Leseprobe
Transcrição
Leseprobe
Vera Hohleiter Schattenspiel H umphrey Bogart in Trenchcoat und Hut. Er geht über eine regennasse Straße. Mitten in der Nacht. Eine Zigarette im Mundwinkel. Den Revolver irgendwo unter dem Mantel versteckt. Am Kinn noch eine Schramme von der letzten Schlägerei mit irgendwelchen Gangstern. Das ist der Privatdetektiv. So stellen sich die meisten Menschen zumindest einen Privatdetektiv vor. Jemand, der mich auf der Straße oder in der U-Bahn sieht, würde nie auf die Idee kommen, dass ich Privatdetektivin bin. An mir ist nichts besonders. Ich bin nicht besonders groß oder besonders klein, nicht dick, nicht dünn, nicht auffallend hübsch, aber auch nicht extrem hässlich. Ich trage keine bunten, extravaganten Kleider. Ich bin unscheinbar – das würden wohl die meisten Menschen sagen, wenn sie mich zum ersten Mal sähen. Diese Unscheinbarkeit ist mein größter Trumpf. Unscheinbar sein bedeutet unsichtbar sein. Niemand sieht mich. Niemand achtet auf mich. Niemandem falle ich auf. Ich gehe unter in dieser Armee grau gekleideter Lehrerinnen und Büroangestellten mit ihren Brillen und ihren praktischen Kurzhaarfrisuren. Das ist ideal für Beschattungsaktionen. Es fällt einfach niemandem auf, wenn ich ihm den ganzen Tag hinterherlaufe. Ich kann mich einer Person rund um die Uhr an die Fersen heften, ohne dass sie es merkt. Ich bin kein Mensch, der jemandem nachts auf einer menschenleeren Straße Angst einflößt. Nach mir dreht sich niemand um. Beschattungen sind meine Hauptaufgabe. Ich bin ziemlich gut darin. Ich arbeite routiniert und effizient. Manchmal glaube ich, dass ich dazu geboren wurde, Privatdetektivin zu sein. Ich bin von Natur aus neugierig, aber verschwiegen. Mir fehlt das Bedürfnis, meine Entdeckungen unmittelbar mitzuteilen. Ich schreibe sie in einen Bericht. Dann ist die Sache erledigt. 7 Meistens handelt es sich um Scheidungsangelegenheiten. Eine betrogene Ehefrau, die endgültige Beweise für die Affäre ihres Mannes benötigt. Es ist dann meine Aufgabe, die Inflagranti-Fotos zu schießen. Ein ziemlich schmutziges Geschäft, aber sehr einträglich. Große Kriminalfälle hatte ich noch nie. Nur kleine Fälle, alle nicht gerade sehr aufregend. Nur einmal hatte ich einen außergewöhnlichen Fall. Eine Frau kam in mein Büro. Sie wartete morgens schon vor der Tür, als ich kam. Ich hielt sie erst für eine Halluzination. Sie sah aus, wie einem Privatdetektivfi lm entsprungen. Strenges, elegantes Kostüm, dramatisches Make-up, gewelltes, hellbraunes Haar, das unter einem Hut mit mysteriösem Schleier hervorguckte. Sie sah ein bisschen aus wie Lauren Bacall. Ich weiß noch, was ich fühlte, als ich sie vor meiner Tür stehen sah: Ich war einerseits fasziniert von dieser glamourösen Erscheinung, fragte mich aber gleichzeitig, ob sie wohl auf der Straße oder in der U-Bahn wegen des Aufzugs ausgelacht worden war. Sie wirkte wie aus einer anderen Welt. Ich bat sie in mein Büro und fragte nach ihrem Anliegen. »Es geht um eine Beschattung«, sagte sie mit einer tiefen Stimme, die irgendwie gekünstelt klang. »Wen soll ich denn beschatten? Ihren Ehemann?« »Nein. Diese Person.« Sie gab mir ein Foto von einer jungen Frau mit streichholzkurzen Haaren. »Was ist mit ihr? Hat sie sich straffällig gemacht? Ist sie in einen Kriminalfall verwickelt?« »Nein. Ich glaube nicht. Ich möchte nur, dass Sie sie einen Tag lang beobachten. 24 Stunden. Rund um die Uhr. Ich möchte einen Bericht und Fotos.