Full text - Katharina Mommsen

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Full text - Katharina Mommsen
Publications
oJ the English
Goethe Society, Volume
LXXIß , 2004
ALEXANDER DER GROSSE ALS GEHEIMES LEITBILD
IN GOETHES WEST-ÖSTLICHEM DIVAN
von Katharina Mommsen
The Wilkinson and Willoughby Lecture 2003
Ausgehend von einem Gespräch mit Elizabeth Mary Wilkinson, zu deren Gedächtnis dieser
Vortrag angesetzt war, wurde die Frage nach der Wichtigkeit bedeutender Vorbilder für die
Entwicklung junger Menschen angeschnitten. Alexander der Große bekannte sich zu Homers
Achilleus als dem sein gesamtes Leben prägendes Vorbild, während Goethe keineswegs so offen
seine Faszination durch Alexander zeigte, die sich im Bedürfnis des Wettbewerbs mit diesem
griljJten Helden der Antike äusserte. Doch gibt es zahlreiche Zeugnisse für seine Affinität zu
Alexander, zu dessen Persönlichkeit und ruhmvollen Taten, die ihn unsterblich gemacht hatten.
Schon ein Gedicht des 16-jährigen Goethe bekundet seinen Trieb, mit Alexander zu
rivalisieren. "Dass gleiches Streben Held und Dichter bindet", behauptet Goethe im , Tasso '.
Es ist das Streben der "großen Seelen", durch rühmenswerte Handlungen unsterblichen Ruhm
zu erlangen. Auch die ,Römischen Elegien' weisen auf Goethes innere Nähe zu Alexander hin.
In der Mummenschanz-Szene des ,Faust' erscheint Goethes Held in der Maske Alexanders
beim triumphalen Einzug in Babyion. Am offenkundigsten ist die Präsenz Alexanders im
,West-östlichen Divan', wo Goethe sich bei seinen geistigen Eroberungen innerhalb der
geographischen Grenzlinien von Alexanders Eroberungen hielt. Zahlreiche Divanverse und
lange Passagen der ,Noten und Abhandlungen' nehmen auf Alexander Bezug. Das
Entscheidende war, dqß Alexander als erster Eroberer und Herrscher Orient und Okzident
miteinander verknüpft und in seiner Person wie in seinem Reich West und Ost vereinigt hatte.
Dadurch bekam er zentrale Bedeutungfür den, West-östlichen Divan', in dem Goethe die Idee
der Verbindung von westlicher und östlicher Kultur zu neuem geistigen Leben erweckte.
s WAR DIE GELIEBTE UND VEREHRTE Elizabeth M. Wilkinson, die mich zur Wahl
des heutigen Themas veranl~ßt hat und zwar durch die lebhafte Erin.nerung an
unser letztes Gespräch, bel dem von der zunehmenden AbneIgung des
Zeitgeistes gegen alles Heroische die Rede war. Während noch Nietzsche in Also
sprach Zarathustra appelliert hatte: "wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!",
scheut man sich heute, von Helden zu reden. - Mary und ich frühstückten
gemeinsam im Darmstädter Maritim-Hotel, wo wir zu einer Herbsttagung der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zusammengetroffen waren. Wir erzählten
einander, welche Gestalten aus Literatur und Geschichte uns in jungen Jahren
begeistert hatten: Goethes Iphigenie und Schillers Jungfrau von Orleans waren ebenso
dabei wie Wilhelm Tell und der Räuber Moor. Es war ein privates Gespräch, während
andere Akademiemitglieder an den Nachbartischen frühstückten, als Mary plötzlich
ihre Stimme erhob und allen vernehmlich den jungen Schiller zitierte: "Mich ekelt
vor diesem tintenklecksenden Säculum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen
Menschen!" Der Effekt war verblüffend. Sämtliche Gespräche um uns herum
verstummten. Alle Augen richteten sich auf Mary. Mit Vergnügen kostete sie die
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;. •
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Wirkung des Zitats aus, sorgte dann aber schnell mit ihrem ansteckenden Lachen für
Entspannung im Saal. Dennoch blieb dies provokative Lob der Plutarchschen Helden
in meiner Erinnerung haften, gewissermaßen als Marys Abschiedswort, denn am
selben Tag noch flog sie nach London zurück und nahm auch nie wieder an den
Darmstädter Akademietagungen teil.
So mag es in ihrem Sinne sein, wenn wir heute unsere Aufmerksamkeit einem
Plutarchschen Helden zuwenden und von seiner Einwirkung auf den West-östlichen
Divan sprechen.
Plutarch berichtet, daß Alexanders eigenes Heldenideal, an dem er zeitlebens
festhielt, Homers Achilleus war. Lysimachos, ein sonst eher mittelmäßiger Lehrer
gewann dadurch des makedonischen Prinzen und seines Vaters Philipp besondere
Gunst, daß er Alexander mit "Achilleus" titulierte. Die Selbstidentifikation mit Achill
reichte also tief in Alexanders Jugend zurück. Die flias betrachtete er gewissermaßen
als Prophetie seiner eigenen Taten. Nur so ist auch sein Besuch Trojas zu Beginn des
asiatischen Feldzuges zu verstehen. Damals suchte er, nachdem er über den Hellespont
gesetzt hatte, in Ilion den Grabhügel des Achilleus auf und besprengte ihn mit Öl;
dann lief er, unbekleidet, wie es Sitte war, mit seinen Gefährten hinauf, um Achills'
Grabsäule zu bekränzen, wobei er ihn glücklich pries, lebend einen treuen Freund
und tot einen Herold seines Ruhmes gefunden zu haben. Die flias erklärte Alexander
für eine Pflegerin kriegerischer Tüchtigkeit, weswegen er sie von Kindheit an
zusammen mit seinem Dolch unters Kopfkissen legte. Seine hohe Einschätzung der
flias zeigte sich auch, als er während seiner asiatischen Feldzüge in den Besitz einer
kostbaren mit Edelsteinen verzierten goldenen Schatulle kam. Die Frage, welchen
Schatz man in ein so edles Behältnis tun könne, beantwortete er damit, daß er die flias
hineinlegte. Darüber hinaus hielt Alexander überhaupt die Dichtkunst in hohen
Ehren, was sich selbst bei der Zerstörung der Stadt Theben zeigte, die durch
Abtrünnigkeit seinen Zorn erregt hatte: das Haus des Dichters Pindar ließ er
verschonen, ebenso die Nachkommen des großen Dichters.
