Pressemappe - Katalogbeitrag Susanna

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Pressemappe - Katalogbeitrag Susanna
Katalogbeitrag von Susanna Kumschick in der Publikation
«NIRVANA. Les étranges formes du plaisirs», Hg. Marco
Costantini, mudac, musée de design et d’arts appliqueés
contemporains, Lausanne / Infolio éditions, Gollion, 2014
These Boots Are Made For Walkin’
Leder – die Verführungen eines Materials in Mode, Kunst und Design
These boots are made for walking
And that’s just what they’ll do
One of these days these boots
Are gonna walk all over you.
Are you ready, boots? Start walkin’!
Nancy Sinatra, 1966
Susanna Kumschick
Wie würden Sie den Duft von Leder beschreiben? Rauchig, süss und warm? Geschmeidig, rassig oder fein? Kaum ein
Geruch bringt die Verführungen eines Materials gekonnter zum Ausdruck als dieses olfaktorische Konstrukt aus Tierhaut und Duft, das gleichzeitig zu den ältesten Parfumnoten zählt. Leder und Parfum pflegen ihre Liaison seit langer
Zeit, denn der strenge Geruch von gegerbten Tierhäuten verlangte schon früh nach Veredelung. Bereits im 17. Jahrhundert haben die Maîtres Gantiers – die Handschuhmacher – verstanden, dass feinstes Leder nicht schlecht riechen
darf und sie parfümierten ihre Lederwaren mit raffinierten Duftzusätzen. Florale Essenzen maskierten selbst penetrant
riechendes Lederöl, und lederne Militärkleider wurden mit wohlriechenden Düften poliert. Nicht von ungefähr liess
Patrick Süskind in seinem Roman «Das Parfum» den mit einem genialen Geruchsinn ausgestatteten Jean-Baptiste
Grenouille zunächst beim Gerber Grimal arbeiten, wo er dem ätzenden Gestank der rohen Tierhäute ausgeliefert war,
bevor er sich bei Parfümeur Baldini der Kreation von Düften widmete. Auch in den heutigen Tagen produziert die Traditionsfirma Hermès, einstmals spezialisiert auf hochwertiges Pferde-Geschirr, Zaumzeug und Reitsättel, luxuriöse
Handtaschen, Schuhe und Lederparfums im oberen Preissegment, die an ihre unternehmerischen Ursprünge erinnern.
Parfums mit würziger oder floraler Neigung und wohlklingenden Namen, die den Duft nach «echtem Leder» versprechen, überschwemmen den Markt und rufen vergangene Welten von russischem oder spanischem Leder in Erinnerung. Auch der erfolgreiche Lederduft «1740 – Marquis de Sade» aus der Linie «Histoires de Parfums», eine Mischung
aus Pfeifentabak und Pflaumenmus, verspricht den Sinnen Betörendes. Alle ätherischen Konstrukte assoziieren ähnliches: Körpernähe und Sinnlichkeit, animalische Kraft und Natur, aber auch Macht, Autorität und Prestige. Olfaktorische
Visionäre wie Christopher Brosius gehen noch weiter: In seiner Linie «I Hate Perfume» kreierte Brosius den Duft «In
the Library» und preist damit die Verführung von in Leder gebundenen Büchern an.
Doch nicht nur in der Welt der Düfte wird lustvoll zu Leder imaginiert. Ob Gebrauchsmaterial oder Luxusgut, Leder
bewährt sich in der Mode, im Möbeldesign und in der Innenausstattung; seine Qualitäten wie auch die vielschichtigen
Bedeutungen inspirieren Kunst und Design. Seit ihrer Erfindung dient die gegerbte Tierhaut als Konstrukt von Verführungen und Quelle kreativer Fantasien: grazile Lederpantöffelchen und staubige Cowboyboots, kecke Lederhosen und
stramme Uniformen, wohlriechende Autositze und feine Lederhandschuhe, variantenreich wird der erotische Raum um
die Objekte der Begierde immer wieder neu eröffnet. Die Sinnlichkeit des Materials wird jedoch nicht nur über dessen
erstklassige Eigenschaften und meistgenannte Qualitäten wie Haptik, Duft und Sound transportiert. Es ist vor allem die
Verbindung zur menschlichen Haut, welche die langanhaltende Attraktivität von Leder begründet.
