzt ein wenig plaudern.” Vater ging los in Richtung Stall, er grinste dabei wie
der Teufel selbst und streichelte fast schon liebevoll über seinen Rohrstock.
Fritzchen stand zögernd auf und setzte sich in Bewegung. Er warf einen Blick auf
Mutter, doch die hatte die Hände gefaltet, sah auf den Tisch und betete lautlos ein Ave
Maria. Dann sah er seine Geschwister an, auch wir schauten weg. Ich weiß noch, dass
ich unglaublich froh war, dass die bedrohliche Situation in der Küche vorbei war, jetzt
würde einer Prügel bekommen und in einer halben Stunde war alles wieder okay. Ich
war total froh, dass nicht ich der eine war.
Wir blieben am Tisch sitzen, schauten einander nicht an und hörten alle die Schreie aus
dem Stall. Fritzchen schrie aus Leibeskräften. Auch Vaters polterndes Lachen war zu
hören. Mutter starrte ausdruckslos vor sich hin, nur die Bewegungen ihrer Lippen
wurden immer schneller. Irgendetwas war anders als sonst. Tanja, die Jüngste, hatte
sich ganz klein gemacht und hielt sich die Ohren zu. Adele schaute aus dem Fenster,
ich wusste, sie dachte an ihr Date. Sie versuchte sich immer weg zu beamen, sie hatte
mir schon oft erklärt, wie das ging, doch es gelang mir nie. Plötzlich hielt ich es nicht
mehr aus. Ich sprang auf – und hielt mitten in der Bewegung inne. Die andern starrten
mich an, doch ich setzte mich wieder hin. Ich wollte meinem Lieblingsbruder zur Hilfe
eilen, er war klein und zierlich, ich war etwas größer und kräftiger. Vater sollte mich
verprügeln. Ich hätte nur dazwischen springen müssen, Fritzchen hätte wegrennen
können, Vater war inzwischen in diesem Zustand, in dem es ihm egal war, wen er wofür
prügelte. Ich konnte nicht in den Stall gehen, ich saß wieder auf meinem Stuhl und war
wie fest gewachsen. Ich war einfach unglaublich feige.
Ich lauschte auf das Schreien und Wimmern meines Bruders. Dann hörte man ein richtig
lautes Krachen. Und plötzlich war es ganz still. Und nach einem Moment bangen
Wartens war es immer noch ganz still. Man hätte das Fallen einer Feder gehört, die
Stille war ohrenbetäubend. Sie zerdrückte mich.
„Mann, was ist das denn für ´ne Scheiße!”, hörte man schließlich Vater fluchen. Es
schepperte, der Rohrstock war auf dem Boden gelandet. Dann trat Vater raus auf den
Hof, reckte sich und blieb unschlüssig stehen. Adele war leichenblass geworden.
Plötzlich kam Bewegung in Mutter. Sie sprang auf, rannte in den Stall und kam kurz
darauf kreischend und heulend wieder hinausgelaufen. Sie lief direkt auf Vater zu,
schlug mit ihren Fäusten auf ihn ein. Ihr Kreischen war nicht zu verstehen. Vater
schaute sie ausdruckslos an, ließ sich ihre Schläge gefallen. Erst nach einer langen
Weile hielt er ihre Hände fest und blickte ihr fast schon beschwörend in die Augen: „Es
war die Kuh, hörst du, es - war - die - Kuh.” Mutter schrie noch einmal auf, dann rannte
sie an uns vorbei ins Eltern-Schlafzimmer. Vater lief ihr nach, hielt aber abrupt inne, als
er uns bemerkte: „Ab, ins Bett, was sitzt ihr hier noch so herum. Los jetzt!” Er ging in den
Keller, eine neue Flasche Schnaps holen, und wir liefen hoch ins Kinderzimmer. Keiner
von uns sprach ein Wort, wir sahen uns nicht an, lautlos zogen wir uns aus und legten
uns hin. Heute war es nicht ganz so eng auf den beiden zusammengeschobenen
Matratzen.
