Leseprobe

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Leseprobe
Vera Hohleiter
Schattenspiel
H
umphrey Bogart in Trenchcoat und Hut. Er geht über eine
regennasse Straße. Mitten in der Nacht. Eine Zigarette im
Mundwinkel. Den Revolver irgendwo unter dem Mantel versteckt.
Am Kinn noch eine Schramme von der letzten Schlägerei mit irgendwelchen Gangstern. Das ist der Privatdetektiv.
So stellen sich die meisten Menschen zumindest einen Privatdetektiv vor. Jemand, der mich auf der Straße oder in der U-Bahn sieht,
würde nie auf die Idee kommen, dass ich Privatdetektivin bin. An
mir ist nichts besonders. Ich bin nicht besonders groß oder besonders klein, nicht dick, nicht dünn, nicht auffallend hübsch, aber auch
nicht extrem hässlich. Ich trage keine bunten, extravaganten Kleider. Ich bin unscheinbar – das würden wohl die meisten Menschen
sagen, wenn sie mich zum ersten Mal sähen.
Diese Unscheinbarkeit ist mein größter Trumpf. Unscheinbar sein
bedeutet unsichtbar sein. Niemand sieht mich. Niemand achtet auf
mich. Niemandem falle ich auf. Ich gehe unter in dieser Armee grau
gekleideter Lehrerinnen und Büroangestellten mit ihren Brillen und
ihren praktischen Kurzhaarfrisuren. Das ist ideal für Beschattungsaktionen. Es fällt einfach niemandem auf, wenn ich ihm den ganzen
Tag hinterherlaufe. Ich kann mich einer Person rund um die Uhr an
die Fersen heften, ohne dass sie es merkt. Ich bin kein Mensch, der
jemandem nachts auf einer menschenleeren Straße Angst einflößt.
Nach mir dreht sich niemand um.
Beschattungen sind meine Hauptaufgabe. Ich bin ziemlich gut
darin. Ich arbeite routiniert und effizient. Manchmal glaube ich, dass
ich dazu geboren wurde, Privatdetektivin zu sein. Ich bin von Natur
aus neugierig, aber verschwiegen. Mir fehlt das Bedürfnis, meine
Entdeckungen unmittelbar mitzuteilen. Ich schreibe sie in einen
Bericht. Dann ist die Sache erledigt.
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Meistens handelt es sich um Scheidungsangelegenheiten. Eine
betrogene Ehefrau, die endgültige Beweise für die Affäre ihres Mannes benötigt. Es ist dann meine Aufgabe, die Inflagranti-Fotos zu
schießen. Ein ziemlich schmutziges Geschäft, aber sehr einträglich.
Große Kriminalfälle hatte ich noch nie. Nur kleine Fälle, alle nicht
gerade sehr aufregend.
Nur einmal hatte ich einen außergewöhnlichen Fall. Eine Frau kam
in mein Büro. Sie wartete morgens schon vor der Tür, als ich kam.
Ich hielt sie erst für eine Halluzination. Sie sah aus, wie einem Privatdetektivfi lm entsprungen. Strenges, elegantes Kostüm, dramatisches Make-up, gewelltes, hellbraunes Haar, das unter einem Hut
mit mysteriösem Schleier hervorguckte. Sie sah ein bisschen aus wie
Lauren Bacall.
Ich weiß noch, was ich fühlte, als ich sie vor meiner Tür stehen sah:
Ich war einerseits fasziniert von dieser glamourösen Erscheinung,
fragte mich aber gleichzeitig, ob sie wohl auf der Straße oder in der
U-Bahn wegen des Aufzugs ausgelacht worden war. Sie wirkte wie
aus einer anderen Welt.
Ich bat sie in mein Büro und fragte nach ihrem Anliegen.
»Es geht um eine Beschattung«, sagte sie mit einer tiefen Stimme,
die irgendwie gekünstelt klang.
»Wen soll ich denn beschatten? Ihren Ehemann?«
»Nein. Diese Person.« Sie gab mir ein Foto von einer jungen Frau
mit streichholzkurzen Haaren.
»Was ist mit ihr? Hat sie sich straffällig gemacht? Ist sie in einen
Kriminalfall verwickelt?«
»Nein. Ich glaube nicht. Ich möchte nur, dass Sie sie einen Tag
lang beobachten. 24 Stunden. Rund um die Uhr. Ich möchte einen
Bericht und Fotos.«
Sie gab mir die Adresse der Frau, nannte mir den Termin für die
Beschattung und erkundigte sich nach der Bezahlung. Normalerweise bekomme ich eine Anzahlung. Das restliche Honorar wird mir
nach Ablieferung des Berichts überwiesen.