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Hautnah und anschmiegsam
Unsere Haut ist ein Wunderwerk. Mit zwei Quadratmetern Fläche und bis zu zehn Kilogramm Gewicht ist sie unser
grösstes Sinnesorgan. Ohne Haut gibt es kein Leben: Sie formt und schützt den Körper, und ihre komplexen Eigenschaften sind einzigartig. Als Paul Valéry mit seinem oft zitierten Satz, demgemäss die Haut das Tiefste beim Menschen sei, die Dimension unserer Hülle beschrieb, erfasste er die Komplexität des grössten menschlichen Organs
treffender als jeder zuvor. Die Haut gilt als oberflächliche Grenze – sie ist es aber nicht. Vielmehr ist sie Dreh- und
Angelpunkt des menschlichen Organismus und kann fast alles. Der französische Philosoph Michel Serres wiederum
hat die schöne Formulierung «die Haut ist der Ort, wo sich das Ich entscheidet», gefunden. Die Haut markiert sowohl
die Grenze zwischen Innen und Aussen als auch diejenige zwischen dem System des Selbst und dem System der
Welt. Sie reflektiert unsere Identität, spiegelt Emotionen und ist Ort prägender Lebensgeschichten.
Auch die gegerbte Tierhaut trägt Spuren des gelebten Lebens eines Individuums und entwickelt die Patina der vergehenden Zeit; ebenso kann Leder Qualitäten der lebenden Haut multiplizieren. Am menschlichen Körper getragen, wird
die tierische Haut zur zweiten Hautschicht: weich und geschmeidig ebenso wie widerstandsfähig, wärmend und schützend, doch genauso verletzlich. Hautnah und sinnlich passt sie sich der Anatomie des Körpers und seinen Funktionen
an. Sie ist eine angenehm schützende Rüstung, offenbart jedoch gleichzeitig Verwundbarkeit.
Die Künstlerin Nandipha Mntambo untersucht hierzu den menschlichen Körper sowie die organische Natur unserer
Identität in ihrer Arbeit mit Kuhhäuten. Diese verfügen über weit verbreitete kulturhistorische Bedeutungen und sind
stark mit dem kulturellen Hintergrund der in Swasiland geborenen Künstlerin verbunden. Sie nutzt physische und taktile
Eigenschaften der Tierhaut, um Traditionen von Körperdarstellungen und Vorstellungen von Weiblichkeit, Sexualität
und Verletzlichkeit zu hinterfragen. In ihren jüngeren Werken interessiert sie sich zudem für die Formen des bekleideten Körpers im Spiel zwischen verschiedenen Assoziationen von Körper und Kleidern, Haut und Häuten (1).
Kostbarkeit mit Tradition
Die eigentliche Geschichte des Leders ist die Geschichte des Gerbens. Auch wenn es in der Zeit der Römer gelang,
dank neuer Gerbverfahren Alltagsgegenstände weniger aufwendig herzustellen und sich demzufolge auch einfache
Leute Ledersandalen leisten konnten, blieb die gegerbte Tierhaut neben Elfenbein und Gold eine wertvolle Kostbarkeit.
So berichtete Marco Polo schon im 13. Jahrhundert über die Attraktion der vergoldeten Lederkleidung des mongolischen Herrschers Kublai Khans und über die mit Hermelinfellen überzogenen Lederzelte. Auch in China wurde in
dieser Zeit bereits flexibel gegerbtes, kräftig gefärbtes, gelacktes und dekoriertes Leder hergestellt, während im europäischen Raum die Bearbeitung des natürlichen Narbenbildes des Leders erst erprobt wurde. Gerber, Lederfärber,
Schuhmacher, Täschner, Beutler, Gürtler, Sattler und Riemer waren auf die Herstellung und Verarbeitung von Leder
spezialisiert. Zum Schutzpatron der zwei Hauptzünfte der Schuhmacher und Gerber wurde der heilige Crispinus,
seinerseits gelernter Schuhmacher und christlicher Märtyrer.