« Sie gab mir die Adresse der Frau, nannte mir den Termin für die Beschattung und erkundigte sich nach der Bezahlung. Normalerweise bekomme ich eine Anzahlung. Das restliche Honorar wird mir nach Ablieferung des Berichts überwiesen. »Nein. Ich möchte in bar zahlen. Alles. Sofort.« Etwas ungewöhnlich, aber ich akzeptierte. Ich hatte den Eindruck, dass sie die ganze Sache mysteriöser machen wollte. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie die Dienste eines Privatdetektivs in Anspruch nahm – und solange ich mein Geld bekam, konnten mir ihre Schrullen egal sein. Sie öffnete den Schnappverschluss ihrer Handtasche und reichte mir ein Bündel Geldscheine. Dabei fiel mein Blick auf ihr schmales 8 Handgelenk. An dessen Unterseite war ein Pigmentfleck in Form eines Steuerrads, etwa so groß wie eine Euromünze. Wir einigten uns darauf, dass ich ihr meinen Bericht einen Tag nach der Beschattung per E-Mail schicken würde. Sie gab mir eine E-Mail-Adresse. Der Benutzername lautete »Miss Wonderly«. Ich gab keinen Kommentar dazu ab. Mir ging ihre Heimlichtuerei ein bisschen auf die Nerven, aber schließlich hatte sie im Voraus bezahlt. Sie verließ mein Büro eilig. Ich hörte nichts mehr von ihr. Also ging ich an dem vereinbarten Tag ziemlich früh am Morgen zu der Adresse, die sie mir gegeben hatte. Es war eine Adresse in Friedrichshain. Ein renoviertes Haus mit hellgrün verputzter Fassade. Die junge Frau wohnte in der mittleren Wohnung im ersten Stock, Vorderhaus. Es war noch dunkel. In den Fenstern war noch kein Licht. Ich wartete eine Weile auf der Straße, sah zu, wie Menschen zur Arbeit gingen, wie Kinder sich auf den Weg in die Schule machten, wie die Müllmänner die Tonnen leerten, wie in der Bäckerei um die Ecke ein reges Kommen und Gehen herrschte, wie Menschen hineingingen und mit Brötchen und dampfenden Bechern wieder herauskamen. Dann machte das Café gegenüber dem Wohnhaus der jungen Frau auf. Ich setzte mich, bestellte einen Kaffee und nahm mir eine Zeitung. Ich las sie oberflächlich, behielt dabei aber immer mit einem Auge die Wohnung der jungen Frau im Blick. Gegen 10 Uhr sah ich Bewegung in ihren Fenstern. Ich konnte nicht genau sehen, was sie machte. Ich sah nur kurz in dem Fenster, das vermutlich zur Küche gehörte, einen Kopf auftauchen. Dann verschwand er wieder. Ich bezahlte und machte mich zum Gehen bereit. Ich dachte, sie würde jederzeit zur Tür herauskommen. Aber nichts geschah. Ich bestellte noch einen Kaffee und zog meinen Mantel wieder aus. Es war fast Mittag, als die junge Frau das Haus verließ. Ich identifizierte sie sofort anhand des Fotos, das mir meine Klientin gegeben hatte. Die junge Frau sah in Wirklichkeit noch jünger aus als auf dem Foto, eigentlich eher wie ein Mädchen als eine Frau. Relativ klein und dünn. Sie trug einen schmalen schwarzen Mantel, rote Turnschuhe und ein winziges rotes Handtäschchen. Ich machte ein Foto von ihr, als sie das Haus verließ. Sie bemerkte es nicht. Sie ging die Straße hinauf zur Frankfurter Allee. Sie lief sehr schnell. Ihr normaler Gang hatte schon etwa die Geschwindigkeit eines Joggers. Ich folgte ihr. Sie überquerte die Straße und ging auf die U-Bahnhaltestelle Samariterstraße zu. Kurz davor wandte sie sich 9 zu dem Obststand neben dem U-Bahneingang. Die vietnamesische Obstverkäuferin schien sie zu kennen. Zumindest begrüßte sie sie sehr freundlich. Die junge Frau kaufte ziemlich viel Obst: Grapefruits, Orangen, Äpfel, Bananen, Kiwis, Trauben, aufgeschnittene Ananas und eine Schale Erdbeeren. Die Verkäuferin gab ihr zwei volle Tüten und sagte: »Vorsicht. Ist schwer. Schönen Tag noch.