»Nein. Ich möchte in bar zahlen. Alles. Sofort.«
Etwas ungewöhnlich, aber ich akzeptierte. Ich hatte den Eindruck, dass sie die ganze Sache mysteriöser machen wollte. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie die Dienste eines Privatdetektivs in
Anspruch nahm – und solange ich mein Geld bekam, konnten mir
ihre Schrullen egal sein.
Sie öffnete den Schnappverschluss ihrer Handtasche und reichte
mir ein Bündel Geldscheine. Dabei fiel mein Blick auf ihr schmales
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Handgelenk. An dessen Unterseite war ein Pigmentfleck in Form
eines Steuerrads, etwa so groß wie eine Euromünze.
Wir einigten uns darauf, dass ich ihr meinen Bericht einen Tag
nach der Beschattung per E-Mail schicken würde. Sie gab mir eine
E-Mail-Adresse. Der Benutzername lautete »Miss Wonderly«. Ich
gab keinen Kommentar dazu ab. Mir ging ihre Heimlichtuerei ein
bisschen auf die Nerven, aber schließlich hatte sie im Voraus bezahlt.
Sie verließ mein Büro eilig.
Ich hörte nichts mehr von ihr. Also ging ich an dem vereinbarten Tag
ziemlich früh am Morgen zu der Adresse, die sie mir gegeben hatte. Es war eine Adresse in Friedrichshain. Ein renoviertes Haus mit
hellgrün verputzter Fassade. Die junge Frau wohnte in der mittleren
Wohnung im ersten Stock, Vorderhaus.
Es war noch dunkel. In den Fenstern war noch kein Licht. Ich
wartete eine Weile auf der Straße, sah zu, wie Menschen zur Arbeit
gingen, wie Kinder sich auf den Weg in die Schule machten, wie die
Müllmänner die Tonnen leerten, wie in der Bäckerei um die Ecke ein
reges Kommen und Gehen herrschte, wie Menschen hineingingen
und mit Brötchen und dampfenden Bechern wieder herauskamen.
Dann machte das Café gegenüber dem Wohnhaus der jungen Frau
auf. Ich setzte mich, bestellte einen Kaffee und nahm mir eine Zeitung. Ich las sie oberflächlich, behielt dabei aber immer mit einem
Auge die Wohnung der jungen Frau im Blick.
Gegen 10 Uhr sah ich Bewegung in ihren Fenstern. Ich konnte
nicht genau sehen, was sie machte. Ich sah nur kurz in dem Fenster, das vermutlich zur Küche gehörte, einen Kopf auftauchen. Dann
verschwand er wieder. Ich bezahlte und machte mich zum Gehen
bereit. Ich dachte, sie würde jederzeit zur Tür herauskommen. Aber
nichts geschah. Ich bestellte noch einen Kaffee und zog meinen
Mantel wieder aus.
Es war fast Mittag, als die junge Frau das Haus verließ. Ich identifizierte sie sofort anhand des Fotos, das mir meine Klientin gegeben
hatte. Die junge Frau sah in Wirklichkeit noch jünger aus als auf dem
Foto, eigentlich eher wie ein Mädchen als eine Frau. Relativ klein
und dünn. Sie trug einen schmalen schwarzen Mantel, rote Turnschuhe und ein winziges rotes Handtäschchen. Ich machte ein Foto
von ihr, als sie das Haus verließ. Sie bemerkte es nicht.
Sie ging die Straße hinauf zur Frankfurter Allee. Sie lief sehr
schnell. Ihr normaler Gang hatte schon etwa die Geschwindigkeit
eines Joggers. Ich folgte ihr. Sie überquerte die Straße und ging auf
die U-Bahnhaltestelle Samariterstraße zu. Kurz davor wandte sie sich
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zu dem Obststand neben dem U-Bahneingang. Die vietnamesische
Obstverkäuferin schien sie zu kennen. Zumindest begrüßte sie sie
sehr freundlich. Die junge Frau kaufte ziemlich viel Obst: Grapefruits, Orangen, Äpfel, Bananen, Kiwis, Trauben, aufgeschnittene
Ananas und eine Schale Erdbeeren. Die Verkäuferin gab ihr zwei
volle Tüten und sagte: »Vorsicht. Ist schwer. Schönen Tag noch.« Die
junge Frau erwiderte den Gruß und schleppte dann die Tüten in ihre
Wohnung.