Leder wird aus allen Arten von Tierhäuten hergestellt. Sie werden zu weichem Velours- oder robustem Sohlenleder, zu
leichtem Nappa- oder samtigem Nubukleder, Blankleder oder glänzendem Lackleder verfertigt. Durch Fettgerbung,
durch pflanzliche, mineralische, synthetische Gerbung oder in kombinierten Formen verarbeitet, erhalten die Häute
verschiedene Farbtöne – von Braun über Weiss- zu Graublautönen – und sie unterscheiden sich auch im Geruch. Es
sind mehr als zwanzig verschiedene Arbeitsschritte nötig, um Leder zu dem auf dem Markt erhältlichen Produkt
machen.
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Fetisch Leder
Wir leben in einer Welt der Fetische. Sie sind Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit und Alltagswelt. Labels und
Brandmarks verleihen den Objekten, welche sie zieren, einen grossen Mehrwert und als Götzen oder Idole verlangen
sie ihrerseits Objektstatus. Sie gehören zu einer modernen und postmodernen Devotionalienkultur, in der vormoderne
Praktiken weiterwirken. Der Umgang der Menschen mit Dingen führt Verhaltensformen weiter, die im Zeitalter vor der
Säkularisierung praktiziert wurden. Die Fetische der Gegenwart erinnern damit an ihre Vorgänger in der Geschichte:
die Fetische der Magie und des Aberglaubens, der Warenökonomie und der psycho-sexuellen Leidenschaften. Deren
Bedeutungsfelder sind bis in aktuelle Zusammenhänge präsent geblieben, wenn von Fetisch oder Fetischismus die
Rede ist. Dies gilt auch für die aufgeladene Aura des Leders, die immer wieder mit archaischen Denk- und Bewusstseinsformen in Verbindung gebracht wird. Als Kostbarkeiten sind tierische Häute wie Leder, Fell und andere Materialien aus der Tierwelt häufig Teil fetischistischer Praktiken.
So ist auch das Haar als Fetisch-Motiv, vor allem als literarische Obsession im 19. Jahrhundert, bekannt. Dabei besitzt
Haar neben der erotischen noch viele weitere Bedeutungen und tritt immer wieder in Erscheinung. Es ist ein Fetisch in
religiösem Sinn, zum Beispiel als Devotionalie im Katholizismus, es ist aber auch Objekt der Erinnerung, Quelle von
Intimität, Mittel der Selbsterkenntnis oder Bindeglied zur Natur zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Neue
Schmuckobjekte von Kerry Howley oder Anna Schwamborn verweisen auf derlei tradierte Bedeutungsmuster (2).
Der populärste Fetisch im Zusammenhang mit der Kunst des Leders ist der Schuh. Seine Luxusvariante feiert Erfolge
und sexuelle Anspielungen sind omnipräsent. Mit rot gefärbten Sohlen sind High Heels von Christian Louboutin oder
Manolo-Stilettos zum Haushalt-Fetisch geworden. Als Objekt der Begierde werden sie sehr genau betrachtet, zärtlich
liebkost und geliebt, gestohlen und gesammelt. Der Erfolg des Popsongs «These Boots Are Made For Walkin’», gesungen von Nancy Sinatra in den 1960er-Jahren und seither häufig zitiert, zeugt von einem erotisierenden Setting, das
über den Schuh kreiert werden kann. Aki Kaurismäkis Musikvideo «These Boots» für die Leningrad Cowboys ist nur
eines der parodistischen Covers des legendären Songs. Auch die skurrile Aktion des Regisseurs Werner Herzog, der
eine verlorene Wette mit dem Verzehr seines eigenen Schuhs begleichen muss, ist nicht frei von erotischen Konnotationen. In der Dokumentation «Werner Herzog Eats his Shoe» von Les Blank demonstriert Herzog mit einem selbstgekochten Mahl den Versuch, gegerbte Tierhaut in eine geniessbare, lustvoll verzehrbare Speise zu verwandeln.