Alexanders große Neigung zur Dichtkunst haben die Poeten ihm reichlich
vergolten. Dichter lieben Menschen mit großen Eigenschaften. So fühlten sich
ungezählte Poeten zu diesem kühnsten Helden des Altertums hingezogen, seit er im
Jahr 323 v. ehr. allzu früh aus dem Leben schied. Dichter hatten den allergrößten
Anteil am Mythos dieses ersten griechischen Herrschers, den die Mit- und Nachwelt
vergötterte. Sie und die bildenden Künstler sorgten seit über zweitausend Jahren für
Alexanders Unsterblichkeit, indem sie seine Erscheinung und Taten in Wort und
Schrift, Buchminiaturen, Gemmen, Münzen, Gemälden und Monumenten aller Art
verherrlichten. Daß es wohl keinen Menschen auf diesem Erdball gab, der so viele
Federn und Pinsel in Bewegung setzte wie Alexander Magnus, liegt daran, daß er
nicht nur der abendländischen Tradition angehört, sondern gleichfalls der morgenländischen.
Im Orient wurde sogar sein Gedächtnis noch lebendiger bewahrt als in Europa.
Unter dem Namen al-Iskander wurde er, der als Grieche die Rolle des persischen
Groß königs ausfüllte, in der persischen Literatur zu einer Idealgestalt, die viele
Tugenden in sich vereinte. Doch auch in Ägypten, Jordanien, Libanon, der Türkei, ja
in allen islamischen Ländern Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens bis weit
nach Indien hinein verbindet jedes Schulkind mit dem Namen IskanderVorstellungen
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von übermenschlicher Größe. Die orientalischen Dichter, denen er zum Sinnbild des
kühnen Heerführers und mächtigen, weisen, frommen, gerechten Weltenherrschers
wurde, sorgten dafür, daß sein Andenken bis heute in den Ländern des Orients
fortlebt. Goethe erwähnt in den Noten und Abhandlungen zum Divan, daß noch zu
seiner Zeit die Perser dem Schah als einem "Alexander an Macht" schmeichelten.
Im Vergleich mit den orientalischen sind die europäischen Alexander-Darstellungen
aus über zwei Jahrtausenden insgesamt kritischer, wie wunderbar auch immer dieser
Held in den zahlreichen Alexanderromanen, Epen und Dramen, lyrischen
Dichtungen, Volksbüchern, Geschichtswerken und pseudohistorischen Darstellungen
aller Art erscheint. Selbst in neuster Zeit kommen noch ständig AlexanderPublikationen heraus. Die ungeheure Faszination, die von seinem Asienzug ausgeht,
spiegelte sich auch vor kurzem noch in einer BBC Television-Dokumentation, bei
der man versucht hatte, alle Stationen seiner Eroberungszüge ins Bild zu bringen.
Trotz moderner Beförderungsmittel und anderer technischer Erleichterungen wäre
man an den Strapazen fast gescheitert, so daß die physischen Leistungen, die Alexander
sich und seinem Heer abforderte, erneut in sagenhaftem Licht erschienen.
Doch nun zu Goethe. Während Alexander offen bekannte, daß er in Achilleus ein
sein gesamtes Leben prägendes Vorbild sah, ist Goethes Faszination durch Alexander
keineswegs so offenkundig, er hielt sie eher geheim. Dennoch läßt sich zeigen, daß er
eine erstaunliche Affinität für ihn empfand. Er, der früh gelernt hatte, so mit der
Antike zu leben, als sei sie seine eigene Zeit, identifizierte sich oft in Gedanken mit
Alexander, der für ihn ein ganz persönlicher Held war, der Gefühle des Wetteifers in
ihm auslöste.
Ein frühes Zeugnis für diese Affinität liefert ein kleines Gedicht, das Goethe an
seinem 16. Geburtstag einem Freund ins Stammbuch schrieb. Hier vergleicht der
junge Autor sich, wenn auch nicht ohne eine gewisse Selbstironie, mit Alexander dem
Großen (WA, i, IV, 179):
Es hat der Autor, wenn er schreibt,
So etwas Gewisses, das ihn treibt,
Den Trieb hatt' auch der Alexander
Und all die Helden miteinander.
Drum schreib' ich auch allhier mich ein:
Ich möcht' nicht gern vergessen sein.
Goethe wußte, daß seine Freunde es als ungeheure Anmaßung empfinden und ihn
auslachen würden, wenn er sich mit Alexander dem Großen verglich. Um dem
vorzubeugen, fügte er einen Horaz-Vers aus der Ars poetica hinzu (Episteln 11, 3.5.):
Risum teneatis, amici! ( Würdet ihr das Lachen zurückhalten können, Freunde?!) Das Zitat
zeigt, er war sich bewußt, wie lächerlich seine eigenen Ambitionen der Umwelt
erscheinen mußten. Dies war auch wohl der Grund, warum er seine ungewöhnliche
Faszination durch Alexander für sich behielt und auf eher verborgene Weise kundtat.
Doch wenn man einmal Acht gibt auf Goethes Beziehungen zu Alexander, so merkt
man, daß er sich zeitlebens und noch bis kurz vor seinem Tode mit ihm
auseinandersetzte und sich in einem Rivalitätsverhältnis mit ihm fühlte.
Aus zahlreichen schriftlichen und mündlichen Äußerungen geht klar hervor, daß
Goethe sämtliche Episoden der Geschichte Alexanders und dessen Aussprüche sehr
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genau kannte. Seine Kenntnisse stammten nicht nur aus Volksbüchern und den in der
Schulzeit studierten Autoren Plutarch und Curtius, deren Lektüre er auch in späteren
Epochen wiederholte, sondern aus erstaunlich vielen alten und neuen AlexanderBüchern in fremden Sprachen, die er in den verschiedensten Lebensphasen bis ins
höchste Alter las. Anekdoten daraus gab er gerne wieder, z.B. 1772 in den Frankfurter
gelehrten Anzeigen r:wA, i, XXXVIII, 391f), wo er erwähnt: "Alexander führte einen
Poeten mit sich, dem er, vermöge eines Contrakts fürjeden guten Vers ein Geldstück,
und für jeden schlechten eine Ohrfeige gab."