Sie blieb ungefähr eine halbe Stunde dort. Dann kam sie wieder
heraus. Dieses Mal hatte sie eine andere Handtasche dabei. Sie war
auch rot, aber größer. Eine ziemlich auffällige Tasche aus rotem Filz
mit aufgemalten schwarzen Schnallen. Sie ging wieder hinauf zur
Frankfurter Allee. Ich folgte ihr. Jetzt ging sie wirklich zur U-Bahn.
Sie fuhr Richtung Alexanderplatz. Ich setzte mich ihr schräg gegenüber. Sie nahm keine Notiz von mir.
Am Alexanderplatz kaufte sie eine Modezeitschrift am Kiosk auf
dem Bahnsteig der U2. Sie setzte sich auf eine Bank, wippte ungeduldig mit einem Fuß hin und her und blätterte unkonzentriert.
Dann kam die U-Bahn. Sie stieg ein. Sie setzte sich. Ich blieb im
Gang stehen. Am Potsdamer Platz stieg sie aus. Sie kaufte sich einen
Kaffee zum Mitnehmen bei »Balzac Coffee«. Den Kaffee trank sie
im Gehen. Sie ging vorbei an den Arkaden und an den Kinos. In
die Staatsbibliothek. In den Lesesaal. Ich kaufte mir eine Tageskarte
und folgte ihr.
Der Lesesaal war ziemlich voll. Sie fand nach einigen Minuten einen
freien Tisch, dann holte sie aus der Rücklage einen Stapel Bücher, setzte sich und fing an zu lesen. Manchmal machte sie sich ein paar Notizen. Ich hatte mir in einiger Entfernung einen Platz gesucht und tat so,
als ob ich mit einem dicken juristischen Wälzer arbeitete.
Als sie zur Toilette ging, sah ich mir unauffällig ihre Bücher an:
»Literarische Moderne in Europa«, »Dada – Kunst und Anti-Kunst«,
»Literarische Avantgarden«, »Objet trouvé und Surrealismus«. Ich
fand das ziemlich uninteressant, notierte aber alle Titel, bevor sie
zurückkam.
Sie arbeitete fast den ganzen Nachmittag. Ich langweilte mich. Das
war die ödeste Beschattung, die ich jemals hatte. Aber ich war professionell, ich machte weiter meine Notizen und beobachtete die junge Frau. Sie sah kaum von den Büchern auf, deshalb konnte ich ihre
Gesichtszüge, Bewegungen und Körperhaltung studieren. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich überlegte, ob ich sie schon einmal
irgendwo gesehen hatte. Das war aber unwahrscheinlich. Ich hatte
noch nie jemanden beschattet, den ich auch nur vom Sehen kannte.
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Sie arbeitete bis 17 Uhr in der Bibliothek. Dann ging sie endlich. Ich
war froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Sie nahm die S-Bahn
bis zur Oranienburger Straße, spazierte dort entlang in Richtung
Hackescher Markt. Sie schien es nicht mehr eilig zu haben. Ihr Gang
war viel langsamer geworden. Sie machte Abstecher in einige Geschäfte. Sie sah sich gelangweilt verschiedene Sachen an – Scherzartikel, Handtaschen, Kleider, Schuhe. Am Hackeschen Markt kaufte
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sie in einem Geschäft für Naturkosmetik ein gelbes Stück Seife, das
nach Zitrusfrüchten roch. Dann ging sie zu »Starbucks«, kaufte sich
eine Tasse Chai-Tea und setzte sich im Obergeschoss ans Fenster,
in einen braunen Samtsessel. Sie trank ihren Tee und schrieb in ein
grünes Notizbuch. Ich nahm noch einen Kaffee und platzierte mich
in einer anderen Ecke. Sie blieb ziemlich lange. Der Tee war längst
ausgetrunken. Sie saß immer noch da und schrieb in das grüne Notizbuch.