« Die junge Frau erwiderte den Gruß und schleppte dann die Tüten in ihre Wohnung. Sie blieb ungefähr eine halbe Stunde dort. Dann kam sie wieder heraus. Dieses Mal hatte sie eine andere Handtasche dabei. Sie war auch rot, aber größer. Eine ziemlich auffällige Tasche aus rotem Filz mit aufgemalten schwarzen Schnallen. Sie ging wieder hinauf zur Frankfurter Allee. Ich folgte ihr. Jetzt ging sie wirklich zur U-Bahn. Sie fuhr Richtung Alexanderplatz. Ich setzte mich ihr schräg gegenüber. Sie nahm keine Notiz von mir. Am Alexanderplatz kaufte sie eine Modezeitschrift am Kiosk auf dem Bahnsteig der U2. Sie setzte sich auf eine Bank, wippte ungeduldig mit einem Fuß hin und her und blätterte unkonzentriert. Dann kam die U-Bahn. Sie stieg ein. Sie setzte sich. Ich blieb im Gang stehen. Am Potsdamer Platz stieg sie aus. Sie kaufte sich einen Kaffee zum Mitnehmen bei »Balzac Coffee«. Den Kaffee trank sie im Gehen. Sie ging vorbei an den Arkaden und an den Kinos. In die Staatsbibliothek. In den Lesesaal. Ich kaufte mir eine Tageskarte und folgte ihr. Der Lesesaal war ziemlich voll. Sie fand nach einigen Minuten einen freien Tisch, dann holte sie aus der Rücklage einen Stapel Bücher, setzte sich und fing an zu lesen. Manchmal machte sie sich ein paar Notizen. Ich hatte mir in einiger Entfernung einen Platz gesucht und tat so, als ob ich mit einem dicken juristischen Wälzer arbeitete. Als sie zur Toilette ging, sah ich mir unauffällig ihre Bücher an: »Literarische Moderne in Europa«, »Dada – Kunst und Anti-Kunst«, »Literarische Avantgarden«, »Objet trouvé und Surrealismus«. Ich fand das ziemlich uninteressant, notierte aber alle Titel, bevor sie zurückkam. Sie arbeitete fast den ganzen Nachmittag. Ich langweilte mich. Das war die ödeste Beschattung, die ich jemals hatte. Aber ich war professionell, ich machte weiter meine Notizen und beobachtete die junge Frau. Sie sah kaum von den Büchern auf, deshalb konnte ich ihre Gesichtszüge, Bewegungen und Körperhaltung studieren. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich überlegte, ob ich sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Das war aber unwahrscheinlich. Ich hatte noch nie jemanden beschattet, den ich auch nur vom Sehen kannte. 10 Sie arbeitete bis 17 Uhr in der Bibliothek. Dann ging sie endlich. Ich war froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Sie nahm die S-Bahn bis zur Oranienburger Straße, spazierte dort entlang in Richtung Hackescher Markt. Sie schien es nicht mehr eilig zu haben. Ihr Gang war viel langsamer geworden. Sie machte Abstecher in einige Geschäfte. Sie sah sich gelangweilt verschiedene Sachen an – Scherzartikel, Handtaschen, Kleider, Schuhe. Am Hackeschen Markt kaufte 11 sie in einem Geschäft für Naturkosmetik ein gelbes Stück Seife, das nach Zitrusfrüchten roch. Dann ging sie zu »Starbucks«, kaufte sich eine Tasse Chai-Tea und setzte sich im Obergeschoss ans Fenster, in einen braunen Samtsessel. Sie trank ihren Tee und schrieb in ein grünes Notizbuch. Ich nahm noch einen Kaffee und platzierte mich in einer anderen Ecke. Sie blieb ziemlich lange. Der Tee war längst ausgetrunken. Sie saß immer noch da und schrieb in das grüne Notizbuch. Dann ging sie. Draußen war es schon dunkel. Sie lief die Rosenthaler Straße entlang, bog dann in die Neue Schönhauser Straße ein, machte an einem Imbiss Halt und aß dort an einem Stehtisch einen Bagel. Als sie