Darüber hinaus bekundete sich Goethes Faszination durch Alexander nicht nur in
dieser lebenslänglichen Lektüre von Büchern über den makedonischen Helden,
sondern auch in seinem ungemeinen Interesse für alle bildlichen Darstellungen
Alexanders. Man könnte ohne weiteres ein ganzes Buch darüber schreiben, wie die
Vorstellung von dem siegreich seine hohen Ziele verfolgenden mutigsten Helden des
Altertums Goethes Leben begleitete. Ich glaube, Goethe fühlte sich Alexander darin
verwandt, daß er sich gleichfalls unter speziellem göttlichem Schutz wußte. Aus ihrem
Zutrauen auf ein göttliches, unerforschliches, übermächtiges Wesen entsprang bei
beiden ein Gefühl der Sicherheit. Die Souveränität, mit der hier wie dort sich eine
Persönlichkeit in ihrer menschlichen Fülle manifestierte, das Charismatische ihrer
Erscheinung, die Selbstverständlichkeit ihrer geistigen Überlegenheit gegenüber der
Umwelt, die kühne Unmittelbarkeit ihres sprachlichen Ausdrucks, die freie Art, mit
der sie die Welt nahmen, alle solche Ähnlichkeiten in ihrem großen Zuschnitt machen
es leicht verständlich, daß Goethe sich für charakteristische Details in Alexanders
Lebensweise interessierte und ihm darin nacheiferte.
Dazu gehörte z.B. Alexanders Gewohnheit des Nacktbadens und Schwimmens in
Flüssen, die nach Goethes Meinung auch für seinen Tod schicksalbestimmend wurde,
weil er trotz seines Typhusfiebers im kalten Wasser geschwommen war. In Goethes
Jugendzeit verstieß es gegen die guten Sitten, im Freien zu baden, man empfand es als
schockierend, daß Goethe im eiskalten Wasser der 11m badete und auch den jungen
Herzog dazu anstiftete. Indem Goethe als erster in Weimar das Schwimmen einführte,
folgte er darin dem Beispiel Alexanders. Ähnlich schockierend wirkte auf
die Zeitgenossen Goethes und Carl Augusts wildes Parforce-Reiten über Hecken,
Gräben und durch Flüsse, hinter dem auch berühmte Alexander-Legenden spürbar
sind, zumal Goethe im Egmont an seinem Helden den für Alexander typischen
Zug hervorhebt, mit Vorliebe rohe Pferde zuzureiten, was an Alexanders
berühmtes Jugenderlebnis erinnert, als er zu aller Staunen den von niemandem zu
bändigenden Bucephalos zähmte und diesen wilden Hengst zu seinem Lieblingspferd
erklärte.
Die ungewöhnliche Anziehung, die Alexander auf Goethe ausübte, ist auch im
Torquato Tasso spürbar, wo Goethe erklärt: "Daß gleiches Streben Held und Dichter
bindet." Dies gleiche Streben ist der Drang etwas die Grenzen des gewohnten
Menschenmaßes Überschreitendes, Rühmenswertes zu vollbringen, das Unsterblichkeit verbürgt. Die gegenseitige Anziehung der größten Helden und Dichter beruht,
Goethe zufolge, auf eben diesem gleichen Streben. So ruft Tasso, der sich durch seine
Bekränzung mit der Lorbeerkrone ins Elisium versetzt fühlt, sehnsüchtig aus
(r.Aufzug, 3. Auftritt; WA, i, x, 127):
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o säh' ich die Heroen, die Poeten
Der alten Zeit um diesen Quell versammelt,
o säh' ich hier sie immer unzertrennlich,
Wie sie im Leben fest verbunden waren!
So bindet der Magnet durch seine Kraft
Das Eisen mit dem Eisen fest zusammen,
Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet.
Homer vergaß sich selbst, sein ganzes Leben
War der Betrachtung zweier Männer heilig,
Und Alexander in Elisium
Eilt den Achill und den Homer zu suchen.
o daß ich gegenwärtig wäre, sie,
Die größten Seelen, nun vereint zu sehen!
Aus dem Magnetgleichnis darf man wohl schließen: Goethes Bewunderung für
Alexander und seine Sehnsucht nach dem Umgang mit einer so großen Seele war
ebenso stark - wie Alexanders Faszination durch Homers Achilleus.
Einen aufschlußreichen Beleg von Goethes innerer Nähe zu Alexander aus der
glücklichsten Phase seines Lebens gibt es in der X. Römischen Elegie, wo er behauptet
(WA,i, VI, 245): "Alexander und Cäsar ... Gäben die Hälfte mir gern ihres
erworbenen Ruhms", wenn er ihnen auf eine Nacht das Lager mit seiner Geliebten
vergönnte.
Bemerkenswert ist in diesem Zusmmenhang auch, daß der Bildhauer Alexander
Trippel während Goethes römischem Aufenthalt eine Porträtbüste von ihm schuf, die
aufs stärkste an Alexander den Großen erinnert, so daß Herder sich gegenüber dem
Künstler über den Kontrast zu seiner eigenen Büste bitter beklagte: "Er [Goethe] sieht
wie ein junger Alexander oder Apollo aus, u. ich gegen ihn wie ein kahler, trockner
Alter." Übrigens schloß sich auch der Weimarer Hofbildhauer Martin Klauer, den
Goethe für seinen Eifer im Studium der Antike lobte, in einer seiner Goethebüsten
dem Beispiel Alexander Trippels an, indem er des Dichters Ähnlichkeit mit Alexander
betonte.