Dann ging sie. Draußen war es schon dunkel. Sie lief die Rosenthaler Straße entlang, bog dann in die Neue Schönhauser Straße ein,
machte an einem Imbiss Halt und aß dort an einem Stehtisch einen
Bagel. Als sie aufgegessen hatte, ging sie zurück zur Rosenthaler
Straße, zurück zum Hackeschen Markt, zurück zur Oranienburger
Straße. Langsam ärgerte es mich, so ein langweiliges Beobachtungsobjekt zu haben. Ich notierte jeden ihrer Schritte und machte ab und
zu Fotos. Aber sie traf niemanden. Sie sprach mit niemandem, außer
mit Verkäufern. Sie telefonierte nicht mal. Wen sollte es interessieren, was dieses langweilige Mädchen den ganzen Tag machte? Sie
kaufte Obst, sie las, sie schrieb, sie saß in Cafés herum und ging
spazieren, sonst tat sie nichts. Nichts. Es war unglaublich.
Ich folgte ihr weiter. Sie bemerkte mich überhaupt nicht. Schließlich ging sie in eine Bar in der Krausnickstraße, eine Kellerbar, die sie
wohl kannte, denn wer die Bar nicht kannte, hätte sie nicht gefunden.
Die Bar war klein und verraucht, mit schäbigen Flohmarktmöbeln
eingerichtet. Es war noch ziemlich leer. Sie holte sich an der Selbstbedienungstheke einen Gin Tonic und setzte sich dann auf ein Sofa.
Ich nahm einen Mojito und ließ mich etwas entfernt von ihr in einer
Ecke nieder. Es sah aus, als ob sie auf jemanden wartete. Vielleicht
war das dann die Geschichte, um die es eigentlich bei der Beschattung gehen sollte. Die mysteriöse Person, die sie treffen sollte. Aber
es kam niemand. Sie blätterte in ihrer Modezeitschrift, trank ihren
Gin Tonic. Ab und zu sprach jemand sie an. Jedes Mal dachte ich, das
sei die Person, die sie treffen sollte. Aber es waren immer nur kurze, oberflächliche Unterhaltungen. Jemand wollte Feuer oder fragte
nach der Uhrzeit. Sie drehte ihr Handgelenk und sah auf ihre Uhr.
Ich saß so, dass ich ihr Handgelenk gut sehen konnte. Ich entdeckte
an der Unterseite ihres Handgelenks einen Pigmentfleck in Form
eines Steuerrads, etwa so groß wie eine Euromünze. Ich betrachtete
ihr Gesicht genauer.
Sie drehte sich mir zu, sah mir direkt in die Augen und grinste.
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Gerhard Drexel
Ohrstecker
Z
u Fuß schlängelte sich Kommissar Wiedmann zwischen langsam fahrenden Autos durch den abendlichen Berufsverkehr.
Trotz seiner fünfzig Jahre und leichten Übergewichts gelang ihm
dies erstaunlich behände. Auf der schattigen Seite der Schloßstraße
nahm er die Sonnengläser von seiner Brille und verstaute sie in der
Jackentasche. Während er zügig den Bürgersteig entlangging, sah er
auf seine Uhr und kratzte sich an der immer lichter werdenden Stelle
seines Hinterkopfs.
»Hoffentlich reicht die Zeit noch«, brummelte er.
Über den Dächern des Berliner Stadtteils Steglitz, wo er und Margret seit ihrer Trauung in der geräumigen Beletage eines Gründerzeithauses wohnten, streckte sich der futuristische »Bierpinsel« in
den Himmel. Der große, kantige Korb des markanten Turms, in
dem sich auf mehreren Etagen Restaurants befanden, leuchtete blutrot in der Abendsonne. Er erinnerte Kommissar Wiedmann an das
Alpenglühen in den Dolomiten, wo er und Margret den Sommerurlaub verbracht hatten. Es waren erholsame Wochen mit sehr guter,
regionaler Küche gewesen, an die er mit Sehnsucht zurückdachte.
Leider waren bei Margret die Abgeschiedenheit und die ausgiebigen
Bergwanderungen auf keinen fruchtbaren Boden gefallen. Auf der
Rückreise meinte sie, es wäre schöner gewesen, wenn die berühmten
Gipfel am Meer oder wenigstens in der Nähe einer größeren Stadt
gelegen hätten. Dagegen hatte sich Kommissar Wiedmann unter den
beeindruckenden Felsentürmen auf Anhieb heimisch gefühlt, vielleicht, weil sie ihn mit ihrer hoch aufgerichteten, rötlichen Erhabenheit unbewusst an den »Bierpinsel« erinnerten.