Ein paar Tage später wurde Fritzchen auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Wir redeten auch
hier nicht über ihn, wir redeten nie wieder untereinander über ihn. Wenn uns jemand von
außen fragte, erzählten wir die Geschichte von der Kuh und dem Melkunfall. Nach ein
paar Jahren glaubten wir fast selbst daran. Nur am Anfang, da denke ich, spukten bei
allen meinen Geschwistern noch diese Fragen herum, wie es denn wirklich gewesen
war. Hatte Fritzchen tatsächlich von der Schokolade genascht? Oder hatte Adele das
nur erzählt, um ihren eigenen Arsch zu retten? Oder hatte Vater sich mit den
Schokoladenstücken einfach nur verzählt und es hatte gar keins gefehlt?
Das Date, das Adele nach diesem Tag hatte, ging in die Hose, wie alle ihre Dates, die
noch folgen sollten. Insgeheim gaben Mutter und meine Geschwister ihr die Schuld, sie
hatte Fritzchen schließlich verraten. Auch Vater tat das, jedenfalls wurde Adele nach
diesem Tag sehr viel härter ran genommen. Wir Kinder merkten, dass man Adele jetzt
leicht fertigmachen konnte. Sie wurde weder von Mutter noch von Vater noch von sich
selbst verteidigt. Auch ich nutzte das schamlos aus und spielte ihr andauernd
hundsgemeine Streiche. Jede Form von Selbstachtung war ihr abhanden gekommen.
Mit 16 ging sie mit jedem ins Bett und man munkelte, dass sie sogar Geld dafür nahm,
selbst den Mongopeter ließ sie ran, von dem jede Abstand hielt, weil er behindert war,
was bei uns auf dem Land gleichbedeutend mit schwachsinnig war.
Diese Begebenheit war eine der ganz wenigen aus meiner Kindheit, die ich Susanne
erzählt habe. Es ist Jahre her, ich habe es abgeschwächt und in aller Kürze erzählt und
doch war Susanne schockiert und tief bewegt. Als ich ihr erzählte, dass sich anfangs
alle fragten, was genau mit der Schokolade passiert war, wurde sie richtig sauer: „Es ist
doch total egal, wer was von der Schokolade gegessen hat oder wer wen verpfiffen hat.
Da würde ich keinen einzigen Gedanken dran verschwenden. Hallo, es geht um
Schokolade! Dein Vater hat deinen Bruder umgebracht. Egal warum. Er hat das
gemacht und sonst keiner!” Susanne war aufgebracht gewesen. Ich hatte nur müde
gelächelt. Sie hatte keine Ahnung. Ich hatte nicht verstanden, was sie von mir wollte,
und verstehe es bis heute nicht wirklich.
Ich lasse mich auf unser Ehebett zurücksinken und schließe für einen Moment die
Augen. Es gibt etwas, das ich Susanne nicht erzählt habe, und das ich damals Adele
nicht erzählt habe. Ich habe es noch nie jemandem erzählt und hatte eigentlich auch
nicht vor, es Ihnen zu erzählen, lieber Leser. Ich tue es jetzt doch. Es ist für mich das
Schlimmste an diesem ganzen Geschehen und es wird mich immer verfolgen:
Ich war es, der von der Schokolade genascht hatte.
Ich schrecke hoch. Es ist fast zwei, um zehn nach zwei hat Sophie Schulschluss. Ich
muss eingeschlafen sein. Direkt ist dieser eiserne Reif wieder da und zieht sich um
meinen Hals zusammen. Ich wünschte, ich könnte einfach weiter schlafen.
Ich kämpfe mich mühsam aus dem Bett und schlüpfe in die Klamotten, die ich gestern
Abend ausgezogen habe. Ich bin jetzt seit zwei Tagen in diesem Elendszustand und ich
weiß, würde ich mich ernsthaft damit auseinander setzen wollen, müsste ich weit mehr
als zwei Tage einplanen. Ich habe nicht die Kraft, mich auseinander zu setzen.
Und ich hab ja dieses Zaubermittel, mit dem ich alle Gefühle stets zu kontrollieren weiß.
Ich stehe auf, um Sophie von der Schule abzuholen.
Sophies unterdrücktes Schreien, Sophies Wimmern, das ist das einzige, was diese
ohrenbetäubende Stille in mir wirklich zu übertönen vermag. Ihre Stimme hört sich fast
so an wie die meines Bruders damals im Stall. Als er noch gelebt hat.
Ich hatte meine Dosis. Sophie ist jetzt in ihrem Zimmer und macht Hausaufgaben. Ich
liege wieder auf meinem Bett und bin lebendig.

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