Von Alexanders magischer Anziehungskraft auf Goethe spiegelt auch der Faust
etwas wider. Der ins Übermenschliche strebende Held mit seinem unersättlichen
Drang zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält, berührt sich mit
Legenden der Alexander-Tradition, wonach dieser auf wunderbare Weise in den
Himmel und in die Hölle gelangte, um zu erfahren, wie es dort zugeht. Goethes
Interesse für diese Alexandermythen ist nachweisbar, u.a. durch Erwähnung einer
spätmittelalterlich spanischen naturphilosophischen Alexander-Dichtung, die dies
Thema zum Inhalt hat. Im 2. Teil der Faust-Tragödie ließ Goethe seinen Helden
während der Mummenschanz (Kaiserliche Pfalz) sogar als ,neuen Alexander' auftreten,
indem er ihn wie einen orientalischen Potentaten, mit Turban geschmückt, freizügig
Reichtümer ausspendend, auf einem Wagenthron als Personifikation des Plutus
einziehen läßt (5563 ff) - eine Szene, die, wie Michael Engelhard nachweisen
konnte, inspiriert wurde durch Charles Le Bruns Triumph-Einzug Alexanders d. Gr. in
Babyion, von dem Goethe einen Kupferstich besaß. Dieser zeigt den triumphierenden
Alexander, wie Goethes Faust-Plutus, auf einem Wagenthron, angeführt von einem
jugendlich androgynen Wesen, das dem die Poesie verkörpernden Knaben Lenker
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gleicht. Zu Le Bruns Triumphzug Alexanders gehört auch der von weiblichen Gestalten
umgebene Elefant neben anderen bezeichnenden Details, vor allem dem großen
Gefäß, aus dem Schätze hervorquellen. Die verblüffend vielen Übereinstimmungen
beweisen, daß Goethe bei dieser Faust-Szene Le Bruns Gemälde Alexanders des
Großen bei dessen triumphalen Einzug in Babyion vor Augen hatte.
Daß man auch in orientalischen Ländern eine Verwandtschaft zwischen Goethes
Faust und Alexander dem Großen empfunden hat, zeigt das Titelblatt einer
bengalesischen Faust-Übersetzung, das ein Alexander-Porträt aufweist.
Die Präsenz des größten antiken Helden innerhalb eines Goetheschen Werkes ist
jedoch am Offenkundigsten im West-östlichen Divan. Der Divan war quasi Goethes
Alexanderzug. Wie dieser führte er über die weiten Flächen Vorderasiens nach Persien
als dem Land seiner Wahl. Überall bei seinen geistigen Eroberungen der Kulturen des
Nahen und Mittleren Orients bewegte Goethe sich auf Alexanders eigenstern
Territorium. Auch er machte wie dieser vor Indien halt. Sämtliche in den DivanGedichten erwähnten orientalischen Städte - Damaskus, Balch, Bochara, Samarkand,
Ormus, Schiras, usw. waren wichtige Etappen in Alexanders Leben. Die
geographischen Anhaltspunkte zeigen, daß Goethe sich dort wirklich auf dessen •
Spuren befand, so am Kaspischen Meer, das er auffälligerweise gemäß dem antiken
Ausdruck Mare Hyrcanum als "Hyrcanisches Meer" bezeichnet, im Gebiet der
Perlentaucher im persischen Golf, an den diamantenhaltigen Gießbächen Soumelpours,
mit deren schönsten Schätzen der Divandichter im Buch Suleika seine Geliebte
beschenkt. In seiner Gebefreudigkeit suchte der Divandichter sogar den notorisch
freigebigen Alexander noch zu überbieten, der seine edelste Beute nach Olympia,
Athen und Delphi sandte.
Daß Goethe ganz bewußt Alexanders Beispiel folgt, wird u.a. am Motiv des
Turbans erkennbar, mit dem er sich im Buch Suleika von der Geliebten schmücken
läßt:
Komm, Liebchen, komm!
Umwinde mir die Mütze!
Aus deiner Hand nur ist der Tulbend schön,
so beginnt ein Gedicht, dessen 2. Strophe aufAlexander als Vorbild hinweist:
Ein Tulbend war das Band, das Alexandern
In Schleifen schön vom Haupte fiel,
Und allen Folgeherrschern, jenen andem,
Als Königszierde wohlgefiel[ ...] (WA, i, VI, 155)
Wie die baktrische Prinzessin Roxane Alexander den Turban um die Stirn gewunden
haben mochte, so läßt der Divandichter sich von Suleika den Turban winden. Dabei
war der Turban für Goethe wie für Alexander nicht nur eine kleidsame Kopfbedeckung, sondern ein wichtiges Sinnbild ihrer positiven Einstellung zum Orient.
Bei Plutarch hatte Goethe gelesen, daß die Makedonier sich verletzt fühlten, als
Alexander orientalische Kleidung anlegte. Aber gerade dadurch bekam Alexander für
Goethe zentrale Bedeutung, daß er als Erster Orient und Okzident miteinander
verknüpft und in seiner Person wie in seinem Reich West und Ost vereinigt hatte. Er,
der vom makedonischen Volkskönig zum Herrscher auf den Achämenidenthron
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aufstieg, wollte allen heterogenen Völkern seines Weltreichs gleichen Anteil zubilligen
und betrieb eine ausgesprochene Verschmelzungspolitik, was sich u. a. bei der von
ihm veranstalteten Völkerhochzeit zu Susa zeigte, wo zehntausend makedonisc,he
Krieger Asiatinnen heirateten.
Vom Turban rühmt der Divandichter, daß er "besser schmückt/ Als alle
Kaiserkronen" (Vier Gnaden; WA, i, VI, 12). Ähnliches Lob spendete er auch dem
"Zelt, das man vom Orte rückt/ Um überall zu wohnen" (ebd.). Mit dem Motiv des
Zeltes verband Goethe nicht nur Vorstellungen von der nomadischen Lebensweise der
Beduinen, die immer wieder ihre Zelte abbrechen, um mit ihren Heerden neue
Weideplätze zu suchen, oder von den mit Karawanen durch die Wüste ziehenden
Händlern, sondern er dachte gleichfalls an Alexander, denn es war ihm eine seit Jugend
vertraute Vorstellung, daß auch dieser große Herrscher bei seinem Asienzug in Zelten
wohnte - wie die orientalischen Herrscher auf ihren Heereszügen mitsamt ihrem
ganzen Hofstaat einschließlich der sie begleitenden Frauen. "Sind es Zelte des Vesires /
Die er lieben Frauen baute?" fragt der Divandichter bei einer lieblichen Vision, die ihn
in der Nähe Erfurts in morgendlicher Frühe beim Blick aus dem Reisewagen überkam
(Liebliches; WA, i, VI, r8), so stark war er mit seinen Gedanken im Orient. In den Noten '
und Abhandlungen (Kap. G egenwirkung; WA, i, VII, 95) fordert Goethe den Leser auf:
"Begeben wir uns zu einem Abendgelag in das Zelt Alexanders, dort treffen wir ihn
mit den Seinigen in lebhaften, heftigen, ja wilden Wechselreden". Das ganze Kapitel
Gegenwirkung ist für unser Thema wichtig, weil Goethe hier ausführlich Alexander in
seiner Umgebung schildert, und auch die Gründe erwägt, die ihn zum Mord an Clitus
bewogen haben mochten. Leider fehlt uns hier die Zeit, auf diese Schilderung
einzugehen, die Goethes innere Nähe zu Alexander aufs Deutlichste bekundet.