aufgegessen hatte, ging sie zurück zur Rosenthaler Straße, zurück zum Hackeschen Markt, zurück zur Oranienburger Straße. Langsam ärgerte es mich, so ein langweiliges Beobachtungsobjekt zu haben. Ich notierte jeden ihrer Schritte und machte ab und zu Fotos. Aber sie traf niemanden. Sie sprach mit niemandem, außer mit Verkäufern. Sie telefonierte nicht mal. Wen sollte es interessieren, was dieses langweilige Mädchen den ganzen Tag machte? Sie kaufte Obst, sie las, sie schrieb, sie saß in Cafés herum und ging spazieren, sonst tat sie nichts. Nichts. Es war unglaublich. Ich folgte ihr weiter. Sie bemerkte mich überhaupt nicht. Schließlich ging sie in eine Bar in der Krausnickstraße, eine Kellerbar, die sie wohl kannte, denn wer die Bar nicht kannte, hätte sie nicht gefunden. Die Bar war klein und verraucht, mit schäbigen Flohmarktmöbeln eingerichtet. Es war noch ziemlich leer. Sie holte sich an der Selbstbedienungstheke einen Gin Tonic und setzte sich dann auf ein Sofa. Ich nahm einen Mojito und ließ mich etwas entfernt von ihr in einer Ecke nieder. Es sah aus, als ob sie auf jemanden wartete. Vielleicht war das dann die Geschichte, um die es eigentlich bei der Beschattung gehen sollte. Die mysteriöse Person, die sie treffen sollte. Aber es kam niemand. Sie blätterte in ihrer Modezeitschrift, trank ihren Gin Tonic. Ab und zu sprach jemand sie an. Jedes Mal dachte ich, das sei die Person, die sie treffen sollte. Aber es waren immer nur kurze, oberflächliche Unterhaltungen. Jemand wollte Feuer oder fragte nach der Uhrzeit. Sie drehte ihr Handgelenk und sah auf ihre Uhr. Ich saß so, dass ich ihr Handgelenk gut sehen konnte. Ich entdeckte an der Unterseite ihres Handgelenks einen Pigmentfleck in Form eines Steuerrads, etwa so groß wie eine Euromünze. Ich betrachtete ihr Gesicht genauer. Sie drehte sich mir zu, sah mir direkt in die Augen und grinste. 12 Gerhard Drexel Ohrstecker Z u Fuß schlängelte sich Kommissar Wiedmann zwischen langsam fahrenden Autos durch den abendlichen Berufsverkehr. Trotz seiner fünfzig Jahre und leichten Übergewichts gelang ihm dies erstaunlich behände. Auf der schattigen Seite der Schloßstraße nahm er die Sonnengläser von seiner Brille und verstaute sie in der Jackentasche. Während er zügig den Bürgersteig entlangging, sah er auf seine Uhr und kratzte sich an der immer lichter werdenden Stelle seines Hinterkopfs. »Hoffentlich reicht die Zeit noch«, brummelte er. Über den Dächern des Berliner Stadtteils Steglitz, wo er und Margret seit ihrer Trauung in der geräumigen Beletage eines Gründerzeithauses wohnten, streckte sich der futuristische »Bierpinsel« in den Himmel. Der große, kantige Korb des markanten Turms, in dem sich auf mehreren Etagen Restaurants befanden, leuchtete blutrot in der Abendsonne. Er erinnerte Kommissar Wiedmann an das Alpenglühen in den Dolomiten, wo er und Margret den Sommerurlaub verbracht hatten. Es waren erholsame Wochen mit sehr guter, regionaler Küche gewesen, an die er mit Sehnsucht zurückdachte. Leider waren bei Margret die Abgeschiedenheit und die ausgiebigen Bergwanderungen auf keinen fruchtbaren Boden gefallen. Auf der Rückreise meinte sie, es wäre schöner gewesen, wenn die berühmten Gipfel am Meer oder wenigstens in der Nähe einer größeren Stadt gelegen hätten. Dagegen hatte sich Kommissar Wiedmann unter den beeindruckenden Felsentürmen auf Anhieb heimisch gefühlt, vielleicht, weil sie ihn mit ihrer hoch aufgerichteten, rötlichen Erhabenheit unbewusst an den »Bierpinsel« erinnerten. Bald feierten sie ihren 25. Hochzeitstag – auf Margrets Wunsch mit einem Besuch in der Oper. Zu dem festlichen Anlass wollte Kommissar Wiedmann seine Frau mit einem kleinen Schmuckstück überraschen, aber er wusste noch nicht genau, was er ihr schenken 13 würde. Um sich eine Anregung zu holen, hatte er den Umweg zu dem Laden in der Schloßstraße auf sich genommen, in dem sie auch schon ihre Eheringe gekauft hatten. Der kleine Familienbetrieb von damals hatte sich in der Zwischenzeit zu einem renommierten Juweliergeschäft gemausert. Im Schaufenster lagen zwei Ohrstecker, die Kommissar Wiedmann gefielen. Es war kurz vor Ladenschluss, und er beschloss, sich schnell noch ein paar Stücke zeigen zu lassen. »Guten Abend«, grüßte er, als er den Laden betrat, der mit Theke und Wänden aus rotbraunem Holz, einem Boden aus eingelegtem Tafelparkett, beleuchteten Glasvitrinen und Kameras an der Decke den Eindruck eines Museumskabinetts vermittelte. Eine gut aussehende Verkäuferin, die Kommissar Wiedmann auf vierzig Jahre schätzte, starrte ihn wortlos und mit großen Rehaugen an. Sie bediente den einzigen Kunden. Der große, dunkelhaarige Mann trug eine schwarze Lederjacke, die als Jackett geschnitten war, zu ebenfalls schwarzen Hosen mit Aufschlag. Seine Haare waren im Nacken ordentlich geschnitten. Doch irgendetwas störte Kommissar Wiedmann an ihm. Als er den gediegenen Ladentisch erreicht hatte, dessen Verkaufsfläche aus eingebauten Vitrinen bestand, fielen ihm die Turnschuhe ein, die nicht zu der gepflegten Hose des Mannes passen wollten. Kommissar Wiedmann lächelte der Verkäuferin und dem Kunden zu. Er war in ihrem Alter, hohlwangig, unrasiert, und seine Augen drückten Traurigkeit aus. Plötzlich entdeckte Kommissar Wiedmann die silberne Pistole. Sie zielte genau auf seinen Bauch. »Machen Sie keine Dummheiten! Legen Sie Ihre Hände auf den Ladentisch!«, fauchte der Mann. Auch die brünette Verkäuferin – zurückhaltendes Make-up, dezent geschminkte Lippen, weiße Bluse, auberginefarbenes Kostüm – hatte ihre Hände auf die Ladentheke gelegt. Um Zeit zu gewinnen, zögerte Kommissar Wiedmann seine Hände zu heben. Er erhaschte den ängstlichen Blick der Frau. Ihr Goldkettchen, das sie am Armgelenk trug, zitterte. Es war wohl besser, die Nerven der Dame nicht noch mehr auf die Probe zu stellen und die Dienstwaffe stecken zu lassen. Niemand konnte vorhersehen, wie die hagere Verkäuferin reagieren würde, wenn es um den Bruchteil einer Sekunde ging. »Los, Hände auf den Tisch!«, schnauzte der Mann und machte mit der Pistole eine knappe Bewegung in Richtung Ladentheke. Bevor Kommissar Wiedmann der Anweisung nachkommen konnte, blinkte überraschend Blaulicht über die Glashauben der Ausla14 gen und über die Wände des Ladens. Ein Polizeiauto hielt, zwei Polizisten stiegen aus. Als der Mann die Uniformierten entdeckte, schrie er die Verkäuferin an: »Du blöde Kuh hast den Alarm gedrückt!« Blitzschnell riss er seinen Arm hoch und schoss zweimal in die Decke. In einem Wandspiegel konnte Kommissar Wiedmann verfolgen, wie die Polizisten sich duckten und zu ihrem Auto zurückrannten. Kurz darauf hörte der Fußgängerstrom auf zu fließen, und Neugierige stauten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Bleib, wo du bist!«, brüllte der Mann die Verkäuferin an, die erschrocken vom Ladentisch zurückgewichen war. »Und Sie auch!