Bald feierten sie ihren 25. Hochzeitstag – auf Margrets Wunsch
mit einem Besuch in der Oper. Zu dem festlichen Anlass wollte
Kommissar Wiedmann seine Frau mit einem kleinen Schmuckstück
überraschen, aber er wusste noch nicht genau, was er ihr schenken
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würde. Um sich eine Anregung zu holen, hatte er den Umweg zu
dem Laden in der Schloßstraße auf sich genommen, in dem sie auch
schon ihre Eheringe gekauft hatten. Der kleine Familienbetrieb von
damals hatte sich in der Zwischenzeit zu einem renommierten Juweliergeschäft gemausert.
Im Schaufenster lagen zwei Ohrstecker, die Kommissar Wiedmann gefielen. Es war kurz vor Ladenschluss, und er beschloss, sich
schnell noch ein paar Stücke zeigen zu lassen.
»Guten Abend«, grüßte er, als er den Laden betrat, der mit Theke
und Wänden aus rotbraunem Holz, einem Boden aus eingelegtem
Tafelparkett, beleuchteten Glasvitrinen und Kameras an der Decke
den Eindruck eines Museumskabinetts vermittelte.
Eine gut aussehende Verkäuferin, die Kommissar Wiedmann auf
vierzig Jahre schätzte, starrte ihn wortlos und mit großen Rehaugen
an. Sie bediente den einzigen Kunden. Der große, dunkelhaarige
Mann trug eine schwarze Lederjacke, die als Jackett geschnitten war,
zu ebenfalls schwarzen Hosen mit Aufschlag. Seine Haare waren im
Nacken ordentlich geschnitten.
Doch irgendetwas störte Kommissar Wiedmann an ihm. Als er
den gediegenen Ladentisch erreicht hatte, dessen Verkaufsfläche aus
eingebauten Vitrinen bestand, fielen ihm die Turnschuhe ein, die
nicht zu der gepflegten Hose des Mannes passen wollten.
Kommissar Wiedmann lächelte der Verkäuferin und dem Kunden
zu. Er war in ihrem Alter, hohlwangig, unrasiert, und seine Augen
drückten Traurigkeit aus. Plötzlich entdeckte Kommissar Wiedmann
die silberne Pistole. Sie zielte genau auf seinen Bauch.
»Machen Sie keine Dummheiten! Legen Sie Ihre Hände auf den
Ladentisch!«, fauchte der Mann.
Auch die brünette Verkäuferin – zurückhaltendes Make-up, dezent
geschminkte Lippen, weiße Bluse, auberginefarbenes Kostüm – hatte ihre Hände auf die Ladentheke gelegt.
Um Zeit zu gewinnen, zögerte Kommissar Wiedmann seine Hände zu heben. Er erhaschte den ängstlichen Blick der Frau. Ihr Goldkettchen, das sie am Armgelenk trug, zitterte. Es war wohl besser,
die Nerven der Dame nicht noch mehr auf die Probe zu stellen und
die Dienstwaffe stecken zu lassen. Niemand konnte vorhersehen, wie
die hagere Verkäuferin reagieren würde, wenn es um den Bruchteil
einer Sekunde ging.
»Los, Hände auf den Tisch!«, schnauzte der Mann und machte mit
der Pistole eine knappe Bewegung in Richtung Ladentheke.
Bevor Kommissar Wiedmann der Anweisung nachkommen konnte, blinkte überraschend Blaulicht über die Glashauben der Ausla14
gen und über die Wände des Ladens. Ein Polizeiauto hielt, zwei Polizisten stiegen aus. Als der Mann die Uniformierten entdeckte, schrie
er die Verkäuferin an: »Du blöde Kuh hast den Alarm gedrückt!«
Blitzschnell riss er seinen Arm hoch und schoss zweimal in die
Decke. In einem Wandspiegel konnte Kommissar Wiedmann verfolgen, wie die Polizisten sich duckten und zu ihrem Auto zurückrannten. Kurz darauf hörte der Fußgängerstrom auf zu fließen, und
Neugierige stauten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Bleib, wo du bist!«, brüllte der Mann die Verkäuferin an, die
erschrocken vom Ladentisch zurückgewichen war. »Und Sie auch!«
Kommissar Wiedmann rührte sich nicht. Er hatte Hunger, weil er
den ganzen Tag nur Kekse und einen Schokoriegel gegessen hatte.