Zahlreiche Bezugnahmen aufAlexander in den Divangedichten wie auch vor allem
in den Noten und Abhandlungen hängen gewiß auch damit zusammen, daß Goethe
Alexander in Hafis' Diwan oft begegnete. Für Hafis wie für alle persischen, arabischen
und türkischen Dichter war Alexander eine große Herrscherpersönlichkeit ihrer
eigenen Geschichte. Um seine mirakulösen Siege plausibel zu machen, fabulierten sie
von seinem wunderhaften " Weltenspiegel", in den er nur hineinzusehen brauchte,
um auf den ersten Blick alle Pläne des Dareios und anderer Gegner zu durchschauen.
Die Vorstellung eines solchen Weltenspiegels hing sicher auch mit der Sonnensymbolik zusammen, die Alexanders Vergöttlichung mit sich brachte, denn die Sonne
sieht alles, was auf Erden geschieht; ihr bleibt nichts verborgen. Goethe wußte von
der schon in antiken Kunstwerken nachweisbaren Alexander-Helios-Verbindung.
Seit im Jahre 33 r die Priester des Zeus-Ammon-Heiligtum Alexander als "Sohn
Gottes" begrüßt hatten, galt er für göttlich oder zumindest für einen Halbgott. Das
war vorher noch keinem Herrscher der Griechen geschehen. Aber es hatte auch noch
keiner solches Charisma und solche weltumgestaltende Macht entfaltet. Aus hellenistischer Zeit und deren späteren Kopien gibt es Darstellungen des Sonnengotts Helios,
die Alexanders Züge tragen. Die Helios-Alexander-Identifizierung überlebte das
Andenken an diesen sagenhaften Herrscher über Jahrtausende hinweg. Bis in unsere
Tage ist das Sonnenzeichen das offizielle Wappen des makedonischen Staates.
Wenn nun Hafis auf Alexanders "Weltenspiegel" anspielt, so fällt es auf, daß dieser
größte persische Lyriker sich dem Weltbeherrscher Alexander ohne weiteres zur Seite
stellt, sich ihm gleichstellt, in Versen wie:
ALEXANDER DER GROSSE
Ich will einst Alexander gleich
Den Spiegel nehmen in die Hand.
Es sey nun, daß mich seine Gluth
Ergreifet, oder nicht ergreift. 1
Das erinnert an den I6-jährigen Goethe, der sich nicht weniger hochgemut als Hafis
mit Alexander verglich. Der Divandichter erklärt sich gleichfalls Alexander und den
Folgeherrschern ebenbürtig. Sobald Suleika ihm den Turban "ganz rein und
silberstreifig" um die Stirne windet, fühlt der von der Geliebten so "gekrönte"
Dichter sich dem größten Herrscher gleich, und erklärt voller Stolz:
Was ist denn Hoheit? Mir ist sie geläufig!
Du schaust mich an, ich bin so groß als Er.
Man erkennt, die Begegnungen mit Alexander schlossen Goethe ganz neue Seiten
seines eigenen Wesens auf, so daß er sich selbst wie ein erobernd ausgreifender
"Folgeherrscher" fühlte. Daß sein Geist sich erobernd ausdehnte, um - wie der
notorisch verschwenderische Alexander die Griechen - seine geliebte Suleika mit
orientalischen Geschenken zu überschütten, bezeugt das ihr gewidmete Buch Suleika, •
in dem Goethe bekennt: "Allein, sobald ich dein gedenke, IDehnt sich mein Geist
erobernd aus" (WA, i, VI, 156), wie ich schon angedeutet habe. Tatsächlich dehnte
sich Goethes Geist in einer größeren Anzahl von Divangedichten über berühmte
Städte und Länder Alexanders, des Eroberers, Städtegründers, Kulturbringers, Schöpfers und Gründers eines west-östlichen Reiches aus. Sämtliche von Alexander
unterworfene asiatischen Stämme, Ländereien und Städte zollen nun, nach dem
Willen des Divandichters, seiner geliebten Suleika Tribut in Gestalt ihrer kostbarsten
Landes- und Meeresprodukte ("Nur wenig ist's was ich verlange"; WA, i, VI, I56f.):
... Badakschan zollte dir Rubinen,
Türkisse das Hyrkan'sche Meer.
Getrocknet honigsüße Früchte
Von Bochara dem Sonnenland,
Und tausend liebliche Gedichte
AufSeidenblatt von Sarnarkand.
Da solltest du mit Freude lesen
Was ich von Ormus dir verschrieb,
Und wie das ganze Handelswesen
Sich nur bewegte dir zu lieb;
Wie in dem Lande der Bramanen
Viel tausend Finger sich bemüht,
Daß alle Pracht der Indostanen
Für dich auf Woll' und Seide blüht;
Ja, zu Verherrlichung der Lieben,
Gießbäche Soumelpours durchwühlt,
1 Aus Ghasele Dal XXX in Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz
übers. von Joseph v. Hammer, Stuttgart und Tübingen, 1812, T .l, S.253 . Dort meint der übersetzer, die Sage von
Alexanders Spiegel sei aus dem Brennspiegel entstanden, der sich auf der Spitze des alexandrinischen Pharus befunden
haben soll.
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Aus Erde, Grus, Gerill, Geschieben
Dir Diamanten ausgespült;
Wie Taucherschaar verwegner Männer
Der Perle Schatz dem Golf entriß,
Darauf ein Divan scharfer Kenner
Sie dir zu reihen sich befliß:
Wenn nun Bassora noch das Letzte,
Gewürz und Weihrauch, beigethan,
Bringt alles was die Welt ergetzte
Die Caravane dir heran ...