Zelebriert in Schwarz
Nicht nur der Schuh kennt eine auratisierte Geschichte. In der gesamten Modelandschaft rückt die Verführung von
getragenem Leder immer wieder neue Topoi ins Zentrum: So tritt auch mit Charlotte Rampling die selbstbestimmte,
dominante Frau in Lederstiefel und Uniform als Inkarnation des fetischisierten Symbolismus von Uniformen auf die
Bühne. Frauen und Männer, von Kopf bis Fuss in Leder gekleidet, bevölkern die kreative Luxusmode von Yves Saint
Laurent, Claude Montana oder Thierry Mugler. Die Lederjacke mit ihrer Sexiness der Verweigerung wird zum erotisierten Attribut der Rocker- und Punkszene. Auch sie wird immer wieder neu erfunden: bei Vivienne Westwood in der
Haute Couture veredelt, in aufeinanderfolgenden Subkulturen fetischisiert, und auf der Strasse für den Alltag variiert.
Nicht zu vergessen ist die Anziehung fescher Leder- und Reithosen und ihre diversen Revivals, aber auch die verführerische Attraktion rustikaler Häute, neu aufgelegt in der Indianer- und Cowboykultur, und historisch inszeniert in der
Mittelalter-, Larp- und Wikingerszene. Schliesslich folgt schwarzes Leder, in der Sadomasoszene als Signal von Macht
zelebriert, oder als einer der Fetische im erotischen Sortiment zwischen Lack, Latex und Lycra.
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Der Fotograf Mustafa Sabbagh nimmt den Kult von schwarzem Leder gekonnt auf und er studiert in stilisierten Porträts
die Kleidung und deren fetischistische Symbolik. Leder und die Farbe Schwarz treten dabei als starke mysteriöse
Zeichen in Erscheinung und werden gekoppelt mit der erotischen Spannung zwischen nicht eindeutigen Geschlechtern. Bildmächtig und lustvoll überhöht, vermitteln die Fotografien die ganze Ambivalenz und Abgründigkeit dieses
schwarz gefärbten Materials zwischen Anziehung und Abstossung (3). Die Fotoserie «Yes, Mistress» der Fotografin
Kate Peters wiederum führt in ikonischen Porträts verschiedener Domina-Persönlichkeiten aus dem Londoner Untergrund die Inszenierung von Leder und anderen aufgeladenen Materialien in den Rollenspielen von Dominanz und
Unterwerfung eindrücklich vor (4).
Die Kunst der Fesselung in Leder
Auch die Luxusindustrie hat sich von der Ästhetik der Tendenzen extravaganter erotischer Vorlieben inspirieren lassen.
Versace und Dolce & Gabbana, Gaultier oder Azzedine Alaia transformierten deren sinnlichen Ausdruck für die Haute
Couture. Die Akzeptanz der erotisch fetischistischen Mode wuchs in den 1990er-Jahren, zur selben Zeit, als Tätowierungen und Piercings als Massenphänomen im Mainstream angekommen waren. Mittlerweile gehören Elemente der
Dresscodes der Unterwelt von Lust und Schmerz auch zur Massenmode. Sexuell aufgeladene Objekte ergänzen den
erotischen Körperkult, der mit dem Habitus und der Ausstattung des Power Dressing und Porno Chic als Modetrend
auch in privaten Haushalten gepflegt wird, und die Fetische Schuhe, Taschen und Uhren werden mit verführerischer
Unterwäsche, mit Schleiern oder Masken ergänzt. Auch kostbare Leder-Dessous, Korsagen und andere lederne
Schnürkreationen tauchen in vielfältigen Variationen auf. Nie zuvor hat die Mode so viele Gürtel, Ketten, Riemen und
Schnüre gesehen; zweifellos auch in Anlehnung an die erotische Fesselkunst. Leder ist durch seine Anschmiegsamkeit
und Reissfestigkeit ein bevorzugtes Material im Kult der Bondage, der Fesselung zur Steigerung sexueller Erregung,
seien es abschliessende Manschetten, Gurten oder Halsbänder, spezielle Bondagekleider, sowie das entsprechende
Equipment für bestimmte Rollenspiele, die zur Fesselung verwendet werden.