« Kommissar Wiedmann rührte sich nicht. Er hatte Hunger, weil er den ganzen Tag nur Kekse und einen Schokoriegel gegessen hatte. Margret wartete sicher schon mit dem Essen auf ihn, er wollte jetzt einfach so schnell wie möglich nach Hause. Der Mann beobachtete fassungslos, wie sich die Schloßstraße in wenigen Minuten mit Einsatzfahrzeugen füllte und Polizeibeamte in Deckung gingen. »Lassen Sie die Frau gehen, ich werde bleiben«, sagte Kommissar Wiedmann laut und deutlich. »Mischen Sie sich nicht ein! Das hier geht Sie überhaupt nichts an!« »Um da wieder rauszukommen, reicht eine Geisel, nehmen Sie mich.« »Halten Sie Ihre Klappe!«, presste der Mann hervor. »Wie Sie meinen«, antwortete Kommissar Wiedmann. »Deine Hände wieder auf den Ladentisch!«, polterte der Mann. Die Verkäuferin fuhr zusammen und kam eilig dem Befehl nach. »So kann sie aber nicht die Schnäppchen einpacken«, gab Kommissar Wiedmann zu bedenken. »Welche Schnäppchen?«, fragte der Räuber verwirrt. »Na, die glitzernden Dinger hier!« Mit einer Handbewegung wies Kommissar Wiedmann auf die Auslagen der Vitrine und entdeckte zwei hübsche Ohrstecker, die sogar mit einem Sonderpreis ausgezeichnet waren. »Deswegen nehmen Sie doch die ganze Mühe auf sich, oder nicht?« »Ach das.« Der Mann war zur Seite getreten, um die Straße, die Verkäuferin und Kommissar Wiedmann gleichzeitig im Auge behalten zu können. Er schien den nächsten Schritt zu überlegen. »Wenn Sie schon so vorlaut sind, können Sie sich wenigstens nützlich machen.« »Ich weiß nicht so recht«, antwortete Kommissar Wiedmann. »Die Branche ist mir fremd.« 15 »Gib ihm eine Plastiktüte!«, wies der Mann die Verkäuferin an. »Und schließ die Vitrinen auf. Dann kommst du wieder hierher.« Kommissar Wiedmann nahm die Tüte. »Los! Voll machen!« Um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen, fuchtelte der Mann mit der Pistole. In Zeitlupe füllte Kommissar Wiedmann die Plastiktasche mit Preziosen. Es waren betörende Stücke dabei, die er sich an Margret sehr gut vorstellen konnte, allerdings müsste er ihr dazu am besten gleich auch noch ein neues Abendkleid schenken. Aber darauf käme es dann auch nicht mehr an. »Auch die Ohrstecker?«, fragte Kommissar Wiedmann und hielt einen hoch. »Natürlich!«, zischte der Unbekannte. »Warum fragen Sie so dumm?« »Ich wollte sie meiner Frau zum Hochzeitstag schenken.« »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte der Mann überraschend. »25 Jahre«, antwortete Kommissar Wiedmann. »Lassen Sie die Ohrstecker liegen!« Spöttisch lächelte der Mann die Verkäuferin an und sagte: »Ich kann sehr gut verstehen, wenn man einer schönen Frau, die man über alles liebt, eine Überraschung bereiten möchte.« Sie schwieg und blickte wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Wird Ihrer Glücklichen so viel Schmuck auf einmal nicht zu viel werden?« Kommissar Wiedmann legte seine Stirn in Falten. »Machen Sie sich keine Sorgen, sie kann bestens damit umgehen.« »Eine anspruchsvolle Dame.« Kommissar Wiedmann nickte anerkennend. »Ich erfülle alle ihre Wünsche, auch ihre geheimsten.« Ein zynisches Lächeln umspielte den Mund des Mannes. »Feiern Sie ebenfalls ein Jubiläum?«, fragte Kommissar Wiedmann. »Was geht Sie das an?«, antwortete der Mann barsch. »Ich suche nur nach einem Schicksalsgenossen.« »Reden Sie nicht so viel! Packen Sie ein!« »Sie müssen Sie sehr lieben, wenn sie für Geschenke einen Überfall wagen.« »Sie hat den Überfall verdient.« »Verdient? Mit welcher Gegenleistung?« »Es geht nicht um den Schmuck, sondern um den Überfall.« »Was ist schon Gut und Geld, wenn allein der Idealismus zählt!« 16