So wurden die Eroberungen Alexanders zur Inspiration und tiefen persönlichen
Erfahrung des Divandichters. Hinter einem Vers wie "Als ich auf dem Euphrat
schiffte ... " (WA, i, VI, 149) steht auch die Goethe durch Biographen wie Plutarch
und Curtius vertraute Vorstellung von dem auf dem Euphrat schiffenden Alexander,
in dessen Geschichte dieser Fluß eine besonders wichtige Rolle spielte. Das ,Reich'
Alexanders, in dem er die verschiedensten Völkerstämme und Welten vereinigte,
wurde für Goethe zum Symbol für das west-östliche ,Reich', das er mit seinem Divan
gründen wollte.
Übrigens blitzt das heroische Ideal des siegreichen Feldherm und Eroberers
Alexander schon zu Beginn des Divans im Buch des Sängers auf, wo die "Elemente" des
echten Liedes genannt werden. Da heißt es, nachdem zuerst Liebe und Wein als
Elemente der Poesie gerühmt werden, an dritter Stelle (Elemente; WA, i, VI, 14):
Waffenklang wird auch gefodert,
Daß auch die Drommete schmettre;
Daß, wenn Glück zu Flammen lodert,
Sich im Sieg der Held vergöttre.
Die Vorstellung des vergötterten Heros ist vom Ideal der Antike inspiriert. Sein Urbild
ist der tapferste Held der flias, der von Homer als halbgöttlich dargestellte Achilleus,
Alexanders Jugendidol. Als erster Held der griechischen Geschichte aber wurde der
siegreiche Alexander selber für göttlich erklärt. Das alles steht hinter Goethes Vers
"Daß wenn Glück zu Flammen lodert,! Sich im Sieg der Held vergöttre!" Als Goethe
diese von Waffenklang, Trompetengeschmetter und Vergöttlichung des siegreichen
Helden handelnden Verse schuf, stand vor seinem geistigen Auge der Orienteroberer
Alexander. Auf ihn bezieht sich auch das vom Weltenspiegel Alexanders handelnde
Gedicht im Buch Suleika, das der Geliebten in den Mund gelegt ist (WA, i, VI, 195):
Laß den Weltenspiegel Alexandem;
Denn was zeigt er? - Da und dort
Stille Völker, die er mit den andem
Zwingend rütteln möchte fort und fort ...
Statt dem kriegerischen Beispiel Alexanders zu folgen und um der Weltherrschaft
willen fremde Völker mit Waffengewalt niederzuzwingen, so rät Suleika dem
Divandichter, solle er die Liebe und das mit ihr erungene Glück besingen.
Entsprechend dem Vorsatz im Gedicht Elemente (WA, i, VI, 14): "Liebe sei vor allen
Dingen/ Unser Thema, wenn wir singen", wird hier an die Liebe als eine Steigerung
ALEXANDER DER GROSSE
des kriegerischen antiken Heldenideals appelliert. Hier wie dort erscheint höchstes
antikes Heldentum nur als Vorstufe der Liebe. Nachdem Alexander den Orient mit
dem Schwert besiegte, folgt der liebende Dichter seinen Spuren als ein gesteigerter
Held. Durch seine friedlichen Siegeszüge, seine Eroberungen mit dem dichterischen
Wort, entsteht als geistige Schöpfung der West-östliche Divan - und Divan bedeutet ja
Versammlung der die westlichen und östlichen Völker der Welt in Liebe
miteinander vereinigen soll. Das höchste Ideal des Divandichters ist Vereinigung der
Welt durch Liebe.
Nochmals nahm Goethe das Motiv von Alexanders Weltenspiegel indirekt auf in
dem Gedicht "Ein Spiegel er ist mir geworden, l Ieh sehe so gerne hinein, I Als hinge
des Kaisers Orden I An mir mit Doppelschein" CiIIA, i, VI, I93). Wie Alexander weiß
der Poet sich im Besitz eines magischen Spiegels. Doch sein Zauberspiegel zeigt nicht
fremde Heerscharen, sondern - die Geliebte, die, sobald er in den Spiegel schaut,
darin auftaucht, unversehens verschwindet und dann plötzlich wieder da ist. Dieser
dem Dichter gewordene Spiegel darf als Steigerung von Alexanders Weltenspiegel
aufgefaßt werden, da er die Liebe feiert: dieser Zauberspiegel, Goethes Weltenspiegel,
ist natürlich - der West-östliche Divan!
Nicht immer, wenn Goethe auf Alexander Bezug nimmt, nennt er ausdrücklich
dessen Namen. Es gibt eine ,geheime Alexanderschicht' im Divan, die nur der
Aufmerkende gewahr wird. Zu ihr gehört auch das Gedicht Hochbild im Buch Suleika,
das mit den Versen beginnt CiIIA, i, VI, I84):
Die Sonne, Helios der Griechen,
Fährt prächtig auf der Himmelsbahn,
Gewiß, das Weltall zu besiegen,
Blickt er umher, hinab, hinan . ..
Vermutlich ging diesen Versen ein bildhafter Eindruck des die Sonnenpferde
antreibenden Helios auf seinem Wagenthron voraus. Im Capitolinischen Museum zu
Rom hatte Goethe den schon von Winckelmann besonders gerühmten überlebensgroßen Helios-Alexander-Kopf gesehen. Womöglich wußte er auch noch von
anderen Helios-Darstellungen, die den Typus des jungen Alexander zeigen. Der Vers
"Gewiß, das Weltall zu besiegen", paßt als Ausdruck kriegerischer Eroberungen
besser auf den Feldherrn Alexander als auf den Sonnengott Helios selber. Auch am
Schluß des Hochbild-Gedichts nimmt Goethe in nur leicht verdeckter Weise auf
Alexander Bezug bei den Versen:
Und wäre ich Helios der Große,
Was nützte mir der Wagenthron?
Dem Sonnengott Helios das Prädikat "der Große" beizugeben, ist etwas sonderbar.