Göttinnen der Musik- und Unterhaltungsindustrie kleiden sich heute in raffiniert erotisierende Lederkreationen. Neue
Varianten von Korsett, Mieder und Harnisch umschlingen Frauenhüften und schmücken Männertorsi: Madonnas Cone
Bras und lederne Mieder sind legendär geworden. Rihanna tanzt in feinstem schwarzem, mit Nieten bestücktem Leder
und in Schnürstiefeln; und die erotische Ikone des Punk Debbie Harry trägt heute Zana Baynes «Hex Harness». Die
Designerin Zana Bayne versteht es perfekt, die Sprache der Bondage-Praktiken spielerisch neu zu interpretieren, um
mit Hüftgurten, Taillenmiedern und Harnessen berühmte Männer- wie Frauenkörper verführerisch in Szene zu setzen
Die Designerin Una Burke wiederum beherrscht nicht nur altes Lederhandwerk, sie übernimmt auch die Symbolkraft
von tradiertem Ledergut, um ihre Experimente mit Leder für ihre extravaganten Kreationen auf die Spitze zu treiben. So
dienen Zaumzeug oder Rüstungen als Vorbilder für Korsagen oder Kopfbedeckungen, die gekonnt und geheimnisvoll
mit Leder und Körperformen spielen (5/6).
Plädoyer für erotisches Spiel
Mode gilt als Zone der Verführung. Auch Fetische locken und umgarnen. Der Designer Mark Woods kreiert hierzu
Objektwelten, welche rätselhafte Fetische fern jeglicher Funktionalität darstellen. Aus luxuriösen Materialien wie Leder,
Samt, Edelholz oder Metall sind sie gekonnt verarbeitet und erinnern an Sexspielzeuge oder auch religiöse
Devotionalien. Die delikaten Skulpturen sind sinnliche Zwitterwesen, welche die in Material und Form evozierten
Bedeutungsebenen überschreiten und hinterfragen. Sie irritieren die tradierte Wahrnehmung von Objekten und ironisieren die Stimulationen einer Gesellschaft, welche von Glamour und Pornografie besessen ist, eine Welt auf der Suche
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nach schneller Lustbefriedigung, in der gleichzeitig der erotische Raum zerfällt und die Zeit für den bezaubernden Flirt
zu kurz kommt und an erfinderischem Reichtum verliert. So können seine geheimnisvollen Skulpturen auch als Plädoyer für die Raffinesse des fantasievollen erotischen Spiels mit humorvoller Sinnlichkeit gelesen werden (7).
Die Sprache der lustvollen Ledererotik wird auch im zeitgenössischen Möbeldesign aufgenommen: das Design-Duo
Fleet Ilya produziert mit dem Wissen über traditionelles Sattlereihandwerk luxuriöse Lederaccessoires und experimentiert mit der Ästhetik der erotisch fetischisierten Mode. Die spielerischen Anlehnungen führt auch der Leuchter aus
schwarzem Leder als luxuriöse Variante weiter (8). Der Stuhl «Tailored Chair» der slowenischen Designerin Nika
Zupanc kommentiert augenzwinkernd das lustvolle Sitzen auf der nachgeformten Wespentaille. In ihrer Arbeit, die
oftmals erst beim zweiten Blick den ironischen Hintersinn eröffnet, nutzt sie die Sprache von Mode und Materialien,
spielt mit Tabus und setzt frivole Details ein (9). Das Lederobjekt «Saddle Swing» von Bina Baitel verweist auf das
gelungene Zusammenspiel von Pferdesattel und Schaukel. Reiten und Schaukeln, zwei Topoi der Lust, werden mit
Leder zusammengeführt. Das Vergnügen an rhythmischen Bewegungen evoziert Kindheitserinnerungen und Erwachsenenträume, im festen schwarzen Leder wird der dunkel mitschwingende Unterton des Materials akzentuiert (10).