Margret wartete sicher schon mit dem Essen auf ihn, er wollte jetzt
einfach so schnell wie möglich nach Hause.
Der Mann beobachtete fassungslos, wie sich die Schloßstraße in
wenigen Minuten mit Einsatzfahrzeugen füllte und Polizeibeamte in
Deckung gingen.
»Lassen Sie die Frau gehen, ich werde bleiben«, sagte Kommissar
Wiedmann laut und deutlich.
»Mischen Sie sich nicht ein! Das hier geht Sie überhaupt nichts
an!«
»Um da wieder rauszukommen, reicht eine Geisel, nehmen Sie
mich.«
»Halten Sie Ihre Klappe!«, presste der Mann hervor.
»Wie Sie meinen«, antwortete Kommissar Wiedmann.
»Deine Hände wieder auf den Ladentisch!«, polterte der Mann.
Die Verkäuferin fuhr zusammen und kam eilig dem Befehl nach.
»So kann sie aber nicht die Schnäppchen einpacken«, gab Kommissar Wiedmann zu bedenken.
»Welche Schnäppchen?«, fragte der Räuber verwirrt.
»Na, die glitzernden Dinger hier!« Mit einer Handbewegung wies
Kommissar Wiedmann auf die Auslagen der Vitrine und entdeckte
zwei hübsche Ohrstecker, die sogar mit einem Sonderpreis ausgezeichnet waren. »Deswegen nehmen Sie doch die ganze Mühe auf
sich, oder nicht?«
»Ach das.« Der Mann war zur Seite getreten, um die Straße,
die Verkäuferin und Kommissar Wiedmann gleichzeitig im Auge
behalten zu können. Er schien den nächsten Schritt zu überlegen.
»Wenn Sie schon so vorlaut sind, können Sie sich wenigstens nützlich
machen.«
»Ich weiß nicht so recht«, antwortete Kommissar Wiedmann. »Die
Branche ist mir fremd.«
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»Gib ihm eine Plastiktüte!«, wies der Mann die Verkäuferin an.
»Und schließ die Vitrinen auf. Dann kommst du wieder hierher.«
Kommissar Wiedmann nahm die Tüte.
»Los! Voll machen!« Um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen, fuchtelte der Mann mit der Pistole.
In Zeitlupe füllte Kommissar Wiedmann die Plastiktasche mit
Preziosen. Es waren betörende Stücke dabei, die er sich an Margret
sehr gut vorstellen konnte, allerdings müsste er ihr dazu am besten
gleich auch noch ein neues Abendkleid schenken. Aber darauf käme
es dann auch nicht mehr an.
»Auch die Ohrstecker?«, fragte Kommissar Wiedmann und hielt
einen hoch.
»Natürlich!«, zischte der Unbekannte. »Warum fragen Sie so
dumm?«
»Ich wollte sie meiner Frau zum Hochzeitstag schenken.«
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte der Mann überraschend.
»25 Jahre«, antwortete Kommissar Wiedmann.
»Lassen Sie die Ohrstecker liegen!« Spöttisch lächelte der Mann
die Verkäuferin an und sagte: »Ich kann sehr gut verstehen, wenn
man einer schönen Frau, die man über alles liebt, eine Überraschung
bereiten möchte.«
Sie schwieg und blickte wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Wird Ihrer Glücklichen so viel Schmuck auf einmal nicht zu viel
werden?« Kommissar Wiedmann legte seine Stirn in Falten.
»Machen Sie sich keine Sorgen, sie kann bestens damit umgehen.«
»Eine anspruchsvolle Dame.« Kommissar Wiedmann nickte anerkennend.
»Ich erfülle alle ihre Wünsche, auch ihre geheimsten.« Ein zynisches Lächeln umspielte den Mund des Mannes.
»Feiern Sie ebenfalls ein Jubiläum?«, fragte Kommissar Wiedmann.
»Was geht Sie das an?«, antwortete der Mann barsch.
»Ich suche nur nach einem Schicksalsgenossen.«
»Reden Sie nicht so viel! Packen Sie ein!«
»Sie müssen Sie sehr lieben, wenn sie für Geschenke einen Überfall wagen.«
»Sie hat den Überfall verdient.«
»Verdient? Mit welcher Gegenleistung?«
»Es geht nicht um den Schmuck, sondern um den Überfall.«
»Was ist schon Gut und Geld, wenn allein der Idealismus zählt!«
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