Viel einleuchtender ist es, daß "Helios der Große" auf Alexander den Großen zielt,
den mit Helios identifizierten Eroberer. Darauf deutet auch der Ausdruck "Wagenthron", so daß durch diese Strophe eine direkte Verbindung zu Darstellungen des
Orienteroberers Alexander hergestellt wird, denn die Künstler liebten es, den die
Länder des Orients durchziehenden Alexander auf einem Wagenthron darzustellen,
wodurch sie auch eine Verbindung zu dem von den Sonnenpferden gezogenen Helios
herstellten. Noch Charles Le Brun, der Hofmaler des ,Roi Solei!', Louis XIV,
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orientierte sich an Alexander, als er zur Verherrlichung des französischen ,Sonnenkönigs' eine ganze Serie von Alexanderdarstellungen schuf, von denen Kupferstiche
und riesige Gobelins angefertigt wurden. Wie schon im Zusammenhang von Faust
erwähnt, besaß Goethe einen Kupferstich von Charles Le Bruns Einzug Alexarzders in
Babyion, was ihn dazu inspirierte, Faust in der Mummenschanz wie Alexander in
prächtig orientalischem Gewand auf einem Wagenthron einziehen zu lassen, so daß
im Faust wie im Divan das Vorbild Alexanders durchschimmert.
Im Divan folgt unmittelbar auf die Hochbild- Verse das Gedicht Nachklang (WA, i, VI,
186), das wieder auf Alexander als den mit Helios in einem Atem genannten Herrscher
anspielt. Wie schon im Gedicht Hochbild vergleicht sich auch hier der Divandichter
selber mit ihm, wenn er sagt:
Es klingt so prächtig, wenn der Dichter
Der Sonne bald, dem Kaiser sich vergleicht [. . .]
Zur Erklärung solch kühn verwegener Anmaßung sagt Goethe in den Noten und
Abhandlungen (Kap. Künftiger Divan, Abschnitt Buch des Unmuths; WA, i, VII, 139-41):
Im Orient sei
vom Thron, durch alle Stufen hinab, bis zum Derwisch an der Straßenecke, alles voller
Anmaßung [...] Der Herrscher selbst ist der erste Anmaßliche, der die übrigen alle
auszuschließen scheint. Er ist Gebieter [... ] niemand gebietet ihm, und sein eigner Wille
erschafft die übrige Welt, so daß er sich mit der Sonne [!], ja mit dem Weltall vergleichen
kann.
Auch hier spielt Goethe indirekt auf den mit der Sonne und dem Weltall verglichenen
Alexander an, den als Helios vergöttlichten Gebieter der Welt.
Er wolle, sagt Goethe in den Noten und Abhandlungen seine Landsleute mit der
Anmaßung des Dichters, der sich dem höchsten Herrscher vergleicht,
"versöhnen" (ebd. S. 142). Es sei jedoch der mit und neben dem Herrscher wirkende
Dichter, der den Herrscher "über alle Sterbliche erhöht" und dadurch "auf dem
Weltenthrone erhält" (ebd. S. 140). Der Herrscher wiederum erkenne das höchste
Talent für seines Gleichen an. Das verleite den Dichter, "eben so hoch von sich zu
denken [...] und sich im Mitbesitz der größten Vorzüge und Glückseligkeiten zu
fühlen. " - Es sind diese Gesinnungen, die, besonders im Buch Suleika, in vielen
Divanversen zum Ausdruck kommen, von denen hier nur einzelne Proben gegeben
wurden.
Im weiteren Verlauf des Gedichts "Es klingt so prächtig, wenn der Dichter/ Der
Sonne bald, dem Kaiser sich vergleicht [... ]" ist von "Herzensthränen" die Rede,
was daran erinnert, wie häufig die Biographen Alexander weinend zeigen, wenn ihn
Reue und Kummer überkommen. Daß Goethe, wenn er eigene Tränen nicht
zurückhalten konnte, an Alexander den Großen dachte, beweist das nach der
schmerzlichen Trennung von Marianne Willemer entstandene Gedicht in freien
Rhythmen "Laßt mich weinen! Umschränkt von Nacht [... ]". Dort versetzt Goethe
sich zunächst in die Situation eines durch die Wüste ziehenden Arabers, der beim
Gedanken an die weite Entfernung von der Geliebten in Tränen ausbricht (WA, i, VI,
290):
Laßt mich weinen! umschränkt von Nacht,
In unendlicher Wüste.
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ALEXANDER DER GROSSE
Kamele ruhn, die Treiber deßgleichen,
Rechnend still wacht der Armenier;
Ich aber, neben ihm, berechne die Meilen
Die mich von Suleika trennen, wiederhole
Die wegeverlängemden ärgerlichen Krümmungen.
Laßt mich weinen! das ist keine Schande.
Und nun mitten in dieser orientalischen Wüstenlandschaft beruft sich Goethe zu
seiner Rechtfertigung auf das lateinische Sprichwort: "Boni viri lacrimabiles"
"Weinende Männer sind gut". Als Beispiel führt er Homers tapfersten Helden an, den
um den Verlust seiner Geliebten weinenden Achilleus: 2 "Weinte doch Achill um
seine Briseis", lautet Vers 9 von Goethes Gedicht. Daß Weinen "keine Schande" sei,
beweist Goethe sodann auch aus Herodots Schilderung3 des Perserkönigs Xerxes, der
auf seinem Feldzug gegen Griechenland in Abydos am Hellespont, als er Tausende
von Kriegern an sich vorbeiziehen sah, in Tränen ausbrach bei dem Gedanken, daß in
hundert Jahren keiner dieser tapferen Männer mehr am Leben sein werde. Es ist diese
überlieferung, die hinter Goethes 10. Vers steht: "Xerxes beweinte das unerschlagene
Heer".
Nach Achill, dem Helden der Ilias, und Xerxes, dem der Geschichte angehörigen
persischen Herrscher, führt Goethe Alexander den Großen an, der im Jahr 331 in
Samarkand unter Tränen bereute, im Jähzorn seinen Freund Clitus mit einem
Speerwurf getötet zu haben: 4
Über den selbstgemordeten Liebling Alexander weinte.
Laßt mich weinen! Thränen beleben den Staub,
Schon grunelt's.
Das Auftauchen von Helden der Antike mitten in einem imaginären Karavanenzug
durch die Wüste mit arabischen und armenischen Händlern, zeigt, wie intensiv
Goethe mit diesen heroischen Gestalten des Altertums lebte. Wie er hier das
orientalische Milieu mit der hellenischen Welt verknüpft, läßt erkennen, daß er das
allgemeih Menschliche, über Zeiten und Völker hinweg Verbindende stärker als das
Trennende empfand. Solche Verknüpfung der antiken mit der orientalischen Sphäre
wurde ihm durch das Vorbild Alexanders zur Selbstverständlichkeit. Diese Verse, die
Goethe nach der endgültigen Trennung von Marianne Willemer der Handschrift
zufolge ganz spontan niederschrieb und selber nie veröffentlichte, zeigen: wie er sich
am Beispiel Alexanders und dessen Vorbild Achilleus wieder aufrichtete, die
unbeschadet ihrer Heldenhaftigkeit bei seelischen Erschütterungen in Tränen ausbrechen konnten. Uns sind diese Verse ein Beweis mehr, wie vertraut Goethe mit
Alexander dem Großen lebte, wie nah er ihm war.