Nähe zum Tier
Leder bringt unser Verhältnis zur Natur unmittelbar zum Ausdruck. Einerseits verweisen gegerbte Häute auf die Welt
der Tiere und evozieren die Attraktion von Wildheit, Animalität und Exotik, andererseits sind die Reaktionen auf die
Herstellung von Leder ambivalent: Für die einen ist es ein natürlicher und überzeugender Werkstoff mit unübertroffenen Eigenschaften, der den künstlichen, erdölbasierten Materialien weit voraus ist. Für andere ist die Lederherstellung
Ausdruck einer sinnlosen Ausbeutung von Lebewesen. Durch die teils fragwürdigen Verhältnisse in der Lederherstellung gewinnt diese Haltung zusätzlich an Auftrieb. Omnipräsent sind Leder von Säugetieren, deren Fleisch wir auch
essen. Tatsächlich stammen aber nur gerade rund sechzig Prozent der Häute, die zu Leder weiterverarbeitet werden,
aus der Fleischindustrie. Der Rest kommt aus Schlachtungen, bei denen Tiere allein für die Lederproduktion getötet
werden. Daneben war die Gewinnung von exotischen Lederarten schon immer Grund genug, Tiere einzig um ihrer
Haut willen zu züchten und zu jagen. Dieselbe Problematik gilt auch für die Pelzindustrie.
Die Kritik an der Erzeugung von gegerbten Häuten und die wachsende Sensibilisierung für ökologische wie auch tierethische Fragen bewirken, dass alte Kulturtechniken des Gerbens wiederentdeckt und Fischlederhäute wie Lachs-,
Rochen- oder Aalleder immer attraktiver werden. Auch Abfallprodukte, die nur noch als Viehfutter und Biomüll dienen,
erhalten neue Funktionen. Die Design-Gruppe Formafantasma bezeugt mit faszinierenden Arbeiten aus Kuhblasenhäuten oder anderen tierischen Abfallprodukten diese Tendenz. Der Trend des nachhaltigen Konsums, gekoppelt mit
einer neu entdeckten Liebe zum Handwerk und alten Verarbeitungstraditionen, begünstigt immer mehr einen umweltschonenden und kreativen Umgang mit Leder. Damit einher geht ein wiedererwecktes Interesse an magischen Bedeutungen natürlicher Materialien wie Pflanzen, Federn, tierischen Knochen und Häuten in animistischen Vorstellungen oder schamanistischen Praktiken fremder Kulturen. Die Freude an primitiven Materialien, am Look des Unfertigen,
Gebrauchten und an organischen Strukturen sowie an biologischer Mimikri inspiriert auch den Umgang mit dem Werkstoff Leder und dessen sinnlichem Ausdruck. Die Arbeit von Milena Altini steht für diesen neuen Zugang. Ihre Jacken,
Kleider, Strickwerke und Accessoires aus Leder und anderen natürlichen Materialien sind unbehandelte und von Hand
gefertigte Einzelstücke. Gebrauchtes Leder, das normalerweise weggeworfen wird, verarbeitet sie gekonnt zu neuen
Formen. Geschickt schneidet und schichtet sie geschmeidiges Kalb- und Lammleder übereinander und spielt mit der
natürlichen Expressivität und der formalen Metamorphose des Materials. Ihre exklusiven Lederarbeiten betonen die
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taktile Sensation. Sinnlichkeit und Sexappeal werden mit neuen Mitteln in Szene gesetzt. Der erotische Verweis einer
ledernen Lampe erhält damit eine zeitgemässe Gestaltung (11).
Die Freude an sinnlichen Formen unbearbeiteter und rustikaler Stoffe verbunden mit der Sehnsucht nach Authentizität
und Natürlichkeit steht einer Welt stetig wachsender Künstlichkeit gegenüber. Die Metamorphose von Körper und
Technologie, bei der traditionelle Grenzen verwischt werden, nimmt ihren Lauf: Gene und Organe werden transferiert
und ausgetauscht, organisches Gewebe wird im Labor gezüchtet, die boomende Schönheitschirurgie ermöglicht es,
unsere Körper zu modifizieren und die Haut zu bearbeiten. Neu geprägte Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit
bestimmen wiederum unseren Bezug zu Leder.
Die Haut ist eine Fläche, «auf der ich mich für die Welt, und die Welt sich für mich ereignet», meint Vilém Flusser. Es
gibt keinen anderen Ort, wo Sinnlichkeit und Erotik klarer zum Ausdruck kommen können. Und es gibt kaum einen Ort,
wo sich die Zeichen unserer Welt deutlicher manifestieren als auf unserer Haut. Die gegerbte Tierhaut multipliziert die
vielschichtige Zone zwischen Mensch und Tier. Sie verweist in sich wandelnden Formen auf das Spiel von Sinnlichkeit
und Erotik sowie die Anziehung des Materials, welches immer – exklusiv und luxuriös – Quelle von Fantasien, Wünschen und Illusionen bleiben wird.
Literatur
Adomeit, Stefanie, Das Haar als Fetisch-Motiv des 19. Jahrhunderts. Aspekte einer literarischen Obsession, Diss. Universität Freiburg
im Breisgau, 2007
Böhme, Hartmut, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg, 2006
Böhme, Hartmut / Endres, Johannes (Hg.), Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, München, 2010
Edelkoort, Lidewij, Fetishism in Fashion, Philip Fimmano (Ed.), Frame Publisher, Amsterdam, 2013
Pfaller, Robert, Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2012
Serres, Michel, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1999 (Original: Les cinq sens.
Philosophie des corps melés, Paris, 1985)
Süskind, Patrick, Das Parfum, Diogenes, Zürich, 1985
Vinken, Barbara, Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Klett-Cotta, Stuttgart, 2013
Werner Herzog Eats His Shoe, Les Blank, Doc., 20 Min., USA, 1980
This Boots Are Made For Walkin’, Nancy Sinatra (Gesang), Lee Hazlewood (Komponist / Produzent), USA, 1966
These Boots, Leningrad Cowboys, History of Finland 1952-1969, Aki Kaurismäki (Regie), Musikvideo, 4.36 Min., Finnland, 1992
Flusser, Vilém, Haut, in: Flusser Studies, 02 Mai /2006, S.1,
www.flusserstudies.net/sites/www.flusserstudies.net/files/media/attachments/flusser-haut02.pdf, 07 2014
www.materialarchiv.ch
MEDIENBILDER
Es werden nur diejenigen im Katalogbeitrag erwähnten Werke abgebildet, die in der Ausstellung NIRVANA vertreten
sind. Die hochaufgelösten jpg-Dateien stehen auf www.gewerbemuseum.ch/ Medien zum Download zur Verfügung.
3) ©/Foto:
MustafaSabbagh: Just In
Black, 2014,
Lambda-Print, 100 x 90 cm
4) ©/Foto: Kate Peters:
Maid Franchesca, Serie:
Yes, Mistress, 2009,
C-Print, 76,2 x 101,6 cm
4) ©/Foto: Kate Peters:
Madame Caramel, Serie:
Yes, Mistress, 2009,
C-Print, 76,2 x 101,6 cm
10) © Bina Baitel: Saddle
Swing, 2013, Leder, Metall
250 x 70 x 44 cm
Court. Ed. NextLevel Galerie
Foto: F. Kleinefenn
7) © Mark Woods:
Brownie Box Fetish,
2014, Leder, Edelmetall,
echtes Haar,
68 x 27 x 6,5 cm
Foto: Paul Tucker

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