Zum Schluß sei noch von einem Divangedicht gesprochen, das in geheimem Bezug
zu Alexanders Initiationserlebnis steht, über das Plutarch im 27. Kapitel seiner
Alexander-Biographie berichtets. Alexander will mit seinem Heer in Ägypten das
2 Die Wegnahme der schönen Briseis, die Achill als Ehrengabe des Heeres erhalten hatte, durch Agamemnon, bildete
den Grund fUr Achills Groll; vgl. Rias 2,689 ff.; 19, 258 ff.; 297 ff.
3 Herodot, VII, 44-46.
4 Vgl. Q. Curtius Rufus, Historiae Alexandri Magni regis Macedonum, V 7 und VIII I.
5 Dieser Hinweis ist Dr. h.c. Michael Engelhard zu verdanken.
ALEXANDER DER GROSSE
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Zeus-Ammon-Heiligtum aufsuchen, um das dortige Orakel zu befragen. Aber die
lange Wüstenstrecke ist überaus beschwerlich und sehr gefährlich, weil durch die
Trockenheit des Sandes die Gefahr des Verdurstens droht. Doch dann kommt
wunderhaft erlösende Rettung von oben in Gestalt eines mächtigen Gewitterregens.
Plutarch berichtet darüber:
Bei der damaligen Heerfahrt jedenfalls hat die Hilfe, die ihm in der Not von den Göttern
zuteil wurde, mehr Glauben gefunden, als die ihm später gegebenen Orakel-Sprüche; ja in
gewissem Maße ist dieser Glaube auch den Orakeln zustatten gekommen. Denn erstens
beseitigten starke anhaltende Regengüsse, die vom Himmel fielen, die Furcht vor dem
Durst, löschten die Trockenheit des Staubes, der sich mit Feuchtigkeit sättigte und
zusammenbuk und machten die Luft reiner und besser zu atmen.
Das von Plutarch erwähnte "Orakel" bezog sich auf die für Alexanders Vergöttlichung
entscheidende Anrede des Priester-Propheten im Zeus-Ammon-Heiligtum, der ihn
mit "Paidios" (= Sohn des Zeus), begrüßte, statt "Paidion" (= "Söhnlein"). Seit
diesem Moment wurde Alexander von seiner Umgebung für einen Sohn des höchsten
Gottes gehalten. Die Götterhilfe hatte sich bei dem vorausgegangenen rettenden
Regen gezeigt, der die Trockenheit des Staubes löschte und dem durch die
lebensbedrohende Wüste reitenden Alexander den Weg zum Heiligtum, den ,Zugang'
zu ihm eröffnete . Was der zum Göttersohn erklärte Held anschließend noch insgeheim
mit dem Priester besprach, darüber hat er Schweigen bewahrt. Doch galt das Orakel
im Zeus-Ammon-Heiligtum als sein Initiationserlebnis. Es war die Voraussetzung,
um Alexanders Vision eines west-östlichen Reiches zu verwirklichen.
Eine höchst eigenartige Parallele dazu findet sich in Goethes Gedicht Allleben im
Buch des Sängers, das zur frühsten Schicht der Divandichtung gehört (WA, i, VI, 26). Es
ist ein Reisegedicht vom 29· Juli 1814, das Zeugnis gibt von einem ominösen Erlebnis
des physisch ins Land seiner Jugend, geistig jedoch in den Orient aufbrechenden
Dichters. Der an diesem Tage unter unerträglicher Hitze und Staub leidende Goethe
fühlte sich durch das erlösende gewaltige Gewitter an Alexanders Wüstenzug auf dem
Weg zum Orakel und an dessen Bedeutung für seine künftige Sendung erinnert. Auch
Goethe richtete ein Stoßgebet zum Himmel. Es lautete (v.I9): "Heile mich,
Gewitterregen,/Laß mich, daß es grunelt, riechen". Die Schlußstrophen bekunden
die Erhörung seines Gebets und enthalten die von ihm ebenso sehnsüchtig wie von
Alexander erhoffte göttliche Verheißung fruchtbaren Wirkens:
Wennjetzt alle Donner rollen
Und der ganze Himmel leuchtet,
Wird der wilde Staub des Windes
Nach dem Boden hingefeuchtet.
Und sogleich entspringt ein Leben,
Schwillt ein heilig heimlich Wirken,
Und es grunelt und es grünet
In den irdischen Bezirken.
(Allleben)
Bei Goethe erfolgt die rettende Verheißung dadurch, daß "der wilde Staub des
Windes /Nach dem Boden hingefeuchtet" wird. Der Dichter fühlt sich eins mit dem
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ALEXANDER DER GROSSE
All-Leben der Natur. Seine Gottheit ist die divina natura. Bei Plutarch löschte der
Gewitterregen "die Trockenheit des Sandes, der sich mit Feuchtigkeit sättigte und
(den Sand) zusammenbuk" . Dadurch gelangte Alexander zum Heiligtum, wo er als
Göttersohn bestätigt wurde. Goethe fühlte sich durch den Gewitterregen als "Sohn
der Natur", seiner höchsten Gottheit, bestätigt, er wußte sich einbezogen in ihr
"heilig heimlich Wirken", das ihm im Gruneln und Grünen der Schöpfung
verheißungsvoll spürbar wurde. Sein ,Heiligtum', die ihn umgebende Natur,
prophezeihte ihm Heilung, Liebe, Fruchtbarkeit, Erfüllung seiner Sendung. Es war
ein bedeutungsvoll ominöses Naturerlebnis zu Beginn der Divanepoche, in der es
Goethe gelingen sollte, durch Schaffung seines größten Gedichtzyklus Ideen, die der
geniale Herrscher und Eroberer Alexander erstmals in die Welt gebracht hatte, in
gesteigerter Weise zu neuem geistigem Leben zu erwecken.

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